Wohn(T)räume - Der Paritätische Berlin
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<strong>Wohn</strong>(T)<strong>räume</strong><br />
<strong>Paritätische</strong> Perspektiven zum <strong>Wohn</strong>en in <strong>Berlin</strong>
Inhalt<br />
2<br />
Ohne Räume kann sich kein Gemeinwesen entwickeln<br />
Vorwort, Oswald Menninger<br />
4<br />
7<br />
9<br />
12<br />
<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n<br />
»Das geht zu Lasten unserer Kernkompetenz« Uli Schulte Döinghaus<br />
Politische Stellungnahmen und freundliche Flyer Uli Schulte Döinghaus<br />
<strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>versorgung aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n Regina Schödl<br />
Energie als Armutsproblem – wird Energie zum Luxusgut? Regina Schödl<br />
14<br />
16<br />
18<br />
19<br />
21<br />
<strong>Wohn</strong>problematik aus Sicht <strong>Paritätische</strong>r Träger<br />
»Menschen sind doch keine Manövriermasse« Uli Schulte Döinghaus<br />
<strong>Der</strong> <strong>Wohn</strong>führerschein – bessere Chancen für Jugendliche auf dem<br />
<strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt Roland Bohr, Frieder Moritz, Mathias Riester<br />
Suche: behindertengerechte <strong>Wohn</strong>ung in <strong>Berlin</strong> Martin Thoma<br />
Zwischen <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit und Mietwucher – Roma in Mitte Elisabeth Gregull<br />
»Das Immobilienthema ist nicht unser Kerngeschäft« Uli Schulte Döinghaus<br />
23<br />
25<br />
27<br />
28<br />
29<br />
31<br />
32<br />
34<br />
36<br />
<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger<br />
<strong>Wohn</strong>angebote sozialer Träger in <strong>Paritätische</strong>n Häusern Rita Schmid<br />
Ohne die Häuser würde das Kinderdorfprinzip<br />
nicht funktionieren Mone Volke<br />
Leben erleben im Kiez – Das <strong>Wohn</strong>projekt Undine Birgit Hartigs<br />
Kein <strong>Wohn</strong>raum für Mädchen und junge Frauen<br />
mit Gewalterfahrungen? Iris Hölling<br />
Sich zusammenschließen, um Eigentum zu schaffen Elisabeth Gregull<br />
Lebensort Vielfalt – ein Meilenstein in der schwulen Geschichte Marcel de Groot<br />
Ambulante <strong>Wohn</strong>gemeinschaften für Menschen<br />
(nicht nur) mit Demenz Andrea von der Heydt<br />
»Meine schönsten Freunde sind hier« – die ungewisse<br />
Zukunft der WG Akazienstraße Martin Thoma<br />
Doppelt betroffen Jens Kohlmeier, vista gGmbH
Ohne Räume kann sich kein<br />
Gemeinwesen entwickeln<br />
Vorwort von Oswald Menninger<br />
<strong>Der</strong> Titel »<strong>Wohn</strong>(t)<strong>räume</strong>« dieses Heftes steht in keinem Bezug<br />
zu einer Villa in Caputh in der brandenburgischen Idylle. Diese<br />
Villa prägte vor nunmehr drei Jahren die stadtpolitische Debatte<br />
über Immobilien freier Träger. Schon damals wäre es sinnvoller<br />
gewesen, die realen Probleme der Stadt, wie steigende Mieten,<br />
bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum für Menschen mit geringem Einkommen<br />
und bezahlbare Räume für gemeinwohlorientierte Zwecke<br />
in Angriff zu nehmen. Umso mehr wird die aktuelle politische<br />
Debatte in der Stadt von diesen Problemen bestimmt – und das<br />
ist auch gut so.<br />
Das Land <strong>Berlin</strong> ist sehenden Auges in diese Probleme hineingeschlittert.<br />
Seit Jahren wurden vorwiegend Stadtwohnungen<br />
im oberen Mietpreissegment oder Eigentumswohnungen<br />
gebaut. Eine verfehlte Liegenschaftspolitik, die ausschließlich<br />
den Verkauf an den Höchstbietenden bei landeseigenen Immobilien<br />
zum Ziel hatte, trug wesentlich zu dieser Entwicklung bei.<br />
Diese Liegenschaftspolitik konterkariert die Ziele der sozialen<br />
Stadt, die von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und<br />
Umwelt wie folgt richtig beschrieben wird: »Die soziale Differenzierung<br />
bildet sich im Stadtraum ab. Problematisch wird die<br />
Entwicklung, wenn sie zum Ausschluss ganzer Quartiere und<br />
ihrer Bewohnerinnen und Bewohner von der gesellschaftlichen<br />
Teilhabe führt.« 1 Dem braucht man nichts hinzuzufügen.<br />
Eine Liegenschaftspolitik, die nur an Höchstgeboten ausgerichtet<br />
ist, dient nicht den langfristigen fiskalischen Interessen<br />
der Stadt. Dazu ein aktuelles Beispiel, aus dem Kreise unserer<br />
Mitglieder: Um eine bestmögliche Inklusion geistig behinderter<br />
Menschen zu erreichen, versuchte eine Mitgliedsorganisation<br />
ein Grundstück vom Liegenschaftsfond zu erwerben. <strong>Der</strong> Bau<br />
einer <strong>Wohn</strong>einrichtung war geplant, um die Betreuung in einem<br />
lebendigen <strong>Wohn</strong>umfeld mit vielfältigen Teilnahmemöglichkeiten<br />
am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. <strong>Der</strong> bisherige<br />
Standort ist mit 73 Betreuten unter Inklusionsgesichtspunkten<br />
mangelhaft und sollte durch den Neubau entlastet werden. Die<br />
Sozialverwaltung war mit der Planung zwar einverstanden, hält<br />
jedoch den im Entgelt berücksichtigungsfähigen Investitionsaufwand<br />
pro Platz im Neubau seit Jahren bei 77.000 Euro gedeckelt.<br />
Obwohl der Bodenrichtwert von 290 Euro/m2 ausging<br />
und der Träger aufgrund der von der Sozialverwaltung gesetzten<br />
Rahmenbedingungen 500 Euro/m2 für den Kauf für wirtschaftlich<br />
noch vertretbar hielt, ließ der Liegenschaftsfond durchblicken:<br />
für unter 1500 Euro/m2 wäre nichts zu machen. Als Trost<br />
Oswald Menninger, Foto: Eberhard Auriga<br />
versprach der Liegenschaftsfond ein urbanes Grundstück zu<br />
suchen. Bei den Finanzierungsmöglichkeiten des Trägers wird<br />
das passende »urbane« Grundstück sicherlich jotwede liegen<br />
oder es wird sich um eine Industriefläche handeln. Inklusion à<br />
la <strong>Berlin</strong>!<br />
Vor dem Hintergrund, dass das Land <strong>Berlin</strong> für die Leistungen<br />
der Eingliederungshilfe (SGB XII) und der Kinder- und Jugendhilfe<br />
(SGB VIII) als Kostenträger zuständig ist, ist diese Liegenschaftspolitik<br />
unverständlich. Welchen Sinn ergibt es, wenn freie<br />
Träger Grundstücke und Immobilien des Landes teuer erwerben<br />
müssen und diese Investitionskosten anschließend noch in die<br />
Entgelte einzukalkulieren sind? Es ist fiskalpolitisch unsinnig,<br />
wenn die Liegenschaftspolitik eine soziale Entmischung fördert<br />
und danach die sozialen Folgen mit teuren Sonderprogrammen<br />
bekämpft werden. Die direkten und indirekten gesellschaftlichen<br />
Kosten, die durch Ausgrenzung, Verarmung und Abhängigkeit<br />
von Transferleistungen entstehen, übersteigen am Ende<br />
sicher ein Vielfaches hoher Verkaufserlöse. Und dies auch ohne<br />
dass es zu Krawallen wie jetzt in Schweden und früher in den<br />
französischen Banlieues kommen muss.<br />
2
Eine Neuausrichtung der <strong>Berlin</strong>er Liegenschaftspolitik ist überfällig.<br />
<strong>Der</strong> <strong>Paritätische</strong> <strong>Berlin</strong> wird sich dafür einsetzen. Nicht<br />
die Verwertung zu Höchstpreisen, sondern die soziale Durchmischung,<br />
das Ziel einer sozialen Stadt, muss im Zentrum einer<br />
nachhaltigen Liegenschaftspolitik stehen. Es gibt genügend Instrumente<br />
wie Erbbaurecht und Nutzungsbindung um bei einem<br />
Verkauf oder der Übertragung von landeseigenen Grundstücken<br />
und Immobilien auf freie Träger die berechtigten öffentlichen<br />
Interessen zu sichern.<br />
Dieses Heft beleuchtet vielschichtig das Thema bezahlbare Mieten<br />
für Menschen, die Hilfe und Unterstützung benötigen, und<br />
zeigt, welch enormen Beitrag unsere Mitgliedsorganisationen für<br />
eine soziale Durchmischung <strong>Berlin</strong>s leisten. Die Beiträge machen<br />
deutlich, dass Eigentum und Besitz von Immobilien Mittel zum<br />
Zweck sind und dem Gemeinwohl dienen: denn ohne Raum<br />
und ohne Räume kann sich kein Gemeinwesen entwickeln.<br />
Wir fordern vom Land <strong>Berlin</strong> eine zügige Neuausrichtung der<br />
Liegenschaftspolitik, die klare und eindeutige Regeln für den<br />
Kauf oder die Nutzung von Landesimmobilien für freie Träger<br />
entwickelt und gewährleistet.<br />
Oswald Menninger<br />
Geschäftsführer<br />
<strong>Paritätische</strong>r Wohlfahrtsverband <strong>Berlin</strong><br />
1 Handbuch zur Partizipation, Hrsg. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung<br />
und Umwelt <strong>Berlin</strong>, 2. Auflage Februar 2012<br />
Vorwort 3
»Das geht zu Lasten unserer<br />
Kernkompetenz«<br />
Von Uli Schulte Döinghaus<br />
<strong>Berlin</strong>er Mietenexplosion verdrängt soziale Träger<br />
und ihre Klienten aus den Kiezen<br />
Jeder dritte <strong>Berlin</strong>er hat Schwierigkeiten, eine bezahlbare <strong>Wohn</strong>ung<br />
in der Hauptstadt zu finden. Das geht aus einem aktuellen<br />
»<strong>Berlin</strong>Trend« hervor. In dieser Meinungs- und Stimmungsumfrage,<br />
die der Rundfunk <strong>Berlin</strong>-Brandenburg (RBB) und die<br />
<strong>Berlin</strong>er Morgenpost regelmäßig veröffentlichen, zeigten sich<br />
die 18- bis 44-jährigen <strong>Berlin</strong>er besonders betroffen; rund die<br />
Hälfte der Befragten gab Probleme bei der <strong>Wohn</strong>ungsfindung zu<br />
Protokoll – ernüchternde Zahlen in einer Stadt, die sich lange<br />
Zeit eines »entspannten <strong>Wohn</strong>ungsmarktes« rühmte, in dem<br />
jeder ein Dach finden konnte, das über seinen Kopf passte und<br />
zu Kosten, die sein Portemonnaie verkraftete.<br />
Die Prozentzahlen wären in der Umfrage richtig krass ausgefallen,<br />
wenn die Interviewer auch Menschen befragt hätten,<br />
die von akuter <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit bedroht oder betroffen sind.<br />
Oder Menschen mit Suchtproblemen und einer entsprechenden<br />
Arbeits- und Schuldenkarriere. Auch Bürger mit psychischen<br />
Erkrankungen oder geistigen Beeinträchtigungen kommen in<br />
der Umfrage <strong>Berlin</strong>Trend nicht explizit vor, wahrscheinlich hätten<br />
rund 100 Prozent über massive Probleme bei der Suche nach<br />
geeignetem und passendem <strong>Wohn</strong>raum berichtet.<br />
<strong>Paritätische</strong> Träger drücken in Telefonaten und<br />
E-Mails ihre Sorge aus<br />
Viele von ihnen sind Klienten bei gemeinnützigen Trägern, die<br />
Mitglieder des <strong>Paritätische</strong>n <strong>Berlin</strong> sind. Im März diesen Jahres<br />
richtete der Verband eine interne Mailanfrage an seine Mitglieder,<br />
ob und wenn ja in welcher Weise, sie und ihre Klienten von<br />
der angespannten <strong>Wohn</strong>ungsmarktlage betroffen seien. In Telefonaten,<br />
Briefen und E-Mails drückten daraufhin Verantwortliche<br />
dieser Mitgliedsorganisationen große Sorge darüber aus,<br />
dass »ihre« Bewohner, Klienten, Besucher an den Rand gedrängt<br />
werden, wenn es um geeigneten <strong>Wohn</strong>raum geht, der bezahlbar<br />
ist und gleichzeitig inklusiv; günstig und mittenmang in einer<br />
sozialen, vielfältigen und lebenswerten Stadt.<br />
Ein noch ganz anderes Lied wissen die Träger der <strong>Wohn</strong>ungslosenhilfe<br />
in <strong>Berlin</strong> zu singen, deren Klientel einen zumindest<br />
bedrohten <strong>Wohn</strong>status habe, wie Anna-Sophie Lüdtke berichtet.<br />
Die Einrichtungsleiterin bei der mitHilfe gGmbH führt aus:<br />
»Unsere alltägliche Erfahrung ist, dass Menschen, die auch nur<br />
den geringsten Zweifel an ihrer Bonität aufkommen lassen, vom<br />
regulären <strong>Wohn</strong>ungsmarkt faktisch ausgeschlossen sind.«<br />
<strong>Wohn</strong>ungsverknappung verhindert Betreuung<br />
Die akute <strong>Wohn</strong>ungsnot geht an die Kernkompetenz der Träger:<br />
Immer öfter passiert es, dass Träger Menschen, die bei ihnen<br />
betreut werden möchten, vertrösten oder abweisen müssen (also<br />
ihrer eigentlichen Arbeit nicht nachgehen können), weil sie<br />
keinen <strong>Wohn</strong>raum für Maßnahmen des »Betreuten Einzelwohnens«<br />
anbieten können. Im Jahresbericht des Vereinigung für<br />
Jugendhilfe <strong>Berlin</strong> e. V. (VfJ) beschreibt dessen geschäftsführender<br />
Vorsitzender, Ralf Feuerbaum, diese Entwicklung so: »Selbst<br />
in <strong>Berlin</strong>-Neukölln ist es aber inzwischen kaum noch möglich,<br />
geeignete bezahlbare Mietwohnungen zu finden. Dies führt<br />
dazu, dass trotz eines anerkannten Betreuungsbedarfes durch<br />
den Sozialhilfeträger kein Betreuungsverhältnis zustande kommen<br />
kann.« Und dies, obwohl die Trägerwohnung durch den<br />
Sozialhilfeträger in vielen Fällen nicht finanziert wird.<br />
<strong>Der</strong> VfJ ist über die Tochter Lebens<strong>räume</strong> für Menschen mit<br />
Behinderung gGmbH (LfB) Träger des modernen, inklusiven<br />
Apartmenthauses Hans-Spänkuch-Haus, in dem es 98 Ein-Zimmer-<strong>Wohn</strong>ungen<br />
für behinderte und nicht-behinderte Bewohner<br />
gibt. Man hat Immobilienerfahrung, man ist sogar im Verband<br />
<strong>Berlin</strong>-Brandenburgischer <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen (BBU).<br />
Dennoch schrecken VfJ und LfB davor zurück, zusätzlich in den<br />
Bau oder Kauf einer Immobilie zu investieren. Erstens, weil die<br />
umstrittene »<strong>Wohn</strong>ungsaufwendungenverordnung«, etwa für<br />
Hartz-IV-Empfänger, die Kaltmiete bei rund 7,30 Euro/Quadratmeter<br />
deckele – ein Mieterlös, der die Baukosten bei weitem<br />
nicht abdeckt. Und zweitens weil es seit der Abschaffung des<br />
»Sozialen <strong>Wohn</strong>ungsbaus« keine Förderung mehr gebe »die uns<br />
4
in die Lage versetzen würde, zu einem Preis zu bauen, der hinterher<br />
bezahlbare Mieten ermöglicht«. (Ralf Feuerbaum, VfJ).<br />
In vielen E-Mails und Anrufen beim <strong>Paritätische</strong>n wird der<br />
Umstand beklagt, dass es an Anreizen und Anstößen fehlt, in<br />
den sozialen <strong>Wohn</strong>ungsbau zu investieren. Stephan Guerra<br />
Núñez von der Bereichsleitung Stationäre Hilfen zur Erziehung<br />
Evin e. V. sagt, dass »die Verabschiedung des Landes aus<br />
dem sozialen <strong>Wohn</strong>ungsbau und die damit einhergehende<br />
Privatisierung der <strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften ein Teil des<br />
nun bestehenden Problems ist – ein gravierender politischer<br />
Handlungsfehler«.<br />
Anstöße zur sozialpolitischen Wende<br />
auf dem <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />
Und Esther Lehr, Leiterin Ambulanter <strong>Wohn</strong>verbund bei der<br />
Albert Schweitzer Stiftung – <strong>Wohn</strong>en und Betreuen, schreibt:<br />
»Wichtig finden wir die politische Diskussion<br />
zu Möglichkeiten einer Regulierung des (privatwirtschaftlichen)<br />
<strong>Wohn</strong>ungsmarktes und<br />
zum Thema Sozialraum und Verdrängung von<br />
Menschen mit seelischer Beeinträchtigung in problemzentrierte<br />
Quartiere. Es stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, auch in<br />
begehrten (Innenstadt)Quartieren die <strong>Wohn</strong>raumversorgung so<br />
zu planen, dass auch Menschen mit geringem Einkommen oder<br />
Beeinträchtigungen in ihrem Heimatkiez bleiben können.«<br />
Unfreiwillig sind psychosoziale Träger zu Immobilienscouts<br />
geworden. Stets sind sie auf der Suche nach <strong>Wohn</strong>raum für die<br />
Droht eine Rehospitalisierung<br />
auf leisen Sohlen?<br />
von ihnen Betreuten. Antje Gentzmann von Opferhilfe <strong>Berlin</strong><br />
e. V. berichtet zum Beispiel: »Bei uns in der Beratungsstelle<br />
spielt das Thema <strong>Wohn</strong>raumversorgung eine große Rolle. Einerseits<br />
gibt es Opfer, die aufgrund einer in der <strong>Wohn</strong>ung erlebten<br />
Straftat dringend umziehen möchten, andererseits gibt es bei Fällen<br />
wie Stalking oder nachbarschaftlichen Konflikten oft eine<br />
dringende Notwendigkeit, den <strong>Wohn</strong>ort zu wechseln, um sich<br />
zu schützen. All diesen Personen fällt es schwer, dieses Problem<br />
zu lösen, da der <strong>Wohn</strong>ungsmarkt so schlimm aussieht.«<br />
Viele Träger befürchten, zur reinen<br />
Vermieterfunktion verdammt zu sein<br />
Viele soziale Träger grasen mit Hilfe spezialisierter Makler den<br />
<strong>Berlin</strong>er Immobilienmarkt nach <strong>Wohn</strong>ungen ab, die sie anschließend<br />
als sogenannte »Trägerwohnungen« anmieten und an ihre<br />
Klienten weiter vermieten. Das Problem sei, schreibt Dr. Thomas<br />
Pfeifer, Geschäftsführer der Wuhletal Psychosoziales Zentrum<br />
gGmbH, »dass wir häufig mit dem Ende<br />
der Betreuung des Klienten die <strong>Wohn</strong>ung<br />
nicht in das Hauptmietverhältnis des dann<br />
ehemaligen Betreuten übertragen bekommen,<br />
da das <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen nicht zustimmt und uns offensichtlich<br />
als den noch besseren Mietschuldner anssieht. So haben<br />
wir in einigen Fällen bereits reine Vermieterfunktionen.«<br />
Anders als die Nachfrage nach großen <strong>Wohn</strong>ungen für Familien<br />
und <strong>Wohn</strong>gemeinschaften wächst der Trend zu kleinen <strong>Wohn</strong>ungen<br />
für Singles. Just nach solchen <strong>Wohn</strong>ungen ist die Nachfrage<br />
in <strong>Berlin</strong> so immens, dass die Preise klettern. Die Folge:<br />
<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n 5
Mieten von <strong>Wohn</strong>ungen mit rund 45 – 50 Quadratmetern steigen<br />
bei <strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften auf Beträge, die nicht mehr<br />
im Limit von Harz IV liegen.<br />
Entsprechend schwer hat es zum Beispiel »die Reha e. V.«, die<br />
zurzeit 20 <strong>Wohn</strong>ungen für Kunden im Rahmen des Betreuten<br />
<strong>Wohn</strong>ens und mindestens drei große <strong>Wohn</strong>ungen für acht ihrer<br />
Kunden sucht, die in einer <strong>Wohn</strong>gemeinschaft leben wollen.<br />
»Aber <strong>Wohn</strong>ungen suchen oder managen, das ist nicht unsere<br />
Kernkompetenz«, sagt Falko Hoppe vom Geschäftsführenden<br />
Vorstand des Trägers, der sich als soziales Unternehmen versteht,<br />
das Menschen mit Behinderungen oder psychischen Beeinträchtigungen<br />
hilft, sich in die Gesellschaft einzugliedern.<br />
<strong>Wohn</strong>ungsunternehmen: Vermietungssperre für<br />
Träger und Vereine?<br />
Auch städtische und öffentliche <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen, so<br />
berichten viele Mitgliedsorganisationen dem <strong>Paritätische</strong>n <strong>Berlin</strong>,<br />
seien zurückhaltender geworden. Manche deuteten schon<br />
mal an, dass ihnen die Vermietung an<br />
Behinderte »zu stressig« sei. Sachbearbeiter<br />
versteckten sich bisweilen hinter<br />
angeblichen Aufsichtsratsbeschlüssen,<br />
wonach man nicht mehr an Vereine vermiete.<br />
Droht eine Rehospitalisierung auf leisen Sohlen? Eine Zentralisierung<br />
von Einrichtungen und <strong>Wohn</strong>ungen für Behinderte<br />
und Beeinträchtigte unter einem Dach, kostengünstig gebaut<br />
oder erworben an der Peripherie der Stadt? Zurück ins Heim?<br />
Unfreiwillig sind psychosoziale<br />
Träger zu Immobilienscouts geworden.<br />
»Dann entwickeln wir uns in die 50er und 60er-Jahre zurück«,<br />
befürchtet Renate Hoffmann, die dem Vorstand der Spastikerhilfe<br />
e. V. angehört und auf entsprechende Überlegungen aus der<br />
Senatsbauverwaltung verweist, wo größeren, ambulant betreute<br />
<strong>Wohn</strong>formen offenbar der Vorzug gegeben werde, in die betroffene<br />
Menschen dann gedrängt würden. Hoffmann: »Bürgerinnen<br />
und Bürger, die auf öffentliche Transferleistungen angewiesen<br />
sind, können barrierefreien <strong>Wohn</strong>raum kaum noch bezahlen,<br />
geschweige denn neue <strong>Wohn</strong>ungen finden«. In <strong>Berlin</strong> gibt es<br />
1450 behindertengerechte <strong>Wohn</strong>ungen; das Zehnfache wäre<br />
angemessen. Sonderbauformen aber seien angesichts des bestehenden<br />
Immobilienbooms mit »normalem« <strong>Wohn</strong>ungsbau bei<br />
öffentlichen und privaten Bauherren nicht sonderlich attraktiv.<br />
S.U.S.I.s Hilferuf könnte symptomatisch werden<br />
Investoren haben dem <strong>Wohn</strong>ungsbau in attraktiven und lukrativen<br />
Stadtlagen zu einem regelrechten Boom verholfen –<br />
unter dem bisweilen soziale Träger leiden. Neulich formulierte<br />
das Interkulturelle Frauenzentrum<br />
S.U.S.I., Geschäftsstelle Linienstraße,<br />
<strong>Berlin</strong>-Mitte, einen Hilferuf: »Wir<br />
suchen Räume, da uns gekündigt<br />
wurde. Die Geschäftsstelle mit Beratungen und Räumen für die<br />
Gruppenangebote liegt in <strong>Berlin</strong>-Mitte in der Linienstraße, eine<br />
begehrte <strong>Wohn</strong>lage. <strong>Der</strong> private Hausbesitzer hat allen Mietern<br />
mit Gewerbemietverträgen gekündigt, da er das Haus zu <strong>Wohn</strong>ungen<br />
umbauen will.«<br />
6
Politische Stellungnahmen<br />
und freundliche Flyer<br />
Was Träger tun, um an <strong>Wohn</strong>raum für ihre Klienten zu kommen | Von Uli Schulte Döinghaus<br />
Soziale Träger, die ihren Klientinnen und Klienten<br />
im <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt zu einem Dach über den Kopf<br />
verhelfen wollen, müssen sich etwas einfallen lassen.<br />
Einige engagieren Immobilienspezialisten, die alle digitalen<br />
und gedruckten Mietmärkte in der Stadt abgrasen. Andere werden<br />
regelmäßig in den Chefetagen der <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen<br />
vorstellig, um auf die prekäre <strong>Wohn</strong>situation ihrer<br />
Klienten aufmerksam zu machen, für die zum Beispiel dringend<br />
passende <strong>Wohn</strong>ungen für Maßnahmen des »Betreuten<br />
Einzelwohnens« (BEW) gesucht werden. »Wir schmieren den<br />
Managern und Geschäftsführern der <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen<br />
regelmäßig Honig um den Bart, sonst können wir nicht mehr<br />
viel tun«, bekennt der Vorstand eines psychosozialen Trägers<br />
freimütig in einem Telefonat mit dem <strong>Paritätische</strong>n <strong>Berlin</strong>. <strong>Der</strong><br />
<strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt sei längst zu einem Anbietermarkt<br />
geworden, mit einer einseitigen Marktmacht bei Vermietern<br />
und <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen.<br />
Gangway: Dringende Stellungnahme an die<br />
zuständige Senatsverwaltung<br />
In dieser Situation wendet sich etwa Gangway e. V. in einer<br />
Stellungnahme an die zuständigen Senatsverwaltungen, quasi<br />
in Vertretung und im Auftrag vieler Jugendlichen, die unter<br />
der Schieflage im <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt besonders leiden.<br />
Ihre Möglichkeiten würden immer begrenzter, schreiben Sindy<br />
Seeber vom Streetwork-Team Marzahn und Matthias Gutjahr<br />
vom Team Startpunkt, einem Modellprojekt der Vereine Gangway<br />
und Freie Hilfe <strong>Berlin</strong>. Startpunkt unterstützt sogenannte<br />
Endstrafer der Jugendstrafanstalt <strong>Berlin</strong> unter anderem bei der<br />
<strong>Wohn</strong>raumbeschaffung. Es müsste ein Instrument geschaffen<br />
werden, das den Zugang für Jugendliche und Heranwachsende<br />
zu kleinen und bezahlbaren <strong>Wohn</strong>ungen regelt, auch und vor<br />
allem dann, wenn sogenannte Ausschlusskriterien (zum Beispiel<br />
negative Schufa, ALG II-Bezug) vorhanden seien. Zudem<br />
bedürfe es weiterer Überbrückungsmöglichkeiten, zum Beispiel<br />
jugendgerechter Unterkünfte, zu denen ein Zugang ohne<br />
langwierige Anträge auf Kostenübernahme möglich sein sollte.<br />
Anderenfalls könnten »Warteschleifen« dazu führen, dass Ausbildungen<br />
abgebrochen werden und der Konsum von Drogen<br />
und die damit verbundene Beschaffungskriminalität begünstigt<br />
würden.<br />
Pinel: Freundlicher Flyer wirbt<br />
um Interesse bei Vermietern<br />
Immer häufiger werben soziale Träger aktiv für sich, unterstreichen<br />
die Bedeutung bezahlbaren <strong>Wohn</strong>raums für eine gute<br />
Betreung und Versorgung ihrer Klienten. Janett Grahl und<br />
Peter Seifert fassen das <strong>Wohn</strong>ungsproblem am Beispiel der<br />
Pinel gGmbH so zusammen: »Wenn Pinel im Bezirk Schöneberg<br />
keinen geeigneten <strong>Wohn</strong>raum für psychisch kranke Menschen<br />
mehr anbieten kann und diese auch selbst keinen adäquaten<br />
<strong>Wohn</strong>raum finden können, hat das negative Folgen für das<br />
Betreuungsnetz und die Träger. Klientinnen und Klienten könnten<br />
gezwungen sein, in großer Zahl in die noch bezahlbaren<br />
Bezirke (zum Beispiel Hellersdorf) zu ziehen. Um diesem Trend<br />
entgegenzuwirken, haben wir uns entschieden, auf andere Weise<br />
als bisher auf die Vermieter und <strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften<br />
zuzugehen und diesen Flyer entwickelt.«<br />
<strong>Der</strong> freundliche Flyer liegt in Maklerbüros, <strong>Wohn</strong>ungsverbänden<br />
und -unternehmen, bei privaten und öffentlichen Vermietern<br />
vor. Eindringlich, sachlich und durch Fallbeispiele von<br />
Klienten gut verständlich beschreiben die Pinel-Mitarbeiter die<br />
Vorzüge ihres sozial-psychiatrischen Trägers als soziale Dienstleister<br />
im <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt:<br />
› sichere Mietzahlungen durch Hauptmietvertrag<br />
› regelmäßige Treffen (Informationsaustausch, Aufklärung),<br />
kurzfristige Ansprechbarkeit – Unterstützung bei der Integration<br />
unserer Klientinnen und Klienten in das <strong>Wohn</strong>umfeld<br />
› Regelmäßige <strong>Wohn</strong>ungsbegehungen durch Mitarbeiterinnen<br />
oder Mitarbeiter unseres Trägers<br />
› Pflege der <strong>Wohn</strong>ung durch eigenes (Fach-)<br />
Haushandwerkerteam<br />
› Interesse an langfristiger Zusammenarbeit und <strong>Wohn</strong>raumerhaltung<br />
im Bezirk.<br />
Missverständnisse aus<strong>räume</strong>n, Skepsis mit<br />
Argumenten begegnen<br />
<strong>Der</strong> Flyertext soll auch dazu dienen, Missverständnisse zwischen<br />
sozialen Trägern wie Pinel und <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen<br />
auszu<strong>räume</strong>n, die sich in der jüngsten Vergangenheit ergeben<br />
haben (und von denen auch andere Träger aus anderen Bezirken<br />
berichten). Immer wieder wird von großen <strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften<br />
berichtet, die Mietverträge mit Trägern kategorisch<br />
ausschlössen, weil in einigen Mietverhältnissen für die Vermieter<br />
nicht mehr nachvollziehbar war, wer aktuell in der Trägerwoh-<br />
<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n 7
nung wohnte. Janett Grahl und Peter Seifert schreiben, dass sie<br />
wegen Befürchtungen über undurchsichtige Mietverhältnisse in<br />
den letzten Monaten nicht mehr auf die Bereitschaft der großen<br />
<strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften gestoßen seien. Das gemeinsame<br />
Interesse am Erhalt der <strong>Wohn</strong>ung und einem guten Zusammenwohnen<br />
der Mieterinnen und Mieter des Hauses sei von Vermietern<br />
bei Verträgen mit sozialpsychiatrischen Trägern vermisst<br />
worden.<br />
Die Flyer-Autoren von Pinel machen abschließend klar:<br />
»Daran möchten wir etwas ändern!«<br />
<strong>Der</strong> <strong>Wohn</strong>flyer von Pinel, Foto: Frederic Brueckel<br />
<strong>Paritätische</strong>s Leitbild »Betreutes Jugendwohnen«<br />
Qualitätsentwicklung in den Hilfen zur Erziehung<br />
So ist eine Arbeitshilfe überschrieben, die sich mit dem »Betreuten Jugendwohnen«<br />
(BJW) als zentraler erzieherischer Hilfeform zur Verselbstständigung<br />
von jungen Menschen beschäftigt.<br />
Mit dem BJW werden Ressourcen gestärkt, die für gelingendes Erwachsenwerden<br />
und für Entwicklungen zu selbststeuerungsfähigen Persönlichkeiten<br />
notwendig sind. Diese Ressourcen sind häufig durch familiäre Rahmenbedingungen<br />
verloren gegangen beziehungsweise nie aufgebaut worden. Betreutes<br />
Jugendwohnen bietet soziales Lernen. Unabhängig von der konkreten<br />
<strong>Wohn</strong>form ist das soziale Lernen im Kontext mit anderen jungen Menschen<br />
und Erwachsenen ein wesentliches Merkmal der Hilfe.<br />
Mit der Veröffentlichung des <strong>Paritätische</strong>n Leitbildes wird auch eine Positionierung<br />
geboten, wie sich das »Betreute Jugendwohnen« aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n<br />
<strong>Berlin</strong> und der in diesem Feld tätigen Organisationen präsentiert<br />
und welche Ansätze die Grundlage für eine erfolgreiche Arbeit im »Betreuten<br />
Jugendwohnen« bilden. Stand: September 2011; 21 Seiten, 1,8 MB<br />
Diese Broschüre können Sie herunterladen unter:<br />
www.paritaet-berlin.de/pressemedien/broschueren.html<br />
Sie ist auch als Papierdruck erhältlich über den <strong>Paritätische</strong>n <strong>Berlin</strong>,<br />
Referat Jugendhilfe, Sabina Mohr, mohr@paritaet-berlin.de.<br />
8
<strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>versorgung<br />
aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n<br />
Von Regina Schödl<br />
Bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum wird in Großstädten und Ballungszentren<br />
immer mehr zur Mangelware. Auch in <strong>Berlin</strong> übersteigt<br />
die Nachfrage nach bezahlbaren <strong>Wohn</strong>ungen mittlerweile das<br />
Angebot in allen Bezirken: Bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum ist kaum<br />
noch zu finden.<br />
Nach einer Studie der Investitionsbank <strong>Berlin</strong> (IBB) wohnten<br />
Ende 2010 insgesamt 3,46 Millionen Personen in <strong>Berlin</strong>, das<br />
sind 18 000 Personen beziehungsweise 0,5 Prozent mehr als im<br />
Jahr 2009. In den letzten zehn Jahren stieg die Anzahl insgesamt<br />
um 72 300 Personen, also 2,1 Prozent. Viel schneller als das Einwohnerwachstum<br />
aber steigt die Anzahl der Haushalte, wovon<br />
es derzeit 1,99 Millionen gibt. Seit 2001 ist ein Anstieg um<br />
durchschnittlich 14 200 Haushalte im Jahr zu verzeichnen, die<br />
meisten davon Singlehaushalte 1 .Bis 2030 wird eine Zunahme<br />
der Bevölkerung um etwa 250 000 Personen prognostiziert, was<br />
einem zusätzlichen Bedarf an 150 000 <strong>Wohn</strong>ungen entspricht.<br />
Mietsteigerungen bis zu 30 Prozent<br />
bei Neuvermietung<br />
Neben den stetig steigenden Kosten für die Kaltmiete (in <strong>Berlin</strong><br />
in 2012 ein Anstieg von durchschnittlich 8,1 Prozent 2 ), stiegen<br />
auch die Kosten für Energie wie für Heizung und Strom zwischen<br />
September 2011 und September 2012 in <strong>Berlin</strong> um fast<br />
7 Prozent 3 .<br />
Bei einem Mieterwechsel erhöhen einige Vermieter mittlerweile<br />
die Kaltmiete um bis zu 30 Prozent!<br />
<strong>Der</strong> Mieterbund hatte gefordert, im Zuge der aktuellen Mietrechtsreform<br />
auch bei Neuverträgen Höchstgrenzen einzuziehen,<br />
konnte sich mit dieser Forderung jedoch nicht durchsetzen.<br />
<strong>Der</strong> <strong>Berlin</strong>er Mietspiegel, den die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung<br />
alle zwei Jahre erhebt, steigt ebenfalls an. Bereits der<br />
Mietspiegel für 2011 wies eine durchschnittliche Mietsteigerung<br />
von knapp acht Prozent (7,9) gegenüber der Erhebung von 2009<br />
aus. Die durchschnittliche Nettokaltmiete stieg auf 5,21 Euro<br />
monatlich pro Quadratmeter. Bei Neuvermietungen liegt sie<br />
mittlerweile sogar bei 6,74 Euro.<br />
Auch im aktuellen Mietspiegel vom 23. Mai 2013 haben sich<br />
im Durchschnitt die Mieten gegenüber dem letzten Mietspiegel<br />
seit 2011 jährlich um 3,1 Prozent beziehungsweise 0,17 Euro je<br />
Quadratmeter <strong>Wohn</strong>fläche und Monat erneut erhöht.<br />
Überdurchschnittlich gestiegen sind vor allem die Mieten bei<br />
Altbauwohnungen, kleineren <strong>Wohn</strong>ungen sowie in der einfachen<br />
<strong>Wohn</strong>lage.<br />
Menschen mit geringem Einkommen<br />
(ALG II Empfänger, Aufstocker, Armutsgefährdete)<br />
Vor allem, aber nicht nur, für einkommensschwache Haushalte<br />
wird es in <strong>Berlin</strong> immer schwieriger, bezahlbaren <strong>Wohn</strong>raum<br />
zu finden. Die Mietbelastung pro Haushalt steigt deutlich an<br />
und beträgt mittlerweile im Durchschnitt ein Drittel des Einkommens.<br />
Bei Haushalten mit geringem Einkommen führt<br />
eine hohe Mietkostenbelastung leicht zu prekären Lagen. Unter<br />
einem Einkommen von 1300 Euro liegt die Mietbelastung sogar<br />
bei 45,8 Prozent 4 .<br />
Für Empfänger von ALG II oder Grundsicherung befindet sich<br />
nicht genügend <strong>Wohn</strong>raum nach den Mietobergrenzen der<br />
<strong>Wohn</strong>aufwendungenverordnung (WAV) auf dem <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt.<br />
Die vorhandenen <strong>Wohn</strong>ungen können den <strong>Wohn</strong>raumbedarf<br />
der Menschen im Transferleistungsbezug oder mit<br />
geringem Einkommen nicht ansatzweise abdecken. Insbesondere<br />
der Nachfragestau bei kleinen <strong>Wohn</strong>ungen ist riesig.<br />
Es ist abzusehen, dass das Ringen um die immer weniger<br />
werdenden preiswerten <strong>Wohn</strong>ungen sich verschärfen wird und<br />
zwangsläufig zu einer noch höheren Mietbelastungsquote der<br />
Geringverdienenden führt.<br />
Laut <strong>Wohn</strong>lagenkarte des Mietspiegels 2011 befinden sich<br />
kaum noch einfache <strong>Wohn</strong>lagen im inneren S-Bahn-Ring, sondern<br />
vorrangig in Stadtrandlagen, meist in Großgebäudekomplexen.<br />
Die Orientierung der WAV an einfachen <strong>Wohn</strong>lagen<br />
verdrängt somit ALG II- und Grundsicherungsempfänger aus<br />
den innerstädtischen Bereichen. Aber auch in Stadtrandlagen<br />
sind die angemessenen <strong>Wohn</strong>ungen nicht ausreichend vorhanden.<br />
Große <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen melden schon jetzt in diesen<br />
Gebieten eine stark gestiegene <strong>Wohn</strong>raumnachfrage.<br />
Menschen mit besonderem Hilfebedarf<br />
Eine negative Schufa-Auskunft und/oder eine fehlende Mietschuldenfreiheitsbescheinigung<br />
verringern die Chancen auf dem<br />
<strong>Wohn</strong>ungsmarkt erheblich.<br />
Für wohnungslose Menschen ist es derzeit fast aussichtslos,<br />
in <strong>Berlin</strong> eine <strong>Wohn</strong>ung zu bekommen. Aber auch Menschen<br />
mit erheblichen Zugangsschwierigkeiten, zum Beispiel aufgrund<br />
eines negativen Schufa-Eintrags oder dem Bezug von ALG II,<br />
sind zunehmend ohne Chance, in naher Zukunft eine bezahlbare<br />
<strong>Wohn</strong>ung anmieten zu können. Sie müssen um den knappen<br />
bezahlbaren <strong>Wohn</strong>raum in <strong>Berlin</strong> mit allen anderen Haushalten<br />
konkurrieren, die für die Vermieter als »weniger riskant« gelten.<br />
<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n 9
»Versteckte« <strong>Wohn</strong>ungsnotfälle<br />
Viele wohnungslose Menschen fallen in der Öffentlichkeit gar<br />
nicht auf, da sie bei Freunden oder Verwandten vorübergehend<br />
unterkommen können. Eine verlässliche <strong>Wohn</strong>anschrift ist in<br />
diesen Fällen nicht vorhanden, was Behördengänge oder die<br />
Bewerbung auf eine <strong>Wohn</strong>ung zusätzlich erschwert.<br />
Die Anzahl der Menschen die keine eigene <strong>Wohn</strong>ung anmieten<br />
können und mal hier mal da vorübergehend wohnen, wächst<br />
weiterhin an. In <strong>Berlin</strong> gibt es eine unbekannte Dunkelziffer an<br />
<strong>Wohn</strong>ungsnotfällen, die sicher um einiges höher ist als bei den<br />
sichtbar auf der Straße lebenden, obdachlosen Menschen.<br />
Forderungen des <strong>Paritätische</strong>n<br />
an das Land <strong>Berlin</strong><br />
<strong>Der</strong> <strong>Paritätische</strong> <strong>Berlin</strong> fordert das Land <strong>Berlin</strong> auf, wohnungspolitisch<br />
schnell und entschlossen zu handeln und gegenzusteuern.<br />
Das im September 2012 in Kraft getretene Bündnis für soziale<br />
<strong>Wohn</strong>ungspolitik und bezahlbare Mieten ist nur ein Anfang.<br />
Weitere Lösungen sollten jedoch auf Grund der beschriebenen<br />
Situation zeitnah gefunden und umgesetzt werden. Es gilt Strategien<br />
zu entwickeln, die eine sozialräumliche Polarisierung und<br />
eine Verdrängung aus der Stadt verhindern.<br />
Bindungen neu ausrichten und flexibel handhaben<br />
Da in den nächsten Jahren Bestände aus der Bindung fallen<br />
fordert der <strong>Paritätische</strong> <strong>Berlin</strong>, Bindungen durch Landesförderung<br />
zu verlängern oder den Ankauf neuer <strong>Wohn</strong>ungsbestände<br />
voranzutreiben. Eine Neuausrichtung der Belegungsbindungen<br />
ist bezüglich der Versorgung der oben genannten Haushalte mit<br />
Marktzugangsschwierigkeiten dringend notwendig.<br />
<strong>Der</strong> <strong>Paritätische</strong> mahnt an, dass das »Geschützte Marktsegment«<br />
voll ausgeschöpft und darüber hinaus weiter ausgebaut wird. Die<br />
<strong>Wohn</strong>ungsunternehmen müssen in die Pflicht genommen werden,<br />
der Vereinbarung nachzukommen. Um eine sinnvolle Steuerung<br />
des »Geschützten Marktsegments« zu erreichen, sollte das<br />
Kontingent mit bedarfsgerechten Quoten im Hinblick auf die<br />
Haushaltsgröße und die Zielgruppen fortgeschrieben werden.<br />
Neuauflage der <strong>Wohn</strong>aufwendungenverordnung<br />
(WAV) nötig<br />
Durch die knapp bemessene Höchstgrenze bezüglich der Kaltmiete<br />
und der Quadratmeterhöchstzahl bei den Kosten der<br />
Unterkunft haben Menschen im Transferleistungsbezug kaum<br />
eine Chance auf eine bezahlbare <strong>Wohn</strong>ung. In <strong>Berlin</strong> gibt es<br />
mehr Menschen mit Bedarf an solch preiswertem <strong>Wohn</strong>raum,<br />
als <strong>Wohn</strong>ungen in diesem Preissegment zur Verfügung stehen.<br />
Die WAV ist dahingehend zu überarbeiten, als dass sie sich<br />
nicht nur berlinweit an der »einfachen Lage« einer <strong>Wohn</strong>ung,<br />
sondern auch für die verschiedenen Bezirke, Stadtteile und<br />
Kieze der jeweils vor Ort üblichen Miete, orientiert. Damit wird<br />
einer Verdrängung bestimmter Gruppen aus der Innenstadt und<br />
über die Randbezirke hinaus, entgegengewirkt.<br />
Wie das Landessozialgericht im April 2013 entschieden hat, ist<br />
die Übernahme der in <strong>Berlin</strong> als angemessen gesehenen Heizkosten<br />
nicht nur zu hoch, sondern folgt auch keinem schlüssigen<br />
Konzept.<br />
Geschütztes Marktsegment<br />
Mit der zunehmenden Verknappung auf dem <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />
hat die Anzahl der <strong>Wohn</strong>ungsnotfälle in den letzten drei Jahren<br />
deutlich zugenommen. Daher ist für Menschen in besonderen<br />
sozialen Problemlagen ausreichend <strong>Wohn</strong>raum zur Verfügung<br />
zu stellen, zum Beispiel mit Hilfe des 2003 mit den städtischen<br />
<strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften vereinbarten »Geschützten Marktsegments«.<br />
Im Jahr 2012 sind von 1375 vereinbarten <strong>Wohn</strong>ungen<br />
jedoch nur 992 vermietet worden, also 383 weniger als vereinbart.<br />
10
<strong>Der</strong> <strong>Paritätische</strong> fordert daher, dass die tatsächlichen entstehenden<br />
Heizkosten der Betroffenen wie in den anderen Bundesländern<br />
auch übernommen werden müssen und in Folge des Urteils<br />
nicht einfach abgesenkt werden. Die pauschale Übernahme war<br />
vor Inkrafttreten der WAV auch in <strong>Berlin</strong> der Fall und muss<br />
wieder eingeführt werden. Dann bedarf es auch nicht mehr der<br />
vielen Ausnahmeregelungen, die durch das Landessozialgericht<br />
ebenfalls angemahnt wurden.<br />
Prävention von <strong>Wohn</strong>raumverlusten<br />
Kostensenkungsverfahren bei ALG II-Bezieherinnen und -Beziehern<br />
dürfen nicht zu Mietschulden und <strong>Wohn</strong>ungsverlusten<br />
führen. Dies geschieht jedoch in vielen Fällen, wenn die tatsächliche<br />
Miete über der Mietobergrenze liegt und die Kosten der<br />
Unterkunft nicht gesenkt werden können, etwa durch Untervermietung,<br />
Umzug oder Verhandlung mit dem Vermieter. Die<br />
Differenz muss dann von den Betroffenen aus dem ohnehin<br />
schon sehr eng bemessenen Regelsatz beglichen werden.<br />
Hier wäre eine Kooperation zwischen <strong>Wohn</strong>ungswirtschaft,<br />
Verwaltungen und freien Trägern der Wohlfahrtspflege zur Verhinderung<br />
von <strong>Wohn</strong>ungsverlusten wünschenswert.<br />
Auch die Ermessensspiel<strong>räume</strong> der AV <strong>Wohn</strong>en, welche sich<br />
derzeit in der Überarbeitung durch die Senatsverwaltung für<br />
Soziales befindet, müssen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />
der Jobcenter bekannt sein und voll ausgeschöpft werden<br />
können.<br />
Stopp des willkürlichen Ausbaus an Unterbringungen<br />
nach ASOG<br />
Eine weitere Zunahme der Notunterkünfte nach dem Allgemeinen<br />
Sicherheits- und Ordnungsgesetz des Landes <strong>Berlin</strong> (ASOG)<br />
kann und darf nicht unkommentiert und von der Öffentlichkeit<br />
nahezu unbemerkt weiter voranschreiten. <strong>Der</strong> Verarmung der<br />
Zielgruppe wird hier nicht entgegengewirkt, geschweigedenn<br />
präventiv entgegengesteuert. Im Gegenteil, die Kosten explodieren<br />
an einer anderen Stelle ohne etwas an den Rahmenbedingungen<br />
zu ändern oder anmietbaren <strong>Wohn</strong>raum zu schaffen.<br />
Die bereits betriebenen Unterkünfte nach ASOG müssen mit<br />
entsprechendem Fachpersonal ausgestattet werden, um den dort<br />
untergebrachten Menschen Hilfestellung und Beratung zukommen<br />
zu lassen. Das Ziel muss sein, entweder wieder eine eigene<br />
<strong>Wohn</strong>ung beziehen zu können und aus der Notunterkunft auszuziehen,<br />
oder aber eine Überleitung in weitergehende Hilfen wie<br />
Suchthilfe, Eingliederungshilfe, <strong>Wohn</strong>ungslosenhilfe und andere<br />
bei Vorliegen der entsprechenden Einschränkungen und Bedarfe.<br />
Das Land <strong>Berlin</strong> kann und darf es sich nicht leisten, Menschen<br />
über Jahre, teilweise bis zum Lebensende, in Unterkünften<br />
mit zum größten Teil unbeschreiblichen Zuständen sich selbst<br />
und ohne jegliche Perspektive zu überlassen.<br />
1 www.ibb.de/desktopdefault.aspx/tabid-80/218_read-6577<br />
2 Eurostat, Immobilienscout24<br />
3 IMX Immobilienindex für <strong>Berlin</strong>, Bestandswohnungen<br />
4 Statistisches Bundesamt<br />
<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n 11
Energie als Armutsproblem –<br />
wird Energie zum Luxusgut?<br />
Von Regina Schödl<br />
Energie als Armutsproblem ist ein relativ neues Problem. Allein<br />
seit 2005 haben sich im Bundesdurchschnitt die Stromkosten<br />
um 44 Prozent erhöht 1 .<br />
Ist die Energiewende für die derzeitige rasante Preissteigerung<br />
verantwortlich? Wohl kaum, denn aktuell ist nur ein<br />
Achtel der Steigerung der EEG (Erneuerbares Energie Gesetz)-<br />
Umlage für den Ausbau erneuerbarer Energie auszumachen 2 .<br />
Wo noch einsparen?<br />
Die Preissteigerungen belasten alle Haushalte, schwierig wird es<br />
jedoch vor allem für Menschen mit einem geringen Einkommen,<br />
Bezieher von Arbeitslosengeld II, Studierende sowie Rentnerinnen<br />
und Rentner. Sie können die Stromrechnungen bereits<br />
heute oftmals kaum noch bezahlen, ohne an einer anderen Stelle<br />
einzusparen, etwa bei der Kleidung oder bei Lebensmitteln. Im<br />
Regelsatz des Arbeitslosengeld II sind die Kosten für Strom und<br />
Gas grundsätzlich pauschaliert enthalten. So sind grundlegende<br />
Einsparungen an Strom kaum möglich. Ein gewisses Maß an<br />
Stromverbrauch ist auch unumgänglich und irgendwann ist die<br />
untere Grenze, wie weiter Strom gespart werden kann, erreicht.<br />
Die Folgen: Betroffene müssen für einen unbestimmten Zeitraum<br />
ohne Kühlschrank, Elektroherd oder ohne warmes Wasser<br />
auskommen.<br />
von Arbeitslosengeld II aus den knapp zur Verfügung stehenden<br />
finanziellen Mitteln nicht zu finanzieren, denn »wo sollen<br />
die finanziellen Mittel für die Haushalte im Niedrigeinkommensbereich<br />
herkommen, um ihre Haushalte stromsparend<br />
umzurüsten?« 3<br />
Kein analoger Anstieg von Löhnen,<br />
Renten und sozialen Bezügen<br />
Aufgrund der steigenden Energiepreise werden einkommensschwache<br />
Haushalte künftig noch mehr von Energiearmut<br />
betroffen sein. Die steigenden Energiepreise bedrohen die Ärmsten<br />
der Gesellschaft besonders stark, da die Löhne, Gehälter und<br />
Renten leider nicht analog zu den Strompreisen ebenfalls mit<br />
ansteigen 4 .<br />
Betroffene müssen einen überdurchschnittlich hohen Anteil<br />
ihres Einkommens für Wärme und Strom aufwenden. Wenn<br />
sie dazu nicht mehr in der Lage sind und die Stromlieferung<br />
gesperrt wird, sind sie von einer elementaren Daseinsvorsorge<br />
abgetrennt und stehen somit vor existenziellen Problemen.<br />
<strong>Der</strong> Regelsatz für das Arbeitslosengeld II beinhaltet seit dem<br />
1. Januar 2013 monatlich 31,94 Euro für Energie. Die durchschnittlichen<br />
Kosten für einen Einzelhaushalt mit einem knapp<br />
bemessenen Jahresverbrauch von 1500 kWh liegen jedoch bei<br />
37 Euro monatlich.<br />
Kein Geld für stromsparende Geräte<br />
Stromsparende Geräte mit einer geringen Energieeffizienz sind<br />
für Menschen mit einem geringen Einkommen oder mit Bezug<br />
25 000 <strong>Berlin</strong>er Haushalte ohne Strom<br />
Die Folgen davon: In 2011 wurden laut Bundesnetzagentur<br />
312 000 Haushalten und Unternehmen der Strom abgestellt,<br />
weil sie die Rechnung nicht mehr bezahlen konnten 5 . Für <strong>Berlin</strong><br />
12
gehen Schätzungen davon aus, dass in 2011 rund 25 000 Haushalten<br />
der Strom gesperrt wurde. Bei den steigenden Strompreisen<br />
ist davon auszugehen, dass die Anzahl weiter steigen wird.<br />
<strong>Paritätische</strong> Forderungen gegen Energiearmut<br />
› Für eine zügige und dauerhafte Vermeidung von Energiearmut<br />
bedarf es ressortübergreifender Strategien der Sozial-<br />
und Energiepolitik. Wenn die Energiepreise weiterhin steigen<br />
wie bisher, dann sind zum Beispiel gestaffelte Beiträge,<br />
entsprechend der Höhe des Einkommens, ein Schritt hin zu<br />
mehr sozialer Gerechtigkeit.<br />
› Bisher ist der Begriff »Energiearmut« zu neu und daher nicht<br />
gesetzlich geregelt. Hier bedarf es einer gesetzlichen Definition,<br />
mit dem Ziel, bei »Härtefällen« – beispielsweise ältere<br />
oder kranke Menschen, Haushalte mit Kindern und Schwangere<br />
– schnell handeln zu können und die Stromsperre zu<br />
verhindern.<br />
› Eine besondere Bedeutung hat in diesem Kontext auch die<br />
Prävention von Stromschulden. So können unterjährige<br />
Anpassungen der monatlichen Abschläge an den tatsächlichen<br />
Verbrauch, hohe Nachzahlungen wegen zu niedrig<br />
angesetzter Abschläge verhindern. Sind bereits Stromschulden<br />
entstanden die den finanziellen Rahmen der Betroffenen<br />
übersteigen, müssen Energieversorger in die Pflicht genommen<br />
werden, realistische Raten und Laufzeiten zur Tilgung<br />
einzu<strong>räume</strong>n.<br />
› Im Regelsatz des Arbeitslosengeldes II sind die Kosten für<br />
Strom und Gas pauschaliert enthalten. Ein weiterer Schritt<br />
hin zur Vorbeugung zunehmender Energiearmut ist daher<br />
die Übernahme der tatsächlichen Stromkosten für Bezieher<br />
von Arbeitslosengeld II. Dabei sollten sich die Richtwerte<br />
an einem mittleren Verbrauchswert je Haushaltsgröße orientieren.<br />
Die Anerkennung eines Mehrbedarfs, bei der Warmwasserversorgung<br />
mittels eines Durchlauferhitzers wurde<br />
vom Gesetzgeber in 2011 bereits geregelt. Dies zeigt, dass ein<br />
Teil des Problems erkannt wurde. Die Konsequenzen werden<br />
aber nur unzureichend gezogen. Ein weiterer unabdingbarer<br />
Schritt muss folgen, die tatsächlichen Kosten für Strom und<br />
Gas zu übernehmen.<br />
1 <strong>Paritätische</strong>r Gesamtverband: Energie für alle, Oktober 2012<br />
2 »Die höchsten Anteile an der Steigerung haben die Nachholung für 2012<br />
(40 %), der Rückgang des Börsenstrompreises (21 %) und der Anstieg der<br />
Industrieförderung (16 %).« Quelle: www.beeev.de/_downloads/publikationen/sonstiges/2012/121026_BEE_Hintergrund_EEG-Umlage-2013_aktualisiert.pdf,<br />
Seite 5<br />
3 Rudolf Martens in: <strong>Paritätische</strong> Forschungsstelle, Kurzexpertise: Stromkosten<br />
im Regelsatz: Modellrechungen und Graphiken, Juni 2012<br />
4 In 2012 um 12,1 %<br />
5 »312.000 Stromsperren im Jahr«, taz vom 20.11.2012, www.taz.de/!105885<br />
bzw. Bundesnetzagentur, »Monitoringbericht 2012«, November 2012<br />
<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n 13
»Menschen sind doch keine<br />
Manövriermasse«<br />
Von Uli Schulte Döinghaus<br />
Träger wie die Bürgerhilfe Kultur des Helfens gGmbH stehen<br />
vor immer größeren Problemen, wenn es um ihre Klienten<br />
geht, die von <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit betroffen oder bedroht sind.<br />
Das eigene, drängende Immobilienproblem hat die Bürgerhilfe<br />
im vergangenen Frühjahr erfolgreich lösen können. Seit dem<br />
1. März ist die gemeinnützige Gesellschaft Bürgerhilfe – Kultur<br />
des Helfens Mieterin im Haus der Parität am Urban in der<br />
Grimmstraße 16 in <strong>Berlin</strong>-Kreuzberg, unter einem Dach mit<br />
weiteren <strong>Paritätische</strong>n Mitgliedsorganisationen.<br />
Im Haus der Parität arbeiten jetzt auf einer Etage alle Verwaltungsabteilungen<br />
– Personalwesen, Rechnungswesen, Geschäftsführung<br />
– zusammen, die ansonsten verteilt waren oder von<br />
räumlicher Ausgliederung bedroht.<br />
Die Räumlichkeiten der Geschäftsstelle,<br />
zuvor in der Kreuzberger Taborstraße,<br />
»waren einfach zu beengt«, sagt<br />
Wolfgang Ratajczak, während er sich<br />
zufrieden in den neuen vier Wänden<br />
umschaut.<br />
Ziel der Bürgerhilfe Kultur des Helfens gGmbH sei es, sagt<br />
Geschäftsführer Wolfgang Ratajczak, Menschen, die durch Verlust<br />
von Arbeit, von <strong>Wohn</strong>raum oder durch Suchtkrankheit in<br />
Not geraten seien, zu unterstützen und zu beraten, wenn sie es<br />
aus eigener Kraft nicht mehr schaffen.<br />
Keimzelle der Bürgerhilfe war eine<br />
<strong>Wohn</strong>ungslosentagesstätte – die Wärmestube<br />
Wie viele große soziale Träger setzt sich die Bürgerhilfe aus dem<br />
Trägerverein Bürgerhilfe e. V. und dem operativ tätigen Sozialunternehmen<br />
Bürgerhilfe Kultur des Helfens gGmbH zusammen.<br />
360 bedürftige Menschen werden von rund 80 fachkundigen<br />
Mitarbeitern in Einrichtungen der Nachbarschaftshilfe,<br />
im Übergangshaus Kiefholzstraße, in Therapeutischen <strong>Wohn</strong>gemeinschaften,<br />
im Betreuten Einzelwohnen und in Maßnahmen<br />
zu <strong>Wohn</strong>ungserhalt und <strong>Wohn</strong>ungserlangung betreut. Die<br />
Keimzelle, gewissermaßen der »Urknall der Bürgerhilfe« (Ratajczak),<br />
ist die <strong>Wohn</strong>ungslosentagesstätte für Erwachsene, wie sie<br />
im Jargon der Sozialbürokratie offiziell genannt wird. Für Nachbarn,<br />
Nutzer und Betreuer ist sie nach wie vor die »Wärmestube«,<br />
mit der die Geschichte der Bügerhilfe vor 24 Jahren begann.<br />
Ausgerechnet mit ihrer »Wärmestube«, dem Treffpunkt für<br />
<strong>Wohn</strong>ungslose, musste die Bürgerhilfe ihre eigenen Erfahrungen<br />
mit der Umwälzung des Immobilienmarktes in <strong>Berlin</strong> machen.<br />
<strong>Wohn</strong>en ist ein Menschenrecht.<br />
Nur, wer ein sicheres Dach über dem<br />
Kopf hat, kann ein einigermaßen<br />
selbstbestimmtes Leben führen<br />
<strong>Der</strong> Vermieter attestierte der Bürgerhilfe zwar ausdrücklich<br />
Qualität, sie seien, gewiss, solvente Mieter gewesen und hätten<br />
niemals Probleme bereitet – aber nun sei Schluss; man wolle<br />
das Vertragsverhältnis fristgemäß kündigen, und gehobenen<br />
Geschäftsraum im Wrangelkiez anbieten. Zunächst war man<br />
ratlos. Aber irgendwann konnte dann doch ein Ersatz in der<br />
Cuvry straße bezogen werden, der täglich bis zu 60 wohnungslose<br />
Frauen und Männer willkommen heißt.<br />
<strong>Der</strong> <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt klafft auseinander –<br />
zu Lasten der Schwachen<br />
Wie die Klingen einer Schere verlaufen derzeit in <strong>Berlin</strong> zwei<br />
Entwicklungen auseinander, die gemeinnützigen Vereinen und<br />
Unternehmen wie der Bürgerhilfe und<br />
ihren Klienten besonders zu schaffen<br />
machen. Einerseits verknappt sich das<br />
Angebot an bezahlbarem <strong>Wohn</strong>raum,<br />
andererseits werden sozial Schwache<br />
aus dem <strong>Wohn</strong>ungsmarkt geschleudert<br />
und immer häufiger zu Kunden in den Hilfeeinrichtungen<br />
sozialer Träger und ihren Angeboten im Betreuten Einzelwohnen,<br />
Betreuten Gruppenwohnen, in Übergangshäusern oder<br />
Kriseneinrichtungen.<br />
Das unumstößliche Gebot ist für Wolfgang Ratajczak und<br />
seine Kollegen: »<strong>Wohn</strong>en ist ein Menschenrecht«. Nur, wer ein<br />
sicheres Dach über dem Kopf habe, könne ein einigermaßen<br />
selbstbestimmtes Leben führen – das ist die Maxime, der alle<br />
folgen, die mit Menschen zu tun haben, die wohnungslos oder<br />
von <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit bedroht sind. In einer solchen Situation<br />
kapseln sich Menschen ab, vereinzeln und »kriegen Schiss vor<br />
den Leuten in Ämtern und Verwaltungen, die selbst auch zunehmend<br />
gestresster werden« (Ratajczak). Die Menschen brauchen<br />
Stabilisierung, eine Auszeit.<br />
Hier irrt Herr Wowereit – zumindest zur Hälfte<br />
Aber es werde immer schwieriger, diese Zielgruppe adäquat zu<br />
betreuen – sie etwa wieder in eine eigene <strong>Wohn</strong>ung zu bringen,<br />
nachdem sie im Betreuten Einzelwohnen oder in den <strong>Wohn</strong>gemeinschaften<br />
des Betreuten Gruppenwohnens dafür fit gemacht<br />
wurden. »Selbst der beste Sozialarbeiter kann nichts daran<br />
ändern«, sagt Wolfgang Ratajczak, »dass das Dach über dem<br />
Kopf immer teurer und immer knapper wird, und wenn Herr<br />
Wowereit sagt, Mieten und <strong>Wohn</strong>raumnachfrage in <strong>Berlin</strong> seien<br />
14
ein positives Zeichen für die Stadt, dann ist das vielleicht die<br />
eine Seite der Medaille. Die andere ist die Verknappung.«<br />
Ratajczak bemängelt, dass Politik und Verwaltung seit 1999<br />
die Obdachlosenrahmenplanung nicht mehr fortgeschrieben<br />
hätten, und er kritisiert, dass sich in die Immobilienwirtschaft<br />
längst ein verräterischer Jargon eingeschlichen habe. Stadtrandsiedlungen<br />
von Marzahn, Neukölln und Spandau mit ihren<br />
noch preiswerten <strong>Wohn</strong>ungen würden zum »Überlaufbecken«<br />
für den <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt, so zitiert er den jüngsten<br />
<strong>Wohn</strong>ungsmarktbericht der Investitionsbank <strong>Berlin</strong> (IBB). »Wir<br />
reden von Menschen, und die sind doch keine Manövriermasse!«<br />
Wie viele Fachleute warnt auch der Bürgerhilfe-Geschäftsführer<br />
vor einer Ghettoisierung sozial schwacher Bevölkerungsgruppen,<br />
wenn sie in <strong>Wohn</strong>gegenden an den Rand der Bezirke verdrängt<br />
werden. Um einer solchen Gentrifizierung der <strong>Wohn</strong>ungslosen<br />
und von <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit Bedrohten vorzubeugen, müsste<br />
bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum in der Stadt erhalten bleiben, Umwidmungen<br />
unterbunden werden. Es müssten Anreize für Bauherren<br />
(unter Umständen auch soziale Träger) geschaffen werden,<br />
die sich zu Baugruppen zusammenschließen und preiswertes<br />
<strong>Wohn</strong>en gerade für Menschen anbieten, die an den gesellschaftlichen<br />
Rand geraten<br />
i<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Bürgerhilfe Kultur des Helfens gGmbH<br />
Grimmstr. 16 | 10967 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–612 15 81<br />
sekretariat@buergerhilfe-berlin.de<br />
www.buergerhilfe-berlin.de<br />
Titelbild der Fotoausstellung <strong>Wohn</strong>(T)<strong>räume</strong>, Foto: Heike Sievers<br />
<strong>Wohn</strong>problematik aus Sicht <strong>Paritätische</strong>r Träger 15
<strong>Der</strong> <strong>Wohn</strong>führerschein – bessere Chancen für<br />
Jugendliche auf dem <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />
Von Roland Bohr, Frieder Moritz, Mathias Riester<br />
Seit gut einem Jahr gibt es in <strong>Berlin</strong> die Möglichkeit, einen<br />
<strong>Wohn</strong>führerschein abzulegen. Noch ist er nicht Pflicht wie<br />
beim Autofahren, aber er hilft, sich auf eine erfolgreiche <strong>Wohn</strong>ungssuche<br />
und die erste eigene <strong>Wohn</strong>ung vorzubereiten.<br />
Angesichts des immer enger werdenden <strong>Wohn</strong>ungsmarktes in<br />
der Hauptstadt wird die <strong>Wohn</strong>ungssuche immer schwieriger –<br />
für Jugendliche aus Jugendhilfeeinrichtungen umso mehr.<br />
Aufbauend auf einer Idee von drei in der Großsiedlung Marzahn<br />
agierenden <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen – allod GmbH & Co. KG,<br />
degewo Marzahner <strong>Wohn</strong>ungsgesellschaft mbH, <strong>Wohn</strong>ungsgenossenschaft<br />
Marzahner Tor eG – und dem dortigen von<br />
Senat und Bezirk beauftragten Quartiersmanagement Mehrower<br />
Allee führt der Verein Jugendarbeit, Kultur und soziale Dienste,<br />
kurz Jakus, Kurse zur Erlangung des <strong>Wohn</strong>führerscheins durch.<br />
Jakus hat die Idee zu einem praxisnahen Programm weiterentwickelt.<br />
Es geht darum, die benachteiligten Jugendlichen<br />
aus Einrichtungen der Jugendhilfe fit für die <strong>Wohn</strong>ungssuche<br />
zu machen und ihnen den Zugang zur ersten eigenen <strong>Wohn</strong>ung<br />
zu vereinfachen. Das erweist sich als besonders notwendig, da<br />
sie oft als »potentielle Problemverursacher« stigmatisiert werden<br />
und zum anderen in der Regel wenig wissen, was für die Suche<br />
und die Bewirtschaftung der eigenen <strong>Wohn</strong>ung wichtig ist.<br />
Kennen Sie die Farbe des stromführenden Kabels?<br />
Wissen Sie was die Reparaturklausel im Mietvertrag beinhaltet?<br />
Wissen Sie wo sich der Hauptabsperrhahn für Wasser in Ihrer<br />
<strong>Wohn</strong>ung befindet? Kennen Sie den Unterschied zwischen Nettokalt-<br />
und Bruttowarmmiete? Wie sollte ich bei der <strong>Wohn</strong>ungssuche<br />
in einem Bewerbungsgespräch auftreten?<br />
Diese und viele andere Themen werden mit den Jugendlichen<br />
erarbeitet, damit sie wissen, auf welches große Projekt sie<br />
sich mit der ersten eigenen <strong>Wohn</strong>ung einlassen und welche Verantwortung<br />
sie übernehmen müssen, eine eigene <strong>Wohn</strong>ung zu<br />
erhalten und auch zu behalten. Aber auch, welche Pflichten und<br />
Rechte sie haben und wie sie sich – mit dem Wissen des Kurses<br />
ausgestattet – bei einer Hausverwaltung vorstellen, damit sie<br />
eine Chance auf die erste eigene <strong>Wohn</strong>ung bekommen.<br />
Einfache Reparaturen in der <strong>Wohn</strong>ung lernen, Foto: Michael Janda<br />
16
Vom Mietrecht bis zum Bewerbungstraining<br />
<strong>Der</strong> <strong>Wohn</strong>führerschein Jugendhilfe besteht aus sechs Schulungsmodulen.<br />
Es geht dabei um Mietrecht, <strong>Wohn</strong>ungs- und Energiekosten<br />
und bauliche Belange der <strong>Wohn</strong>ung. Die Jugendlichen<br />
machen auch praktische Übungen und Rollenspiele beispielsweise<br />
zur Einrichtung der <strong>Wohn</strong>ung oder »Wie vermeide beziehungsweise<br />
löse ich nachbarschaftliche Konflikte? Wie bewerbe<br />
ich mich?«<br />
Die Beteiligung der <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen an den Kursen<br />
ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Themen mit großer<br />
Ernsthaftigkeit und in realistischen Kontexten behandelt<br />
werden. So gehen beispielsweise den Rollenspielen der Jugendlichen<br />
beim Thema »Nachbarschaftliches Zusammenleben« Vorstellungen<br />
von echten Fällen voraus, die die Konfliktmanager<br />
der <strong>Wohn</strong>ungsgesellschaften mit den Jugendlichen erläutern.<br />
Und auch das Bewerbungstraining findet<br />
nach der Vorbereitung direkt in den<br />
Vermietungsbüros der <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen<br />
statt.<br />
Mit dem <strong>Wohn</strong>führerschein knüpfen<br />
die Organisatoren an der unmittelbaren Lebenswirklichkeit der<br />
Jugendlichen an. Die Suche nach der eigenen <strong>Wohn</strong>ung steht in<br />
der Regel nach Abschluss der bisherigen Hilfen an. <strong>Der</strong> Weg in<br />
diese Art der Selbstständigkeit stellt für viele dieser Jugendlichen<br />
fast eine Bedrohung dar. Daher ist die Motivation, das Angebot<br />
wahrzunehmen, für die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />
sehr hoch. <strong>Der</strong> Nutzen ist direkt erkennbar.<br />
Die Absolventen können mit dem<br />
Zertifikat am Ende zeigen, dass<br />
sie ihren Teil geleistet haben.<br />
Sich als erwachsene Mieter verhalten lernen<br />
Diese Motivation wird von den Projektbeteiligten – den <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen,<br />
den Jugendämtern und dem durchführenden<br />
Träger – dadurch unterstützt, dass dem Kurs ein bedeutsamer<br />
und wertschätzender Rahmen gegeben wird: Begrüßung der<br />
Jugendlichen und Verleihung der Zertifikate erfolgen jeweils in<br />
einer kleinen offiziellen Zeremonie. Die Unternehmen stellen<br />
hochwertige Schulungsunterlagen zur Verfügung. <strong>Der</strong> Träger<br />
achtet auf kleine Lerngruppen und gute räumliche Bedingungen.<br />
Mit diesem Setting gelingt es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern,<br />
sich den großen inhaltlichen und disziplinarischen<br />
Herausforderungen erfolgreich zu stellen: wenn sie als zukünftige<br />
erwachsene Mieter angesprochen werden, können sie sich<br />
auch als solche verhalten und sich ernsthaft mit den auf sie<br />
zukommenden Ansprüchen auseinandersetzen.<br />
Die Erfahrungen der ersten Kurse zeigen, dass die Jugendlichen<br />
an Selbstbewusstsein und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten<br />
gewonnen haben.<br />
Auch wenn von einem achtwöchigen Kurs keine Wunderdinge<br />
zu erwarten sind und mit dem <strong>Wohn</strong>führerschein die<br />
<strong>Wohn</strong>ungssuche am Ende nicht zwangsläufig erfolgreich sein<br />
muss, so können die Absolventen mit dem Zertifikat am Ende<br />
aber doch zeigen, dass sie ihren Teil geleistet haben, in ein tragfähiges<br />
und verlässliches Mietverhältnis einzusteigen und dass<br />
sie zugleich eine bereichernde Lernerfahrung und Wissen mitgenommen<br />
haben, was Lust macht auf mehr.<br />
<strong>Der</strong> Nutzen für die <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen<br />
Kerstin Karasch vom <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen allod ist überzeugt,<br />
dass es von Vorteil ist, wenn die Jugendlichen auf alle<br />
Fragen rund um das <strong>Wohn</strong>en, Kautionszahlung,<br />
Schufa-Auskunft und <strong>Wohn</strong>verhalten,<br />
gut vorbereitet sind. Denn<br />
gerade die finanziellen Sicherheiten und<br />
ein eigenes Einkommen der Mietinteressenten<br />
seien wichtige Entscheidungskriterien für die <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen,<br />
wenn sie eine <strong>Wohn</strong>ung vergeben. Als<br />
Mitarbeiterin in einem der <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen, die sich am<br />
<strong>Wohn</strong>führerschein beteiligen, gefällt ihr, dass sie mehr darüber<br />
lernt, wie »junge Leute ticken«. Dies trage zum Verständnis für<br />
deren Situation bei und führe zu Ideen, wie man den Jugendlichen<br />
auf die Füße helfen könne. »Denn neben kleinen positiven<br />
und überraschenden Anekdoten bleibt vor allem in Erinnerung,<br />
wie sich die Jugendlichen in den Kursen entwickeln und wie<br />
sichtbar stolz sie sind, wenn sie den Kurs bestanden haben und<br />
den <strong>Wohn</strong>führerschein überreicht bekommen.«<br />
i<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Jakus e. V.<br />
Bülowstr. 52 | 10783 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–521 34 84 60<br />
info@jakus.org<br />
www.jakus.org<br />
<strong>Wohn</strong>problematik aus Sicht <strong>Paritätische</strong>r Träger 17
Suche: behindertengerechte<br />
<strong>Wohn</strong>ung in <strong>Berlin</strong><br />
Von Martin Thoma<br />
Gudrun Stuhlmann ist keine Frau, die schnell aufgibt. Wenn sie<br />
davon berichtet, wie schwierig es sein kann, einen passenden<br />
neuen Rollstuhl genehmigt zu bekommen, klingt ihre Stimme<br />
kampfeslustig und ihre Augen funkeln. Nur beim Thema <strong>Wohn</strong>ungssuche<br />
ist sie hörbar ratlos.<br />
146 <strong>Wohn</strong>ungsbesichtigungen in einem halben Jahr<br />
Gudrun Stuhlmann leidet unter Rheuma und Osteoporose.<br />
Rückenwirbel und Handgelenke sind versteift. Sie hat künstliche<br />
Knie und eine unendliche Geschichte von Operationen<br />
hinter sich. Als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung<br />
von 100 besitzt sie einen <strong>Wohn</strong>berechtigungsschein für<br />
eine sozial geförderte <strong>Wohn</strong>ung. Nur findet sie keine. Im letzten<br />
halben Jahr hat sie 146 <strong>Wohn</strong>ungen in <strong>Berlin</strong> besichtigt. Sie ist<br />
Vermietern begegnet, die bei Interesse an der <strong>Wohn</strong>ung erst einmal<br />
eine »Bearbeitungsgebühr« kassieren wollten. Sie hat <strong>Wohn</strong>ungen<br />
gesehen, die zwar ebenerdig oder mit Fahrstuhl erreichbar<br />
waren und deshalb als behindertengerecht galten, aber Flure<br />
hatten, in denen ein Rollstuhl nicht wenden konnte. Eine für sie<br />
bezahlbare <strong>Wohn</strong>ung, rollstuhltauglich und mit Balkon hat sie<br />
nicht gefunden. Oder doch: eine gab es. In der durfte man die<br />
Tapete nicht wechseln und kein Loch in die Wand bohren. Es<br />
stellte sich heraus, dass sie asbestverseucht war.<br />
»In einem Posemuckeldorf wäre vielleicht noch was«<br />
Gudrun Stuhlmann wohnt seit 10 Jahren in einer 2-Zimmerwohnung<br />
in Dallgow-Döberitz westlich von <strong>Berlin</strong>. Zurzeit<br />
kann sie sich mit Gehhilfen recht gut darin bewegen. Im Rollstuhl<br />
wäre das schwieriger: Einige Räume sind eng und durch<br />
die Terrassentür in den Garten käme sie dann gar nicht mehr.<br />
Trotzdem würde sie hier wohnen bleiben, wenn die Miete nicht<br />
erhöht worden wäre. Sie liegt jetzt bei 620 Euro, ihre Rente<br />
bei 650. Dazu erhält sie zwar noch eine Witwenrente, doch das<br />
reicht nicht.<br />
Steigende Mieten sind auch im <strong>Berlin</strong>er Umland ein Problem.<br />
»Falkensee ist noch teurer als <strong>Berlin</strong>«, weiß Gudrun Stuhlmann.<br />
»Auf so einem Posemuckeldorf, wo es nicht einmal einen Laden<br />
zum Einkaufen gibt, würde ich vielleicht etwas bekommen. Aber<br />
ich muss davon ausgehen, dass meine Gesundheit nicht besser<br />
wird und ich möchte mich dann noch möglichst selbständig versorgen<br />
können.«<br />
Gudrun Stuhlmann findet keine bezahlbare<br />
behindertengerechte <strong>Wohn</strong>ung, Foto: Martin Thoma<br />
»Ich würde behindertengerechte<br />
Sozialwohnungen bauen«<br />
Was ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben für Gudrun<br />
Stuhlmann bedeutet, merkt man, wenn sie extra ihren neuen<br />
Rollstuhl aus dem Auto holt und vorführt. Mit ihm fühlt sie sich<br />
wieder sicherer, auch einmal alleine wegzufahren, ohne Angst vor<br />
Stürzen. Man merkt es auch, wenn sie von ihrem Engagement<br />
in der Rheuma-Liga erzählt, der sie seit 1992 angehört. Oder an<br />
ihrem Bedauern, den Garten nicht mehr nutzen zu können –<br />
ein Grund dafür, dass sie in ihrer neuen <strong>Wohn</strong>ung wenigstens<br />
einen Balkon haben möchte. »Wenn ich entscheiden könnte«,<br />
sagt Gudrun Stuhlmann, »würde es Auflagen geben, dass bei<br />
Neubauten behindertengerechte Sozialwohnungen gebaut werden<br />
müssen. Es betrifft ja nicht nur mich: die Menschen werden<br />
immer älter.«<br />
i<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Deutsche Rheuma-Liga <strong>Berlin</strong> e. V.<br />
Mariendorfer Damm 161a | 12107 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–32 29 02 90<br />
zirp@rheuma-liga-berlin.de<br />
www.rheuma-liga-berlin.de<br />
18
Zwischen <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit und<br />
Mietwucher – Roma in Mitte<br />
Von Elisabeth Gregull<br />
Ein altes Sofa, Regale voller Bücher und Spiele, eine kleine Sitzecke<br />
für Kinder. Die Ausstattung des Frauenbildungszentrums<br />
von »Kulturen im Kiez« wirkt einfach, aber die Atmosphäre ist<br />
freundlich und verbindlich. An einer Tischgruppe sitzen acht<br />
Frauen aus Rumänien und Bulgarien beim Alphabetisierungskurs.<br />
Die Leiterin Carolin Holtmann schreibt ein großes »D«<br />
an die Tafel. Die Gruppe sucht gemeinsam nach Worten, die<br />
mit »D« beginnen: »Dose«, »Danke«, »dick« und »dünn«, die<br />
Tafel füllt sich langsam.<br />
Die Familien hoffen auf eine bessere Zukunft<br />
»Wir führen unsere Alphabetisierungskurse in Kooperation mit<br />
der Volkshochschule durch«, erzählt Carolin Holtmann. »Kulturen<br />
im Kiez« bietet auch Sozialberatung an. Vor zwei Jahren<br />
begann die Arbeit mit Roma-Familien: »Es sind überwiegend<br />
Familien aus Rumänien und Bulgarien, die in ihren Heimatländern<br />
extrem diskriminiert werden und unter sehr schlechten<br />
Bedingungen leben. Sie malen sich hier bessere Chancen für sich<br />
und ihre Kinder aus. Eines unserer allergrößten Probleme ist die<br />
<strong>Wohn</strong>ungsnot vieler Familien.«<br />
Wenn <strong>Wohn</strong>ungsnot ausgenutzt wird<br />
Georgeta Cojocaru, ihr Mann und ihr kleiner Sohn sind ganz<br />
konkret von <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit betroffen. Man sieht der jungen<br />
rumänischen Frau mit den langen dunklen Haaren und dem<br />
weißen Kleid nicht an, welche Odyssee sie hinter sich gebracht<br />
hat, sie wirkt gefasst: »Wir haben nach einer <strong>Wohn</strong>ung gesucht,<br />
aber die sind sehr teuer. Und aufgrund unseres Aussehens würden<br />
wir die auch nicht bekommen«, ergänzt sie auf Romanes.<br />
Ihre Familie musste öfter im Park schlafen oder in der U-Bahn.<br />
Flora und Demir Jasarevic sind Nachbarn, die heute wie schon<br />
öfter Romanes-Deutsch dolmetschen und die Arbeit von »Kulturen<br />
im Kiez« unterstützen. »Es gibt viele Familien, die in einer<br />
ähnlichen Situation sind. In ganz <strong>Berlin</strong>, seit drei, vier Jahren«,<br />
sagt Demir Jasarevic. Georgeta Cojocaru erzählt, dass man versucht<br />
hat, aus ihrer Situation Profit zu schlagen: »Für eine Einzimmerwohnung<br />
wollten sie 2000 Euro.« Carolin Holtmann<br />
bestätigt ähnliche Erfahrungen: »Es gibt immer wieder Menschen,<br />
die die Notsituation der Familien ausnutzen.«<br />
Keine Welle von »Armutsmigration«<br />
Anders als einige Medienberichte und Politiker es darstellen,<br />
ist Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien nicht allein<br />
»Armutsmigration«. <strong>Der</strong> »Mediendienst Integration« weist mit<br />
einigen Wissenschaftlern darauf hin, dass unter den Zuwanderern<br />
viele Hochqualifizierte, Studierende, Saisonarbeiter und<br />
sozialversicherungspflichtige Beschäftigte seien. 80 Prozent der<br />
aus diesen Ländern seit 2007 Zugewanderten gingen einer<br />
Erwerbsarbeit nach, wie eine Sonderauswertung des Mikrozensus<br />
für den »Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration<br />
und Migration« zeige.<br />
Heinz Nopper, Präventionsbeauftragter des Bezirks Mitte, findet<br />
diese differenzierte Sichtweise unbedingt notwendig. »So kann<br />
dem teilweise gezeichneten Bild einer Woge, die über uns hereinbricht,<br />
entgegengetreten werden.« Im Februar 2013 waren im<br />
Bezirk Mitte 6791 bulgarische und rumänische Staatsangehörige<br />
gemeldet. 2012 lag ihre Zahl in ganz <strong>Berlin</strong> bei rund 25 000.<br />
Ausgrenzung und Armut von Roma<br />
als europäisches Problem<br />
Ethnische Zugehörigkeiten werden nicht erfasst, seriöse Aussagen<br />
über den Anteil von Roma ließen sich deswegen nicht<br />
machen, meint Heinz Nopper: »Wir wissen aus der unmittelbaren<br />
Beobachtung, aus der Zusammenarbeit in unserem Netzwerk<br />
AG Roma, aus der direkten Arbeit mit den Roma-Familien,<br />
vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und von den<br />
Schulen, dass wir in unserem Bezirk eine größere und wachsende<br />
Anzahl von bulgarischen und rumänischen Staatsangehörigen<br />
haben, die der Gruppe der Roma angehören.«<br />
Für die AG Roma stehen die sozialökonomischen Probleme der<br />
Roma im Vordergrund, sie seien eine »marginalisierte und noch<br />
immer verfolgte Minderheit in Europa«, heißt es in einer Stellungnahme.<br />
Es brauche europaweit Ansätze, um Armut, Ausgrenzung,<br />
geringe Bildung, armselige <strong>Wohn</strong>verhältnisse und<br />
schlechte Gesundheit zu bekämpfen. Die Neuzugewanderten<br />
haben hier in der Regel keinen Anspruch auf Sozialleistungen.<br />
Es besteht aber die Option, ein Gewerbe aufzunehmen.<br />
Heinz Nopper hofft, dass der soeben vorgelegte ›<strong>Berlin</strong>er Aktionsplan<br />
zur Einbeziehung ausländischer Roma‹ hilft, »die notwendigen<br />
Unterstützungs- und Versorgungsangebote zu gewährleisten<br />
und abzusichern. Voraussetzung ist, dass der Senat die<br />
dafür erforderlichen Finanzmittel bereitstellt.« Denn die prekäre<br />
Situation der Zugewanderten wird oft missbraucht.<br />
<strong>Wohn</strong>problematik aus Sicht <strong>Paritätische</strong>r Träger 19
Teufelskreis <strong>Wohn</strong>ungsnot<br />
Schon 2010 thematisierte die AG Roma die äußerst problematische<br />
<strong>Wohn</strong>situation der Zugewanderten in Mitte. Es fehle<br />
an Übergangslösungen in Notsituationen. Eine kleine Unterkunft<br />
mit dem Nötigsten wäre für viele bezahlbar. Ein regulärer<br />
Zugang zum <strong>Wohn</strong>ungsmarkt indes sei fast unmöglich, da<br />
Einkommensnachweise fehlen, permanent drohe <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit.<br />
Häufig würde durch andere angemieteter <strong>Wohn</strong>raum<br />
teurer überlassen.<br />
Carolin Holtmann kennt diesen Teufelskreis: »Wir haben in<br />
unserem Kurs allein fünf Familien, die im letzten Jahr von <strong>Wohn</strong>ungsnot<br />
betroffen waren. In der Turmstraße hatte Humanitas<br />
Kinderhilfe <strong>Berlin</strong>-Brandenburg <strong>Wohn</strong>ungen angemietet und<br />
diese zu deutlich höheren Preisen untervermietet. Im Juni mussten<br />
die ganzen Familien dann raus und standen auf der Straße.«<br />
Eine Atempause<br />
Georgeta Cojocaru und ihre Familie haben vorerst eine Bleibe<br />
gefunden, wenn auch nur für einen Monat. »Wärme mit Herz«,<br />
ein Projekt für Obdachlose, hat der Familie gerade ein Zimmer<br />
angeboten. Das Projekt wurde ursprünglich durch die Gesobau<br />
unterstützt. Inzwischen soll die <strong>Wohn</strong>ung in der Sprengelstraße<br />
Mitte Mai wegen anhaltender Differenzen aber endgültig<br />
geräumt werden.<br />
Carolin Holtmann sieht diese kurze Zeitspanne dennoch als<br />
eine Atempause: »Georgeta arbeitet jetzt, sie hat ein Gewerbe<br />
angemeldet als Reinigungskraft. Wir hoffen, dass sie über kurz<br />
oder lang genug verdient, so dass sie sich auch eine <strong>Wohn</strong>ung<br />
leisten kann.« Demir Jasarevic ergänzt: »Sie sind sehr fleißig, sie<br />
kümmern sich um ihre Alphabetisierung, sie wollen sich eine<br />
Zukunft aufbauen. Und was sie unbedingt brauchen, ist eine<br />
<strong>Wohn</strong>ung.«<br />
i<br />
Kontakt und<br />
Kooperationspartner<br />
Kulturen im Kiez e. V.<br />
Carolin Holtmann<br />
Reinickendorfer Straße 105 | 13347 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–81 61 87 00<br />
c.holtmann@kulturen-im-kiez.de<br />
www.kulturen-im-kiez.de<br />
Carolin Holtmann (3. v. l.) leitet den Alphabetisierungskurs für bulgarische und rumänische Frauen, Foto: Elisabeth Gregull<br />
20
»Das Immobilienthema ist<br />
nicht unser Kerngeschäft«<br />
Gespräch mit Ansgar Dietrich, Via gGmbH | von Uli Schulte Döinghaus<br />
Ansgar Dietrich arbeitet als Leiter für Finanzbuchhaltung und<br />
Immobilienentwicklung bei der Via Verbund für Integrative<br />
Angebote <strong>Berlin</strong> gemeinnützige GmbH.<br />
Erleben Sie als gemeinnütziger Träger und Anbieter von psychosozialen<br />
Projekten <strong>Wohn</strong>ungsnot in <strong>Berlin</strong>?<br />
Immer öfter haben wir es mit Menschen zu tun, die keine <strong>Wohn</strong>ung<br />
haben, die zum Beispiel in der Klinik gelandet sind und<br />
therapeutisch versorgt werden müssen. Lange Zeit funktionierte<br />
die <strong>Wohn</strong>raumversorgung dadurch recht gut, dass wir als Zwischenmieter<br />
aufgetreten sind, und unsere Klienten als Untermieter<br />
in diesen <strong>Wohn</strong>ungen waren.<br />
Sind Sie in solchen Fällen gewerblicher Mieter? Mit entsprechend<br />
geringem Kündigungsschutz?<br />
Rein mietrechtlich ist es leider so, dass unsere Hauptmietverträge<br />
automatisch dem Gewerbemietrecht unterliegen, die Untervermietung<br />
aber eher unter das <strong>Wohn</strong>ungsmietrecht fällt. Lange<br />
Zeit hat diese Konstruktion trotzdem gut funktioniert, weil der<br />
Markt in <strong>Berlin</strong> relativ entspannt war. Viele Vermieter waren<br />
froh, es mit einem stabilen Mieter zu tun zu haben, der regelmäßig<br />
und pünktlich die Miete für eine ansehnliche Zahl von<br />
<strong>Wohn</strong>ungen überweist.<br />
Ansgar Dietrich, Foto: Via gGmbH<br />
erfolgt über bezirkliche Steuerungsrunden, die unter inhaltlichen<br />
Aspekten wie Art der Erkrankung und Schwerpunkten der<br />
Betreuungsangebote die bestmögliche Versorgung für einen Klienten<br />
finden soll. Es wird zunehmend so sein, dass besonders in<br />
den Innenstadtlagen Leute kommen, die nicht mit <strong>Wohn</strong>raum<br />
versorgt sind. Konsequenz: Entscheidend ist womöglich nicht<br />
mehr, welcher Träger inhaltlich das am besten passende Konzept<br />
hat, sondern die Antwort auf die Frage: Wer kann dem Klienten<br />
ein Dach über dem Kopf bieten?<br />
Als gemeinnütziger Träger war und ist Via also ein sehr angenehmer<br />
Zwischenmieter. Was hat sich geändert?<br />
Jetzt gibt es lukrativere Verwertungsmöglichkeiten für Immobilieneigentümer.<br />
Viele langfristige Mietverhältnisse laufen aus,<br />
zum Beispiel in der Straßburger Straße, nahe dem Rosa-Luxemburg-Platz.<br />
Dort wohnen 28 Menschen, die über Via betreut<br />
werden, vorwiegend in Einzelappartements und in einer betreuten<br />
<strong>Wohn</strong>gemeinschaft. Das Haus fiel jetzt aus der <strong>Wohn</strong>ungsbauförderung<br />
heraus – eine Sache, die viele Träger betrifft. Die<br />
Eigentümer durften damit auf die Kostenmiete erhöhen, die bei<br />
13 bis 14 Euro liegt.<br />
Da eine solche Miete für unsere Klienten nicht refinanzierbar<br />
ist, begannen schwierige Verhandlungen. Unser Ziel war, die<br />
28 Menschen unbedingt dort, also in ihrer gewohnten Umgebung,<br />
zu halten. Plötzlich waren wir mächtig unter Druck, denn<br />
auch ein Alternativobjekt war nicht zu bekommen.<br />
Ganz zu schweigen von den individuellen Wünschen und Vorstellungen<br />
der Bewohner<br />
Bei unserer Klientel geht die Nachfrage nach therapeutischen<br />
WGs immer weiter zurück. Den neuen Trend zu kleinen Einzelwohnungen<br />
muss jeder Bauherr oder Generalmieter berücksichtigen,<br />
jedoch ist in dem Marktsegment der Konkurrenzdruck<br />
noch größer.<br />
Ist das für die Träger immer durchzuhalten?<br />
Nein. Wir haben notgedrungen, weil die Situation der bestehenden<br />
<strong>Wohn</strong>ungen in Pankow so prekär war, einige <strong>Wohn</strong>ungen<br />
angemietet, in denen jeweils drei Klienten wohnen können.<br />
Eigentlich war klar, dass dies nicht optimal passt, weil es nicht<br />
das ist, was nachgefragt wird. Auf der anderen Seite drohte der<br />
<strong>Wohn</strong>ungsverlust für einen Teil der Klienten und dann ist ein<br />
Kompromiss besser als gar keine <strong>Wohn</strong>ung.<br />
Wie findet ein zukünftiger Bewohner zu einem <strong>Wohn</strong>- und<br />
Betreuungsprojekt?<br />
Die Zuordnung eines Klienten zu einem Betreuungsprojekt<br />
Sie als Via investieren zwar in den Neubau von Einrichtungen,<br />
aber Sie wären am liebsten Mieter?<br />
Grundsätzlich ja. Das Immobilienthema ist nicht unser Kern-<br />
<strong>Wohn</strong>problematik aus Sicht <strong>Paritätische</strong>r Träger 21
geschäft. Schnell geht es um große Risiken, etwa wenn dem<br />
Gesetzgeber etwas Neues einfällt, zum Beispiel in Sachen »<strong>Wohn</strong>ungsaufwendungenverordnung«<br />
(WAV). Beispiel Talstraße,<br />
dort haben wir ein Grundstück gekauft, um neu zu bauen.<br />
Geplant waren überwiegend 1-Zimmer-Apartments und eine<br />
Demenz-WG. Pro Bewohner waren ca. 30 m² mit 10 Euro Kaltmiete<br />
geplant. Damit wäre eine kostendeckende Finanzierung<br />
möglich gewesen und bei 300 Euro Kaltmiete wäre die obere<br />
Grenze der Mietkostenübernahme nach dem Sozialgesetzbuch<br />
(SGB) von seinerzeit 376 Euro warm auch eingehalten worden.<br />
Dann kam auf einmal die WAV inklusive einer »Quadratmeter-<br />
Höchstmiete«: Inhalt: Die maximale Kaltmiete darf nur 50 Prozent<br />
über der Durchschnittsmiete liegen. Das Problem bei dieser<br />
Definition: »50 Prozent über der Durchschnittsmiete« basiert<br />
auf der 4,91-Euro-Durchschnittsmiete in einer einfachen <strong>Wohn</strong>lage<br />
in <strong>Berlin</strong>. Wenn ich dort 50 Prozent draufpacke, bin ich bei<br />
7,37 Euro und weit entfernt von der kalkulierten Kostenmiete<br />
von 10 Euro pro Quadratmeter.<br />
urbane Mischung an, mit normalen <strong>Wohn</strong>ungsmietern, Studenten,<br />
Familien und Klienten. Als Arbeitstitel nenn wir es »Inklusionshaus«.<br />
Durch die gemischte Mieterschaft lässt sich darüber<br />
hinaus auch das wirtschaftliche Risiko breiter verteilen.<br />
»Inklusives« Recht auf <strong>Wohn</strong>en. Wir reden über einen <strong>Berlin</strong>er<br />
<strong>Wohn</strong>ungsmarkt, der sich vor allem für die sozial Schwächeren<br />
zuspitzt. Wie kann ein Gemeinwesen deren Interessen und<br />
Rechte absichern?<br />
Ich glaube, dass die öffentliche Hand aktive Mieten- und <strong>Wohn</strong>ungspolitik<br />
machen muss. Die eine Säule sind städtische<br />
<strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften. Unsere Sorge als Träger ist, dass<br />
es auf diesem Feld staatlicher Steuerung zu einer Konkurrenz<br />
zwischen den sozial Schwachen kommt, bis hin zum Sozialneid.<br />
Die zweite Säule wären intelligente Förderprogramme, die auch<br />
Trägern für Projekte offen stehen. Eine weitere Steuerungsmöglichkeit<br />
könnte sein, dass das Land über den Liegenschaftsfonds<br />
kostenlos oder verbilligt Grundstücke abgibt.<br />
Das Ende des Projektes »Talstraße«?<br />
Im <strong>Wohn</strong>ungsbestand lagen wir auch schon teilweise über dem<br />
Wert, aber das hat uns nicht so nervös gemacht, denn meist<br />
bekommt man das individuell mit den zuständigen Ämtern geregelt.<br />
Wenn man aber ein neues Projekt plant und mit 10 Euro<br />
kalkuliert, es aber auf einmal eine Verordnung gibt, die sagt, bei<br />
7,37 Euro ist Schluss, entsteht eine riesige Lücke, die ein solches<br />
Projekt kippen kann. Deshalb haben wir das Projekt zurückgestellt<br />
und zunächst gemeinsam mit anderen Trägern und dem<br />
<strong>Paritätische</strong>n gekämpft, dass die Vorschrift präzisiert wird und<br />
auf ihren eigentlichen Zweck, nämlich die Bekämpfung von<br />
Mietwucher, die wir sehr begrüßen, zurückgeführt wird.<br />
Mittlerweile gibt es auch schon einige erfolgreiche Klagen<br />
gegen die WAV und es zeichnet sich ab, dass mit einer neuen<br />
Anwendungsverordnung Öffnungstatbestände für die Quadratmeterobergrenze<br />
geschaffen werden.<br />
Aber Sie haben vorläufig keine Rechtssicherheit?<br />
Nein, die werden wir sicher auch nicht bekommen und erst<br />
recht nicht die Sicherheit, dass irgendein neues Hindernis auftaucht.<br />
Wir treiben die Planung für die Talstraße voran und wollen<br />
bauen. Das Haus bietet <strong>Wohn</strong>raum für circa 50 Menschen.<br />
Als Träger sind wir aber nicht angetreten, dass wir jetzt in einem<br />
Haus 50 Menschen mit psychischer Erkrankung unterbringen<br />
wollen, wie in einer Art Hospitalisierung light. Wir streben eine<br />
Was tun?<br />
Machen wir einen Gedankensprung zurück zur Straßburger<br />
Straße. Über diese Immobilie haben wir eineinhalb Jahre verhandelt,<br />
schließlich haben wir das Gebäude im vergangenen<br />
September nach zähem Ringen gekauft.<br />
… und mit welchem Risiko?<br />
Wir hatten den Vorteil, dass wir das Gebäude als Mieter gut<br />
kannten, weil ja von Anfang an unsere »Unter«mieter drin waren.<br />
Wir kannten insofern auch die Schwachstellen und die Vorteile<br />
des Gebäudes. Zudem sind die Zinsen momentan niedrig, so<br />
dass wir eine Bankfinanzierung mit geringen Eigenmitteln auf<br />
die Beine stellen konnten, die durch die unveränderten Mieten<br />
gedeckt werden kann und auch die notwendige Instandhaltung<br />
in der Zukunft möglich macht. Auf diese Weise trägt sich das<br />
Mietgeschäft selbst, und es ist letztendlich die Grundlage dafür,<br />
dass wir dort gute Betreuung leisten können.<br />
i<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Via Verbund für Integrative<br />
Angebote <strong>Berlin</strong> gGmbH<br />
Ansgar Dietrich<br />
Schönhauser Allee 175 | 10119 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–443 54-811<br />
a.dietrich@via-berlin.de<br />
www.via-berlin.de<br />
22
<strong>Wohn</strong>angebote sozialer Träger<br />
in <strong>Paritätische</strong>n Häusern<br />
Von Rita Schmid<br />
Anfang März 2013 wurde das sechste Haus der Parität am<br />
Urban unter breiter medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit<br />
eröffnet. Prowo e. V., Träger des Neubaus in der Grimmstraße<br />
16 in <strong>Berlin</strong> Kreuzberg, hat hier auf zwei Etagen für das<br />
»Therapeutische <strong>Wohn</strong>en für Mütter mit ihren Kindern« einen<br />
neuen Standort geschaffen.<br />
Daneben sind <strong>Wohn</strong>- und Projekt<strong>räume</strong> des nova pflegeteams,<br />
der Bürgerhilfe gGmbH, der biffy <strong>Berlin</strong>, der Freiwilligenagentur<br />
Kreuzberg-Friedrichshain und der terra est vita Gesellschaft<br />
untergebracht. Außerdem entstanden Räume für Veranstaltungen<br />
mit kiezbezogenen und sozialen Themen. Bald wird das von<br />
Menschen mit Behinderung betriebene Café urbano Gäste zum<br />
Verweilen einladen.<br />
Immer weniger bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum<br />
machte Neubau notwendig<br />
Bauherrenverantwortung und Immobilienfinanzierung gehören<br />
nicht ins Kerngeschäft eines psychosozialen Trägers, meint Helmut<br />
Elle, Geschäftsführer von Prowo e. V. bei der Eröffnung.<br />
Doch vor dem Hintergrund, dass bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum in<br />
<strong>Berlin</strong> immer weniger werde, sei der Neubau eine Notwendigkeit<br />
gewesen. Elle über<br />
die Anfänge der <strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />
für Mütter mit<br />
Kindern vor fast 20 Jahren:<br />
»Damals hatten psychisch<br />
erkrankte Frauen keine Chance, einen Lebensentwurf mit Kind<br />
zu überprüfen. Das Kind kam ins Heim.« Doch die Erfahrung<br />
aus ihrer Arbeit lehre: »Ein Kind kann Kraftquelle und Motivation<br />
sein, sich zu entwickeln.« <strong>Der</strong> Kinderschutz müsse dennoch<br />
immer an erster Stelle stehen. Es sei ein ständiges Abwägen.<br />
Stiftungen und Bezirk waren Unterstützer<br />
Die Realisierung des Hauses der Parität am Urban wurde<br />
möglich durch die Unterstützung vieler Partner. Die Stiftung<br />
Deutsche Klassenlotterie <strong>Berlin</strong> förderte das Bauvorhaben mit<br />
980.000 Euro, die Stiftung Parität <strong>Berlin</strong> gab 250.000 Euro und<br />
die Stiftung Deutsches Hilfswerk, ARD-Fernsehlotterie »Ein<br />
Platz an der Sonne« 300.000 Euro. Prof. Barbara John, Vorstandsvorsitzende<br />
des <strong>Paritätische</strong>n <strong>Berlin</strong> und Vorsitzende der<br />
Stiftung Parität <strong>Berlin</strong>, dankte dem Bezirksbürgermeister von<br />
Friedrichshain-Kreuzberg, Franz Schulz, der auf das Anliegen<br />
der Bietergemeinschaft für mehr Anlaufstellen gehört habe. Die<br />
soziale Nutzung in das Haus zu integrieren, findet Franz Schulz<br />
wichtig. Gerade im bürgerlicher werdenden Kiez dürften Menschen,<br />
die auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen<br />
seien, nicht aus dem Blick geraten.<br />
<strong>Wohn</strong>en im Herzen <strong>Berlin</strong>s<br />
1999 ging das Haus der Parität in der Tucholskystraße, Ecke<br />
Johannisstraße, im Herzen <strong>Berlin</strong>s, gleich um die Ecke zur Touristenmeile<br />
in der Oranienburger Straße, an den Start. Zu den<br />
Erstbeziehern gehörte das Unionhilfswerk mit einer <strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />
für Senioren mit Behinderung. Inzwischen hat sich<br />
die Klientel geändert. Jetzt leben dort vier junge Menschen mit<br />
Beeinträchtigungen. Aufgrund des Standortes und der recht lebhaften<br />
Nachbarn im Haus hatte sich das Unionhilfswerk im Jahr<br />
2010 zu diesem Wechsel der Bewohner entschlossen. Die sehr<br />
gute Verkehrsanbindung, die interessante Umgebung und das<br />
lebhafte Umfeld im Haus sind für junge Menschen gut geeignet.<br />
Jugendwohnen um neu Kraft zu schöpfen<br />
Ebenfalls seit Eröffnung des Hauses der Parität in der Tucholskystraße<br />
ist das Pestalozzi-Fröbel-Haus (PFH) dort Mieter und<br />
betreibt eine Therapeutische Jugendwohngruppe (TWG). Dort<br />
leben sechs Jungen und<br />
Mädchen im Alter zwischen<br />
14 und 20 Jahren, die aus<br />
unterschiedlichen Gründen,<br />
vorübergehend oder dauerhaft,<br />
nicht in ihrer Familie wohnen können oder bisher in anderen<br />
Jugendhilfeeinrichtungen waren. Die Jugendlichen haben<br />
auf verschiedene Weise Schwierigkeiten mit ihrem Leben, ihren<br />
Freundschaften, mit der Schule, mit ihren familiären Beziehungen<br />
und mit sich selbst zurecht zu kommen und waren vor der<br />
Aufnahme in der TWG häufig in stationärer oder ambulanter<br />
jugendpsychiatrischer Behandlung. In ihren Familien oder bisherigen<br />
Heimeinrichtungen sind die Möglichkeiten der Änderung<br />
und konstruktiven Bewältigung der Konflikte und Krisen am<br />
zumindest momentanen Ende angekommen oder nicht (mehr)<br />
vorhanden – die Kräfte sind auf allen Seiten erschöpft. Viele der<br />
Jugendlichen brauchen professionelle pädagogische und psychotherapeutische<br />
Unterstützung in einem gut strukturierten, haltgebenden<br />
Alltagsrahmen, um letztlich eigene Wege zu selbstständigem<br />
und eigenverantwortlichem Leben zu entwickeln.<br />
Gerade im bürgerlicher werdenden Kiez dürfen<br />
Menschen, die auf die Unterstützung der Gesellschaft<br />
angewiesen seien, nicht aus dem Blick geraten.<br />
<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 23
Therapeutisches <strong>Wohn</strong>en für Mütter mit ihren Kindern im Haus der Parität am Urban, Foto: Michael Janda<br />
Mitten im Kollwitzkiez - <strong>Wohn</strong>einrichtung<br />
für alkoholabhängige Menschen<br />
Im Haus der Parität Kollwitzstraße bietet die Albert Schweitzer<br />
Stiftung – <strong>Wohn</strong>en & Betreuen vierzehn alkoholkranken Frauen<br />
und Männern ein Zuhause. Die <strong>Wohn</strong>einrichtung feierte im<br />
Oktober letzten Jahres ihr zehnjähriges Bestehen. Auf zwei<br />
<strong>Wohn</strong>etagen leben alkoholabhängige Menschen. Das Konzept<br />
der Stiftung fordert von den Bewohnerinnen und Bewohnern<br />
keine Abstinenzbereitschaft; vielmehr begegnet man hier den<br />
Abhängigen mit einem undogmatischen Sucht- und Rückfallverständnis.<br />
Frau B., seit zehn Jahren Bewohnerin in der Kollwitzstraße,<br />
hat durch diese Herangehensweise den Weg aus der<br />
Sucht gefunden. Nach einem schweren Unfall und Jahren der<br />
Obdachlosigkeit kam sie als eine der ersten Bewohnerinnen in<br />
die <strong>Wohn</strong>einrichtung. Für einige Bewohner bildet die <strong>Wohn</strong>einrichtung<br />
eine Zwischenstation: Nach einer Zeit der Betreuung<br />
haben sie die Kraft, außen wieder ein eigenes Leben in einer<br />
eigenen <strong>Wohn</strong>ung anzufangen.<br />
Häuser der Parität – eine Übersicht<br />
<strong>Der</strong> <strong>Paritätische</strong> <strong>Berlin</strong> verfügt über vier Häuser der Parität:<br />
› die Landesgeschäftsstelle in der<br />
Brandenburgischen Straße 80 in Wilmersdorf,<br />
› das Haus der Parität in der Tucholskystraße 11 in Mitte,<br />
› das Haus der Parität in der Kollwitzstaße 94–96<br />
in Prenzlauer Berg<br />
› das Haus des Älteren Bürgers in der<br />
Werbellinstraße 42 in Neukölln<br />
Das fünfte Haus der Parität besteht seit 2009 in Regie des Bürgerhaus<br />
e. V. in der Schönholzer Straße 11 in Pankow.<br />
Mit dem sechsten Haus der Parität am Urban unter Regie<br />
des Prowo e. V. entstand ein weiteres Haus, das <strong>Wohn</strong>formen<br />
für Menschen in schwierigen sozialen Situationen bietet. Angesichts<br />
der Entwicklung auf dem <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />
ein notwendiges Zeichen und eine wichtige Maßnahme, dem<br />
rasanten Ansteigen der Mieten und dem Verdrängen von Menschen<br />
mit geringeren Einkünften an die Randbezirke etwas<br />
entgegenzusetzen.<br />
24
Ohne die Häuser würde das<br />
Kinderdorfprinzip nicht funktionieren<br />
Von Mone Volke<br />
»Und wo soll Laurenz wohnen?«, fragt sich Alexandra Brehm-<br />
Westhoff. Die Erzieherin steht gemeinsam mit ihrem Mann<br />
Tinus Brehm vor den sechs Kinderdorfhäusern in <strong>Berlin</strong>-<br />
Gatow. Haus 4 soll ihr zukünftiger Arbeitsplatz, <strong>Wohn</strong>- und<br />
Lebensraum werden. Doch für ihren Sohn Laurenz steht derzeit<br />
kein eigenes Zimmer zur Verfügung. Die Beiden schauen<br />
sich skeptisch an.<br />
Das Ehepaar ist aus Hamburg angereist, um sich im Albert-<br />
Schweitzer-Kinderdorf <strong>Berlin</strong> als neue Kinderdorfeltern zu<br />
bewerben. »Das Kinderdorf in <strong>Berlin</strong>-Gatow liegt mitten im<br />
Grünen und direkt neben einem Öko-Bauernhof. Hier können<br />
die Kinder Natur unmittelbar erleben. Allerdings brauchen wir<br />
als Hauseltern auch etwas Platz. Zwei Räume für drei Personen<br />
sind zu eng.«<br />
»Kinder haben ein Recht auf eigenen Raum«<br />
Im Albert-Schweitzer-Kinderdorf <strong>Berlin</strong> e. V. leben rund 110 Kinder<br />
und Jugendliche unter familienähnlichen Bedingungen in<br />
Familienwohngruppen. Alle 19 Gruppen bewohnen jeweils ein<br />
eigenes Haus mit Garten, das sie individuell<br />
und nach eigenem Geschmack<br />
einrichten. Separate Räume mit Sanitärbereich<br />
bieten den Kinderdorfeltern<br />
Privatsphäre.<br />
»Die Häuser in Gatow sind sehr schön gelegen. Hinten<br />
sind die Gärten, vorne die Felder. Das bedeutet für die Kinder<br />
eine geschützte Atmosphäre, in der sie sich geborgen fühlen«,<br />
schwärmt Alexandra Brehm-Westhoff. »Und alle Kinder haben<br />
ein Zimmer für sich allein, sie haben Rückzugsmöglichkeiten<br />
und können selbst entscheiden, wer zu ihnen kommt. Kinder<br />
haben ein Recht auf eigenen Raum! Gleichzeitig gibt es großzügige<br />
Gemeinschafts<strong>räume</strong>, in denen Familie gelebt werden kann.«<br />
Wer lebt im Kinderdorf?<br />
Die Kinder und Jugendlichen, die im Albert-Schweitzer-Kinderdorf<br />
<strong>Berlin</strong> betreut werden, können in ihren Herkunftsfamilien<br />
vorübergehend oder langfristig nicht leben. Sie haben oft<br />
Bindungsstörungen, viele sind sogar schwer traumatisiert und<br />
bringen Erfahrungen von emotionaler Vernachlässigung, Gewalt<br />
und/oder sexuellem Missbrauch mit. Einige Kinder und Jugendliche<br />
haben schon verschiedene Stationen an sozialpädagogischer<br />
Familienhilfe durchlaufen. Manche haben bereits Psychiatrieerfahrung,<br />
bevor sie ins Kinderdorf kommen. Aufgrund dieser<br />
Wir sind froh, zumindest für<br />
die Familienarbeit über bezahlbares<br />
Eigentum zu verfügen.<br />
Erlebnisse sind sie auf eine strukturierte Lebenssituation angewiesen,<br />
die ihnen Sicherheit und Orientierung gibt.<br />
»In einer Kinderdorffamilie betreuen wir in der Regel bis zu<br />
sechs Kinder und Jugendliche«, erläutert Cornelia Piekarski,<br />
die pädagogische Geschäftsführerin. Eine pädagogische Fachkraft<br />
lebt innewohnend mit den Kindern in einem der Kinderdorfhäuser<br />
in Spandau, Reinickendorf oder Lichtenberg. Falls<br />
es Partner oder eigene Kinder gibt, können diese ebenfalls mit<br />
im Kinderdorf wohnen. Zwei hinzukommende Erzieherinnen<br />
oder Erzieher und eine Hauswirtschaftskraft unterstützen die<br />
innewohnende Fachkraft bei der pädagogischen Arbeit und der<br />
Organisation des Alltags.<br />
15 000 <strong>Berlin</strong>er Kinder und Jugendliche lebten<br />
Mitte der 60er Jahre in Heimen<br />
<strong>Der</strong> 1960 gegründete Verein Albert-Schweitzer-Kinderdorf <strong>Berlin</strong><br />
eröffnete 1965 sein erstes Kinderdorfhaus in Gatow. 15 000<br />
<strong>Berlin</strong>er Kinder und Jugendliche lebten Mitte der 60er Jahre in<br />
Heimen – Ansporn genug, nach Alternativen zu suchen. Dank<br />
großzügiger Spenden und Schenkungen konnte der Verein bis<br />
1970 weitere fünf Häuser in Gatow<br />
bauen. Nach und nach entstanden<br />
dann zusätzliche Häuser in den Bezirken<br />
Reinickendorf und, nach der<br />
Wende, auch in <strong>Berlin</strong>-Lichtenberg.<br />
»Das <strong>Wohn</strong>eigentum bildet die Basis unserer Arbeit«<br />
Thomas Grahn, Geschäftsführer für Wirtschaft und Finanzen im<br />
Kinderdorf, ist sich sicher: »Ohne die Häuser würde das Kinderdorfprinzip<br />
nicht funktionieren. Das <strong>Wohn</strong>eigentum bildet<br />
dabei die Basis unserer Arbeit.« Er betont: »Immer dann, wenn<br />
wir Jugendliche in ihre Selbstständigkeit entlassen und eigene<br />
<strong>Wohn</strong>ungen für sie suchen, haben wir zunehmend ein Problem<br />
auf dem enger werdenden <strong>Wohn</strong>ungsmarkt. Deshalb sind wir<br />
froh, zumindest für die Familienarbeit über bezahlbares Eigentum<br />
zu verfügen.«<br />
<strong>Der</strong> große Vorteil: Durch das <strong>Wohn</strong>eigentum ist der Verein<br />
unabhängig von der <strong>Wohn</strong>ungsmarktlage, egal wie angespannt<br />
sie ist. Hinzu kommt: Die Häuser können flexibel und zeitnah an<br />
wechselnde Bedürfnisse der innewohnenden Familien angepasst<br />
werden. Diese Umbauprozesse verlaufen relativ unbürokratisch.<br />
Anpassung an wechselnde Bedürfnisse<br />
Als das erste Kinderdorfhaus 1965 entstand, waren die finan-<br />
<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 25
ziellen und räumlichen Möglichkeiten des Trägers begrenzt.<br />
Folglich mussten sich die betreuten Kinder zu zweit oder gar zu<br />
dritt ein Zimmer teilen. Heutzutage gehört es zum allgemeinen<br />
Standard in der Jugendhilfe, dass die Kinder spätestens ab dem<br />
vierzehnten Lebensjahr ein eigenes Zimmer haben. Für die Kinderdorfkinder,<br />
die psychisch schwer belastet sind, ein absolutes<br />
Muss! Auch der Wunsch der Hauseltern nach mehr Privatsphäre<br />
ist im Lauf der Jahre gestiegen. Also baut der Träger nach und<br />
nach seine Häuser um. Die Kosten finanziert er unter anderem<br />
durch Spenden und Erträge der im Jahr 2005 gegründeten Stiftung<br />
Albert-Schweitzer-Kinderdorf <strong>Berlin</strong>.<br />
Wer gute Fachkräfte gewinnen will, muss<br />
die Rahmenbedingungen schaffen<br />
Auch für Haus 4 in Gatow gibt es eine Lösung. Das Kinderzimmer<br />
für Sohn Laurenz ist gesichert. Tinus Brehm und Alexandra<br />
Brehm-Westhoff können demnächst einziehen. Thomas Grahn<br />
erläutert: »Im Haus 4 arbeitete und wohnte bis vor kurzem ein<br />
Hausvater ohne eigene Kinder. Für ihn reichten zwei private Zimmer.<br />
Jetzt erweitern wir das <strong>Wohn</strong>zimmer durch einen Anbau,<br />
machen aus der Garage und dem ehemaligen Abstellraum zwei<br />
weitere Zimmer, dämmen die Außenwände, setzen neue Fenster<br />
ein und verlegen neue Fußböden.«<br />
Da es schwierig ist, engagierte pädagogische Fachkräfte für<br />
die anspruchsvolle Kinderdorfarbeit zu finden, ist der Ausbau<br />
unumgänglich. Wer gute Fachkräfte gewinnen will, muss auch<br />
bereit sein, die Rahmenbedingungen an die äußeren Gegebenheiten<br />
anzupassen.<br />
<strong>Der</strong> zukünftige Kinderdorfvater Tinus Brehm freut sich: »Was<br />
gibt es Schöneres, als wenn eine ehemalige Garage zu so etwas<br />
lebendigem wie einem Kinderzimmer wird?«<br />
i<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Albert-Schweitzer-Kinderdorf <strong>Berlin</strong> e.V.<br />
Weiter Blick 46 | 14089 <strong>Berlin</strong>-Gatow<br />
Tel 030–362 30 44<br />
volke@kinderdorf-berlin.de<br />
www.kinderdorf-berlin.de<br />
Die neue Erzieherin mit ihrem eigenen Sohn beim Einzug ins Kinderdorf, Foto: Michael Janda<br />
26
Leben erleben im Kiez –<br />
Das <strong>Wohn</strong>projekt Undine<br />
Von Birgit Hartigs<br />
Im <strong>Wohn</strong>projekt Undine in der Lichtenberger Hagenstraße 57<br />
leben Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher<br />
Herkunft, die das Leben aus der Bahn geworfen hat, zeitweise<br />
unter einem Dach. Sie stecken in vielfältigen sozialen Schwierigkeiten,<br />
waren obdachlos oder davon bedroht, es zu werden.<br />
Sie brauchen Hilfe, Beratung und Betreuung, um diesem Teufelskreis<br />
wieder entfliehen zu können.<br />
Ehemals Obdachlose in einem Haus, nicht am Stadtrand, sondern<br />
mitten in einem Lichtenberger Kiez – »das geht doch<br />
nicht«, »da machen die Bürger nicht mit« – solche und andere<br />
Einwände hörten die Frauen vom Sozialwerk des dfb Dachverband<br />
e. V., als sie ihr Projekt Mitte der 90er Jahre vorstellten.<br />
Aber es gab auch zahlreiche Unterstützer wie den <strong>Paritätische</strong>n<br />
<strong>Berlin</strong> und die Lichtenberger <strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaft mbH.<br />
Im September 1996 wurde das<br />
<strong>Wohn</strong>projekt offiziell eröffnet<br />
Undine bietet betroffenen Frauen und Männern berlinweit sozialpädagogische<br />
Betreuung und Hilfe gemäß § 67/68, SGB XII<br />
in den Leistungstypen Betreutes<br />
Einzelwohnen (BEW) sowie <strong>Wohn</strong>ungserhalt<br />
und <strong>Wohn</strong>ungserlangung<br />
(WuW). Betreuung und<br />
Hilfe erfolgen entweder in einer<br />
bereit gestellten Einraumwohnung<br />
im <strong>Wohn</strong>projekt oder in der noch eigenen <strong>Wohn</strong>ung, die dann<br />
hoffentlich die eigene bleibt, weil es gelingt, die Probleme aufzuarbeiten.<br />
Zur Betreuung und Hilfe gehören die Entwicklung<br />
beziehungsweise Wiederherstellung der <strong>Wohn</strong>fähigkeit, Hilfe bei<br />
der Erlangung von eigenem <strong>Wohn</strong>raum; Information, Beratung,<br />
Anleitung und Unterstützung bei der Organisation und Bewältigung<br />
des Alltags, bei der Neuordnung der materiellen und<br />
finanziellen Situation, der Integration in das Erwerbsleben oder<br />
in eine Ausbildung, bei sozialhilferechtlichen Fragen, die Bearbeitung<br />
von Sucht- und anderen gesundheitlichen Problemen.<br />
Beratungsgespräch im <strong>Wohn</strong>projekt Undine,<br />
Foto: Sozialwerk des dfb<br />
… von hier geht mancher stark hinaus<br />
und macht was Eignes draus …<br />
aus einem Song von Gisela Steineckert und<br />
Ingo Koster für das <strong>Wohn</strong>projekt Undine<br />
Ohne Spender, Sponsoren und<br />
Unterstützer ginge es nicht<br />
Aber der Träger des <strong>Wohn</strong>projektes, das Sozialwerk des dfb<br />
(Dachverband) e.V., und sein Betreuerteam wollen mehr: Bei<br />
Undine sollen <strong>Wohn</strong>en und sozialpädagogische Betreuung unter<br />
einem Dach erfolgen, gemeinsame Erlebnisse und Gestaltung<br />
der Freizeit aus der Isolation heraushelfen und die Bewohner<br />
und Betreuten einbezogen werden in das Lebensumfeld<br />
im Stadtteil. Für das Zusammenleben im Haus engagiert sich<br />
ein Bewohnerrat. Finanziert wird die Betreuung im Rahmen<br />
einer Vereinbarung mit dem Land <strong>Berlin</strong>, Senatsverwaltung für<br />
Gesundheit und Soziales. Den Weg in die Hagenstraße finden die<br />
Betroffenen über die bezirklichen<br />
Sozialämter oder über »Hörensagen«.<br />
Die Arbeit wäre nicht zu<br />
leisten ohne Spender, Sponsoren<br />
und vielfältige Unterstützer. Zu<br />
ihnen zählt Undine-Schirmherrin<br />
Dagmar Frederic. Seit der Eröffnung 1996 wirbt sie nicht nur<br />
für das Projekt, sondern gestaltet Benefizkonzerte mit, tritt zu<br />
Kiez-Sommerfesten und Bewohner-Weihnachtsfeiern auf, ist oft<br />
bei den Bewohnerinnen und Bewohnern zu Gast.<br />
i<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Sozialwerk des dfb<br />
Hagenstraße 57 | 10365 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–57 79 94 18 | 030–55 49 12 59<br />
betreuerteam.undine@sozialwerk-dfb-berlin.de<br />
www.frauen-dfb.de<br />
<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 27
Kein <strong>Wohn</strong>raum für Mädchen und junge<br />
Frauen mit Gewalterfahrungen?<br />
Von Iris Hölling, Geschäftsführerin von Wildwasser e. V.<br />
Wildwasser unterstützt Mädchen und junge Frauen, die sexualisierte<br />
oder multiple Gewalterfahrungen gemacht haben, im<br />
Rahmen ambulanter und stationärer Jugendhilfe.<br />
Vor vier Jahren wurde der Mietvertrag von Wildwasser für<br />
die Krisenwohnung des Mädchennotdienstes in Kreuzberg<br />
gekündigt, weil Mädchen in Krisensituationen nicht mehr in<br />
das sanierte Haus passten, in dem die <strong>Wohn</strong>ungen in Eigentumswohnungen<br />
umgewandelt und verkauft wurden.<br />
2001 hatte der Vermieter speziell für unsere Bedürfnisse umgebaut<br />
und den Mädchennotdienst im Haus haben wollen. Trotz<br />
großen Engagements des Bezirksbürgermeisters, der Frauenbeauftragten<br />
und der Stadträtin ist es uns innerhalb eines Jahres<br />
nicht gelungen, geeignete neue Räume für die Krisenwohnung<br />
in Kreuzberg zu finden. Wir zogen deshalb 2009 in Räume im<br />
Wedding, in ein Umfeld, das sich für die Arbeit mit Mädchen<br />
und jungen Frauen als problematisch erwies.<br />
Diskriminierung bei <strong>Wohn</strong>ungssuche<br />
Viele Vermieter reagieren skeptisch, wenn sie an einen Verein<br />
vermieten sollen. Sie wollen viele Nachweise und Sicherheiten,<br />
die sich unterscheiden von Einzelmieterinnen und -mietern.<br />
Andere diskriminieren offen. So musste eine Kollegin mit Migrationshintergrund,<br />
die mit einem Vermieter telefonierte, sich<br />
anhören: »Polen und Russen sind okay, aber bloß keine Türken<br />
oder Muslime.« Solche rassistischen Vermieter kommen für uns<br />
nicht infrage, aber auch sonst haben wir mit Vorurteilen zu<br />
kämpfen, wenn wir benennen, dass wir Mädchen mit Gewalterfahrungen<br />
betreuen. Manche lassen sich beruhigen und gewinnen,<br />
wenn sie hören, dass wir die Mädchen betreuen und uns<br />
auch um die Überweisung der Miete und andere Formalitäten<br />
kümmern. Andere lehnen sofort ab.<br />
<strong>Wohn</strong>ungsgesellschaften aktuell ohne Angebote<br />
<strong>Der</strong> Mangel an bezahlbarem <strong>Wohn</strong>raum in der Innenstadt<br />
erschwert unsere Arbeit enorm: Wir müssen viel länger nach<br />
geeigneten <strong>Wohn</strong>ungen suchen. Die Vermieter können selbst für<br />
<strong>Wohn</strong>ungen in unzumutbarem Zustand hohe Preise verlangen.<br />
Die Zusammenarbeit mit <strong>Wohn</strong>ungsgesellschaften haben wir<br />
ebenfalls versucht, zumal wir uns mit einer von ihnen den Innenhof<br />
unseres Hauses teilen. So ist es gelungen, eine <strong>Wohn</strong>ung für<br />
ein betreutes Zweierwohnen in der Nähe unserer <strong>Wohn</strong>gruppe<br />
anzumieten, was den Mädchen kurze Wege ermöglicht. Das ist<br />
zwei Jahre her. Aktuell haben auch die <strong>Wohn</strong>ungsgesellschaften<br />
keine Angebote für unsere Zielgruppe.<br />
Interkulturelle <strong>Wohn</strong>gruppe DonyA –<br />
wohin danach?<br />
Neben der Krisenwohnung betreiben wir auch die interkulturelle<br />
<strong>Wohn</strong>gruppe DonyA im Soldiner Kiez, einem der sozialen<br />
Brennpunkte im <strong>Berlin</strong>er Wedding. Viele Mädchen ziehen,<br />
wenn sie 16 oder 17 sind, aus der <strong>Wohn</strong>gruppe aus und werden<br />
von uns in einer Trägerwohnung oder, wenn sie volljährig<br />
sind, in einer eigenen <strong>Wohn</strong>ung ambulant oder stationär weiter<br />
betreut. Noch vor einigen Jahren war es bedeutend leichter<br />
als heute, im Wedding geeignete <strong>Wohn</strong>ungen für die Mädchen<br />
zu finden. Sinnvoll finden wir, <strong>Wohn</strong>ungen zu suchen, die die<br />
Mädchen als Hauptmieterinnen übernehmen können, wenn sie<br />
volljährig sind. Das ist kaum noch machbar, weil es mittlerweile<br />
selbst im Wedding fast unmöglich ist, geeignete <strong>Wohn</strong>ungen zu<br />
finden, die den Vorgaben der Jobcenter entsprechen.<br />
Es besteht dringender politischer Handlungsbedarf<br />
Wenn Mädchen unbedingt in einen bestimmten Kiez ziehen<br />
möchten, weil dort Freundinnen, Freunde oder Familienangehörige<br />
wohnen, wird es noch schwieriger. Das Selbstbestimmungsrecht<br />
der Mädchen wird durch den Druck auf dem <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />
oft infrage gestellt. Ebenso wenig können wir es uns<br />
in diesen Zeiten leisten, den Mädchen die Mietverträge zu überlassen,<br />
wenn sie 18 sind, weil wir nicht wissen, wann wir wieder<br />
eine Trägerwohnung finden.<br />
Hier besteht dringender politischer Handlungsbedarf, wenn<br />
wir nicht zulassen wollen, dass Menschen mit Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen<br />
an den Stadtrand gedrängt werden<br />
und nicht mehr selbst über ihren <strong>Wohn</strong>ort bestimmten können.<br />
i<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Wildwasser e. V.<br />
Wriezener Str. 10/11 | 13359 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–48 62 82 32<br />
geschaeftsfuehrung@wildwasser-berlin.de<br />
www.wildwasser-berlin.de<br />
28
Sich zusammenschließen,<br />
um Eigentum zu schaffen<br />
Von Elisabeth Gregull<br />
Wer vom Kottbusser Tor aus die Reichenberger Straße in<br />
Kreuzberg hinunterläuft, trifft auf eine Straße der Gegensätze.<br />
Kleine Cafés und Läden, Aufrufe zu Nachbarschaftstreffen<br />
und gemeinsamen Aktionen gegen Zwangsräumungen auf der<br />
einen Seite. Auf der anderen Seite sanierte Fabriketagen und<br />
das berüchtigte Carloft, ein Neubau für Spitzenverdiener, die<br />
ihr Auto mit in die <strong>Wohn</strong>ung nehmen wollen.<br />
Kreuzberger (Ent-)Mischung<br />
Die »Reichenberger 96« ist ein <strong>Wohn</strong>projekt der Zuhause im<br />
Kiez gGmbH, kurz Zik, einem Träger für Menschen mit HIV,<br />
Aids und Hepatitis C. Es liegt am ruhigen Ende der Straße, am<br />
Landwehrkanal. Wer hier einzieht, hat schon einiges hinter sich:<br />
Drogenkonsum, Gefängnis, <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit oder größere<br />
gesundheitliche Probleme.<br />
Projektleiter Kalle Krott lacht, als das Stichwort Carloft fällt.<br />
»Die Bewohner wird man wohl kaum beim Flanieren durch die<br />
Straßen treffen«, meint er. »Aber unsere Klientel ist auch auffällig.<br />
Insofern sind wir ganz froh, dass wir noch zu dieser alten<br />
Kreuzberger Mischung beitragen können. Das geht aber auch<br />
nur, weil uns die Immobilie gehört und wir die Mieten gestalten<br />
können. Und das tun wir so, dass es erschwinglich ist für Menschen,<br />
die von den Hartz-IV-Sätzen zu leben haben.«<br />
Ein Immobilienkauf, der bezahlbaren<br />
<strong>Wohn</strong>raum sichert<br />
Vor zehn Jahren zog Zik hier ein und ist inzwischen Mehrheitsbesitzer<br />
des Hauses, berichtet Kalle Krott: »Damals suchte<br />
Hubert Jenner, ein kinderloser Immobilienkaufmann, der mit<br />
seinem Vermögen etwas Gutes tun wollte, Kontakt zu Trägern.<br />
Zik als Träger für Menschen mit HIV und Aids war dann seine<br />
Wahl. Er kaufte das Haus und gründete die ›Stiftung Lebensfarben‹,<br />
an der auch Zik beteiligt ist.«<br />
Die Immobilie baute 1965 noch die »Neue Heimat«. In den<br />
rund 100 Einzimmerwohnungen hat der Bezirk zunächst betreutes<br />
Seniorenwohnen angeboten, später verkaufte er das Haus.<br />
»Die Idee war ursprünglich, ein ›Betreuungsghetto‹ zu vermeiden«,<br />
erzählt Kalle Krott. »Dass man nicht einen großen Kasten<br />
Glücklich angekommen im neuen Zuhause, Foto: Zik gGmbH<br />
<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 29
hat, wo nur hilfebedürftige Menschen leben. Aber in den letzten<br />
Jahren, bei der verschärften <strong>Wohn</strong>ungssituation, mussten wir<br />
uns von diesem Gedanken leider verabschieden.« In der »R 96«<br />
leben heute rund hundert Mieter, viele betreut Zik etwa in therapeutischen<br />
<strong>Wohn</strong>gemeinschaften, im Betreuten Einzelwohnen<br />
oder mit einem ambulanten Pflegedienst.<br />
Zuhause im Kiez<br />
Zik gründete sich 1989 als Initiative gegen <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit<br />
von Menschen mit HIV und Aids und hat seitdem über<br />
4300 Menschen ein Zuhause vermittelt. Zik unterhält zehn<br />
<strong>Wohn</strong>projekte, das Beschäftigungsprojekt<br />
»Lützowtopia« und das Kiez-<br />
Restaurant »Orangerie« und kooperiert<br />
eng mit anderen Trägern. Zik hat<br />
außerdem 400 <strong>Wohn</strong>ungen angemietet,<br />
in denen Klienten als Untermieter leben.<br />
Auch das Team der »R 96« möchte die Klienten nach einer<br />
Phase der Unterstützung möglichst wieder in eine eigene <strong>Wohn</strong>ung<br />
entlassen. Aber das, so Kalle Krott, ist inzwischen fast<br />
unmöglich: »Es wird für uns immer schwieriger, in den Innenstadtbezirken<br />
unsere Betreuung anzubieten. Und das war ja eine<br />
Gründungsidee bei Zik, wie der Name schon sagt: ›Zuhause im<br />
Kiez‹. Dort zu leben, wo man leben möchte, wo man beheimatet<br />
ist, wo man sein soziales Umfeld hat.« Für viele Träger, die<br />
in der Eingliederungshilfe und im betreuten <strong>Wohn</strong>en arbeiten,<br />
wird diese Situation zu einem immer gravierenderen Problem.<br />
Ein Schufa-Eintrag, den Zik-Klienten oft haben, ist meist schon<br />
ein Ausschlusskriterium.<br />
Die Weitervermietung von<br />
<strong>Wohn</strong>raum führt zu hohen Verlusten,<br />
die niemand finanziert.<br />
nachgefragt, sie nehmen keine Leute mit ALG-II-Bezug. Immer<br />
mehr Türen gehen zu.«<br />
Die Hürde der Angemessenheitsprüfung<br />
Diese Erfahrung macht auch Robert Kliem. Er ist seit 20 Jahren<br />
für Zik in der <strong>Wohn</strong>ungsakquise tätig, im Projekt Sozialmakler.<br />
Seit vier Jahren vermietet Zik nur noch mit Betreuung. Die<br />
Weitervermietung von <strong>Wohn</strong>raum führt zu hohen Verlusten,<br />
die niemand finanziert. Dass Betroffene aufgrund des Verlaufs<br />
der Krankheit heute nicht mehr automatisch einen 2-Zimmer-<br />
<strong>Wohn</strong>berechtigungsschein oder mit Dringlichkeit bekommen,<br />
findet Robert Kliem in Ordnung.<br />
Ihm machen vor allem andere Dinge<br />
zu schaffen: »Früher galt der soziale<br />
<strong>Wohn</strong>ungsbau immer als angemessen,<br />
egal, wie teuer er war. Dann wurden<br />
Mietobergrenzen eingeführt und Quadratmeterbeschränkungen.<br />
Bis zur großen Reform 2005, mit der Zusammenlegung der<br />
Arbeitslosen- und Sozialhilfe, als dann Bruttowarmmieten als<br />
Angemessenheitsgröße eingeführt wurden. Da fing es an schwierig<br />
zu werden.«<br />
Wegen dieser zusätzlichen Hürde kann Zik momentan geeignete<br />
<strong>Wohn</strong>ungen nicht anmieten und schon gar nicht vermitteln.<br />
Das gilt nicht nur für die Innenstadt, selbst in Bezirken<br />
wie Marzahn ist es inzwischen schwierig. »Bei 7,96 Euro haben<br />
wir für drei <strong>Wohn</strong>ungssuchende, die von Hartz-IV leben, die<br />
Ablehnung bekommen, obwohl die Menschen obdachlos oder<br />
teilweise in teuren Pensionen und <strong>Wohn</strong>heimen untergebracht<br />
sind.«<br />
Immer mehr Türen gehen zu<br />
Einer, der es gerade noch geschafft hat, ist Uwe Suwalla. Er<br />
wohnte fünf Jahre in der »R 96«, bevor er vor drei Jahren eine<br />
eigene Bleibe fand: »Eine kleine Einzimmerwohnung in Schöneberg.<br />
»Gemütlich – für mich jedenfalls«, sagt er schmunzelnd. Er<br />
musste Durchhaltevermögen beweisen: »Nee, das war wirklich<br />
nicht einfach. Wir haben ein halbes, dreiviertel Jahr gesucht. So<br />
lange dauert das schon.« Er hatte Glück – man akzeptierte ihn<br />
trotz Schufa-Eintrag.<br />
»Die Verwalterin wusste auch, dass er betreut wird. Sie hatte<br />
Vertrauen, dass die Miete gezahlt wird. Das war der Schlüssel«,<br />
glaubt die Sozialarbeiterin Vicky Danopoulos, die ihn bei der<br />
Suche unterstützte. Inzwischen hat die Hausverwaltung gewechselt<br />
und die Dinge liegen anders: »Eine Kollegin hat noch mal<br />
Unabhängig vom <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />
Robert Kliem sieht für die Problemlage nur eine Lösung im jetzigen<br />
Bestand: »<strong>Wohn</strong>ungen rausnehmen und reservieren für einkommensschwache<br />
Gruppen. Aber eigentlich ist mein Credo:<br />
Soziale Träger sollten sich zusammenschließen, um Eigentum zu<br />
schaffen, um sich unabhängig vom <strong>Wohn</strong>ungsmarkt zu machen.<br />
Das ist das Mittel der Zukunft.«<br />
i<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Zik – zuhause im Kiez<br />
Christian Thomes<br />
Perleberger Str. 27 | 10559 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–39 89 60 31<br />
Christian.thomes@zik-ggmbh.de<br />
www.zik-ggmbh.de<br />
30
Lebensort Vielfalt – ein Meilenstein<br />
in der schwulen Geschichte<br />
Marcel de Groot, Geschäftsführer der Schwulenberatung <strong>Berlin</strong> gGmbH<br />
Vor rund zehn Jahren wurde im ›Netzwerk Anders Altern‹ der<br />
Schwulenberatung <strong>Berlin</strong> die Idee zu einem gemeinschaftlichen<br />
<strong>Wohn</strong>projekt für schwule Senioren geboren. Nach 6-jähriger<br />
Vorbereitung und 18-monatiger Umbauzeit konnte im<br />
Juni 2012 der Lebensort Vielfalt eröffnet werden.<br />
Als »Altersheim für Schwule« titulierte die Presse häufig das Haus<br />
in der Niebuhrstraße 59/60 in Charlottenburg. Doch lediglich<br />
60 Prozent der Bewohner sind schwule Männer über 55 Jahre.<br />
Ein Fünftel sind jüngere schwule Männer und ein weiteres Fünftel<br />
Frauen. Zusätzlich gibt es eine betreute <strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />
für pflegebedürftige schwule Männer mit insgesamt acht Plätzen,<br />
einem professionellen Pflegedienst rund um die Uhr und<br />
ehrenamtlichen Helfern.<br />
Es sollte ein diskriminierungsfreies Umfeld entstehen, wo<br />
Schwul-Sein selbstverständlich ist. Gerade ältere schwule Männer<br />
mit den jahrelangen Diskriminierungserfahrungen befürchten<br />
diese in herkömmlichen Einrichtungen. <strong>Der</strong>zeit ist der<br />
jüngste Bewohner 32 Jahre alt, der älteste 85. Die Bewohner können<br />
sich bei Bedarf an die Einrichtung wenden, für die Bewohner<br />
der Pflegewohngemeinschaft stehen ehrenamtliche Helfer<br />
zur Verfügung.<br />
Einzigartig in Europa<br />
Mit im Haus ist auch die Schwulenberatung<br />
<strong>Berlin</strong> mit ihrem<br />
Beratungs-, Therapie- und Betreuungsangebot<br />
und eine queere Bibliothek.<br />
Im Erdgeschoss befindet<br />
sich auf 280 Quadratmetern das<br />
Café-Restaurant »wilde Oscar«, das ein Integrationsbetrieb ist.<br />
Hier ist Raum für kulturelle und gesellschaftliche, aber auch private<br />
Veranstaltungen und im Sommer lädt die sonnige Terrasse<br />
zum Verweilen ein.<br />
Selbst für Europa ist das Haus einzigartig und seit der Eröffnung<br />
besuchten es zahlreiche Interessierte aus dem In- und<br />
Ausland. Mit diesem Projekt will die Schwulenberatung <strong>Berlin</strong><br />
nicht nur die geeignete psychosoziale Versorgung für schwule<br />
Männer sicherstellen und verbessern, sondern gleichzeitig anderen<br />
Schwulen und Lesben Mut machen und zur Nachahmung<br />
anregen.<br />
Aufgrund der großen Nachfrage – die Warteliste umfasst mehr<br />
als 250 Namen – könnte es durchaus sein, dass der »Lebensort<br />
Vielfalt« nicht das einzige <strong>Wohn</strong>projekt dieser Art bleibt.<br />
Herzliche Begrüßung im Lebensort Vielfalt,<br />
Foto: Schwulenberatung <strong>Berlin</strong> gGmbH<br />
»Es ist mir wichtig, dass jemand da ist,<br />
der sich im Notfall um mich kümmert.«<br />
Peter Controweit (69), Bewohner<br />
»Viele von uns haben keine Kinder,<br />
wollen im Alter aber nicht alleine sein.«<br />
Klaus-Dieter Spangenberg (49), Bewohner<br />
Das Haus in Zahlen<br />
Das fünfstöckige Haus aus den<br />
1930er Jahren wurde zuletzt als<br />
Kindertagesstätte genutzt. Die<br />
Schwulenberatung <strong>Berlin</strong> erwarb<br />
2009 die Immobilie und ließ sie<br />
2011/12 komplett und barriere frei<br />
umbauen. Es entstanden 24 <strong>Wohn</strong>ungen<br />
zwischen 33 und 80 Quadratmeter Größe, die alle über<br />
einen Balkon verfügen. Vier der <strong>Wohn</strong>ungen sind Hartz-IV-<br />
Empfängern vorbehalten. Die Pflegewohngemeinschaft bietet<br />
auf 250 Quadratmetern Platz für acht Bewohner.<br />
Für Kauf und Umbau musste die Schwulenberatung <strong>Berlin</strong><br />
rund sechs Millionen Euro aufbringen. Die Hälfte davon kam<br />
über die Stiftung Deutsche Klassenlotterie <strong>Berlin</strong>.<br />
i<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Schwulenberatung <strong>Berlin</strong> gGmbH<br />
Niebuhrstraße 59/60 | 10629 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–23 36 90 70<br />
info@schwulenberatungberlin.de<br />
www.lebensort-vielfalt.de<br />
<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 31
Ambulante <strong>Wohn</strong>gemeinschaften für<br />
Menschen (nicht nur) mit Demenz<br />
Von Andrea von der Heydt<br />
Sind ambulante <strong>Wohn</strong>gemeinschaften (WGs) eine Alternative<br />
für Menschen, die Pflege und Betreuung benötigen sowie für<br />
deren Angehörige? Andrea von der Heydt, Vorsitzende des Vereins<br />
Selbstbestimmtes <strong>Wohn</strong>en im Alter (SWA), schildert ihre<br />
nicht nur persönlichen Erfahrungen. Sie ist überzeugt von der<br />
Idee der ambulanten WG, betont jedoch, dass es vieler Verbesserungen<br />
und einer Menge an Aufklärung bedarf auf dem Weg,<br />
diese <strong>Wohn</strong>form als Alternative empfehlen zu können. Es gibt<br />
noch viel zu tun.<br />
Als ich meine Mutter 2007 aus München nach <strong>Berlin</strong> holte gab<br />
es in <strong>Berlin</strong> bereits an die 150 ambulant betreute WGs für Menschen<br />
mit Demenz. In den anderen Bundesländern stand diese<br />
<strong>Wohn</strong>form zu diesem Zeitpunkt noch nicht so sehr im Fokus<br />
oder war gerade erst dabei, sich zu entwickeln. Heute gibt es in<br />
<strong>Berlin</strong> an die 450 ambulant betreute WGs. Einerseits eine erfreuliche<br />
Entwicklung, steht diese alternative <strong>Wohn</strong>form doch für<br />
die Chance auf mehr Selbstbestimmung und Individualität auch<br />
im Pflegefall oder einer Erkrankung an Demenz. Andrerseits hat<br />
sich gezeigt, dass diese rasante Entwicklung auch Schattenseiten<br />
hat, da die Kostenträger, vor allem aber die Nutzerinnen über<br />
nur wenige Instrumente verfügen, um ihre Ansprüche rechtlich<br />
einzufordern.<br />
Noch vor dem neuen <strong>Wohn</strong>teilhabegesetz<br />
Die erste WG, in die meine Mutter einzog, lag in einem barrierefrei<br />
umgebauten Altbau in Mitte, in der nette Bewohner beiderlei<br />
Geschlechts wohnten, die entweder engagierte Angehörige<br />
oder, in einem Fall, eine sehr engagierte rechtliche Betreuerin im<br />
Rücken hatten.<br />
Es gab jedoch einige Dinge, die dazu führten, dass wir Angehörigen<br />
und Betreuerinnen letztlich den Pflegedienst wechseln<br />
wollten: Die Türen waren immer verschlossen, die Abrechnungen<br />
des Haushaltsgeldes waren nicht transparent, Anschaffungen,<br />
Renovierungen et cetera wurden automatisch vom Pflegedienst<br />
getätigt. Vor allem aber wechselte ständig das Personal. Es<br />
arbeiteten nicht eingearbeitete Aushilfen in der WG. Meist nur<br />
eine Person war im Dienst. Es gab keine ständige Nachtwache.<br />
Andrea von der Heydt besucht ihre Mutter in der ambulanten <strong>Wohn</strong>gemeinschaft, Foto: Joanna Kosowska<br />
32
Trennung von Vermieter und Pflegeanbieter sinnvoll<br />
Viele Gespräche mit dem Pflegedienst folgten, die unsere<br />
Befürchtungen und Ängste um unsere Angehörigen nicht<br />
besänftigen konnten, da der Pflegedienst selbstgerecht und<br />
unkooperativ weiter so agierte wie bisher.<br />
Unser Plan, den Pflegedienst zu wechseln, scheiterte grandios,<br />
da sich der Vermieter weigerte, die leer werdenden Zimmer<br />
an Menschen zu vermieten, die über die Gemeinschaft<br />
vorgeschlagen wurden. Zynisch sprach er von einer »feindlichen<br />
Übernahme“ und leider gab es damals das <strong>Wohn</strong>teilhabegesetz<br />
(WTG) noch nicht, in der eine faktische Trennung von Pflegeanbieter<br />
und Vermieter festgeschrieben ist. Das WTG ist seit<br />
Juni 2010 in Kraft.<br />
Von der Verbraucherzentrale über die Heimaufsicht<br />
bis zum Senat – ohne Erfolg<br />
Meine Mitgliedschaft im SWA e. V. und die von dort erfahrene<br />
Unterstützung führten uns von der Verbraucherzentrale über die<br />
Heimaufsicht bis hin zum Senat, letztlich ohne Erfolg.<br />
In unserem Fall war die Konsequenz, dass meine Mutter in<br />
eine 8er-WG in Pankow umgezogen ist, in der die Türen nicht<br />
verschlossen werden müssen, weil ausreichend Personal (auch<br />
nachts) zur Verfügung steht. Vor allem aber versucht der Pflegedienst<br />
das Konzept der geteilten Verantwortung in einer<br />
ambulant betreuten WG gemeinsam mit den Angehörigen und<br />
Betreuerinnen zu leben.<br />
Gelebte Praxis sieht anders aus<br />
Meine Erfahrungen und meine Mitarbeit im SWA e. V. haben<br />
gezeigt, dass die gelebte Praxis oft weit entfernt ist von der<br />
ursprünglichen Idee. Das Konzept hinter den ambulant betreuten<br />
WGs, dass sich mehrere private Nutzer zusammentun, eine<br />
<strong>Wohn</strong>ung suchen und gemeinsam einen Pflegedienst beauftragen<br />
und als Auftraggebergemeinschaft das Heft in allen Belangen<br />
in der Hand behalten sowie ihre Rechte und Pflichten als Mieter<br />
wahrnehmen, ist wenig bekannt und wird dementsprechend nur<br />
in geringem Maße gelebt. Erschwerend kommt hinzu, dass es<br />
sich bei den WGs um privaten Raum handelt, Politik und Kostenträger<br />
(zu Recht) nur sehr zögerlich bereit sind, gesetzliche<br />
Bestimmungen oder Auflagen an die WGs zu knüpfen.<br />
szene rund um Pflege und ambulant betreute <strong>Wohn</strong>gemeinschaften<br />
gegründet mit der festen Überzeugung, dass diese<br />
<strong>Wohn</strong>form eine echte Alternative zu anderen Pflegeeinrichtungen<br />
sein kann. Voraussetzungen für eine gute Qualität in den<br />
WGs ist aber, dass alle Akteure ihre Rechte und Pflichten, das<br />
heißt ihre Rollen kennen und gemeinsam aushandeln, wie eine<br />
solche WG gestaltet sein soll.<br />
Gefahr des geschlossenen Mikrokosmos<br />
In diesem Spannungsbogen zwischen privater Sphäre und<br />
nutzer gerechter Betreuung und Pflege beziehungsweise Versorgung<br />
in einer solchen WG bewegt sich der SWA: Er formuliert<br />
Qualitätsstandards, bietet Beratungen, Austausch und Informationsveranstaltungen<br />
und berät gemeinsam mit Anbietern,<br />
Nutzern, Politik und Kostenträgern über mögliche Instrumente<br />
zur Umsetzung von Mindeststandards, ohne die eine solche WG<br />
sehr schnell zu einem geschlossenen Mikrokosmos werden kann.<br />
<strong>Der</strong> SWA fordert eine WG-Fachstelle in <strong>Berlin</strong>, die es in<br />
anderen Bundesländern bereits gibt. Nötig ist im Rahmen des<br />
WTG vor allem eine verbesserte Personalverordnung. Es müssen<br />
ein Personalschlüssel sowie Qualifikationsanforderungen an das<br />
Personal festgelegt werden.<br />
Bezahlbarer barrierefreier <strong>Wohn</strong>raum und mehr<br />
Ambulant betreute <strong>Wohn</strong>gemeinschaften oder <strong>Wohn</strong>formen<br />
können eine gute Alternative zu herkömmlichen Pflegeeinrichtungen<br />
sein, da sie dem Wunsch nach mehr Individualität und<br />
Selbstbestimmung entgegenkommen.<br />
Dies stellt aber hohe Anforderungen an alle Akteure, sollen<br />
WGs nicht zu Kleinstheimen mutieren. Bezahlbarer, barrierefreier<br />
<strong>Wohn</strong>raum, Mindeststandards in der Betreuung und<br />
Pflege, Rückhalt für die Nutzer durch Kostenträger und die<br />
öffentliche Hand in Form von Verordnungen und Rechtsvorschriften<br />
in Bezug auf ihre Nutzerrechte sind die Voraussetzungen<br />
für ein gutes Gelingen einer solchen <strong>Wohn</strong>form.<br />
Alle Akteure sollten ihre Rollen kennen<br />
<strong>Der</strong> Verein Selbstbestimmtes <strong>Wohn</strong>en im Alter – SWA e. V.<br />
wurde 2001 von einigen Pionieren aus der Anbieter- und Fachi<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Selbstbestimmtes <strong>Wohn</strong>en<br />
im Alter – SWA e. V.<br />
Werbellinstraße 42 | 12053 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–85 40 77 18<br />
verein@swa-berlin.de<br />
www.swa-berlin.de<br />
<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 33
»Meine schönsten Freunde sind hier« – die<br />
ungewisse Zukunft der WG Akazienstraße<br />
Von Martin Thoma<br />
»Die Bewohner wissen noch nicht, dass sie hier vielleicht wegmüssen.<br />
Wenn Sie mit ihnen sprechen, erwähnen Sie das bitte<br />
nicht.« Am großen Küchentisch der WG Akazienstraße spricht<br />
Helge Gehlhaar, pädagogischer Koordinator und stellvertretender<br />
Leiter Betreutes <strong>Wohn</strong>en bei Mosaik e. V. diese Bitte aus.<br />
Im <strong>Wohn</strong>zimmer haben sich unterdessen die zusammengefunden,<br />
über die gerade geredet wird: Joachim Garbrecht, Elke<br />
Zacherz, Barbara Wehner, Matthias Gabriel. Gabriel macht Zeichen<br />
durch die Glastür. Er muss heute Abend noch weg. Wir<br />
sollen uns mit der Vorbesprechung beeilen.<br />
Ein vertrautes Zuhause ist sehr wichtig<br />
Die Bewohner der WG Akazienstraße haben verschiedene geistige<br />
Behinderungen und Lernbehinderungen. Die meisten können<br />
nicht lesen und schreiben. Ihr Geld verwalten ihre Betreuer,<br />
sie bekommen ein Taschengeld. Sie benötigen Unterstützung im<br />
Alltag, zum Teil auch bei der Körperpflege. »Die <strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />
ist für viele von ihnen wie eine Familie«, sagt Helge Gehlhaar.<br />
Dass sie hier möglicherweise nicht bleiben können, würden<br />
sie nicht verstehen. Es würde ihnen Angst machen. Gehlhaar<br />
versteht es selbst nicht. »Gerade diese<br />
WG ist etwas Besonderes, weil hier<br />
ältere Menschen zusammenleben.<br />
Unser Ziel ist, dass sie ihre Fähigkeiten<br />
lange erhalten, dass sie gut am Leben<br />
teilhaben können und möglichst selbstständig ihren Alltag meistern.<br />
Ein vertrautes Zuhause ist dafür äußerst wichtig. Es wäre<br />
sehr schlecht, wenn sie hier wegziehen müssten. Im Idealfall sollten<br />
sie in dieser Gemeinschaft auch sterben können«, sagt er.<br />
Die fünf Bewohnerinnen und Bewohner, von denen vier gerade<br />
im <strong>Wohn</strong>zimmer auf das Ende unserer Vorbesprechung warten,<br />
sind zwischen 44 und 75 Jahre alt. Joachim Garbrecht ist<br />
der älteste. Er lebt hier seit Gründung der WG vor 20 Jahren.<br />
Damals kam er aus einer geschlossenen Anstalt in Bielefeld nach<br />
<strong>Berlin</strong>. 13 Jahre war er dort praktisch weggesperrt, zusammengewürfelt<br />
mit schweren Fällen. In der Akazienstraße begann ein<br />
neuer, besserer Abschnitt seines Lebens. Auch die Betreuer gehören<br />
zum Teil sehr lange dazu. Anna Giese, die heute vor Ort ist,<br />
schon 13 Jahre. Diese Konstanz brauchen die Bewohner.<br />
Als WG für Behinderte gebaut<br />
Die 220 Quadratmeter große <strong>Wohn</strong>ung, aus der Garbrecht,<br />
Die Menschen, für die<br />
die <strong>Wohn</strong>ung gebaut wurde, können<br />
sie heute nicht mehr bezahlen.<br />
Zacherz, Wehner und Gabriel vielleicht bald ausziehen müssen,<br />
war Teil des sozialen <strong>Wohn</strong>ungsbaus. Sie wurde genau zu dem<br />
Zweck, eine WG für Behinderte zu beherbergen, geschaffen.<br />
Vor fünf Jahren wechselte der Eigentümer. Innerhalb von vier<br />
Jahren hat der neue die Miete um fast ein Viertel erhöht, von<br />
2000 Euro im Oktober 2009 auf 2450 Euro zum jetzigen Zeitpunkt.<br />
Die Mieter sind an die Mietobergrenze des Sozialamts<br />
gebunden, die damit weit überschritten ist. Da alle Bewohner<br />
schwerbehindert sind und der Mosaik e. V. ein gemeinnütziger<br />
Träger, hat die Investitionsbank <strong>Berlin</strong> zunächst bis Ende 2014<br />
einen Antrag auf Mietausgleich genehmigt. Gezahlt wird die<br />
Differenz bis zur Höhe des Mietspiegels. Die Miete liegt allerdings<br />
über dem Mietspiegel. <strong>Der</strong> Mosaik e. V. muss zuzahlen.<br />
Die Zukunft der <strong>Wohn</strong>gemeinschaft Akazienstraße ist ungewiss.<br />
Die Menschen, für die die <strong>Wohn</strong>ung gebaut wurde, können sie<br />
heute nicht mehr bezahlen.<br />
Aus dem Heim in die <strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />
»Meine schönsten Freunde sind hier«, sagt Joachim Garbrecht.<br />
Während er spricht, schaut er mit leicht zur Seite geneigtem<br />
Kopf zu einem hin. Es wirkt abwartend und prüfend. Ganz<br />
anders tritt Matthias Gabriel auf. Er<br />
beherrscht den Raum nicht nur wegen<br />
seiner massigen Gestalt, er redet auch<br />
am meisten und am lautesten. Sein<br />
Händedruck zur Begrüßung ist fast<br />
schmerzhaft fest. Gabriel kam erst im letzten Jahr in die Akazienstraße<br />
und ist damit das neueste Mitglied der Gemeinschaft. Er<br />
erzählt, was ihm Herr Garbrecht erzählt hat – aus seiner Vergangenheit<br />
im Bielefelder Heim –, und dieser ergänzt die Berichte<br />
seines Mitbewohners mit langsam abnehmender Zurückhaltung.<br />
Sieben Selbstmorde erlebte er mit, immer wieder hatte er<br />
Anfälle, die eine Dreiviertelstunde lang dauern konnten. Seit er<br />
in der WG wohnt, bekommt er keine mehr. <strong>Der</strong> Umzug in die<br />
Akazienstraße muss eine Befreiung gewesen sein.<br />
»Samstag koche ich«<br />
Elke Zacherz hat bisher geschwiegen. Sie möchte eine Sache<br />
noch ausführlicher erklärt bekommen: »Woher sind sie?«, fragt<br />
sie. »Für wen schreiben Sie?« Als sie mit der Antwort einverstanden<br />
ist, sagt auch sie etwas. Nach dem Gespräch wird sie<br />
es sein, die noch einmal eigens durch die <strong>Wohn</strong>ung führt und<br />
dabei nicht vergisst, auf die leuchtend farbigen Bilder im Flur<br />
hinzuweisen, die sie gemalt hat. Elke Zacherz lebt hier seit sie<br />
34
Bewohner der WG Akazienstraße von Mosaik gGmbH, v. l. n. r.: Elke Zacherz, Matthias Gabriel, Joachim Garbrecht, Foto: Martin Thoma<br />
2005 bei ihren Eltern ausgezogen ist. Sie und Matthias Gabriel<br />
sind jünger als die anderen und gehen beide arbeiten. Gabriel<br />
in der Mosaik-Werkstatt am Paul-Lincke-Ufer, Zacherz in der<br />
Garten- und Landschaftspflege. Die täglichen Aufgaben in der<br />
WG verteilen Elke Zacherz und die anderen immer morgens<br />
gemeinsam am großen Küchentisch. Am Wochenende essen alle<br />
zusammen und man macht öfter gemeinsame Ausflüge. »Samstag<br />
koche ich«, sagt Matthias Gabriel.<br />
Tagsüber sind Anna Giese oder eine ihrer Kolleginnen oder Kollegen<br />
da, nachts bleiben die Bewohner unter sich. Elke Zacherz<br />
erzählt, wie ein Mitbewohner in einer Nacht einen Anfall bekam<br />
und sie die Feuerwehr gerufen hat. Sie ist stolz darauf, in der<br />
schwierigen Situation überlegt gehandelt zu haben.<br />
»Mir gefällt es hier«<br />
Barbara Wehner gehört wie Herr Garbrecht zum alten Eisen in<br />
der WG – seit 17 Jahren ist sie dabei. Sie redet weniger als die<br />
anderen und möchte nicht fotografiert werden. Doch was sie<br />
sagt, sagt sie mit Bestimmtheit: »Mir gefällt es hier. Und zusammen<br />
mit Anna einkaufen kann ich hier.« Auch Elke Zacherz mag<br />
ihren Kiez im Großen und Ganzen. Sie findet besonders angenehm,<br />
dass das Schwimmbad, in das sie regelmäßig geht, in der<br />
Nähe liegt. Doch sie äußert sich auch kritisch: »Nicht dass ich<br />
hier nicht gern wohne, aber mir ist es zu unruhig geworden. Die<br />
Autos sind laut, es gibt so viele Leute und zu viele Cafés. Früher<br />
war es ruhiger.« Joachim Garbrecht sieht das anders. Dieser Kiez<br />
ist seine Heimat: »Die Geschäfte, die U-Bahnen, die Leute – ich<br />
brauche das.«<br />
i<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Das Mosaik e. V. –<br />
<strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />
Akazienstraße 6 | 10823 <strong>Berlin</strong><br />
Anna Giesen<br />
Tel 030–787 50 75<br />
a.giesen@mosaik-berlin.de<br />
www.mosaik-berlin.de<br />
<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 35
Doppelt betroffen<br />
Von Jens Kohlmeier, Vista gGmbH<br />
Vor sechs Jahren ging bei Melanie* gar nichts mehr. Heroinabhängig,<br />
Arbeit verloren, Schulden, <strong>Wohn</strong>ung weg – das ganze<br />
Programm. Mit 27 Jahren gesundheitlich am Ende, finanziell<br />
ruiniert, sozial erledigt und beruflich ohne jede Chance.<br />
Irgendwann hatte sie vergessen wie sich Hoffnung anfühlt.<br />
Seit 2009 lebt sie im Betreuten <strong>Wohn</strong>en von Vista gGmbH und<br />
heute, mit 33, geht es ihr besser als je zuvor: Sie wird stabil substituiert,<br />
hat ihre Ausbildung zur Bürokauffrau erfolgreich abgeschlossen<br />
und ist seit zwei Monaten vollzeitbeschäftigt, auch ihre<br />
Schulden hat sie im Griff. Sie ist bereit, wieder unabhängig zu<br />
leben und freut sich auf eine eigene <strong>Wohn</strong>ung.<br />
Kündigung in Neukölln aufgrund von Eigenbedarf<br />
Melanies Geschichte zeigt, dass das Betreute <strong>Wohn</strong>en vor allem<br />
in Verbindung mit der psychosozialen Betreuung ein Hilfsangebot<br />
ist, das Menschen mit Suchtproblemen nachhaltige und<br />
umfassende Unterstützung ermöglicht. Vista bietet in acht Einrichtungen<br />
in Friedrichshain-Kreuzberg, Pankow, Mitte, Neukölln<br />
und Marzahn-Hellersdorf Betreutes <strong>Wohn</strong>en nach § 53<br />
und/oder § 67 SGB XII. In insgesamt 44 vom Träger dafür angemieteten<br />
<strong>Wohn</strong>ungen sind derzeit 83 Klientinnen und Klienten<br />
untergebracht.<br />
Die Auswirkungen des zunehmenden Mangels an bezahlbarem<br />
<strong>Wohn</strong>raum in der Stadt, gerade innerhalb des S-Bahn-<br />
Rings, spüren auch die Vista-<strong>Wohn</strong>projekte immer deutlicher.<br />
Aktuell hat das <strong>Wohn</strong>projekt Neukölln aufgrund einer Eigenbedarfskündigung<br />
eine <strong>Wohn</strong>ung aufgeben müssen und damit<br />
zwei Betreuungsplätze verloren, die noch nicht ersetzt werden<br />
konnten.<br />
*Name geändert<br />
lisiert hat, dass sie aus dem Betreuten <strong>Wohn</strong>en entlassen werden<br />
könnten, finden immer weniger bezahlbaren eigenen <strong>Wohn</strong>raum<br />
oder werden aufgrund ihrer Biografie von Vermietern abgelehnt.<br />
»In letzter Zeit kommt das häufiger vor, dass die Betreuungsdauer<br />
sich durch die erfolglose <strong>Wohn</strong>ungssuche verlängert. Im<br />
Endeffekt kann der vorhandene <strong>Wohn</strong>raum so immer weniger<br />
für Neuaufnahmen genutzt werden« so Anneke Groth, Fachbereichsleiterin<br />
»<strong>Wohn</strong>en und Betreuung« der Vista gGmbH.<br />
Angst um <strong>Wohn</strong>ung gekoppelt mit Suchtproblemen<br />
Auch in der psychosozialen Betreuung gewinnt das Thema<br />
<strong>Wohn</strong>raumerhalt und -erlangung zunehmend an Bedeutung.<br />
»Immer mehr Klientinnen und Klienten haben Angst um ihre<br />
<strong>Wohn</strong>ung. Neben der individuellen Suchtproblematik, mit der<br />
ohnehin schon eine Vielzahl belastender Begleiterscheinungen<br />
einhergehen, bekommt Obdachlosigkeit gerade für die Menschen<br />
mit denen wir arbeiten, eine neue, ganz reale und die soziale<br />
Existenz bedrohende Qualität«, berichtet Marc Schroeder,<br />
Einrichtungsleiter der <strong>Wohn</strong>projekte Neukölln und fügt hinzu:<br />
»Oft wird die <strong>Wohn</strong>ungssuche zum Ende der psychosozialen<br />
Betreuung das alles bestimmende Thema und der psychische<br />
Druck, der daraus resultiert, fordert gerade unseren Klienten<br />
viel ab.«<br />
Das altbekannte Gefühl von<br />
Ausweglosigkeit wird wachgerufen<br />
Schon seit einem halben Jahr ist Melanie auf der Suche nach<br />
einer <strong>Wohn</strong>ung, aber mit ihrer Geschichte und vier Seiten<br />
Schufa: keine Chance. Eigentlich mag sie heute nicht mehr an<br />
damals denken, aber die Erfahrungen in den letzten sechs Monaten<br />
haben dieses altbekannte Gefühl von Ausweglosigkeit wieder<br />
wachgerufen. Nach unzähligen Absagen bleibt ihr nur eine<br />
Chance: Ihr Vater aus Norddeutschland, mit dem sie zum Glück<br />
wieder ein gutes Verhältnis hat, wird versuchen eine <strong>Wohn</strong>ung<br />
zu mieten, in die sie dann – wenn alles klappt – als Untermieterin<br />
einziehen kann.<br />
Entwurzelung und Verlust von<br />
sozialen Kontakten drohen<br />
Hält die momentane Entwicklung auf dem <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />
an, ist zu befürchten, dass viele <strong>Wohn</strong>projekte früher<br />
oder später zum Umzug in Außenbezirke oder an den Stadtrand<br />
gezwungen werden. »Gerade für unsere Klienten würde ein<br />
Umzug als Entwurzelung erlebt werden und zusätzliche Belastungen<br />
mit sich bringen. Über lange Zeit aufgebaute Sozialkontakte<br />
im Kiez oder im Bezirk gehen verloren und die ohnehin<br />
schon eingeschränkte Teilhabe am sozialen Leben wird so noch<br />
weiter beschnitten. Menschen, deren Situation sich soweit stabii<br />
Kontakt<br />
und<br />
Kooperationspartner<br />
Vista – Verbund für integrative soziale<br />
und therapeutische Arbeit gGmbH<br />
Alte Jakobstraße 85/86 | 10179 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–20 08 99-38<br />
vista@vistaberlin.de<br />
www.vistaberlin.de<br />
36
Impressum<br />
Herausgeber<br />
<strong>Paritätische</strong>r Wohlfahrtsverband<br />
Landesverband <strong>Berlin</strong> e. V.<br />
Brandenburgische Straße 80<br />
10713 <strong>Berlin</strong><br />
Tel 030–860 01-0<br />
Fax 030–86 00 11 10<br />
info@paritaet-berlin.de<br />
www.paritaet-berlin.de<br />
Vorsitzende<br />
Prof. Barbara John<br />
Geschäftsleitung<br />
Oswald Menninger<br />
Elke Krüger (stv.)<br />
Verantwortlich für Text- und Bildredaktion<br />
Rita Schmid, Pressestelle <strong>Paritätische</strong>r <strong>Berlin</strong><br />
Danksagung<br />
Wir danken den beteiligten Mitgliedsorganisationen, die Textbeiträge<br />
geliefert und Fotos ermöglicht haben.<br />
Unser Dank geht auch an die ehrenamtlichen <strong>Paritätische</strong>n<br />
Fotoreporter Michael Janda und Frederic Brueckel für ihren Einsatz.<br />
Genderform<br />
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet die Redaktion auf eine<br />
Genderschreibweise.<br />
Die Bezeichnung von Personengruppen bezieht die weibliche Form<br />
und die Transgender-Form jeweils ein.<br />
Layout<br />
polyform, www.polyform-net.de<br />
Titel »<strong>Wohn</strong>(T)<strong>räume</strong>«<br />
<strong>Der</strong> Titel des Themenheftes »<strong>Wohn</strong>(T)<strong>räume</strong>« ist mit der freundlichen<br />
Zustimmung von Gangway der gleichnamigen Fotowanderausstellung<br />
entnommen. Heike Sievers, Straßensozialarbeiterin bei Gangway e. V.,<br />
begegnet täglich Menschen, die auf der Straße leben. Sie lädt mit der<br />
Fotoausstellung ein, an ihren Einblicken teilzuhaben. Die Ausstellung<br />
entstand mit Unterstützung und in Zusammenarbeit mit dem Zentrum<br />
für sexuelle Gesundheit und Familienplanung Charlottenburg-<br />
Wilmersdorf und Gangway e. V.<br />
Titelfoto<br />
Schöner <strong>Wohn</strong>en in Marzahn, Foto: Frederic Brueckel<br />
Druck<br />
USE gGmbH, www.u-s-e.org<br />
Auflage<br />
2500<br />
<strong>Berlin</strong>, Juni 2013