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Wohn(T)räume - Der Paritätische Berlin

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<strong>Wohn</strong>(T)<strong>räume</strong><br />

<strong>Paritätische</strong> Perspektiven zum <strong>Wohn</strong>en in <strong>Berlin</strong>


Inhalt<br />

2<br />

Ohne Räume kann sich kein Gemeinwesen entwickeln<br />

Vorwort, Oswald Menninger<br />

4<br />

7<br />

9<br />

12<br />

<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n<br />

»Das geht zu Lasten unserer Kernkompetenz« Uli Schulte Döinghaus<br />

Politische Stellungnahmen und freundliche Flyer Uli Schulte Döinghaus<br />

<strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>versorgung aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n Regina Schödl<br />

Energie als Armutsproblem – wird Energie zum Luxusgut? Regina Schödl<br />

14<br />

16<br />

18<br />

19<br />

21<br />

<strong>Wohn</strong>problematik aus Sicht <strong>Paritätische</strong>r Träger<br />

»Menschen sind doch keine Manövriermasse« Uli Schulte Döinghaus<br />

<strong>Der</strong> <strong>Wohn</strong>führerschein – bessere Chancen für Jugendliche auf dem<br />

<strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt Roland Bohr, Frieder Moritz, Mathias Riester<br />

Suche: behindertengerechte <strong>Wohn</strong>ung in <strong>Berlin</strong> Martin Thoma<br />

Zwischen <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit und Mietwucher – Roma in Mitte Elisabeth Gregull<br />

»Das Immobilienthema ist nicht unser Kerngeschäft« Uli Schulte Döinghaus<br />

23<br />

25<br />

27<br />

28<br />

29<br />

31<br />

32<br />

34<br />

36<br />

<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger<br />

<strong>Wohn</strong>angebote sozialer Träger in <strong>Paritätische</strong>n Häusern Rita Schmid<br />

Ohne die Häuser würde das Kinderdorfprinzip<br />

nicht funktionieren Mone Volke<br />

Leben erleben im Kiez – Das <strong>Wohn</strong>projekt Undine Birgit Hartigs<br />

Kein <strong>Wohn</strong>raum für Mädchen und junge Frauen<br />

mit Gewalterfahrungen? Iris Hölling<br />

Sich zusammenschließen, um Eigentum zu schaffen Elisabeth Gregull<br />

Lebensort Vielfalt – ein Meilenstein in der schwulen Geschichte Marcel de Groot<br />

Ambulante <strong>Wohn</strong>gemeinschaften für Menschen<br />

(nicht nur) mit Demenz Andrea von der Heydt<br />

»Meine schönsten Freunde sind hier« – die ungewisse<br />

Zukunft der WG Akazienstraße Martin Thoma<br />

Doppelt betroffen Jens Kohlmeier, vista gGmbH


Ohne Räume kann sich kein<br />

Gemeinwesen entwickeln<br />

Vorwort von Oswald Menninger<br />

<strong>Der</strong> Titel »<strong>Wohn</strong>(t)<strong>räume</strong>« dieses Heftes steht in keinem Bezug<br />

zu einer Villa in Caputh in der brandenburgischen Idylle. Diese<br />

Villa prägte vor nunmehr drei Jahren die stadtpolitische Debatte<br />

über Immobilien freier Träger. Schon damals wäre es sinnvoller<br />

gewesen, die realen Probleme der Stadt, wie steigende Mieten,<br />

bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum für Menschen mit geringem Einkommen<br />

und bezahlbare Räume für gemeinwohlorientierte Zwecke<br />

in Angriff zu nehmen. Umso mehr wird die aktuelle politische<br />

Debatte in der Stadt von diesen Problemen bestimmt – und das<br />

ist auch gut so.<br />

Das Land <strong>Berlin</strong> ist sehenden Auges in diese Probleme hineingeschlittert.<br />

Seit Jahren wurden vorwiegend Stadtwohnungen<br />

im oberen Mietpreissegment oder Eigentumswohnungen<br />

gebaut. Eine verfehlte Liegenschaftspolitik, die ausschließlich<br />

den Verkauf an den Höchstbietenden bei landeseigenen Immobilien<br />

zum Ziel hatte, trug wesentlich zu dieser Entwicklung bei.<br />

Diese Liegenschaftspolitik konterkariert die Ziele der sozialen<br />

Stadt, die von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und<br />

Umwelt wie folgt richtig beschrieben wird: »Die soziale Differenzierung<br />

bildet sich im Stadtraum ab. Problematisch wird die<br />

Entwicklung, wenn sie zum Ausschluss ganzer Quartiere und<br />

ihrer Bewohnerinnen und Bewohner von der gesellschaftlichen<br />

Teilhabe führt.« 1 Dem braucht man nichts hinzuzufügen.<br />

Eine Liegenschaftspolitik, die nur an Höchstgeboten ausgerichtet<br />

ist, dient nicht den langfristigen fiskalischen Interessen<br />

der Stadt. Dazu ein aktuelles Beispiel, aus dem Kreise unserer<br />

Mitglieder: Um eine bestmögliche Inklusion geistig behinderter<br />

Menschen zu erreichen, versuchte eine Mitgliedsorganisation<br />

ein Grundstück vom Liegenschaftsfond zu erwerben. <strong>Der</strong> Bau<br />

einer <strong>Wohn</strong>einrichtung war geplant, um die Betreuung in einem<br />

lebendigen <strong>Wohn</strong>umfeld mit vielfältigen Teilnahmemöglichkeiten<br />

am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. <strong>Der</strong> bisherige<br />

Standort ist mit 73 Betreuten unter Inklusionsgesichtspunkten<br />

mangelhaft und sollte durch den Neubau entlastet werden. Die<br />

Sozialverwaltung war mit der Planung zwar einverstanden, hält<br />

jedoch den im Entgelt berücksichtigungsfähigen Investitionsaufwand<br />

pro Platz im Neubau seit Jahren bei 77.000 Euro gedeckelt.<br />

Obwohl der Bodenrichtwert von 290 Euro/m2 ausging<br />

und der Träger aufgrund der von der Sozialverwaltung gesetzten<br />

Rahmenbedingungen 500 Euro/m2 für den Kauf für wirtschaftlich<br />

noch vertretbar hielt, ließ der Liegenschaftsfond durchblicken:<br />

für unter 1500 Euro/m2 wäre nichts zu machen. Als Trost<br />

Oswald Menninger, Foto: Eberhard Auriga<br />

versprach der Liegenschaftsfond ein urbanes Grundstück zu<br />

suchen. Bei den Finanzierungsmöglichkeiten des Trägers wird<br />

das passende »urbane« Grundstück sicherlich jotwede liegen<br />

oder es wird sich um eine Industriefläche handeln. Inklusion à<br />

la <strong>Berlin</strong>!<br />

Vor dem Hintergrund, dass das Land <strong>Berlin</strong> für die Leistungen<br />

der Eingliederungshilfe (SGB XII) und der Kinder- und Jugendhilfe<br />

(SGB VIII) als Kostenträger zuständig ist, ist diese Liegenschaftspolitik<br />

unverständlich. Welchen Sinn ergibt es, wenn freie<br />

Träger Grundstücke und Immobilien des Landes teuer erwerben<br />

müssen und diese Investitionskosten anschließend noch in die<br />

Entgelte einzukalkulieren sind? Es ist fiskalpolitisch unsinnig,<br />

wenn die Liegenschaftspolitik eine soziale Entmischung fördert<br />

und danach die sozialen Folgen mit teuren Sonderprogrammen<br />

bekämpft werden. Die direkten und indirekten gesellschaftlichen<br />

Kosten, die durch Ausgrenzung, Verarmung und Abhängigkeit<br />

von Transferleistungen entstehen, übersteigen am Ende<br />

sicher ein Vielfaches hoher Verkaufserlöse. Und dies auch ohne<br />

dass es zu Krawallen wie jetzt in Schweden und früher in den<br />

französischen Banlieues kommen muss.<br />

2


Eine Neuausrichtung der <strong>Berlin</strong>er Liegenschaftspolitik ist überfällig.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Paritätische</strong> <strong>Berlin</strong> wird sich dafür einsetzen. Nicht<br />

die Verwertung zu Höchstpreisen, sondern die soziale Durchmischung,<br />

das Ziel einer sozialen Stadt, muss im Zentrum einer<br />

nachhaltigen Liegenschaftspolitik stehen. Es gibt genügend Instrumente<br />

wie Erbbaurecht und Nutzungsbindung um bei einem<br />

Verkauf oder der Übertragung von landeseigenen Grundstücken<br />

und Immobilien auf freie Träger die berechtigten öffentlichen<br />

Interessen zu sichern.<br />

Dieses Heft beleuchtet vielschichtig das Thema bezahlbare Mieten<br />

für Menschen, die Hilfe und Unterstützung benötigen, und<br />

zeigt, welch enormen Beitrag unsere Mitgliedsorganisationen für<br />

eine soziale Durchmischung <strong>Berlin</strong>s leisten. Die Beiträge machen<br />

deutlich, dass Eigentum und Besitz von Immobilien Mittel zum<br />

Zweck sind und dem Gemeinwohl dienen: denn ohne Raum<br />

und ohne Räume kann sich kein Gemeinwesen entwickeln.<br />

Wir fordern vom Land <strong>Berlin</strong> eine zügige Neuausrichtung der<br />

Liegenschaftspolitik, die klare und eindeutige Regeln für den<br />

Kauf oder die Nutzung von Landesimmobilien für freie Träger<br />

entwickelt und gewährleistet.<br />

Oswald Menninger<br />

Geschäftsführer<br />

<strong>Paritätische</strong>r Wohlfahrtsverband <strong>Berlin</strong><br />

1 Handbuch zur Partizipation, Hrsg. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung<br />

und Umwelt <strong>Berlin</strong>, 2. Auflage Februar 2012<br />

Vorwort 3


»Das geht zu Lasten unserer<br />

Kernkompetenz«<br />

Von Uli Schulte Döinghaus<br />

<strong>Berlin</strong>er Mietenexplosion verdrängt soziale Träger<br />

und ihre Klienten aus den Kiezen<br />

Jeder dritte <strong>Berlin</strong>er hat Schwierigkeiten, eine bezahlbare <strong>Wohn</strong>ung<br />

in der Hauptstadt zu finden. Das geht aus einem aktuellen<br />

»<strong>Berlin</strong>Trend« hervor. In dieser Meinungs- und Stimmungsumfrage,<br />

die der Rundfunk <strong>Berlin</strong>-Brandenburg (RBB) und die<br />

<strong>Berlin</strong>er Morgenpost regelmäßig veröffentlichen, zeigten sich<br />

die 18- bis 44-jährigen <strong>Berlin</strong>er besonders betroffen; rund die<br />

Hälfte der Befragten gab Probleme bei der <strong>Wohn</strong>ungsfindung zu<br />

Protokoll – ernüchternde Zahlen in einer Stadt, die sich lange<br />

Zeit eines »entspannten <strong>Wohn</strong>ungsmarktes« rühmte, in dem<br />

jeder ein Dach finden konnte, das über seinen Kopf passte und<br />

zu Kosten, die sein Portemonnaie verkraftete.<br />

Die Prozentzahlen wären in der Umfrage richtig krass ausgefallen,<br />

wenn die Interviewer auch Menschen befragt hätten,<br />

die von akuter <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit bedroht oder betroffen sind.<br />

Oder Menschen mit Suchtproblemen und einer entsprechenden<br />

Arbeits- und Schuldenkarriere. Auch Bürger mit psychischen<br />

Erkrankungen oder geistigen Beeinträchtigungen kommen in<br />

der Umfrage <strong>Berlin</strong>Trend nicht explizit vor, wahrscheinlich hätten<br />

rund 100 Prozent über massive Probleme bei der Suche nach<br />

geeignetem und passendem <strong>Wohn</strong>raum berichtet.<br />

<strong>Paritätische</strong> Träger drücken in Telefonaten und<br />

E-Mails ihre Sorge aus<br />

Viele von ihnen sind Klienten bei gemeinnützigen Trägern, die<br />

Mitglieder des <strong>Paritätische</strong>n <strong>Berlin</strong> sind. Im März diesen Jahres<br />

richtete der Verband eine interne Mailanfrage an seine Mitglieder,<br />

ob und wenn ja in welcher Weise, sie und ihre Klienten von<br />

der angespannten <strong>Wohn</strong>ungsmarktlage betroffen seien. In Telefonaten,<br />

Briefen und E-Mails drückten daraufhin Verantwortliche<br />

dieser Mitgliedsorganisationen große Sorge darüber aus,<br />

dass »ihre« Bewohner, Klienten, Besucher an den Rand gedrängt<br />

werden, wenn es um geeigneten <strong>Wohn</strong>raum geht, der bezahlbar<br />

ist und gleichzeitig inklusiv; günstig und mittenmang in einer<br />

sozialen, vielfältigen und lebenswerten Stadt.<br />

Ein noch ganz anderes Lied wissen die Träger der <strong>Wohn</strong>ungslosenhilfe<br />

in <strong>Berlin</strong> zu singen, deren Klientel einen zumindest<br />

bedrohten <strong>Wohn</strong>status habe, wie Anna-Sophie Lüdtke berichtet.<br />

Die Einrichtungsleiterin bei der mitHilfe gGmbH führt aus:<br />

»Unsere alltägliche Erfahrung ist, dass Menschen, die auch nur<br />

den geringsten Zweifel an ihrer Bonität aufkommen lassen, vom<br />

regulären <strong>Wohn</strong>ungsmarkt faktisch ausgeschlossen sind.«<br />

<strong>Wohn</strong>ungsverknappung verhindert Betreuung<br />

Die akute <strong>Wohn</strong>ungsnot geht an die Kernkompetenz der Träger:<br />

Immer öfter passiert es, dass Träger Menschen, die bei ihnen<br />

betreut werden möchten, vertrösten oder abweisen müssen (also<br />

ihrer eigentlichen Arbeit nicht nachgehen können), weil sie<br />

keinen <strong>Wohn</strong>raum für Maßnahmen des »Betreuten Einzelwohnens«<br />

anbieten können. Im Jahresbericht des Vereinigung für<br />

Jugendhilfe <strong>Berlin</strong> e. V. (VfJ) beschreibt dessen geschäftsführender<br />

Vorsitzender, Ralf Feuerbaum, diese Entwicklung so: »Selbst<br />

in <strong>Berlin</strong>-Neukölln ist es aber inzwischen kaum noch möglich,<br />

geeignete bezahlbare Mietwohnungen zu finden. Dies führt<br />

dazu, dass trotz eines anerkannten Betreuungsbedarfes durch<br />

den Sozialhilfeträger kein Betreuungsverhältnis zustande kommen<br />

kann.« Und dies, obwohl die Trägerwohnung durch den<br />

Sozialhilfeträger in vielen Fällen nicht finanziert wird.<br />

<strong>Der</strong> VfJ ist über die Tochter Lebens<strong>räume</strong> für Menschen mit<br />

Behinderung gGmbH (LfB) Träger des modernen, inklusiven<br />

Apartmenthauses Hans-Spänkuch-Haus, in dem es 98 Ein-Zimmer-<strong>Wohn</strong>ungen<br />

für behinderte und nicht-behinderte Bewohner<br />

gibt. Man hat Immobilienerfahrung, man ist sogar im Verband<br />

<strong>Berlin</strong>-Brandenburgischer <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen (BBU).<br />

Dennoch schrecken VfJ und LfB davor zurück, zusätzlich in den<br />

Bau oder Kauf einer Immobilie zu investieren. Erstens, weil die<br />

umstrittene »<strong>Wohn</strong>ungsaufwendungenverordnung«, etwa für<br />

Hartz-IV-Empfänger, die Kaltmiete bei rund 7,30 Euro/Quadratmeter<br />

deckele – ein Mieterlös, der die Baukosten bei weitem<br />

nicht abdeckt. Und zweitens weil es seit der Abschaffung des<br />

»Sozialen <strong>Wohn</strong>ungsbaus« keine Förderung mehr gebe »die uns<br />

4


in die Lage versetzen würde, zu einem Preis zu bauen, der hinterher<br />

bezahlbare Mieten ermöglicht«. (Ralf Feuerbaum, VfJ).<br />

In vielen E-Mails und Anrufen beim <strong>Paritätische</strong>n wird der<br />

Umstand beklagt, dass es an Anreizen und Anstößen fehlt, in<br />

den sozialen <strong>Wohn</strong>ungsbau zu investieren. Stephan Guerra<br />

Núñez von der Bereichsleitung Stationäre Hilfen zur Erziehung<br />

Evin e. V. sagt, dass »die Verabschiedung des Landes aus<br />

dem sozialen <strong>Wohn</strong>ungsbau und die damit einhergehende<br />

Privatisierung der <strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften ein Teil des<br />

nun bestehenden Problems ist – ein gravierender politischer<br />

Handlungsfehler«.<br />

Anstöße zur sozialpolitischen Wende<br />

auf dem <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />

Und Esther Lehr, Leiterin Ambulanter <strong>Wohn</strong>verbund bei der<br />

Albert Schweitzer Stiftung – <strong>Wohn</strong>en und Betreuen, schreibt:<br />

»Wichtig finden wir die politische Diskussion<br />

zu Möglichkeiten einer Regulierung des (privatwirtschaftlichen)<br />

<strong>Wohn</strong>ungsmarktes und<br />

zum Thema Sozialraum und Verdrängung von<br />

Menschen mit seelischer Beeinträchtigung in problemzentrierte<br />

Quartiere. Es stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, auch in<br />

begehrten (Innenstadt)Quartieren die <strong>Wohn</strong>raumversorgung so<br />

zu planen, dass auch Menschen mit geringem Einkommen oder<br />

Beeinträchtigungen in ihrem Heimatkiez bleiben können.«<br />

Unfreiwillig sind psychosoziale Träger zu Immobilienscouts<br />

geworden. Stets sind sie auf der Suche nach <strong>Wohn</strong>raum für die<br />

Droht eine Rehospitalisierung<br />

auf leisen Sohlen?<br />

von ihnen Betreuten. Antje Gentzmann von Opferhilfe <strong>Berlin</strong><br />

e. V. berichtet zum Beispiel: »Bei uns in der Beratungsstelle<br />

spielt das Thema <strong>Wohn</strong>raumversorgung eine große Rolle. Einerseits<br />

gibt es Opfer, die aufgrund einer in der <strong>Wohn</strong>ung erlebten<br />

Straftat dringend umziehen möchten, andererseits gibt es bei Fällen<br />

wie Stalking oder nachbarschaftlichen Konflikten oft eine<br />

dringende Notwendigkeit, den <strong>Wohn</strong>ort zu wechseln, um sich<br />

zu schützen. All diesen Personen fällt es schwer, dieses Problem<br />

zu lösen, da der <strong>Wohn</strong>ungsmarkt so schlimm aussieht.«<br />

Viele Träger befürchten, zur reinen<br />

Vermieterfunktion verdammt zu sein<br />

Viele soziale Träger grasen mit Hilfe spezialisierter Makler den<br />

<strong>Berlin</strong>er Immobilienmarkt nach <strong>Wohn</strong>ungen ab, die sie anschließend<br />

als sogenannte »Trägerwohnungen« anmieten und an ihre<br />

Klienten weiter vermieten. Das Problem sei, schreibt Dr. Thomas<br />

Pfeifer, Geschäftsführer der Wuhletal Psychosoziales Zentrum<br />

gGmbH, »dass wir häufig mit dem Ende<br />

der Betreuung des Klienten die <strong>Wohn</strong>ung<br />

nicht in das Hauptmietverhältnis des dann<br />

ehemaligen Betreuten übertragen bekommen,<br />

da das <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen nicht zustimmt und uns offensichtlich<br />

als den noch besseren Mietschuldner anssieht. So haben<br />

wir in einigen Fällen bereits reine Vermieterfunktionen.«<br />

Anders als die Nachfrage nach großen <strong>Wohn</strong>ungen für Familien<br />

und <strong>Wohn</strong>gemeinschaften wächst der Trend zu kleinen <strong>Wohn</strong>ungen<br />

für Singles. Just nach solchen <strong>Wohn</strong>ungen ist die Nachfrage<br />

in <strong>Berlin</strong> so immens, dass die Preise klettern. Die Folge:<br />

<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n 5


Mieten von <strong>Wohn</strong>ungen mit rund 45 – 50 Quadratmetern steigen<br />

bei <strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften auf Beträge, die nicht mehr<br />

im Limit von Harz IV liegen.<br />

Entsprechend schwer hat es zum Beispiel »die Reha e. V.«, die<br />

zurzeit 20 <strong>Wohn</strong>ungen für Kunden im Rahmen des Betreuten<br />

<strong>Wohn</strong>ens und mindestens drei große <strong>Wohn</strong>ungen für acht ihrer<br />

Kunden sucht, die in einer <strong>Wohn</strong>gemeinschaft leben wollen.<br />

»Aber <strong>Wohn</strong>ungen suchen oder managen, das ist nicht unsere<br />

Kernkompetenz«, sagt Falko Hoppe vom Geschäftsführenden<br />

Vorstand des Trägers, der sich als soziales Unternehmen versteht,<br />

das Menschen mit Behinderungen oder psychischen Beeinträchtigungen<br />

hilft, sich in die Gesellschaft einzugliedern.<br />

<strong>Wohn</strong>ungsunternehmen: Vermietungssperre für<br />

Träger und Vereine?<br />

Auch städtische und öffentliche <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen, so<br />

berichten viele Mitgliedsorganisationen dem <strong>Paritätische</strong>n <strong>Berlin</strong>,<br />

seien zurückhaltender geworden. Manche deuteten schon<br />

mal an, dass ihnen die Vermietung an<br />

Behinderte »zu stressig« sei. Sachbearbeiter<br />

versteckten sich bisweilen hinter<br />

angeblichen Aufsichtsratsbeschlüssen,<br />

wonach man nicht mehr an Vereine vermiete.<br />

Droht eine Rehospitalisierung auf leisen Sohlen? Eine Zentralisierung<br />

von Einrichtungen und <strong>Wohn</strong>ungen für Behinderte<br />

und Beeinträchtigte unter einem Dach, kostengünstig gebaut<br />

oder erworben an der Peripherie der Stadt? Zurück ins Heim?<br />

Unfreiwillig sind psychosoziale<br />

Träger zu Immobilienscouts geworden.<br />

»Dann entwickeln wir uns in die 50er und 60er-Jahre zurück«,<br />

befürchtet Renate Hoffmann, die dem Vorstand der Spastikerhilfe<br />

e. V. angehört und auf entsprechende Überlegungen aus der<br />

Senatsbauverwaltung verweist, wo größeren, ambulant betreute<br />

<strong>Wohn</strong>formen offenbar der Vorzug gegeben werde, in die betroffene<br />

Menschen dann gedrängt würden. Hoffmann: »Bürgerinnen<br />

und Bürger, die auf öffentliche Transferleistungen angewiesen<br />

sind, können barrierefreien <strong>Wohn</strong>raum kaum noch bezahlen,<br />

geschweige denn neue <strong>Wohn</strong>ungen finden«. In <strong>Berlin</strong> gibt es<br />

1450 behindertengerechte <strong>Wohn</strong>ungen; das Zehnfache wäre<br />

angemessen. Sonderbauformen aber seien angesichts des bestehenden<br />

Immobilienbooms mit »normalem« <strong>Wohn</strong>ungsbau bei<br />

öffentlichen und privaten Bauherren nicht sonderlich attraktiv.<br />

S.U.S.I.s Hilferuf könnte symptomatisch werden<br />

Investoren haben dem <strong>Wohn</strong>ungsbau in attraktiven und lukrativen<br />

Stadtlagen zu einem regelrechten Boom verholfen –<br />

unter dem bisweilen soziale Träger leiden. Neulich formulierte<br />

das Interkulturelle Frauenzentrum<br />

S.U.S.I., Geschäftsstelle Linienstraße,<br />

<strong>Berlin</strong>-Mitte, einen Hilferuf: »Wir<br />

suchen Räume, da uns gekündigt<br />

wurde. Die Geschäftsstelle mit Beratungen und Räumen für die<br />

Gruppenangebote liegt in <strong>Berlin</strong>-Mitte in der Linienstraße, eine<br />

begehrte <strong>Wohn</strong>lage. <strong>Der</strong> private Hausbesitzer hat allen Mietern<br />

mit Gewerbemietverträgen gekündigt, da er das Haus zu <strong>Wohn</strong>ungen<br />

umbauen will.«<br />

6


Politische Stellungnahmen<br />

und freundliche Flyer<br />

Was Träger tun, um an <strong>Wohn</strong>raum für ihre Klienten zu kommen | Von Uli Schulte Döinghaus<br />

Soziale Träger, die ihren Klientinnen und Klienten<br />

im <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt zu einem Dach über den Kopf<br />

verhelfen wollen, müssen sich etwas einfallen lassen.<br />

Einige engagieren Immobilienspezialisten, die alle digitalen<br />

und gedruckten Mietmärkte in der Stadt abgrasen. Andere werden<br />

regelmäßig in den Chefetagen der <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen<br />

vorstellig, um auf die prekäre <strong>Wohn</strong>situation ihrer<br />

Klienten aufmerksam zu machen, für die zum Beispiel dringend<br />

passende <strong>Wohn</strong>ungen für Maßnahmen des »Betreuten<br />

Einzelwohnens« (BEW) gesucht werden. »Wir schmieren den<br />

Managern und Geschäftsführern der <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen<br />

regelmäßig Honig um den Bart, sonst können wir nicht mehr<br />

viel tun«, bekennt der Vorstand eines psychosozialen Trägers<br />

freimütig in einem Telefonat mit dem <strong>Paritätische</strong>n <strong>Berlin</strong>. <strong>Der</strong><br />

<strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt sei längst zu einem Anbietermarkt<br />

geworden, mit einer einseitigen Marktmacht bei Vermietern<br />

und <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen.<br />

Gangway: Dringende Stellungnahme an die<br />

zuständige Senatsverwaltung<br />

In dieser Situation wendet sich etwa Gangway e. V. in einer<br />

Stellungnahme an die zuständigen Senatsverwaltungen, quasi<br />

in Vertretung und im Auftrag vieler Jugendlichen, die unter<br />

der Schieflage im <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt besonders leiden.<br />

Ihre Möglichkeiten würden immer begrenzter, schreiben Sindy<br />

Seeber vom Streetwork-Team Marzahn und Matthias Gutjahr<br />

vom Team Startpunkt, einem Modellprojekt der Vereine Gangway<br />

und Freie Hilfe <strong>Berlin</strong>. Startpunkt unterstützt sogenannte<br />

Endstrafer der Jugendstrafanstalt <strong>Berlin</strong> unter anderem bei der<br />

<strong>Wohn</strong>raumbeschaffung. Es müsste ein Instrument geschaffen<br />

werden, das den Zugang für Jugendliche und Heranwachsende<br />

zu kleinen und bezahlbaren <strong>Wohn</strong>ungen regelt, auch und vor<br />

allem dann, wenn sogenannte Ausschlusskriterien (zum Beispiel<br />

negative Schufa, ALG II-Bezug) vorhanden seien. Zudem<br />

bedürfe es weiterer Überbrückungsmöglichkeiten, zum Beispiel<br />

jugendgerechter Unterkünfte, zu denen ein Zugang ohne<br />

langwierige Anträge auf Kostenübernahme möglich sein sollte.<br />

Anderenfalls könnten »Warteschleifen« dazu führen, dass Ausbildungen<br />

abgebrochen werden und der Konsum von Drogen<br />

und die damit verbundene Beschaffungskriminalität begünstigt<br />

würden.<br />

Pinel: Freundlicher Flyer wirbt<br />

um Interesse bei Vermietern<br />

Immer häufiger werben soziale Träger aktiv für sich, unterstreichen<br />

die Bedeutung bezahlbaren <strong>Wohn</strong>raums für eine gute<br />

Betreung und Versorgung ihrer Klienten. Janett Grahl und<br />

Peter Seifert fassen das <strong>Wohn</strong>ungsproblem am Beispiel der<br />

Pinel gGmbH so zusammen: »Wenn Pinel im Bezirk Schöneberg<br />

keinen geeigneten <strong>Wohn</strong>raum für psychisch kranke Menschen<br />

mehr anbieten kann und diese auch selbst keinen adäquaten<br />

<strong>Wohn</strong>raum finden können, hat das negative Folgen für das<br />

Betreuungsnetz und die Träger. Klientinnen und Klienten könnten<br />

gezwungen sein, in großer Zahl in die noch bezahlbaren<br />

Bezirke (zum Beispiel Hellersdorf) zu ziehen. Um diesem Trend<br />

entgegenzuwirken, haben wir uns entschieden, auf andere Weise<br />

als bisher auf die Vermieter und <strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften<br />

zuzugehen und diesen Flyer entwickelt.«<br />

<strong>Der</strong> freundliche Flyer liegt in Maklerbüros, <strong>Wohn</strong>ungsverbänden<br />

und -unternehmen, bei privaten und öffentlichen Vermietern<br />

vor. Eindringlich, sachlich und durch Fallbeispiele von<br />

Klienten gut verständlich beschreiben die Pinel-Mitarbeiter die<br />

Vorzüge ihres sozial-psychiatrischen Trägers als soziale Dienstleister<br />

im <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt:<br />

› sichere Mietzahlungen durch Hauptmietvertrag<br />

› regelmäßige Treffen (Informationsaustausch, Aufklärung),<br />

kurzfristige Ansprechbarkeit – Unterstützung bei der Integration<br />

unserer Klientinnen und Klienten in das <strong>Wohn</strong>umfeld<br />

› Regelmäßige <strong>Wohn</strong>ungsbegehungen durch Mitarbeiterinnen<br />

oder Mitarbeiter unseres Trägers<br />

› Pflege der <strong>Wohn</strong>ung durch eigenes (Fach-)<br />

Haushandwerkerteam<br />

› Interesse an langfristiger Zusammenarbeit und <strong>Wohn</strong>raumerhaltung<br />

im Bezirk.<br />

Missverständnisse aus<strong>räume</strong>n, Skepsis mit<br />

Argumenten begegnen<br />

<strong>Der</strong> Flyertext soll auch dazu dienen, Missverständnisse zwischen<br />

sozialen Trägern wie Pinel und <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen<br />

auszu<strong>räume</strong>n, die sich in der jüngsten Vergangenheit ergeben<br />

haben (und von denen auch andere Träger aus anderen Bezirken<br />

berichten). Immer wieder wird von großen <strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften<br />

berichtet, die Mietverträge mit Trägern kategorisch<br />

ausschlössen, weil in einigen Mietverhältnissen für die Vermieter<br />

nicht mehr nachvollziehbar war, wer aktuell in der Trägerwoh-<br />

<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n 7


nung wohnte. Janett Grahl und Peter Seifert schreiben, dass sie<br />

wegen Befürchtungen über undurchsichtige Mietverhältnisse in<br />

den letzten Monaten nicht mehr auf die Bereitschaft der großen<br />

<strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften gestoßen seien. Das gemeinsame<br />

Interesse am Erhalt der <strong>Wohn</strong>ung und einem guten Zusammenwohnen<br />

der Mieterinnen und Mieter des Hauses sei von Vermietern<br />

bei Verträgen mit sozialpsychiatrischen Trägern vermisst<br />

worden.<br />

Die Flyer-Autoren von Pinel machen abschließend klar:<br />

»Daran möchten wir etwas ändern!«<br />

<strong>Der</strong> <strong>Wohn</strong>flyer von Pinel, Foto: Frederic Brueckel<br />

<strong>Paritätische</strong>s Leitbild »Betreutes Jugendwohnen«<br />

Qualitätsentwicklung in den Hilfen zur Erziehung<br />

So ist eine Arbeitshilfe überschrieben, die sich mit dem »Betreuten Jugendwohnen«<br />

(BJW) als zentraler erzieherischer Hilfeform zur Verselbstständigung<br />

von jungen Menschen beschäftigt.<br />

Mit dem BJW werden Ressourcen gestärkt, die für gelingendes Erwachsenwerden<br />

und für Entwicklungen zu selbststeuerungsfähigen Persönlichkeiten<br />

notwendig sind. Diese Ressourcen sind häufig durch familiäre Rahmenbedingungen<br />

verloren gegangen beziehungsweise nie aufgebaut worden. Betreutes<br />

Jugendwohnen bietet soziales Lernen. Unabhängig von der konkreten<br />

<strong>Wohn</strong>form ist das soziale Lernen im Kontext mit anderen jungen Menschen<br />

und Erwachsenen ein wesentliches Merkmal der Hilfe.<br />

Mit der Veröffentlichung des <strong>Paritätische</strong>n Leitbildes wird auch eine Positionierung<br />

geboten, wie sich das »Betreute Jugendwohnen« aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n<br />

<strong>Berlin</strong> und der in diesem Feld tätigen Organisationen präsentiert<br />

und welche Ansätze die Grundlage für eine erfolgreiche Arbeit im »Betreuten<br />

Jugendwohnen« bilden. Stand: September 2011; 21 Seiten, 1,8 MB<br />

Diese Broschüre können Sie herunterladen unter:<br />

www.paritaet-berlin.de/pressemedien/broschueren.html<br />

Sie ist auch als Papierdruck erhältlich über den <strong>Paritätische</strong>n <strong>Berlin</strong>,<br />

Referat Jugendhilfe, Sabina Mohr, mohr@paritaet-berlin.de.<br />

8


<strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>versorgung<br />

aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n<br />

Von Regina Schödl<br />

Bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum wird in Großstädten und Ballungszentren<br />

immer mehr zur Mangelware. Auch in <strong>Berlin</strong> übersteigt<br />

die Nachfrage nach bezahlbaren <strong>Wohn</strong>ungen mittlerweile das<br />

Angebot in allen Bezirken: Bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum ist kaum<br />

noch zu finden.<br />

Nach einer Studie der Investitionsbank <strong>Berlin</strong> (IBB) wohnten<br />

Ende 2010 insgesamt 3,46 Millionen Personen in <strong>Berlin</strong>, das<br />

sind 18 000 Personen beziehungsweise 0,5 Prozent mehr als im<br />

Jahr 2009. In den letzten zehn Jahren stieg die Anzahl insgesamt<br />

um 72 300 Personen, also 2,1 Prozent. Viel schneller als das Einwohnerwachstum<br />

aber steigt die Anzahl der Haushalte, wovon<br />

es derzeit 1,99 Millionen gibt. Seit 2001 ist ein Anstieg um<br />

durchschnittlich 14 200 Haushalte im Jahr zu verzeichnen, die<br />

meisten davon Singlehaushalte 1 .Bis 2030 wird eine Zunahme<br />

der Bevölkerung um etwa 250 000 Personen prognostiziert, was<br />

einem zusätzlichen Bedarf an 150 000 <strong>Wohn</strong>ungen entspricht.<br />

Mietsteigerungen bis zu 30 Prozent<br />

bei Neuvermietung<br />

Neben den stetig steigenden Kosten für die Kaltmiete (in <strong>Berlin</strong><br />

in 2012 ein Anstieg von durchschnittlich 8,1 Prozent 2 ), stiegen<br />

auch die Kosten für Energie wie für Heizung und Strom zwischen<br />

September 2011 und September 2012 in <strong>Berlin</strong> um fast<br />

7 Prozent 3 .<br />

Bei einem Mieterwechsel erhöhen einige Vermieter mittlerweile<br />

die Kaltmiete um bis zu 30 Prozent!<br />

<strong>Der</strong> Mieterbund hatte gefordert, im Zuge der aktuellen Mietrechtsreform<br />

auch bei Neuverträgen Höchstgrenzen einzuziehen,<br />

konnte sich mit dieser Forderung jedoch nicht durchsetzen.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Berlin</strong>er Mietspiegel, den die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung<br />

alle zwei Jahre erhebt, steigt ebenfalls an. Bereits der<br />

Mietspiegel für 2011 wies eine durchschnittliche Mietsteigerung<br />

von knapp acht Prozent (7,9) gegenüber der Erhebung von 2009<br />

aus. Die durchschnittliche Nettokaltmiete stieg auf 5,21 Euro<br />

monatlich pro Quadratmeter. Bei Neuvermietungen liegt sie<br />

mittlerweile sogar bei 6,74 Euro.<br />

Auch im aktuellen Mietspiegel vom 23. Mai 2013 haben sich<br />

im Durchschnitt die Mieten gegenüber dem letzten Mietspiegel<br />

seit 2011 jährlich um 3,1 Prozent beziehungsweise 0,17 Euro je<br />

Quadratmeter <strong>Wohn</strong>fläche und Monat erneut erhöht.<br />

Überdurchschnittlich gestiegen sind vor allem die Mieten bei<br />

Altbauwohnungen, kleineren <strong>Wohn</strong>ungen sowie in der einfachen<br />

<strong>Wohn</strong>lage.<br />

Menschen mit geringem Einkommen<br />

(ALG II Empfänger, Aufstocker, Armutsgefährdete)<br />

Vor allem, aber nicht nur, für einkommensschwache Haushalte<br />

wird es in <strong>Berlin</strong> immer schwieriger, bezahlbaren <strong>Wohn</strong>raum<br />

zu finden. Die Mietbelastung pro Haushalt steigt deutlich an<br />

und beträgt mittlerweile im Durchschnitt ein Drittel des Einkommens.<br />

Bei Haushalten mit geringem Einkommen führt<br />

eine hohe Mietkostenbelastung leicht zu prekären Lagen. Unter<br />

einem Einkommen von 1300 Euro liegt die Mietbelastung sogar<br />

bei 45,8 Prozent 4 .<br />

Für Empfänger von ALG II oder Grundsicherung befindet sich<br />

nicht genügend <strong>Wohn</strong>raum nach den Mietobergrenzen der<br />

<strong>Wohn</strong>aufwendungenverordnung (WAV) auf dem <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt.<br />

Die vorhandenen <strong>Wohn</strong>ungen können den <strong>Wohn</strong>raumbedarf<br />

der Menschen im Transferleistungsbezug oder mit<br />

geringem Einkommen nicht ansatzweise abdecken. Insbesondere<br />

der Nachfragestau bei kleinen <strong>Wohn</strong>ungen ist riesig.<br />

Es ist abzusehen, dass das Ringen um die immer weniger<br />

werdenden preiswerten <strong>Wohn</strong>ungen sich verschärfen wird und<br />

zwangsläufig zu einer noch höheren Mietbelastungsquote der<br />

Geringverdienenden führt.<br />

Laut <strong>Wohn</strong>lagenkarte des Mietspiegels 2011 befinden sich<br />

kaum noch einfache <strong>Wohn</strong>lagen im inneren S-Bahn-Ring, sondern<br />

vorrangig in Stadtrandlagen, meist in Großgebäudekomplexen.<br />

Die Orientierung der WAV an einfachen <strong>Wohn</strong>lagen<br />

verdrängt somit ALG II- und Grundsicherungsempfänger aus<br />

den innerstädtischen Bereichen. Aber auch in Stadtrandlagen<br />

sind die angemessenen <strong>Wohn</strong>ungen nicht ausreichend vorhanden.<br />

Große <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen melden schon jetzt in diesen<br />

Gebieten eine stark gestiegene <strong>Wohn</strong>raumnachfrage.<br />

Menschen mit besonderem Hilfebedarf<br />

Eine negative Schufa-Auskunft und/oder eine fehlende Mietschuldenfreiheitsbescheinigung<br />

verringern die Chancen auf dem<br />

<strong>Wohn</strong>ungsmarkt erheblich.<br />

Für wohnungslose Menschen ist es derzeit fast aussichtslos,<br />

in <strong>Berlin</strong> eine <strong>Wohn</strong>ung zu bekommen. Aber auch Menschen<br />

mit erheblichen Zugangsschwierigkeiten, zum Beispiel aufgrund<br />

eines negativen Schufa-Eintrags oder dem Bezug von ALG II,<br />

sind zunehmend ohne Chance, in naher Zukunft eine bezahlbare<br />

<strong>Wohn</strong>ung anmieten zu können. Sie müssen um den knappen<br />

bezahlbaren <strong>Wohn</strong>raum in <strong>Berlin</strong> mit allen anderen Haushalten<br />

konkurrieren, die für die Vermieter als »weniger riskant« gelten.<br />

<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n 9


»Versteckte« <strong>Wohn</strong>ungsnotfälle<br />

Viele wohnungslose Menschen fallen in der Öffentlichkeit gar<br />

nicht auf, da sie bei Freunden oder Verwandten vorübergehend<br />

unterkommen können. Eine verlässliche <strong>Wohn</strong>anschrift ist in<br />

diesen Fällen nicht vorhanden, was Behördengänge oder die<br />

Bewerbung auf eine <strong>Wohn</strong>ung zusätzlich erschwert.<br />

Die Anzahl der Menschen die keine eigene <strong>Wohn</strong>ung anmieten<br />

können und mal hier mal da vorübergehend wohnen, wächst<br />

weiterhin an. In <strong>Berlin</strong> gibt es eine unbekannte Dunkelziffer an<br />

<strong>Wohn</strong>ungsnotfällen, die sicher um einiges höher ist als bei den<br />

sichtbar auf der Straße lebenden, obdachlosen Menschen.<br />

Forderungen des <strong>Paritätische</strong>n<br />

an das Land <strong>Berlin</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>Paritätische</strong> <strong>Berlin</strong> fordert das Land <strong>Berlin</strong> auf, wohnungspolitisch<br />

schnell und entschlossen zu handeln und gegenzusteuern.<br />

Das im September 2012 in Kraft getretene Bündnis für soziale<br />

<strong>Wohn</strong>ungspolitik und bezahlbare Mieten ist nur ein Anfang.<br />

Weitere Lösungen sollten jedoch auf Grund der beschriebenen<br />

Situation zeitnah gefunden und umgesetzt werden. Es gilt Strategien<br />

zu entwickeln, die eine sozialräumliche Polarisierung und<br />

eine Verdrängung aus der Stadt verhindern.<br />

Bindungen neu ausrichten und flexibel handhaben<br />

Da in den nächsten Jahren Bestände aus der Bindung fallen<br />

fordert der <strong>Paritätische</strong> <strong>Berlin</strong>, Bindungen durch Landesförderung<br />

zu verlängern oder den Ankauf neuer <strong>Wohn</strong>ungsbestände<br />

voranzutreiben. Eine Neuausrichtung der Belegungsbindungen<br />

ist bezüglich der Versorgung der oben genannten Haushalte mit<br />

Marktzugangsschwierigkeiten dringend notwendig.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Paritätische</strong> mahnt an, dass das »Geschützte Marktsegment«<br />

voll ausgeschöpft und darüber hinaus weiter ausgebaut wird. Die<br />

<strong>Wohn</strong>ungsunternehmen müssen in die Pflicht genommen werden,<br />

der Vereinbarung nachzukommen. Um eine sinnvolle Steuerung<br />

des »Geschützten Marktsegments« zu erreichen, sollte das<br />

Kontingent mit bedarfsgerechten Quoten im Hinblick auf die<br />

Haushaltsgröße und die Zielgruppen fortgeschrieben werden.<br />

Neuauflage der <strong>Wohn</strong>aufwendungenverordnung<br />

(WAV) nötig<br />

Durch die knapp bemessene Höchstgrenze bezüglich der Kaltmiete<br />

und der Quadratmeterhöchstzahl bei den Kosten der<br />

Unterkunft haben Menschen im Transferleistungsbezug kaum<br />

eine Chance auf eine bezahlbare <strong>Wohn</strong>ung. In <strong>Berlin</strong> gibt es<br />

mehr Menschen mit Bedarf an solch preiswertem <strong>Wohn</strong>raum,<br />

als <strong>Wohn</strong>ungen in diesem Preissegment zur Verfügung stehen.<br />

Die WAV ist dahingehend zu überarbeiten, als dass sie sich<br />

nicht nur berlinweit an der »einfachen Lage« einer <strong>Wohn</strong>ung,<br />

sondern auch für die verschiedenen Bezirke, Stadtteile und<br />

Kieze der jeweils vor Ort üblichen Miete, orientiert. Damit wird<br />

einer Verdrängung bestimmter Gruppen aus der Innenstadt und<br />

über die Randbezirke hinaus, entgegengewirkt.<br />

Wie das Landessozialgericht im April 2013 entschieden hat, ist<br />

die Übernahme der in <strong>Berlin</strong> als angemessen gesehenen Heizkosten<br />

nicht nur zu hoch, sondern folgt auch keinem schlüssigen<br />

Konzept.<br />

Geschütztes Marktsegment<br />

Mit der zunehmenden Verknappung auf dem <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />

hat die Anzahl der <strong>Wohn</strong>ungsnotfälle in den letzten drei Jahren<br />

deutlich zugenommen. Daher ist für Menschen in besonderen<br />

sozialen Problemlagen ausreichend <strong>Wohn</strong>raum zur Verfügung<br />

zu stellen, zum Beispiel mit Hilfe des 2003 mit den städtischen<br />

<strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften vereinbarten »Geschützten Marktsegments«.<br />

Im Jahr 2012 sind von 1375 vereinbarten <strong>Wohn</strong>ungen<br />

jedoch nur 992 vermietet worden, also 383 weniger als vereinbart.<br />

10


<strong>Der</strong> <strong>Paritätische</strong> fordert daher, dass die tatsächlichen entstehenden<br />

Heizkosten der Betroffenen wie in den anderen Bundesländern<br />

auch übernommen werden müssen und in Folge des Urteils<br />

nicht einfach abgesenkt werden. Die pauschale Übernahme war<br />

vor Inkrafttreten der WAV auch in <strong>Berlin</strong> der Fall und muss<br />

wieder eingeführt werden. Dann bedarf es auch nicht mehr der<br />

vielen Ausnahmeregelungen, die durch das Landessozialgericht<br />

ebenfalls angemahnt wurden.<br />

Prävention von <strong>Wohn</strong>raumverlusten<br />

Kostensenkungsverfahren bei ALG II-Bezieherinnen und -Beziehern<br />

dürfen nicht zu Mietschulden und <strong>Wohn</strong>ungsverlusten<br />

führen. Dies geschieht jedoch in vielen Fällen, wenn die tatsächliche<br />

Miete über der Mietobergrenze liegt und die Kosten der<br />

Unterkunft nicht gesenkt werden können, etwa durch Untervermietung,<br />

Umzug oder Verhandlung mit dem Vermieter. Die<br />

Differenz muss dann von den Betroffenen aus dem ohnehin<br />

schon sehr eng bemessenen Regelsatz beglichen werden.<br />

Hier wäre eine Kooperation zwischen <strong>Wohn</strong>ungswirtschaft,<br />

Verwaltungen und freien Trägern der Wohlfahrtspflege zur Verhinderung<br />

von <strong>Wohn</strong>ungsverlusten wünschenswert.<br />

Auch die Ermessensspiel<strong>räume</strong> der AV <strong>Wohn</strong>en, welche sich<br />

derzeit in der Überarbeitung durch die Senatsverwaltung für<br />

Soziales befindet, müssen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />

der Jobcenter bekannt sein und voll ausgeschöpft werden<br />

können.<br />

Stopp des willkürlichen Ausbaus an Unterbringungen<br />

nach ASOG<br />

Eine weitere Zunahme der Notunterkünfte nach dem Allgemeinen<br />

Sicherheits- und Ordnungsgesetz des Landes <strong>Berlin</strong> (ASOG)<br />

kann und darf nicht unkommentiert und von der Öffentlichkeit<br />

nahezu unbemerkt weiter voranschreiten. <strong>Der</strong> Verarmung der<br />

Zielgruppe wird hier nicht entgegengewirkt, geschweigedenn<br />

präventiv entgegengesteuert. Im Gegenteil, die Kosten explodieren<br />

an einer anderen Stelle ohne etwas an den Rahmenbedingungen<br />

zu ändern oder anmietbaren <strong>Wohn</strong>raum zu schaffen.<br />

Die bereits betriebenen Unterkünfte nach ASOG müssen mit<br />

entsprechendem Fachpersonal ausgestattet werden, um den dort<br />

untergebrachten Menschen Hilfestellung und Beratung zukommen<br />

zu lassen. Das Ziel muss sein, entweder wieder eine eigene<br />

<strong>Wohn</strong>ung beziehen zu können und aus der Notunterkunft auszuziehen,<br />

oder aber eine Überleitung in weitergehende Hilfen wie<br />

Suchthilfe, Eingliederungshilfe, <strong>Wohn</strong>ungslosenhilfe und andere<br />

bei Vorliegen der entsprechenden Einschränkungen und Bedarfe.<br />

Das Land <strong>Berlin</strong> kann und darf es sich nicht leisten, Menschen<br />

über Jahre, teilweise bis zum Lebensende, in Unterkünften<br />

mit zum größten Teil unbeschreiblichen Zuständen sich selbst<br />

und ohne jegliche Perspektive zu überlassen.<br />

1 www.ibb.de/desktopdefault.aspx/tabid-80/218_read-6577<br />

2 Eurostat, Immobilienscout24<br />

3 IMX Immobilienindex für <strong>Berlin</strong>, Bestandswohnungen<br />

4 Statistisches Bundesamt<br />

<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n 11


Energie als Armutsproblem –<br />

wird Energie zum Luxusgut?<br />

Von Regina Schödl<br />

Energie als Armutsproblem ist ein relativ neues Problem. Allein<br />

seit 2005 haben sich im Bundesdurchschnitt die Stromkosten<br />

um 44 Prozent erhöht 1 .<br />

Ist die Energiewende für die derzeitige rasante Preissteigerung<br />

verantwortlich? Wohl kaum, denn aktuell ist nur ein<br />

Achtel der Steigerung der EEG (Erneuerbares Energie Gesetz)-<br />

Umlage für den Ausbau erneuerbarer Energie auszumachen 2 .<br />

Wo noch einsparen?<br />

Die Preissteigerungen belasten alle Haushalte, schwierig wird es<br />

jedoch vor allem für Menschen mit einem geringen Einkommen,<br />

Bezieher von Arbeitslosengeld II, Studierende sowie Rentnerinnen<br />

und Rentner. Sie können die Stromrechnungen bereits<br />

heute oftmals kaum noch bezahlen, ohne an einer anderen Stelle<br />

einzusparen, etwa bei der Kleidung oder bei Lebensmitteln. Im<br />

Regelsatz des Arbeitslosengeld II sind die Kosten für Strom und<br />

Gas grundsätzlich pauschaliert enthalten. So sind grundlegende<br />

Einsparungen an Strom kaum möglich. Ein gewisses Maß an<br />

Stromverbrauch ist auch unumgänglich und irgendwann ist die<br />

untere Grenze, wie weiter Strom gespart werden kann, erreicht.<br />

Die Folgen: Betroffene müssen für einen unbestimmten Zeitraum<br />

ohne Kühlschrank, Elektroherd oder ohne warmes Wasser<br />

auskommen.<br />

von Arbeitslosengeld II aus den knapp zur Verfügung stehenden<br />

finanziellen Mitteln nicht zu finanzieren, denn »wo sollen<br />

die finanziellen Mittel für die Haushalte im Niedrigeinkommensbereich<br />

herkommen, um ihre Haushalte stromsparend<br />

umzurüsten?« 3<br />

Kein analoger Anstieg von Löhnen,<br />

Renten und sozialen Bezügen<br />

Aufgrund der steigenden Energiepreise werden einkommensschwache<br />

Haushalte künftig noch mehr von Energiearmut<br />

betroffen sein. Die steigenden Energiepreise bedrohen die Ärmsten<br />

der Gesellschaft besonders stark, da die Löhne, Gehälter und<br />

Renten leider nicht analog zu den Strompreisen ebenfalls mit<br />

ansteigen 4 .<br />

Betroffene müssen einen überdurchschnittlich hohen Anteil<br />

ihres Einkommens für Wärme und Strom aufwenden. Wenn<br />

sie dazu nicht mehr in der Lage sind und die Stromlieferung<br />

gesperrt wird, sind sie von einer elementaren Daseinsvorsorge<br />

abgetrennt und stehen somit vor existenziellen Problemen.<br />

<strong>Der</strong> Regelsatz für das Arbeitslosengeld II beinhaltet seit dem<br />

1. Januar 2013 monatlich 31,94 Euro für Energie. Die durchschnittlichen<br />

Kosten für einen Einzelhaushalt mit einem knapp<br />

bemessenen Jahresverbrauch von 1500 kWh liegen jedoch bei<br />

37 Euro monatlich.<br />

Kein Geld für stromsparende Geräte<br />

Stromsparende Geräte mit einer geringen Energieeffizienz sind<br />

für Menschen mit einem geringen Einkommen oder mit Bezug<br />

25 000 <strong>Berlin</strong>er Haushalte ohne Strom<br />

Die Folgen davon: In 2011 wurden laut Bundesnetzagentur<br />

312 000 Haushalten und Unternehmen der Strom abgestellt,<br />

weil sie die Rechnung nicht mehr bezahlen konnten 5 . Für <strong>Berlin</strong><br />

12


gehen Schätzungen davon aus, dass in 2011 rund 25 000 Haushalten<br />

der Strom gesperrt wurde. Bei den steigenden Strompreisen<br />

ist davon auszugehen, dass die Anzahl weiter steigen wird.<br />

<strong>Paritätische</strong> Forderungen gegen Energiearmut<br />

› Für eine zügige und dauerhafte Vermeidung von Energiearmut<br />

bedarf es ressortübergreifender Strategien der Sozial-<br />

und Energiepolitik. Wenn die Energiepreise weiterhin steigen<br />

wie bisher, dann sind zum Beispiel gestaffelte Beiträge,<br />

entsprechend der Höhe des Einkommens, ein Schritt hin zu<br />

mehr sozialer Gerechtigkeit.<br />

› Bisher ist der Begriff »Energiearmut« zu neu und daher nicht<br />

gesetzlich geregelt. Hier bedarf es einer gesetzlichen Definition,<br />

mit dem Ziel, bei »Härtefällen« – beispielsweise ältere<br />

oder kranke Menschen, Haushalte mit Kindern und Schwangere<br />

– schnell handeln zu können und die Stromsperre zu<br />

verhindern.<br />

› Eine besondere Bedeutung hat in diesem Kontext auch die<br />

Prävention von Stromschulden. So können unterjährige<br />

Anpassungen der monatlichen Abschläge an den tatsächlichen<br />

Verbrauch, hohe Nachzahlungen wegen zu niedrig<br />

angesetzter Abschläge verhindern. Sind bereits Stromschulden<br />

entstanden die den finanziellen Rahmen der Betroffenen<br />

übersteigen, müssen Energieversorger in die Pflicht genommen<br />

werden, realistische Raten und Laufzeiten zur Tilgung<br />

einzu<strong>räume</strong>n.<br />

› Im Regelsatz des Arbeitslosengeldes II sind die Kosten für<br />

Strom und Gas pauschaliert enthalten. Ein weiterer Schritt<br />

hin zur Vorbeugung zunehmender Energiearmut ist daher<br />

die Übernahme der tatsächlichen Stromkosten für Bezieher<br />

von Arbeitslosengeld II. Dabei sollten sich die Richtwerte<br />

an einem mittleren Verbrauchswert je Haushaltsgröße orientieren.<br />

Die Anerkennung eines Mehrbedarfs, bei der Warmwasserversorgung<br />

mittels eines Durchlauferhitzers wurde<br />

vom Gesetzgeber in 2011 bereits geregelt. Dies zeigt, dass ein<br />

Teil des Problems erkannt wurde. Die Konsequenzen werden<br />

aber nur unzureichend gezogen. Ein weiterer unabdingbarer<br />

Schritt muss folgen, die tatsächlichen Kosten für Strom und<br />

Gas zu übernehmen.<br />

1 <strong>Paritätische</strong>r Gesamtverband: Energie für alle, Oktober 2012<br />

2 »Die höchsten Anteile an der Steigerung haben die Nachholung für 2012<br />

(40 %), der Rückgang des Börsenstrompreises (21 %) und der Anstieg der<br />

Industrieförderung (16 %).« Quelle: www.beeev.de/_downloads/publikationen/sonstiges/2012/121026_BEE_Hintergrund_EEG-Umlage-2013_aktualisiert.pdf,<br />

Seite 5<br />

3 Rudolf Martens in: <strong>Paritätische</strong> Forschungsstelle, Kurzexpertise: Stromkosten<br />

im Regelsatz: Modellrechungen und Graphiken, Juni 2012<br />

4 In 2012 um 12,1 %<br />

5 »312.000 Stromsperren im Jahr«, taz vom 20.11.2012, www.taz.de/!105885<br />

bzw. Bundesnetzagentur, »Monitoringbericht 2012«, November 2012<br />

<strong>Wohn</strong>problematik in <strong>Berlin</strong> aus Sicht des <strong>Paritätische</strong>n 13


»Menschen sind doch keine<br />

Manövriermasse«<br />

Von Uli Schulte Döinghaus<br />

Träger wie die Bürgerhilfe Kultur des Helfens gGmbH stehen<br />

vor immer größeren Problemen, wenn es um ihre Klienten<br />

geht, die von <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit betroffen oder bedroht sind.<br />

Das eigene, drängende Immobilienproblem hat die Bürgerhilfe<br />

im vergangenen Frühjahr erfolgreich lösen können. Seit dem<br />

1. März ist die gemeinnützige Gesellschaft Bürgerhilfe – Kultur<br />

des Helfens Mieterin im Haus der Parität am Urban in der<br />

Grimmstraße 16 in <strong>Berlin</strong>-Kreuzberg, unter einem Dach mit<br />

weiteren <strong>Paritätische</strong>n Mitgliedsorganisationen.<br />

Im Haus der Parität arbeiten jetzt auf einer Etage alle Verwaltungsabteilungen<br />

– Personalwesen, Rechnungswesen, Geschäftsführung<br />

– zusammen, die ansonsten verteilt waren oder von<br />

räumlicher Ausgliederung bedroht.<br />

Die Räumlichkeiten der Geschäftsstelle,<br />

zuvor in der Kreuzberger Taborstraße,<br />

»waren einfach zu beengt«, sagt<br />

Wolfgang Ratajczak, während er sich<br />

zufrieden in den neuen vier Wänden<br />

umschaut.<br />

Ziel der Bürgerhilfe Kultur des Helfens gGmbH sei es, sagt<br />

Geschäftsführer Wolfgang Ratajczak, Menschen, die durch Verlust<br />

von Arbeit, von <strong>Wohn</strong>raum oder durch Suchtkrankheit in<br />

Not geraten seien, zu unterstützen und zu beraten, wenn sie es<br />

aus eigener Kraft nicht mehr schaffen.<br />

Keimzelle der Bürgerhilfe war eine<br />

<strong>Wohn</strong>ungslosentagesstätte – die Wärmestube<br />

Wie viele große soziale Träger setzt sich die Bürgerhilfe aus dem<br />

Trägerverein Bürgerhilfe e. V. und dem operativ tätigen Sozialunternehmen<br />

Bürgerhilfe Kultur des Helfens gGmbH zusammen.<br />

360 bedürftige Menschen werden von rund 80 fachkundigen<br />

Mitarbeitern in Einrichtungen der Nachbarschaftshilfe,<br />

im Übergangshaus Kiefholzstraße, in Therapeutischen <strong>Wohn</strong>gemeinschaften,<br />

im Betreuten Einzelwohnen und in Maßnahmen<br />

zu <strong>Wohn</strong>ungserhalt und <strong>Wohn</strong>ungserlangung betreut. Die<br />

Keimzelle, gewissermaßen der »Urknall der Bürgerhilfe« (Ratajczak),<br />

ist die <strong>Wohn</strong>ungslosentagesstätte für Erwachsene, wie sie<br />

im Jargon der Sozialbürokratie offiziell genannt wird. Für Nachbarn,<br />

Nutzer und Betreuer ist sie nach wie vor die »Wärmestube«,<br />

mit der die Geschichte der Bügerhilfe vor 24 Jahren begann.<br />

Ausgerechnet mit ihrer »Wärmestube«, dem Treffpunkt für<br />

<strong>Wohn</strong>ungslose, musste die Bürgerhilfe ihre eigenen Erfahrungen<br />

mit der Umwälzung des Immobilienmarktes in <strong>Berlin</strong> machen.<br />

<strong>Wohn</strong>en ist ein Menschenrecht.<br />

Nur, wer ein sicheres Dach über dem<br />

Kopf hat, kann ein einigermaßen<br />

selbstbestimmtes Leben führen<br />

<strong>Der</strong> Vermieter attestierte der Bürgerhilfe zwar ausdrücklich<br />

Qualität, sie seien, gewiss, solvente Mieter gewesen und hätten<br />

niemals Probleme bereitet – aber nun sei Schluss; man wolle<br />

das Vertragsverhältnis fristgemäß kündigen, und gehobenen<br />

Geschäftsraum im Wrangelkiez anbieten. Zunächst war man<br />

ratlos. Aber irgendwann konnte dann doch ein Ersatz in der<br />

Cuvry straße bezogen werden, der täglich bis zu 60 wohnungslose<br />

Frauen und Männer willkommen heißt.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt klafft auseinander –<br />

zu Lasten der Schwachen<br />

Wie die Klingen einer Schere verlaufen derzeit in <strong>Berlin</strong> zwei<br />

Entwicklungen auseinander, die gemeinnützigen Vereinen und<br />

Unternehmen wie der Bürgerhilfe und<br />

ihren Klienten besonders zu schaffen<br />

machen. Einerseits verknappt sich das<br />

Angebot an bezahlbarem <strong>Wohn</strong>raum,<br />

andererseits werden sozial Schwache<br />

aus dem <strong>Wohn</strong>ungsmarkt geschleudert<br />

und immer häufiger zu Kunden in den Hilfeeinrichtungen<br />

sozialer Träger und ihren Angeboten im Betreuten Einzelwohnen,<br />

Betreuten Gruppenwohnen, in Übergangshäusern oder<br />

Kriseneinrichtungen.<br />

Das unumstößliche Gebot ist für Wolfgang Ratajczak und<br />

seine Kollegen: »<strong>Wohn</strong>en ist ein Menschenrecht«. Nur, wer ein<br />

sicheres Dach über dem Kopf habe, könne ein einigermaßen<br />

selbstbestimmtes Leben führen – das ist die Maxime, der alle<br />

folgen, die mit Menschen zu tun haben, die wohnungslos oder<br />

von <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit bedroht sind. In einer solchen Situation<br />

kapseln sich Menschen ab, vereinzeln und »kriegen Schiss vor<br />

den Leuten in Ämtern und Verwaltungen, die selbst auch zunehmend<br />

gestresster werden« (Ratajczak). Die Menschen brauchen<br />

Stabilisierung, eine Auszeit.<br />

Hier irrt Herr Wowereit – zumindest zur Hälfte<br />

Aber es werde immer schwieriger, diese Zielgruppe adäquat zu<br />

betreuen – sie etwa wieder in eine eigene <strong>Wohn</strong>ung zu bringen,<br />

nachdem sie im Betreuten Einzelwohnen oder in den <strong>Wohn</strong>gemeinschaften<br />

des Betreuten Gruppenwohnens dafür fit gemacht<br />

wurden. »Selbst der beste Sozialarbeiter kann nichts daran<br />

ändern«, sagt Wolfgang Ratajczak, »dass das Dach über dem<br />

Kopf immer teurer und immer knapper wird, und wenn Herr<br />

Wowereit sagt, Mieten und <strong>Wohn</strong>raumnachfrage in <strong>Berlin</strong> seien<br />

14


ein positives Zeichen für die Stadt, dann ist das vielleicht die<br />

eine Seite der Medaille. Die andere ist die Verknappung.«<br />

Ratajczak bemängelt, dass Politik und Verwaltung seit 1999<br />

die Obdachlosenrahmenplanung nicht mehr fortgeschrieben<br />

hätten, und er kritisiert, dass sich in die Immobilienwirtschaft<br />

längst ein verräterischer Jargon eingeschlichen habe. Stadtrandsiedlungen<br />

von Marzahn, Neukölln und Spandau mit ihren<br />

noch preiswerten <strong>Wohn</strong>ungen würden zum »Überlaufbecken«<br />

für den <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt, so zitiert er den jüngsten<br />

<strong>Wohn</strong>ungsmarktbericht der Investitionsbank <strong>Berlin</strong> (IBB). »Wir<br />

reden von Menschen, und die sind doch keine Manövriermasse!«<br />

Wie viele Fachleute warnt auch der Bürgerhilfe-Geschäftsführer<br />

vor einer Ghettoisierung sozial schwacher Bevölkerungsgruppen,<br />

wenn sie in <strong>Wohn</strong>gegenden an den Rand der Bezirke verdrängt<br />

werden. Um einer solchen Gentrifizierung der <strong>Wohn</strong>ungslosen<br />

und von <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit Bedrohten vorzubeugen, müsste<br />

bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum in der Stadt erhalten bleiben, Umwidmungen<br />

unterbunden werden. Es müssten Anreize für Bauherren<br />

(unter Umständen auch soziale Träger) geschaffen werden,<br />

die sich zu Baugruppen zusammenschließen und preiswertes<br />

<strong>Wohn</strong>en gerade für Menschen anbieten, die an den gesellschaftlichen<br />

Rand geraten<br />

i<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Bürgerhilfe Kultur des Helfens gGmbH<br />

Grimmstr. 16 | 10967 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–612 15 81<br />

sekretariat@buergerhilfe-berlin.de<br />

www.buergerhilfe-berlin.de<br />

Titelbild der Fotoausstellung <strong>Wohn</strong>(T)<strong>räume</strong>, Foto: Heike Sievers<br />

<strong>Wohn</strong>problematik aus Sicht <strong>Paritätische</strong>r Träger 15


<strong>Der</strong> <strong>Wohn</strong>führerschein – bessere Chancen für<br />

Jugendliche auf dem <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />

Von Roland Bohr, Frieder Moritz, Mathias Riester<br />

Seit gut einem Jahr gibt es in <strong>Berlin</strong> die Möglichkeit, einen<br />

<strong>Wohn</strong>führerschein abzulegen. Noch ist er nicht Pflicht wie<br />

beim Autofahren, aber er hilft, sich auf eine erfolgreiche <strong>Wohn</strong>ungssuche<br />

und die erste eigene <strong>Wohn</strong>ung vorzubereiten.<br />

Angesichts des immer enger werdenden <strong>Wohn</strong>ungsmarktes in<br />

der Hauptstadt wird die <strong>Wohn</strong>ungssuche immer schwieriger –<br />

für Jugendliche aus Jugendhilfeeinrichtungen umso mehr.<br />

Aufbauend auf einer Idee von drei in der Großsiedlung Marzahn<br />

agierenden <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen – allod GmbH & Co. KG,<br />

degewo Marzahner <strong>Wohn</strong>ungsgesellschaft mbH, <strong>Wohn</strong>ungsgenossenschaft<br />

Marzahner Tor eG – und dem dortigen von<br />

Senat und Bezirk beauftragten Quartiersmanagement Mehrower<br />

Allee führt der Verein Jugendarbeit, Kultur und soziale Dienste,<br />

kurz Jakus, Kurse zur Erlangung des <strong>Wohn</strong>führerscheins durch.<br />

Jakus hat die Idee zu einem praxisnahen Programm weiterentwickelt.<br />

Es geht darum, die benachteiligten Jugendlichen<br />

aus Einrichtungen der Jugendhilfe fit für die <strong>Wohn</strong>ungssuche<br />

zu machen und ihnen den Zugang zur ersten eigenen <strong>Wohn</strong>ung<br />

zu vereinfachen. Das erweist sich als besonders notwendig, da<br />

sie oft als »potentielle Problemverursacher« stigmatisiert werden<br />

und zum anderen in der Regel wenig wissen, was für die Suche<br />

und die Bewirtschaftung der eigenen <strong>Wohn</strong>ung wichtig ist.<br />

Kennen Sie die Farbe des stromführenden Kabels?<br />

Wissen Sie was die Reparaturklausel im Mietvertrag beinhaltet?<br />

Wissen Sie wo sich der Hauptabsperrhahn für Wasser in Ihrer<br />

<strong>Wohn</strong>ung befindet? Kennen Sie den Unterschied zwischen Nettokalt-<br />

und Bruttowarmmiete? Wie sollte ich bei der <strong>Wohn</strong>ungssuche<br />

in einem Bewerbungsgespräch auftreten?<br />

Diese und viele andere Themen werden mit den Jugendlichen<br />

erarbeitet, damit sie wissen, auf welches große Projekt sie<br />

sich mit der ersten eigenen <strong>Wohn</strong>ung einlassen und welche Verantwortung<br />

sie übernehmen müssen, eine eigene <strong>Wohn</strong>ung zu<br />

erhalten und auch zu behalten. Aber auch, welche Pflichten und<br />

Rechte sie haben und wie sie sich – mit dem Wissen des Kurses<br />

ausgestattet – bei einer Hausverwaltung vorstellen, damit sie<br />

eine Chance auf die erste eigene <strong>Wohn</strong>ung bekommen.<br />

Einfache Reparaturen in der <strong>Wohn</strong>ung lernen, Foto: Michael Janda<br />

16


Vom Mietrecht bis zum Bewerbungstraining<br />

<strong>Der</strong> <strong>Wohn</strong>führerschein Jugendhilfe besteht aus sechs Schulungsmodulen.<br />

Es geht dabei um Mietrecht, <strong>Wohn</strong>ungs- und Energiekosten<br />

und bauliche Belange der <strong>Wohn</strong>ung. Die Jugendlichen<br />

machen auch praktische Übungen und Rollenspiele beispielsweise<br />

zur Einrichtung der <strong>Wohn</strong>ung oder »Wie vermeide beziehungsweise<br />

löse ich nachbarschaftliche Konflikte? Wie bewerbe<br />

ich mich?«<br />

Die Beteiligung der <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen an den Kursen<br />

ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Themen mit großer<br />

Ernsthaftigkeit und in realistischen Kontexten behandelt<br />

werden. So gehen beispielsweise den Rollenspielen der Jugendlichen<br />

beim Thema »Nachbarschaftliches Zusammenleben« Vorstellungen<br />

von echten Fällen voraus, die die Konfliktmanager<br />

der <strong>Wohn</strong>ungsgesellschaften mit den Jugendlichen erläutern.<br />

Und auch das Bewerbungstraining findet<br />

nach der Vorbereitung direkt in den<br />

Vermietungsbüros der <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen<br />

statt.<br />

Mit dem <strong>Wohn</strong>führerschein knüpfen<br />

die Organisatoren an der unmittelbaren Lebenswirklichkeit der<br />

Jugendlichen an. Die Suche nach der eigenen <strong>Wohn</strong>ung steht in<br />

der Regel nach Abschluss der bisherigen Hilfen an. <strong>Der</strong> Weg in<br />

diese Art der Selbstständigkeit stellt für viele dieser Jugendlichen<br />

fast eine Bedrohung dar. Daher ist die Motivation, das Angebot<br />

wahrzunehmen, für die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

sehr hoch. <strong>Der</strong> Nutzen ist direkt erkennbar.<br />

Die Absolventen können mit dem<br />

Zertifikat am Ende zeigen, dass<br />

sie ihren Teil geleistet haben.<br />

Sich als erwachsene Mieter verhalten lernen<br />

Diese Motivation wird von den Projektbeteiligten – den <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen,<br />

den Jugendämtern und dem durchführenden<br />

Träger – dadurch unterstützt, dass dem Kurs ein bedeutsamer<br />

und wertschätzender Rahmen gegeben wird: Begrüßung der<br />

Jugendlichen und Verleihung der Zertifikate erfolgen jeweils in<br />

einer kleinen offiziellen Zeremonie. Die Unternehmen stellen<br />

hochwertige Schulungsunterlagen zur Verfügung. <strong>Der</strong> Träger<br />

achtet auf kleine Lerngruppen und gute räumliche Bedingungen.<br />

Mit diesem Setting gelingt es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern,<br />

sich den großen inhaltlichen und disziplinarischen<br />

Herausforderungen erfolgreich zu stellen: wenn sie als zukünftige<br />

erwachsene Mieter angesprochen werden, können sie sich<br />

auch als solche verhalten und sich ernsthaft mit den auf sie<br />

zukommenden Ansprüchen auseinandersetzen.<br />

Die Erfahrungen der ersten Kurse zeigen, dass die Jugendlichen<br />

an Selbstbewusstsein und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten<br />

gewonnen haben.<br />

Auch wenn von einem achtwöchigen Kurs keine Wunderdinge<br />

zu erwarten sind und mit dem <strong>Wohn</strong>führerschein die<br />

<strong>Wohn</strong>ungssuche am Ende nicht zwangsläufig erfolgreich sein<br />

muss, so können die Absolventen mit dem Zertifikat am Ende<br />

aber doch zeigen, dass sie ihren Teil geleistet haben, in ein tragfähiges<br />

und verlässliches Mietverhältnis einzusteigen und dass<br />

sie zugleich eine bereichernde Lernerfahrung und Wissen mitgenommen<br />

haben, was Lust macht auf mehr.<br />

<strong>Der</strong> Nutzen für die <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen<br />

Kerstin Karasch vom <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen allod ist überzeugt,<br />

dass es von Vorteil ist, wenn die Jugendlichen auf alle<br />

Fragen rund um das <strong>Wohn</strong>en, Kautionszahlung,<br />

Schufa-Auskunft und <strong>Wohn</strong>verhalten,<br />

gut vorbereitet sind. Denn<br />

gerade die finanziellen Sicherheiten und<br />

ein eigenes Einkommen der Mietinteressenten<br />

seien wichtige Entscheidungskriterien für die <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen,<br />

wenn sie eine <strong>Wohn</strong>ung vergeben. Als<br />

Mitarbeiterin in einem der <strong>Wohn</strong>ungsunternehmen, die sich am<br />

<strong>Wohn</strong>führerschein beteiligen, gefällt ihr, dass sie mehr darüber<br />

lernt, wie »junge Leute ticken«. Dies trage zum Verständnis für<br />

deren Situation bei und führe zu Ideen, wie man den Jugendlichen<br />

auf die Füße helfen könne. »Denn neben kleinen positiven<br />

und überraschenden Anekdoten bleibt vor allem in Erinnerung,<br />

wie sich die Jugendlichen in den Kursen entwickeln und wie<br />

sichtbar stolz sie sind, wenn sie den Kurs bestanden haben und<br />

den <strong>Wohn</strong>führerschein überreicht bekommen.«<br />

i<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Jakus e. V.<br />

Bülowstr. 52 | 10783 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–521 34 84 60<br />

info@jakus.org<br />

www.jakus.org<br />

<strong>Wohn</strong>problematik aus Sicht <strong>Paritätische</strong>r Träger 17


Suche: behindertengerechte<br />

<strong>Wohn</strong>ung in <strong>Berlin</strong><br />

Von Martin Thoma<br />

Gudrun Stuhlmann ist keine Frau, die schnell aufgibt. Wenn sie<br />

davon berichtet, wie schwierig es sein kann, einen passenden<br />

neuen Rollstuhl genehmigt zu bekommen, klingt ihre Stimme<br />

kampfeslustig und ihre Augen funkeln. Nur beim Thema <strong>Wohn</strong>ungssuche<br />

ist sie hörbar ratlos.<br />

146 <strong>Wohn</strong>ungsbesichtigungen in einem halben Jahr<br />

Gudrun Stuhlmann leidet unter Rheuma und Osteoporose.<br />

Rückenwirbel und Handgelenke sind versteift. Sie hat künstliche<br />

Knie und eine unendliche Geschichte von Operationen<br />

hinter sich. Als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung<br />

von 100 besitzt sie einen <strong>Wohn</strong>berechtigungsschein für<br />

eine sozial geförderte <strong>Wohn</strong>ung. Nur findet sie keine. Im letzten<br />

halben Jahr hat sie 146 <strong>Wohn</strong>ungen in <strong>Berlin</strong> besichtigt. Sie ist<br />

Vermietern begegnet, die bei Interesse an der <strong>Wohn</strong>ung erst einmal<br />

eine »Bearbeitungsgebühr« kassieren wollten. Sie hat <strong>Wohn</strong>ungen<br />

gesehen, die zwar ebenerdig oder mit Fahrstuhl erreichbar<br />

waren und deshalb als behindertengerecht galten, aber Flure<br />

hatten, in denen ein Rollstuhl nicht wenden konnte. Eine für sie<br />

bezahlbare <strong>Wohn</strong>ung, rollstuhltauglich und mit Balkon hat sie<br />

nicht gefunden. Oder doch: eine gab es. In der durfte man die<br />

Tapete nicht wechseln und kein Loch in die Wand bohren. Es<br />

stellte sich heraus, dass sie asbestverseucht war.<br />

»In einem Posemuckeldorf wäre vielleicht noch was«<br />

Gudrun Stuhlmann wohnt seit 10 Jahren in einer 2-Zimmerwohnung<br />

in Dallgow-Döberitz westlich von <strong>Berlin</strong>. Zurzeit<br />

kann sie sich mit Gehhilfen recht gut darin bewegen. Im Rollstuhl<br />

wäre das schwieriger: Einige Räume sind eng und durch<br />

die Terrassentür in den Garten käme sie dann gar nicht mehr.<br />

Trotzdem würde sie hier wohnen bleiben, wenn die Miete nicht<br />

erhöht worden wäre. Sie liegt jetzt bei 620 Euro, ihre Rente<br />

bei 650. Dazu erhält sie zwar noch eine Witwenrente, doch das<br />

reicht nicht.<br />

Steigende Mieten sind auch im <strong>Berlin</strong>er Umland ein Problem.<br />

»Falkensee ist noch teurer als <strong>Berlin</strong>«, weiß Gudrun Stuhlmann.<br />

»Auf so einem Posemuckeldorf, wo es nicht einmal einen Laden<br />

zum Einkaufen gibt, würde ich vielleicht etwas bekommen. Aber<br />

ich muss davon ausgehen, dass meine Gesundheit nicht besser<br />

wird und ich möchte mich dann noch möglichst selbständig versorgen<br />

können.«<br />

Gudrun Stuhlmann findet keine bezahlbare<br />

behindertengerechte <strong>Wohn</strong>ung, Foto: Martin Thoma<br />

»Ich würde behindertengerechte<br />

Sozialwohnungen bauen«<br />

Was ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben für Gudrun<br />

Stuhlmann bedeutet, merkt man, wenn sie extra ihren neuen<br />

Rollstuhl aus dem Auto holt und vorführt. Mit ihm fühlt sie sich<br />

wieder sicherer, auch einmal alleine wegzufahren, ohne Angst vor<br />

Stürzen. Man merkt es auch, wenn sie von ihrem Engagement<br />

in der Rheuma-Liga erzählt, der sie seit 1992 angehört. Oder an<br />

ihrem Bedauern, den Garten nicht mehr nutzen zu können –<br />

ein Grund dafür, dass sie in ihrer neuen <strong>Wohn</strong>ung wenigstens<br />

einen Balkon haben möchte. »Wenn ich entscheiden könnte«,<br />

sagt Gudrun Stuhlmann, »würde es Auflagen geben, dass bei<br />

Neubauten behindertengerechte Sozialwohnungen gebaut werden<br />

müssen. Es betrifft ja nicht nur mich: die Menschen werden<br />

immer älter.«<br />

i<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Deutsche Rheuma-Liga <strong>Berlin</strong> e. V.<br />

Mariendorfer Damm 161a | 12107 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–32 29 02 90<br />

zirp@rheuma-liga-berlin.de<br />

www.rheuma-liga-berlin.de<br />

18


Zwischen <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit und<br />

Mietwucher – Roma in Mitte<br />

Von Elisabeth Gregull<br />

Ein altes Sofa, Regale voller Bücher und Spiele, eine kleine Sitzecke<br />

für Kinder. Die Ausstattung des Frauenbildungszentrums<br />

von »Kulturen im Kiez« wirkt einfach, aber die Atmosphäre ist<br />

freundlich und verbindlich. An einer Tischgruppe sitzen acht<br />

Frauen aus Rumänien und Bulgarien beim Alphabetisierungskurs.<br />

Die Leiterin Carolin Holtmann schreibt ein großes »D«<br />

an die Tafel. Die Gruppe sucht gemeinsam nach Worten, die<br />

mit »D« beginnen: »Dose«, »Danke«, »dick« und »dünn«, die<br />

Tafel füllt sich langsam.<br />

Die Familien hoffen auf eine bessere Zukunft<br />

»Wir führen unsere Alphabetisierungskurse in Kooperation mit<br />

der Volkshochschule durch«, erzählt Carolin Holtmann. »Kulturen<br />

im Kiez« bietet auch Sozialberatung an. Vor zwei Jahren<br />

begann die Arbeit mit Roma-Familien: »Es sind überwiegend<br />

Familien aus Rumänien und Bulgarien, die in ihren Heimatländern<br />

extrem diskriminiert werden und unter sehr schlechten<br />

Bedingungen leben. Sie malen sich hier bessere Chancen für sich<br />

und ihre Kinder aus. Eines unserer allergrößten Probleme ist die<br />

<strong>Wohn</strong>ungsnot vieler Familien.«<br />

Wenn <strong>Wohn</strong>ungsnot ausgenutzt wird<br />

Georgeta Cojocaru, ihr Mann und ihr kleiner Sohn sind ganz<br />

konkret von <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit betroffen. Man sieht der jungen<br />

rumänischen Frau mit den langen dunklen Haaren und dem<br />

weißen Kleid nicht an, welche Odyssee sie hinter sich gebracht<br />

hat, sie wirkt gefasst: »Wir haben nach einer <strong>Wohn</strong>ung gesucht,<br />

aber die sind sehr teuer. Und aufgrund unseres Aussehens würden<br />

wir die auch nicht bekommen«, ergänzt sie auf Romanes.<br />

Ihre Familie musste öfter im Park schlafen oder in der U-Bahn.<br />

Flora und Demir Jasarevic sind Nachbarn, die heute wie schon<br />

öfter Romanes-Deutsch dolmetschen und die Arbeit von »Kulturen<br />

im Kiez« unterstützen. »Es gibt viele Familien, die in einer<br />

ähnlichen Situation sind. In ganz <strong>Berlin</strong>, seit drei, vier Jahren«,<br />

sagt Demir Jasarevic. Georgeta Cojocaru erzählt, dass man versucht<br />

hat, aus ihrer Situation Profit zu schlagen: »Für eine Einzimmerwohnung<br />

wollten sie 2000 Euro.« Carolin Holtmann<br />

bestätigt ähnliche Erfahrungen: »Es gibt immer wieder Menschen,<br />

die die Notsituation der Familien ausnutzen.«<br />

Keine Welle von »Armutsmigration«<br />

Anders als einige Medienberichte und Politiker es darstellen,<br />

ist Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien nicht allein<br />

»Armutsmigration«. <strong>Der</strong> »Mediendienst Integration« weist mit<br />

einigen Wissenschaftlern darauf hin, dass unter den Zuwanderern<br />

viele Hochqualifizierte, Studierende, Saisonarbeiter und<br />

sozialversicherungspflichtige Beschäftigte seien. 80 Prozent der<br />

aus diesen Ländern seit 2007 Zugewanderten gingen einer<br />

Erwerbsarbeit nach, wie eine Sonderauswertung des Mikrozensus<br />

für den »Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration<br />

und Migration« zeige.<br />

Heinz Nopper, Präventionsbeauftragter des Bezirks Mitte, findet<br />

diese differenzierte Sichtweise unbedingt notwendig. »So kann<br />

dem teilweise gezeichneten Bild einer Woge, die über uns hereinbricht,<br />

entgegengetreten werden.« Im Februar 2013 waren im<br />

Bezirk Mitte 6791 bulgarische und rumänische Staatsangehörige<br />

gemeldet. 2012 lag ihre Zahl in ganz <strong>Berlin</strong> bei rund 25 000.<br />

Ausgrenzung und Armut von Roma<br />

als europäisches Problem<br />

Ethnische Zugehörigkeiten werden nicht erfasst, seriöse Aussagen<br />

über den Anteil von Roma ließen sich deswegen nicht<br />

machen, meint Heinz Nopper: »Wir wissen aus der unmittelbaren<br />

Beobachtung, aus der Zusammenarbeit in unserem Netzwerk<br />

AG Roma, aus der direkten Arbeit mit den Roma-Familien,<br />

vom Kinder- und Jugendgesundheitsdienst und von den<br />

Schulen, dass wir in unserem Bezirk eine größere und wachsende<br />

Anzahl von bulgarischen und rumänischen Staatsangehörigen<br />

haben, die der Gruppe der Roma angehören.«<br />

Für die AG Roma stehen die sozialökonomischen Probleme der<br />

Roma im Vordergrund, sie seien eine »marginalisierte und noch<br />

immer verfolgte Minderheit in Europa«, heißt es in einer Stellungnahme.<br />

Es brauche europaweit Ansätze, um Armut, Ausgrenzung,<br />

geringe Bildung, armselige <strong>Wohn</strong>verhältnisse und<br />

schlechte Gesundheit zu bekämpfen. Die Neuzugewanderten<br />

haben hier in der Regel keinen Anspruch auf Sozialleistungen.<br />

Es besteht aber die Option, ein Gewerbe aufzunehmen.<br />

Heinz Nopper hofft, dass der soeben vorgelegte ›<strong>Berlin</strong>er Aktionsplan<br />

zur Einbeziehung ausländischer Roma‹ hilft, »die notwendigen<br />

Unterstützungs- und Versorgungsangebote zu gewährleisten<br />

und abzusichern. Voraussetzung ist, dass der Senat die<br />

dafür erforderlichen Finanzmittel bereitstellt.« Denn die prekäre<br />

Situation der Zugewanderten wird oft missbraucht.<br />

<strong>Wohn</strong>problematik aus Sicht <strong>Paritätische</strong>r Träger 19


Teufelskreis <strong>Wohn</strong>ungsnot<br />

Schon 2010 thematisierte die AG Roma die äußerst problematische<br />

<strong>Wohn</strong>situation der Zugewanderten in Mitte. Es fehle<br />

an Übergangslösungen in Notsituationen. Eine kleine Unterkunft<br />

mit dem Nötigsten wäre für viele bezahlbar. Ein regulärer<br />

Zugang zum <strong>Wohn</strong>ungsmarkt indes sei fast unmöglich, da<br />

Einkommensnachweise fehlen, permanent drohe <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit.<br />

Häufig würde durch andere angemieteter <strong>Wohn</strong>raum<br />

teurer überlassen.<br />

Carolin Holtmann kennt diesen Teufelskreis: »Wir haben in<br />

unserem Kurs allein fünf Familien, die im letzten Jahr von <strong>Wohn</strong>ungsnot<br />

betroffen waren. In der Turmstraße hatte Humanitas<br />

Kinderhilfe <strong>Berlin</strong>-Brandenburg <strong>Wohn</strong>ungen angemietet und<br />

diese zu deutlich höheren Preisen untervermietet. Im Juni mussten<br />

die ganzen Familien dann raus und standen auf der Straße.«<br />

Eine Atempause<br />

Georgeta Cojocaru und ihre Familie haben vorerst eine Bleibe<br />

gefunden, wenn auch nur für einen Monat. »Wärme mit Herz«,<br />

ein Projekt für Obdachlose, hat der Familie gerade ein Zimmer<br />

angeboten. Das Projekt wurde ursprünglich durch die Gesobau<br />

unterstützt. Inzwischen soll die <strong>Wohn</strong>ung in der Sprengelstraße<br />

Mitte Mai wegen anhaltender Differenzen aber endgültig<br />

geräumt werden.<br />

Carolin Holtmann sieht diese kurze Zeitspanne dennoch als<br />

eine Atempause: »Georgeta arbeitet jetzt, sie hat ein Gewerbe<br />

angemeldet als Reinigungskraft. Wir hoffen, dass sie über kurz<br />

oder lang genug verdient, so dass sie sich auch eine <strong>Wohn</strong>ung<br />

leisten kann.« Demir Jasarevic ergänzt: »Sie sind sehr fleißig, sie<br />

kümmern sich um ihre Alphabetisierung, sie wollen sich eine<br />

Zukunft aufbauen. Und was sie unbedingt brauchen, ist eine<br />

<strong>Wohn</strong>ung.«<br />

i<br />

Kontakt und<br />

Kooperationspartner<br />

Kulturen im Kiez e. V.<br />

Carolin Holtmann<br />

Reinickendorfer Straße 105 | 13347 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–81 61 87 00<br />

c.holtmann@kulturen-im-kiez.de<br />

www.kulturen-im-kiez.de<br />

Carolin Holtmann (3. v. l.) leitet den Alphabetisierungskurs für bulgarische und rumänische Frauen, Foto: Elisabeth Gregull<br />

20


»Das Immobilienthema ist<br />

nicht unser Kerngeschäft«<br />

Gespräch mit Ansgar Dietrich, Via gGmbH | von Uli Schulte Döinghaus<br />

Ansgar Dietrich arbeitet als Leiter für Finanzbuchhaltung und<br />

Immobilienentwicklung bei der Via Verbund für Integrative<br />

Angebote <strong>Berlin</strong> gemeinnützige GmbH.<br />

Erleben Sie als gemeinnütziger Träger und Anbieter von psychosozialen<br />

Projekten <strong>Wohn</strong>ungsnot in <strong>Berlin</strong>?<br />

Immer öfter haben wir es mit Menschen zu tun, die keine <strong>Wohn</strong>ung<br />

haben, die zum Beispiel in der Klinik gelandet sind und<br />

therapeutisch versorgt werden müssen. Lange Zeit funktionierte<br />

die <strong>Wohn</strong>raumversorgung dadurch recht gut, dass wir als Zwischenmieter<br />

aufgetreten sind, und unsere Klienten als Untermieter<br />

in diesen <strong>Wohn</strong>ungen waren.<br />

Sind Sie in solchen Fällen gewerblicher Mieter? Mit entsprechend<br />

geringem Kündigungsschutz?<br />

Rein mietrechtlich ist es leider so, dass unsere Hauptmietverträge<br />

automatisch dem Gewerbemietrecht unterliegen, die Untervermietung<br />

aber eher unter das <strong>Wohn</strong>ungsmietrecht fällt. Lange<br />

Zeit hat diese Konstruktion trotzdem gut funktioniert, weil der<br />

Markt in <strong>Berlin</strong> relativ entspannt war. Viele Vermieter waren<br />

froh, es mit einem stabilen Mieter zu tun zu haben, der regelmäßig<br />

und pünktlich die Miete für eine ansehnliche Zahl von<br />

<strong>Wohn</strong>ungen überweist.<br />

Ansgar Dietrich, Foto: Via gGmbH<br />

erfolgt über bezirkliche Steuerungsrunden, die unter inhaltlichen<br />

Aspekten wie Art der Erkrankung und Schwerpunkten der<br />

Betreuungsangebote die bestmögliche Versorgung für einen Klienten<br />

finden soll. Es wird zunehmend so sein, dass besonders in<br />

den Innenstadtlagen Leute kommen, die nicht mit <strong>Wohn</strong>raum<br />

versorgt sind. Konsequenz: Entscheidend ist womöglich nicht<br />

mehr, welcher Träger inhaltlich das am besten passende Konzept<br />

hat, sondern die Antwort auf die Frage: Wer kann dem Klienten<br />

ein Dach über dem Kopf bieten?<br />

Als gemeinnütziger Träger war und ist Via also ein sehr angenehmer<br />

Zwischenmieter. Was hat sich geändert?<br />

Jetzt gibt es lukrativere Verwertungsmöglichkeiten für Immobilieneigentümer.<br />

Viele langfristige Mietverhältnisse laufen aus,<br />

zum Beispiel in der Straßburger Straße, nahe dem Rosa-Luxemburg-Platz.<br />

Dort wohnen 28 Menschen, die über Via betreut<br />

werden, vorwiegend in Einzelappartements und in einer betreuten<br />

<strong>Wohn</strong>gemeinschaft. Das Haus fiel jetzt aus der <strong>Wohn</strong>ungsbauförderung<br />

heraus – eine Sache, die viele Träger betrifft. Die<br />

Eigentümer durften damit auf die Kostenmiete erhöhen, die bei<br />

13 bis 14 Euro liegt.<br />

Da eine solche Miete für unsere Klienten nicht refinanzierbar<br />

ist, begannen schwierige Verhandlungen. Unser Ziel war, die<br />

28 Menschen unbedingt dort, also in ihrer gewohnten Umgebung,<br />

zu halten. Plötzlich waren wir mächtig unter Druck, denn<br />

auch ein Alternativobjekt war nicht zu bekommen.<br />

Ganz zu schweigen von den individuellen Wünschen und Vorstellungen<br />

der Bewohner<br />

Bei unserer Klientel geht die Nachfrage nach therapeutischen<br />

WGs immer weiter zurück. Den neuen Trend zu kleinen Einzelwohnungen<br />

muss jeder Bauherr oder Generalmieter berücksichtigen,<br />

jedoch ist in dem Marktsegment der Konkurrenzdruck<br />

noch größer.<br />

Ist das für die Träger immer durchzuhalten?<br />

Nein. Wir haben notgedrungen, weil die Situation der bestehenden<br />

<strong>Wohn</strong>ungen in Pankow so prekär war, einige <strong>Wohn</strong>ungen<br />

angemietet, in denen jeweils drei Klienten wohnen können.<br />

Eigentlich war klar, dass dies nicht optimal passt, weil es nicht<br />

das ist, was nachgefragt wird. Auf der anderen Seite drohte der<br />

<strong>Wohn</strong>ungsverlust für einen Teil der Klienten und dann ist ein<br />

Kompromiss besser als gar keine <strong>Wohn</strong>ung.<br />

Wie findet ein zukünftiger Bewohner zu einem <strong>Wohn</strong>- und<br />

Betreuungsprojekt?<br />

Die Zuordnung eines Klienten zu einem Betreuungsprojekt<br />

Sie als Via investieren zwar in den Neubau von Einrichtungen,<br />

aber Sie wären am liebsten Mieter?<br />

Grundsätzlich ja. Das Immobilienthema ist nicht unser Kern-<br />

<strong>Wohn</strong>problematik aus Sicht <strong>Paritätische</strong>r Träger 21


geschäft. Schnell geht es um große Risiken, etwa wenn dem<br />

Gesetzgeber etwas Neues einfällt, zum Beispiel in Sachen »<strong>Wohn</strong>ungsaufwendungenverordnung«<br />

(WAV). Beispiel Talstraße,<br />

dort haben wir ein Grundstück gekauft, um neu zu bauen.<br />

Geplant waren überwiegend 1-Zimmer-Apartments und eine<br />

Demenz-WG. Pro Bewohner waren ca. 30 m² mit 10 Euro Kaltmiete<br />

geplant. Damit wäre eine kostendeckende Finanzierung<br />

möglich gewesen und bei 300 Euro Kaltmiete wäre die obere<br />

Grenze der Mietkostenübernahme nach dem Sozialgesetzbuch<br />

(SGB) von seinerzeit 376 Euro warm auch eingehalten worden.<br />

Dann kam auf einmal die WAV inklusive einer »Quadratmeter-<br />

Höchstmiete«: Inhalt: Die maximale Kaltmiete darf nur 50 Prozent<br />

über der Durchschnittsmiete liegen. Das Problem bei dieser<br />

Definition: »50 Prozent über der Durchschnittsmiete« basiert<br />

auf der 4,91-Euro-Durchschnittsmiete in einer einfachen <strong>Wohn</strong>lage<br />

in <strong>Berlin</strong>. Wenn ich dort 50 Prozent draufpacke, bin ich bei<br />

7,37 Euro und weit entfernt von der kalkulierten Kostenmiete<br />

von 10 Euro pro Quadratmeter.<br />

urbane Mischung an, mit normalen <strong>Wohn</strong>ungsmietern, Studenten,<br />

Familien und Klienten. Als Arbeitstitel nenn wir es »Inklusionshaus«.<br />

Durch die gemischte Mieterschaft lässt sich darüber<br />

hinaus auch das wirtschaftliche Risiko breiter verteilen.<br />

»Inklusives« Recht auf <strong>Wohn</strong>en. Wir reden über einen <strong>Berlin</strong>er<br />

<strong>Wohn</strong>ungsmarkt, der sich vor allem für die sozial Schwächeren<br />

zuspitzt. Wie kann ein Gemeinwesen deren Interessen und<br />

Rechte absichern?<br />

Ich glaube, dass die öffentliche Hand aktive Mieten- und <strong>Wohn</strong>ungspolitik<br />

machen muss. Die eine Säule sind städtische<br />

<strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaften. Unsere Sorge als Träger ist, dass<br />

es auf diesem Feld staatlicher Steuerung zu einer Konkurrenz<br />

zwischen den sozial Schwachen kommt, bis hin zum Sozialneid.<br />

Die zweite Säule wären intelligente Förderprogramme, die auch<br />

Trägern für Projekte offen stehen. Eine weitere Steuerungsmöglichkeit<br />

könnte sein, dass das Land über den Liegenschaftsfonds<br />

kostenlos oder verbilligt Grundstücke abgibt.<br />

Das Ende des Projektes »Talstraße«?<br />

Im <strong>Wohn</strong>ungsbestand lagen wir auch schon teilweise über dem<br />

Wert, aber das hat uns nicht so nervös gemacht, denn meist<br />

bekommt man das individuell mit den zuständigen Ämtern geregelt.<br />

Wenn man aber ein neues Projekt plant und mit 10 Euro<br />

kalkuliert, es aber auf einmal eine Verordnung gibt, die sagt, bei<br />

7,37 Euro ist Schluss, entsteht eine riesige Lücke, die ein solches<br />

Projekt kippen kann. Deshalb haben wir das Projekt zurückgestellt<br />

und zunächst gemeinsam mit anderen Trägern und dem<br />

<strong>Paritätische</strong>n gekämpft, dass die Vorschrift präzisiert wird und<br />

auf ihren eigentlichen Zweck, nämlich die Bekämpfung von<br />

Mietwucher, die wir sehr begrüßen, zurückgeführt wird.<br />

Mittlerweile gibt es auch schon einige erfolgreiche Klagen<br />

gegen die WAV und es zeichnet sich ab, dass mit einer neuen<br />

Anwendungsverordnung Öffnungstatbestände für die Quadratmeterobergrenze<br />

geschaffen werden.<br />

Aber Sie haben vorläufig keine Rechtssicherheit?<br />

Nein, die werden wir sicher auch nicht bekommen und erst<br />

recht nicht die Sicherheit, dass irgendein neues Hindernis auftaucht.<br />

Wir treiben die Planung für die Talstraße voran und wollen<br />

bauen. Das Haus bietet <strong>Wohn</strong>raum für circa 50 Menschen.<br />

Als Träger sind wir aber nicht angetreten, dass wir jetzt in einem<br />

Haus 50 Menschen mit psychischer Erkrankung unterbringen<br />

wollen, wie in einer Art Hospitalisierung light. Wir streben eine<br />

Was tun?<br />

Machen wir einen Gedankensprung zurück zur Straßburger<br />

Straße. Über diese Immobilie haben wir eineinhalb Jahre verhandelt,<br />

schließlich haben wir das Gebäude im vergangenen<br />

September nach zähem Ringen gekauft.<br />

… und mit welchem Risiko?<br />

Wir hatten den Vorteil, dass wir das Gebäude als Mieter gut<br />

kannten, weil ja von Anfang an unsere »Unter«mieter drin waren.<br />

Wir kannten insofern auch die Schwachstellen und die Vorteile<br />

des Gebäudes. Zudem sind die Zinsen momentan niedrig, so<br />

dass wir eine Bankfinanzierung mit geringen Eigenmitteln auf<br />

die Beine stellen konnten, die durch die unveränderten Mieten<br />

gedeckt werden kann und auch die notwendige Instandhaltung<br />

in der Zukunft möglich macht. Auf diese Weise trägt sich das<br />

Mietgeschäft selbst, und es ist letztendlich die Grundlage dafür,<br />

dass wir dort gute Betreuung leisten können.<br />

i<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Via Verbund für Integrative<br />

Angebote <strong>Berlin</strong> gGmbH<br />

Ansgar Dietrich<br />

Schönhauser Allee 175 | 10119 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–443 54-811<br />

a.dietrich@via-berlin.de<br />

www.via-berlin.de<br />

22


<strong>Wohn</strong>angebote sozialer Träger<br />

in <strong>Paritätische</strong>n Häusern<br />

Von Rita Schmid<br />

Anfang März 2013 wurde das sechste Haus der Parität am<br />

Urban unter breiter medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit<br />

eröffnet. Prowo e. V., Träger des Neubaus in der Grimmstraße<br />

16 in <strong>Berlin</strong> Kreuzberg, hat hier auf zwei Etagen für das<br />

»Therapeutische <strong>Wohn</strong>en für Mütter mit ihren Kindern« einen<br />

neuen Standort geschaffen.<br />

Daneben sind <strong>Wohn</strong>- und Projekt<strong>räume</strong> des nova pflegeteams,<br />

der Bürgerhilfe gGmbH, der biffy <strong>Berlin</strong>, der Freiwilligenagentur<br />

Kreuzberg-Friedrichshain und der terra est vita Gesellschaft<br />

untergebracht. Außerdem entstanden Räume für Veranstaltungen<br />

mit kiezbezogenen und sozialen Themen. Bald wird das von<br />

Menschen mit Behinderung betriebene Café urbano Gäste zum<br />

Verweilen einladen.<br />

Immer weniger bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum<br />

machte Neubau notwendig<br />

Bauherrenverantwortung und Immobilienfinanzierung gehören<br />

nicht ins Kerngeschäft eines psychosozialen Trägers, meint Helmut<br />

Elle, Geschäftsführer von Prowo e. V. bei der Eröffnung.<br />

Doch vor dem Hintergrund, dass bezahlbarer <strong>Wohn</strong>raum in<br />

<strong>Berlin</strong> immer weniger werde, sei der Neubau eine Notwendigkeit<br />

gewesen. Elle über<br />

die Anfänge der <strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />

für Mütter mit<br />

Kindern vor fast 20 Jahren:<br />

»Damals hatten psychisch<br />

erkrankte Frauen keine Chance, einen Lebensentwurf mit Kind<br />

zu überprüfen. Das Kind kam ins Heim.« Doch die Erfahrung<br />

aus ihrer Arbeit lehre: »Ein Kind kann Kraftquelle und Motivation<br />

sein, sich zu entwickeln.« <strong>Der</strong> Kinderschutz müsse dennoch<br />

immer an erster Stelle stehen. Es sei ein ständiges Abwägen.<br />

Stiftungen und Bezirk waren Unterstützer<br />

Die Realisierung des Hauses der Parität am Urban wurde<br />

möglich durch die Unterstützung vieler Partner. Die Stiftung<br />

Deutsche Klassenlotterie <strong>Berlin</strong> förderte das Bauvorhaben mit<br />

980.000 Euro, die Stiftung Parität <strong>Berlin</strong> gab 250.000 Euro und<br />

die Stiftung Deutsches Hilfswerk, ARD-Fernsehlotterie »Ein<br />

Platz an der Sonne« 300.000 Euro. Prof. Barbara John, Vorstandsvorsitzende<br />

des <strong>Paritätische</strong>n <strong>Berlin</strong> und Vorsitzende der<br />

Stiftung Parität <strong>Berlin</strong>, dankte dem Bezirksbürgermeister von<br />

Friedrichshain-Kreuzberg, Franz Schulz, der auf das Anliegen<br />

der Bietergemeinschaft für mehr Anlaufstellen gehört habe. Die<br />

soziale Nutzung in das Haus zu integrieren, findet Franz Schulz<br />

wichtig. Gerade im bürgerlicher werdenden Kiez dürften Menschen,<br />

die auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen<br />

seien, nicht aus dem Blick geraten.<br />

<strong>Wohn</strong>en im Herzen <strong>Berlin</strong>s<br />

1999 ging das Haus der Parität in der Tucholskystraße, Ecke<br />

Johannisstraße, im Herzen <strong>Berlin</strong>s, gleich um die Ecke zur Touristenmeile<br />

in der Oranienburger Straße, an den Start. Zu den<br />

Erstbeziehern gehörte das Unionhilfswerk mit einer <strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />

für Senioren mit Behinderung. Inzwischen hat sich<br />

die Klientel geändert. Jetzt leben dort vier junge Menschen mit<br />

Beeinträchtigungen. Aufgrund des Standortes und der recht lebhaften<br />

Nachbarn im Haus hatte sich das Unionhilfswerk im Jahr<br />

2010 zu diesem Wechsel der Bewohner entschlossen. Die sehr<br />

gute Verkehrsanbindung, die interessante Umgebung und das<br />

lebhafte Umfeld im Haus sind für junge Menschen gut geeignet.<br />

Jugendwohnen um neu Kraft zu schöpfen<br />

Ebenfalls seit Eröffnung des Hauses der Parität in der Tucholskystraße<br />

ist das Pestalozzi-Fröbel-Haus (PFH) dort Mieter und<br />

betreibt eine Therapeutische Jugendwohngruppe (TWG). Dort<br />

leben sechs Jungen und<br />

Mädchen im Alter zwischen<br />

14 und 20 Jahren, die aus<br />

unterschiedlichen Gründen,<br />

vorübergehend oder dauerhaft,<br />

nicht in ihrer Familie wohnen können oder bisher in anderen<br />

Jugendhilfeeinrichtungen waren. Die Jugendlichen haben<br />

auf verschiedene Weise Schwierigkeiten mit ihrem Leben, ihren<br />

Freundschaften, mit der Schule, mit ihren familiären Beziehungen<br />

und mit sich selbst zurecht zu kommen und waren vor der<br />

Aufnahme in der TWG häufig in stationärer oder ambulanter<br />

jugendpsychiatrischer Behandlung. In ihren Familien oder bisherigen<br />

Heimeinrichtungen sind die Möglichkeiten der Änderung<br />

und konstruktiven Bewältigung der Konflikte und Krisen am<br />

zumindest momentanen Ende angekommen oder nicht (mehr)<br />

vorhanden – die Kräfte sind auf allen Seiten erschöpft. Viele der<br />

Jugendlichen brauchen professionelle pädagogische und psychotherapeutische<br />

Unterstützung in einem gut strukturierten, haltgebenden<br />

Alltagsrahmen, um letztlich eigene Wege zu selbstständigem<br />

und eigenverantwortlichem Leben zu entwickeln.<br />

Gerade im bürgerlicher werdenden Kiez dürfen<br />

Menschen, die auf die Unterstützung der Gesellschaft<br />

angewiesen seien, nicht aus dem Blick geraten.<br />

<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 23


Therapeutisches <strong>Wohn</strong>en für Mütter mit ihren Kindern im Haus der Parität am Urban, Foto: Michael Janda<br />

Mitten im Kollwitzkiez - <strong>Wohn</strong>einrichtung<br />

für alkoholabhängige Menschen<br />

Im Haus der Parität Kollwitzstraße bietet die Albert Schweitzer<br />

Stiftung – <strong>Wohn</strong>en & Betreuen vierzehn alkoholkranken Frauen<br />

und Männern ein Zuhause. Die <strong>Wohn</strong>einrichtung feierte im<br />

Oktober letzten Jahres ihr zehnjähriges Bestehen. Auf zwei<br />

<strong>Wohn</strong>etagen leben alkoholabhängige Menschen. Das Konzept<br />

der Stiftung fordert von den Bewohnerinnen und Bewohnern<br />

keine Abstinenzbereitschaft; vielmehr begegnet man hier den<br />

Abhängigen mit einem undogmatischen Sucht- und Rückfallverständnis.<br />

Frau B., seit zehn Jahren Bewohnerin in der Kollwitzstraße,<br />

hat durch diese Herangehensweise den Weg aus der<br />

Sucht gefunden. Nach einem schweren Unfall und Jahren der<br />

Obdachlosigkeit kam sie als eine der ersten Bewohnerinnen in<br />

die <strong>Wohn</strong>einrichtung. Für einige Bewohner bildet die <strong>Wohn</strong>einrichtung<br />

eine Zwischenstation: Nach einer Zeit der Betreuung<br />

haben sie die Kraft, außen wieder ein eigenes Leben in einer<br />

eigenen <strong>Wohn</strong>ung anzufangen.<br />

Häuser der Parität – eine Übersicht<br />

<strong>Der</strong> <strong>Paritätische</strong> <strong>Berlin</strong> verfügt über vier Häuser der Parität:<br />

› die Landesgeschäftsstelle in der<br />

Brandenburgischen Straße 80 in Wilmersdorf,<br />

› das Haus der Parität in der Tucholskystraße 11 in Mitte,<br />

› das Haus der Parität in der Kollwitzstaße 94–96<br />

in Prenzlauer Berg<br />

› das Haus des Älteren Bürgers in der<br />

Werbellinstraße 42 in Neukölln<br />

Das fünfte Haus der Parität besteht seit 2009 in Regie des Bürgerhaus<br />

e. V. in der Schönholzer Straße 11 in Pankow.<br />

Mit dem sechsten Haus der Parität am Urban unter Regie<br />

des Prowo e. V. entstand ein weiteres Haus, das <strong>Wohn</strong>formen<br />

für Menschen in schwierigen sozialen Situationen bietet. Angesichts<br />

der Entwicklung auf dem <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />

ein notwendiges Zeichen und eine wichtige Maßnahme, dem<br />

rasanten Ansteigen der Mieten und dem Verdrängen von Menschen<br />

mit geringeren Einkünften an die Randbezirke etwas<br />

entgegenzusetzen.<br />

24


Ohne die Häuser würde das<br />

Kinderdorfprinzip nicht funktionieren<br />

Von Mone Volke<br />

»Und wo soll Laurenz wohnen?«, fragt sich Alexandra Brehm-<br />

Westhoff. Die Erzieherin steht gemeinsam mit ihrem Mann<br />

Tinus Brehm vor den sechs Kinderdorfhäusern in <strong>Berlin</strong>-<br />

Gatow. Haus 4 soll ihr zukünftiger Arbeitsplatz, <strong>Wohn</strong>- und<br />

Lebensraum werden. Doch für ihren Sohn Laurenz steht derzeit<br />

kein eigenes Zimmer zur Verfügung. Die Beiden schauen<br />

sich skeptisch an.<br />

Das Ehepaar ist aus Hamburg angereist, um sich im Albert-<br />

Schweitzer-Kinderdorf <strong>Berlin</strong> als neue Kinderdorfeltern zu<br />

bewerben. »Das Kinderdorf in <strong>Berlin</strong>-Gatow liegt mitten im<br />

Grünen und direkt neben einem Öko-Bauernhof. Hier können<br />

die Kinder Natur unmittelbar erleben. Allerdings brauchen wir<br />

als Hauseltern auch etwas Platz. Zwei Räume für drei Personen<br />

sind zu eng.«<br />

»Kinder haben ein Recht auf eigenen Raum«<br />

Im Albert-Schweitzer-Kinderdorf <strong>Berlin</strong> e. V. leben rund 110 Kinder<br />

und Jugendliche unter familienähnlichen Bedingungen in<br />

Familienwohngruppen. Alle 19 Gruppen bewohnen jeweils ein<br />

eigenes Haus mit Garten, das sie individuell<br />

und nach eigenem Geschmack<br />

einrichten. Separate Räume mit Sanitärbereich<br />

bieten den Kinderdorfeltern<br />

Privatsphäre.<br />

»Die Häuser in Gatow sind sehr schön gelegen. Hinten<br />

sind die Gärten, vorne die Felder. Das bedeutet für die Kinder<br />

eine geschützte Atmosphäre, in der sie sich geborgen fühlen«,<br />

schwärmt Alexandra Brehm-Westhoff. »Und alle Kinder haben<br />

ein Zimmer für sich allein, sie haben Rückzugsmöglichkeiten<br />

und können selbst entscheiden, wer zu ihnen kommt. Kinder<br />

haben ein Recht auf eigenen Raum! Gleichzeitig gibt es großzügige<br />

Gemeinschafts<strong>räume</strong>, in denen Familie gelebt werden kann.«<br />

Wer lebt im Kinderdorf?<br />

Die Kinder und Jugendlichen, die im Albert-Schweitzer-Kinderdorf<br />

<strong>Berlin</strong> betreut werden, können in ihren Herkunftsfamilien<br />

vorübergehend oder langfristig nicht leben. Sie haben oft<br />

Bindungsstörungen, viele sind sogar schwer traumatisiert und<br />

bringen Erfahrungen von emotionaler Vernachlässigung, Gewalt<br />

und/oder sexuellem Missbrauch mit. Einige Kinder und Jugendliche<br />

haben schon verschiedene Stationen an sozialpädagogischer<br />

Familienhilfe durchlaufen. Manche haben bereits Psychiatrieerfahrung,<br />

bevor sie ins Kinderdorf kommen. Aufgrund dieser<br />

Wir sind froh, zumindest für<br />

die Familienarbeit über bezahlbares<br />

Eigentum zu verfügen.<br />

Erlebnisse sind sie auf eine strukturierte Lebenssituation angewiesen,<br />

die ihnen Sicherheit und Orientierung gibt.<br />

»In einer Kinderdorffamilie betreuen wir in der Regel bis zu<br />

sechs Kinder und Jugendliche«, erläutert Cornelia Piekarski,<br />

die pädagogische Geschäftsführerin. Eine pädagogische Fachkraft<br />

lebt innewohnend mit den Kindern in einem der Kinderdorfhäuser<br />

in Spandau, Reinickendorf oder Lichtenberg. Falls<br />

es Partner oder eigene Kinder gibt, können diese ebenfalls mit<br />

im Kinderdorf wohnen. Zwei hinzukommende Erzieherinnen<br />

oder Erzieher und eine Hauswirtschaftskraft unterstützen die<br />

innewohnende Fachkraft bei der pädagogischen Arbeit und der<br />

Organisation des Alltags.<br />

15 000 <strong>Berlin</strong>er Kinder und Jugendliche lebten<br />

Mitte der 60er Jahre in Heimen<br />

<strong>Der</strong> 1960 gegründete Verein Albert-Schweitzer-Kinderdorf <strong>Berlin</strong><br />

eröffnete 1965 sein erstes Kinderdorfhaus in Gatow. 15 000<br />

<strong>Berlin</strong>er Kinder und Jugendliche lebten Mitte der 60er Jahre in<br />

Heimen – Ansporn genug, nach Alternativen zu suchen. Dank<br />

großzügiger Spenden und Schenkungen konnte der Verein bis<br />

1970 weitere fünf Häuser in Gatow<br />

bauen. Nach und nach entstanden<br />

dann zusätzliche Häuser in den Bezirken<br />

Reinickendorf und, nach der<br />

Wende, auch in <strong>Berlin</strong>-Lichtenberg.<br />

»Das <strong>Wohn</strong>eigentum bildet die Basis unserer Arbeit«<br />

Thomas Grahn, Geschäftsführer für Wirtschaft und Finanzen im<br />

Kinderdorf, ist sich sicher: »Ohne die Häuser würde das Kinderdorfprinzip<br />

nicht funktionieren. Das <strong>Wohn</strong>eigentum bildet<br />

dabei die Basis unserer Arbeit.« Er betont: »Immer dann, wenn<br />

wir Jugendliche in ihre Selbstständigkeit entlassen und eigene<br />

<strong>Wohn</strong>ungen für sie suchen, haben wir zunehmend ein Problem<br />

auf dem enger werdenden <strong>Wohn</strong>ungsmarkt. Deshalb sind wir<br />

froh, zumindest für die Familienarbeit über bezahlbares Eigentum<br />

zu verfügen.«<br />

<strong>Der</strong> große Vorteil: Durch das <strong>Wohn</strong>eigentum ist der Verein<br />

unabhängig von der <strong>Wohn</strong>ungsmarktlage, egal wie angespannt<br />

sie ist. Hinzu kommt: Die Häuser können flexibel und zeitnah an<br />

wechselnde Bedürfnisse der innewohnenden Familien angepasst<br />

werden. Diese Umbauprozesse verlaufen relativ unbürokratisch.<br />

Anpassung an wechselnde Bedürfnisse<br />

Als das erste Kinderdorfhaus 1965 entstand, waren die finan-<br />

<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 25


ziellen und räumlichen Möglichkeiten des Trägers begrenzt.<br />

Folglich mussten sich die betreuten Kinder zu zweit oder gar zu<br />

dritt ein Zimmer teilen. Heutzutage gehört es zum allgemeinen<br />

Standard in der Jugendhilfe, dass die Kinder spätestens ab dem<br />

vierzehnten Lebensjahr ein eigenes Zimmer haben. Für die Kinderdorfkinder,<br />

die psychisch schwer belastet sind, ein absolutes<br />

Muss! Auch der Wunsch der Hauseltern nach mehr Privatsphäre<br />

ist im Lauf der Jahre gestiegen. Also baut der Träger nach und<br />

nach seine Häuser um. Die Kosten finanziert er unter anderem<br />

durch Spenden und Erträge der im Jahr 2005 gegründeten Stiftung<br />

Albert-Schweitzer-Kinderdorf <strong>Berlin</strong>.<br />

Wer gute Fachkräfte gewinnen will, muss<br />

die Rahmenbedingungen schaffen<br />

Auch für Haus 4 in Gatow gibt es eine Lösung. Das Kinderzimmer<br />

für Sohn Laurenz ist gesichert. Tinus Brehm und Alexandra<br />

Brehm-Westhoff können demnächst einziehen. Thomas Grahn<br />

erläutert: »Im Haus 4 arbeitete und wohnte bis vor kurzem ein<br />

Hausvater ohne eigene Kinder. Für ihn reichten zwei private Zimmer.<br />

Jetzt erweitern wir das <strong>Wohn</strong>zimmer durch einen Anbau,<br />

machen aus der Garage und dem ehemaligen Abstellraum zwei<br />

weitere Zimmer, dämmen die Außenwände, setzen neue Fenster<br />

ein und verlegen neue Fußböden.«<br />

Da es schwierig ist, engagierte pädagogische Fachkräfte für<br />

die anspruchsvolle Kinderdorfarbeit zu finden, ist der Ausbau<br />

unumgänglich. Wer gute Fachkräfte gewinnen will, muss auch<br />

bereit sein, die Rahmenbedingungen an die äußeren Gegebenheiten<br />

anzupassen.<br />

<strong>Der</strong> zukünftige Kinderdorfvater Tinus Brehm freut sich: »Was<br />

gibt es Schöneres, als wenn eine ehemalige Garage zu so etwas<br />

lebendigem wie einem Kinderzimmer wird?«<br />

i<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Albert-Schweitzer-Kinderdorf <strong>Berlin</strong> e.V.<br />

Weiter Blick 46 | 14089 <strong>Berlin</strong>-Gatow<br />

Tel 030–362 30 44<br />

volke@kinderdorf-berlin.de<br />

www.kinderdorf-berlin.de<br />

Die neue Erzieherin mit ihrem eigenen Sohn beim Einzug ins Kinderdorf, Foto: Michael Janda<br />

26


Leben erleben im Kiez –<br />

Das <strong>Wohn</strong>projekt Undine<br />

Von Birgit Hartigs<br />

Im <strong>Wohn</strong>projekt Undine in der Lichtenberger Hagenstraße 57<br />

leben Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher<br />

Herkunft, die das Leben aus der Bahn geworfen hat, zeitweise<br />

unter einem Dach. Sie stecken in vielfältigen sozialen Schwierigkeiten,<br />

waren obdachlos oder davon bedroht, es zu werden.<br />

Sie brauchen Hilfe, Beratung und Betreuung, um diesem Teufelskreis<br />

wieder entfliehen zu können.<br />

Ehemals Obdachlose in einem Haus, nicht am Stadtrand, sondern<br />

mitten in einem Lichtenberger Kiez – »das geht doch<br />

nicht«, »da machen die Bürger nicht mit« – solche und andere<br />

Einwände hörten die Frauen vom Sozialwerk des dfb Dachverband<br />

e. V., als sie ihr Projekt Mitte der 90er Jahre vorstellten.<br />

Aber es gab auch zahlreiche Unterstützer wie den <strong>Paritätische</strong>n<br />

<strong>Berlin</strong> und die Lichtenberger <strong>Wohn</strong>ungsbaugesellschaft mbH.<br />

Im September 1996 wurde das<br />

<strong>Wohn</strong>projekt offiziell eröffnet<br />

Undine bietet betroffenen Frauen und Männern berlinweit sozialpädagogische<br />

Betreuung und Hilfe gemäß § 67/68, SGB XII<br />

in den Leistungstypen Betreutes<br />

Einzelwohnen (BEW) sowie <strong>Wohn</strong>ungserhalt<br />

und <strong>Wohn</strong>ungserlangung<br />

(WuW). Betreuung und<br />

Hilfe erfolgen entweder in einer<br />

bereit gestellten Einraumwohnung<br />

im <strong>Wohn</strong>projekt oder in der noch eigenen <strong>Wohn</strong>ung, die dann<br />

hoffentlich die eigene bleibt, weil es gelingt, die Probleme aufzuarbeiten.<br />

Zur Betreuung und Hilfe gehören die Entwicklung<br />

beziehungsweise Wiederherstellung der <strong>Wohn</strong>fähigkeit, Hilfe bei<br />

der Erlangung von eigenem <strong>Wohn</strong>raum; Information, Beratung,<br />

Anleitung und Unterstützung bei der Organisation und Bewältigung<br />

des Alltags, bei der Neuordnung der materiellen und<br />

finanziellen Situation, der Integration in das Erwerbsleben oder<br />

in eine Ausbildung, bei sozialhilferechtlichen Fragen, die Bearbeitung<br />

von Sucht- und anderen gesundheitlichen Problemen.<br />

Beratungsgespräch im <strong>Wohn</strong>projekt Undine,<br />

Foto: Sozialwerk des dfb<br />

… von hier geht mancher stark hinaus<br />

und macht was Eignes draus …<br />

aus einem Song von Gisela Steineckert und<br />

Ingo Koster für das <strong>Wohn</strong>projekt Undine<br />

Ohne Spender, Sponsoren und<br />

Unterstützer ginge es nicht<br />

Aber der Träger des <strong>Wohn</strong>projektes, das Sozialwerk des dfb<br />

(Dachverband) e.V., und sein Betreuerteam wollen mehr: Bei<br />

Undine sollen <strong>Wohn</strong>en und sozialpädagogische Betreuung unter<br />

einem Dach erfolgen, gemeinsame Erlebnisse und Gestaltung<br />

der Freizeit aus der Isolation heraushelfen und die Bewohner<br />

und Betreuten einbezogen werden in das Lebensumfeld<br />

im Stadtteil. Für das Zusammenleben im Haus engagiert sich<br />

ein Bewohnerrat. Finanziert wird die Betreuung im Rahmen<br />

einer Vereinbarung mit dem Land <strong>Berlin</strong>, Senatsverwaltung für<br />

Gesundheit und Soziales. Den Weg in die Hagenstraße finden die<br />

Betroffenen über die bezirklichen<br />

Sozialämter oder über »Hörensagen«.<br />

Die Arbeit wäre nicht zu<br />

leisten ohne Spender, Sponsoren<br />

und vielfältige Unterstützer. Zu<br />

ihnen zählt Undine-Schirmherrin<br />

Dagmar Frederic. Seit der Eröffnung 1996 wirbt sie nicht nur<br />

für das Projekt, sondern gestaltet Benefizkonzerte mit, tritt zu<br />

Kiez-Sommerfesten und Bewohner-Weihnachtsfeiern auf, ist oft<br />

bei den Bewohnerinnen und Bewohnern zu Gast.<br />

i<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Sozialwerk des dfb<br />

Hagenstraße 57 | 10365 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–57 79 94 18 | 030–55 49 12 59<br />

betreuerteam.undine@sozialwerk-dfb-berlin.de<br />

www.frauen-dfb.de<br />

<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 27


Kein <strong>Wohn</strong>raum für Mädchen und junge<br />

Frauen mit Gewalterfahrungen?<br />

Von Iris Hölling, Geschäftsführerin von Wildwasser e. V.<br />

Wildwasser unterstützt Mädchen und junge Frauen, die sexualisierte<br />

oder multiple Gewalterfahrungen gemacht haben, im<br />

Rahmen ambulanter und stationärer Jugendhilfe.<br />

Vor vier Jahren wurde der Mietvertrag von Wildwasser für<br />

die Krisenwohnung des Mädchennotdienstes in Kreuzberg<br />

gekündigt, weil Mädchen in Krisensituationen nicht mehr in<br />

das sanierte Haus passten, in dem die <strong>Wohn</strong>ungen in Eigentumswohnungen<br />

umgewandelt und verkauft wurden.<br />

2001 hatte der Vermieter speziell für unsere Bedürfnisse umgebaut<br />

und den Mädchennotdienst im Haus haben wollen. Trotz<br />

großen Engagements des Bezirksbürgermeisters, der Frauenbeauftragten<br />

und der Stadträtin ist es uns innerhalb eines Jahres<br />

nicht gelungen, geeignete neue Räume für die Krisenwohnung<br />

in Kreuzberg zu finden. Wir zogen deshalb 2009 in Räume im<br />

Wedding, in ein Umfeld, das sich für die Arbeit mit Mädchen<br />

und jungen Frauen als problematisch erwies.<br />

Diskriminierung bei <strong>Wohn</strong>ungssuche<br />

Viele Vermieter reagieren skeptisch, wenn sie an einen Verein<br />

vermieten sollen. Sie wollen viele Nachweise und Sicherheiten,<br />

die sich unterscheiden von Einzelmieterinnen und -mietern.<br />

Andere diskriminieren offen. So musste eine Kollegin mit Migrationshintergrund,<br />

die mit einem Vermieter telefonierte, sich<br />

anhören: »Polen und Russen sind okay, aber bloß keine Türken<br />

oder Muslime.« Solche rassistischen Vermieter kommen für uns<br />

nicht infrage, aber auch sonst haben wir mit Vorurteilen zu<br />

kämpfen, wenn wir benennen, dass wir Mädchen mit Gewalterfahrungen<br />

betreuen. Manche lassen sich beruhigen und gewinnen,<br />

wenn sie hören, dass wir die Mädchen betreuen und uns<br />

auch um die Überweisung der Miete und andere Formalitäten<br />

kümmern. Andere lehnen sofort ab.<br />

<strong>Wohn</strong>ungsgesellschaften aktuell ohne Angebote<br />

<strong>Der</strong> Mangel an bezahlbarem <strong>Wohn</strong>raum in der Innenstadt<br />

erschwert unsere Arbeit enorm: Wir müssen viel länger nach<br />

geeigneten <strong>Wohn</strong>ungen suchen. Die Vermieter können selbst für<br />

<strong>Wohn</strong>ungen in unzumutbarem Zustand hohe Preise verlangen.<br />

Die Zusammenarbeit mit <strong>Wohn</strong>ungsgesellschaften haben wir<br />

ebenfalls versucht, zumal wir uns mit einer von ihnen den Innenhof<br />

unseres Hauses teilen. So ist es gelungen, eine <strong>Wohn</strong>ung für<br />

ein betreutes Zweierwohnen in der Nähe unserer <strong>Wohn</strong>gruppe<br />

anzumieten, was den Mädchen kurze Wege ermöglicht. Das ist<br />

zwei Jahre her. Aktuell haben auch die <strong>Wohn</strong>ungsgesellschaften<br />

keine Angebote für unsere Zielgruppe.<br />

Interkulturelle <strong>Wohn</strong>gruppe DonyA –<br />

wohin danach?<br />

Neben der Krisenwohnung betreiben wir auch die interkulturelle<br />

<strong>Wohn</strong>gruppe DonyA im Soldiner Kiez, einem der sozialen<br />

Brennpunkte im <strong>Berlin</strong>er Wedding. Viele Mädchen ziehen,<br />

wenn sie 16 oder 17 sind, aus der <strong>Wohn</strong>gruppe aus und werden<br />

von uns in einer Trägerwohnung oder, wenn sie volljährig<br />

sind, in einer eigenen <strong>Wohn</strong>ung ambulant oder stationär weiter<br />

betreut. Noch vor einigen Jahren war es bedeutend leichter<br />

als heute, im Wedding geeignete <strong>Wohn</strong>ungen für die Mädchen<br />

zu finden. Sinnvoll finden wir, <strong>Wohn</strong>ungen zu suchen, die die<br />

Mädchen als Hauptmieterinnen übernehmen können, wenn sie<br />

volljährig sind. Das ist kaum noch machbar, weil es mittlerweile<br />

selbst im Wedding fast unmöglich ist, geeignete <strong>Wohn</strong>ungen zu<br />

finden, die den Vorgaben der Jobcenter entsprechen.<br />

Es besteht dringender politischer Handlungsbedarf<br />

Wenn Mädchen unbedingt in einen bestimmten Kiez ziehen<br />

möchten, weil dort Freundinnen, Freunde oder Familienangehörige<br />

wohnen, wird es noch schwieriger. Das Selbstbestimmungsrecht<br />

der Mädchen wird durch den Druck auf dem <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />

oft infrage gestellt. Ebenso wenig können wir es uns<br />

in diesen Zeiten leisten, den Mädchen die Mietverträge zu überlassen,<br />

wenn sie 18 sind, weil wir nicht wissen, wann wir wieder<br />

eine Trägerwohnung finden.<br />

Hier besteht dringender politischer Handlungsbedarf, wenn<br />

wir nicht zulassen wollen, dass Menschen mit Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen<br />

an den Stadtrand gedrängt werden<br />

und nicht mehr selbst über ihren <strong>Wohn</strong>ort bestimmten können.<br />

i<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Wildwasser e. V.<br />

Wriezener Str. 10/11 | 13359 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–48 62 82 32<br />

geschaeftsfuehrung@wildwasser-berlin.de<br />

www.wildwasser-berlin.de<br />

28


Sich zusammenschließen,<br />

um Eigentum zu schaffen<br />

Von Elisabeth Gregull<br />

Wer vom Kottbusser Tor aus die Reichenberger Straße in<br />

Kreuzberg hinunterläuft, trifft auf eine Straße der Gegensätze.<br />

Kleine Cafés und Läden, Aufrufe zu Nachbarschaftstreffen<br />

und gemeinsamen Aktionen gegen Zwangsräumungen auf der<br />

einen Seite. Auf der anderen Seite sanierte Fabriketagen und<br />

das berüchtigte Carloft, ein Neubau für Spitzenverdiener, die<br />

ihr Auto mit in die <strong>Wohn</strong>ung nehmen wollen.<br />

Kreuzberger (Ent-)Mischung<br />

Die »Reichenberger 96« ist ein <strong>Wohn</strong>projekt der Zuhause im<br />

Kiez gGmbH, kurz Zik, einem Träger für Menschen mit HIV,<br />

Aids und Hepatitis C. Es liegt am ruhigen Ende der Straße, am<br />

Landwehrkanal. Wer hier einzieht, hat schon einiges hinter sich:<br />

Drogenkonsum, Gefängnis, <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit oder größere<br />

gesundheitliche Probleme.<br />

Projektleiter Kalle Krott lacht, als das Stichwort Carloft fällt.<br />

»Die Bewohner wird man wohl kaum beim Flanieren durch die<br />

Straßen treffen«, meint er. »Aber unsere Klientel ist auch auffällig.<br />

Insofern sind wir ganz froh, dass wir noch zu dieser alten<br />

Kreuzberger Mischung beitragen können. Das geht aber auch<br />

nur, weil uns die Immobilie gehört und wir die Mieten gestalten<br />

können. Und das tun wir so, dass es erschwinglich ist für Menschen,<br />

die von den Hartz-IV-Sätzen zu leben haben.«<br />

Ein Immobilienkauf, der bezahlbaren<br />

<strong>Wohn</strong>raum sichert<br />

Vor zehn Jahren zog Zik hier ein und ist inzwischen Mehrheitsbesitzer<br />

des Hauses, berichtet Kalle Krott: »Damals suchte<br />

Hubert Jenner, ein kinderloser Immobilienkaufmann, der mit<br />

seinem Vermögen etwas Gutes tun wollte, Kontakt zu Trägern.<br />

Zik als Träger für Menschen mit HIV und Aids war dann seine<br />

Wahl. Er kaufte das Haus und gründete die ›Stiftung Lebensfarben‹,<br />

an der auch Zik beteiligt ist.«<br />

Die Immobilie baute 1965 noch die »Neue Heimat«. In den<br />

rund 100 Einzimmerwohnungen hat der Bezirk zunächst betreutes<br />

Seniorenwohnen angeboten, später verkaufte er das Haus.<br />

»Die Idee war ursprünglich, ein ›Betreuungsghetto‹ zu vermeiden«,<br />

erzählt Kalle Krott. »Dass man nicht einen großen Kasten<br />

Glücklich angekommen im neuen Zuhause, Foto: Zik gGmbH<br />

<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 29


hat, wo nur hilfebedürftige Menschen leben. Aber in den letzten<br />

Jahren, bei der verschärften <strong>Wohn</strong>ungssituation, mussten wir<br />

uns von diesem Gedanken leider verabschieden.« In der »R 96«<br />

leben heute rund hundert Mieter, viele betreut Zik etwa in therapeutischen<br />

<strong>Wohn</strong>gemeinschaften, im Betreuten Einzelwohnen<br />

oder mit einem ambulanten Pflegedienst.<br />

Zuhause im Kiez<br />

Zik gründete sich 1989 als Initiative gegen <strong>Wohn</strong>ungslosigkeit<br />

von Menschen mit HIV und Aids und hat seitdem über<br />

4300 Menschen ein Zuhause vermittelt. Zik unterhält zehn<br />

<strong>Wohn</strong>projekte, das Beschäftigungsprojekt<br />

»Lützowtopia« und das Kiez-<br />

Restaurant »Orangerie« und kooperiert<br />

eng mit anderen Trägern. Zik hat<br />

außerdem 400 <strong>Wohn</strong>ungen angemietet,<br />

in denen Klienten als Untermieter leben.<br />

Auch das Team der »R 96« möchte die Klienten nach einer<br />

Phase der Unterstützung möglichst wieder in eine eigene <strong>Wohn</strong>ung<br />

entlassen. Aber das, so Kalle Krott, ist inzwischen fast<br />

unmöglich: »Es wird für uns immer schwieriger, in den Innenstadtbezirken<br />

unsere Betreuung anzubieten. Und das war ja eine<br />

Gründungsidee bei Zik, wie der Name schon sagt: ›Zuhause im<br />

Kiez‹. Dort zu leben, wo man leben möchte, wo man beheimatet<br />

ist, wo man sein soziales Umfeld hat.« Für viele Träger, die<br />

in der Eingliederungshilfe und im betreuten <strong>Wohn</strong>en arbeiten,<br />

wird diese Situation zu einem immer gravierenderen Problem.<br />

Ein Schufa-Eintrag, den Zik-Klienten oft haben, ist meist schon<br />

ein Ausschlusskriterium.<br />

Die Weitervermietung von<br />

<strong>Wohn</strong>raum führt zu hohen Verlusten,<br />

die niemand finanziert.<br />

nachgefragt, sie nehmen keine Leute mit ALG-II-Bezug. Immer<br />

mehr Türen gehen zu.«<br />

Die Hürde der Angemessenheitsprüfung<br />

Diese Erfahrung macht auch Robert Kliem. Er ist seit 20 Jahren<br />

für Zik in der <strong>Wohn</strong>ungsakquise tätig, im Projekt Sozialmakler.<br />

Seit vier Jahren vermietet Zik nur noch mit Betreuung. Die<br />

Weitervermietung von <strong>Wohn</strong>raum führt zu hohen Verlusten,<br />

die niemand finanziert. Dass Betroffene aufgrund des Verlaufs<br />

der Krankheit heute nicht mehr automatisch einen 2-Zimmer-<br />

<strong>Wohn</strong>berechtigungsschein oder mit Dringlichkeit bekommen,<br />

findet Robert Kliem in Ordnung.<br />

Ihm machen vor allem andere Dinge<br />

zu schaffen: »Früher galt der soziale<br />

<strong>Wohn</strong>ungsbau immer als angemessen,<br />

egal, wie teuer er war. Dann wurden<br />

Mietobergrenzen eingeführt und Quadratmeterbeschränkungen.<br />

Bis zur großen Reform 2005, mit der Zusammenlegung der<br />

Arbeitslosen- und Sozialhilfe, als dann Bruttowarmmieten als<br />

Angemessenheitsgröße eingeführt wurden. Da fing es an schwierig<br />

zu werden.«<br />

Wegen dieser zusätzlichen Hürde kann Zik momentan geeignete<br />

<strong>Wohn</strong>ungen nicht anmieten und schon gar nicht vermitteln.<br />

Das gilt nicht nur für die Innenstadt, selbst in Bezirken<br />

wie Marzahn ist es inzwischen schwierig. »Bei 7,96 Euro haben<br />

wir für drei <strong>Wohn</strong>ungssuchende, die von Hartz-IV leben, die<br />

Ablehnung bekommen, obwohl die Menschen obdachlos oder<br />

teilweise in teuren Pensionen und <strong>Wohn</strong>heimen untergebracht<br />

sind.«<br />

Immer mehr Türen gehen zu<br />

Einer, der es gerade noch geschafft hat, ist Uwe Suwalla. Er<br />

wohnte fünf Jahre in der »R 96«, bevor er vor drei Jahren eine<br />

eigene Bleibe fand: »Eine kleine Einzimmerwohnung in Schöneberg.<br />

»Gemütlich – für mich jedenfalls«, sagt er schmunzelnd. Er<br />

musste Durchhaltevermögen beweisen: »Nee, das war wirklich<br />

nicht einfach. Wir haben ein halbes, dreiviertel Jahr gesucht. So<br />

lange dauert das schon.« Er hatte Glück – man akzeptierte ihn<br />

trotz Schufa-Eintrag.<br />

»Die Verwalterin wusste auch, dass er betreut wird. Sie hatte<br />

Vertrauen, dass die Miete gezahlt wird. Das war der Schlüssel«,<br />

glaubt die Sozialarbeiterin Vicky Danopoulos, die ihn bei der<br />

Suche unterstützte. Inzwischen hat die Hausverwaltung gewechselt<br />

und die Dinge liegen anders: »Eine Kollegin hat noch mal<br />

Unabhängig vom <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />

Robert Kliem sieht für die Problemlage nur eine Lösung im jetzigen<br />

Bestand: »<strong>Wohn</strong>ungen rausnehmen und reservieren für einkommensschwache<br />

Gruppen. Aber eigentlich ist mein Credo:<br />

Soziale Träger sollten sich zusammenschließen, um Eigentum zu<br />

schaffen, um sich unabhängig vom <strong>Wohn</strong>ungsmarkt zu machen.<br />

Das ist das Mittel der Zukunft.«<br />

i<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Zik – zuhause im Kiez<br />

Christian Thomes<br />

Perleberger Str. 27 | 10559 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–39 89 60 31<br />

Christian.thomes@zik-ggmbh.de<br />

www.zik-ggmbh.de<br />

30


Lebensort Vielfalt – ein Meilenstein<br />

in der schwulen Geschichte<br />

Marcel de Groot, Geschäftsführer der Schwulenberatung <strong>Berlin</strong> gGmbH<br />

Vor rund zehn Jahren wurde im ›Netzwerk Anders Altern‹ der<br />

Schwulenberatung <strong>Berlin</strong> die Idee zu einem gemeinschaftlichen<br />

<strong>Wohn</strong>projekt für schwule Senioren geboren. Nach 6-jähriger<br />

Vorbereitung und 18-monatiger Umbauzeit konnte im<br />

Juni 2012 der Lebensort Vielfalt eröffnet werden.<br />

Als »Altersheim für Schwule« titulierte die Presse häufig das Haus<br />

in der Niebuhrstraße 59/60 in Charlottenburg. Doch lediglich<br />

60 Prozent der Bewohner sind schwule Männer über 55 Jahre.<br />

Ein Fünftel sind jüngere schwule Männer und ein weiteres Fünftel<br />

Frauen. Zusätzlich gibt es eine betreute <strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />

für pflegebedürftige schwule Männer mit insgesamt acht Plätzen,<br />

einem professionellen Pflegedienst rund um die Uhr und<br />

ehrenamtlichen Helfern.<br />

Es sollte ein diskriminierungsfreies Umfeld entstehen, wo<br />

Schwul-Sein selbstverständlich ist. Gerade ältere schwule Männer<br />

mit den jahrelangen Diskriminierungserfahrungen befürchten<br />

diese in herkömmlichen Einrichtungen. <strong>Der</strong>zeit ist der<br />

jüngste Bewohner 32 Jahre alt, der älteste 85. Die Bewohner können<br />

sich bei Bedarf an die Einrichtung wenden, für die Bewohner<br />

der Pflegewohngemeinschaft stehen ehrenamtliche Helfer<br />

zur Verfügung.<br />

Einzigartig in Europa<br />

Mit im Haus ist auch die Schwulenberatung<br />

<strong>Berlin</strong> mit ihrem<br />

Beratungs-, Therapie- und Betreuungsangebot<br />

und eine queere Bibliothek.<br />

Im Erdgeschoss befindet<br />

sich auf 280 Quadratmetern das<br />

Café-Restaurant »wilde Oscar«, das ein Integrationsbetrieb ist.<br />

Hier ist Raum für kulturelle und gesellschaftliche, aber auch private<br />

Veranstaltungen und im Sommer lädt die sonnige Terrasse<br />

zum Verweilen ein.<br />

Selbst für Europa ist das Haus einzigartig und seit der Eröffnung<br />

besuchten es zahlreiche Interessierte aus dem In- und<br />

Ausland. Mit diesem Projekt will die Schwulenberatung <strong>Berlin</strong><br />

nicht nur die geeignete psychosoziale Versorgung für schwule<br />

Männer sicherstellen und verbessern, sondern gleichzeitig anderen<br />

Schwulen und Lesben Mut machen und zur Nachahmung<br />

anregen.<br />

Aufgrund der großen Nachfrage – die Warteliste umfasst mehr<br />

als 250 Namen – könnte es durchaus sein, dass der »Lebensort<br />

Vielfalt« nicht das einzige <strong>Wohn</strong>projekt dieser Art bleibt.<br />

Herzliche Begrüßung im Lebensort Vielfalt,<br />

Foto: Schwulenberatung <strong>Berlin</strong> gGmbH<br />

»Es ist mir wichtig, dass jemand da ist,<br />

der sich im Notfall um mich kümmert.«<br />

Peter Controweit (69), Bewohner<br />

»Viele von uns haben keine Kinder,<br />

wollen im Alter aber nicht alleine sein.«<br />

Klaus-Dieter Spangenberg (49), Bewohner<br />

Das Haus in Zahlen<br />

Das fünfstöckige Haus aus den<br />

1930er Jahren wurde zuletzt als<br />

Kindertagesstätte genutzt. Die<br />

Schwulenberatung <strong>Berlin</strong> erwarb<br />

2009 die Immobilie und ließ sie<br />

2011/12 komplett und barriere frei<br />

umbauen. Es entstanden 24 <strong>Wohn</strong>ungen<br />

zwischen 33 und 80 Quadratmeter Größe, die alle über<br />

einen Balkon verfügen. Vier der <strong>Wohn</strong>ungen sind Hartz-IV-<br />

Empfängern vorbehalten. Die Pflegewohngemeinschaft bietet<br />

auf 250 Quadratmetern Platz für acht Bewohner.<br />

Für Kauf und Umbau musste die Schwulenberatung <strong>Berlin</strong><br />

rund sechs Millionen Euro aufbringen. Die Hälfte davon kam<br />

über die Stiftung Deutsche Klassenlotterie <strong>Berlin</strong>.<br />

i<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Schwulenberatung <strong>Berlin</strong> gGmbH<br />

Niebuhrstraße 59/60 | 10629 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–23 36 90 70<br />

info@schwulenberatungberlin.de<br />

www.lebensort-vielfalt.de<br />

<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 31


Ambulante <strong>Wohn</strong>gemeinschaften für<br />

Menschen (nicht nur) mit Demenz<br />

Von Andrea von der Heydt<br />

Sind ambulante <strong>Wohn</strong>gemeinschaften (WGs) eine Alternative<br />

für Menschen, die Pflege und Betreuung benötigen sowie für<br />

deren Angehörige? Andrea von der Heydt, Vorsitzende des Vereins<br />

Selbstbestimmtes <strong>Wohn</strong>en im Alter (SWA), schildert ihre<br />

nicht nur persönlichen Erfahrungen. Sie ist überzeugt von der<br />

Idee der ambulanten WG, betont jedoch, dass es vieler Verbesserungen<br />

und einer Menge an Aufklärung bedarf auf dem Weg,<br />

diese <strong>Wohn</strong>form als Alternative empfehlen zu können. Es gibt<br />

noch viel zu tun.<br />

Als ich meine Mutter 2007 aus München nach <strong>Berlin</strong> holte gab<br />

es in <strong>Berlin</strong> bereits an die 150 ambulant betreute WGs für Menschen<br />

mit Demenz. In den anderen Bundesländern stand diese<br />

<strong>Wohn</strong>form zu diesem Zeitpunkt noch nicht so sehr im Fokus<br />

oder war gerade erst dabei, sich zu entwickeln. Heute gibt es in<br />

<strong>Berlin</strong> an die 450 ambulant betreute WGs. Einerseits eine erfreuliche<br />

Entwicklung, steht diese alternative <strong>Wohn</strong>form doch für<br />

die Chance auf mehr Selbstbestimmung und Individualität auch<br />

im Pflegefall oder einer Erkrankung an Demenz. Andrerseits hat<br />

sich gezeigt, dass diese rasante Entwicklung auch Schattenseiten<br />

hat, da die Kostenträger, vor allem aber die Nutzerinnen über<br />

nur wenige Instrumente verfügen, um ihre Ansprüche rechtlich<br />

einzufordern.<br />

Noch vor dem neuen <strong>Wohn</strong>teilhabegesetz<br />

Die erste WG, in die meine Mutter einzog, lag in einem barrierefrei<br />

umgebauten Altbau in Mitte, in der nette Bewohner beiderlei<br />

Geschlechts wohnten, die entweder engagierte Angehörige<br />

oder, in einem Fall, eine sehr engagierte rechtliche Betreuerin im<br />

Rücken hatten.<br />

Es gab jedoch einige Dinge, die dazu führten, dass wir Angehörigen<br />

und Betreuerinnen letztlich den Pflegedienst wechseln<br />

wollten: Die Türen waren immer verschlossen, die Abrechnungen<br />

des Haushaltsgeldes waren nicht transparent, Anschaffungen,<br />

Renovierungen et cetera wurden automatisch vom Pflegedienst<br />

getätigt. Vor allem aber wechselte ständig das Personal. Es<br />

arbeiteten nicht eingearbeitete Aushilfen in der WG. Meist nur<br />

eine Person war im Dienst. Es gab keine ständige Nachtwache.<br />

Andrea von der Heydt besucht ihre Mutter in der ambulanten <strong>Wohn</strong>gemeinschaft, Foto: Joanna Kosowska<br />

32


Trennung von Vermieter und Pflegeanbieter sinnvoll<br />

Viele Gespräche mit dem Pflegedienst folgten, die unsere<br />

Befürchtungen und Ängste um unsere Angehörigen nicht<br />

besänftigen konnten, da der Pflegedienst selbstgerecht und<br />

unkooperativ weiter so agierte wie bisher.<br />

Unser Plan, den Pflegedienst zu wechseln, scheiterte grandios,<br />

da sich der Vermieter weigerte, die leer werdenden Zimmer<br />

an Menschen zu vermieten, die über die Gemeinschaft<br />

vorgeschlagen wurden. Zynisch sprach er von einer »feindlichen<br />

Übernahme“ und leider gab es damals das <strong>Wohn</strong>teilhabegesetz<br />

(WTG) noch nicht, in der eine faktische Trennung von Pflegeanbieter<br />

und Vermieter festgeschrieben ist. Das WTG ist seit<br />

Juni 2010 in Kraft.<br />

Von der Verbraucherzentrale über die Heimaufsicht<br />

bis zum Senat – ohne Erfolg<br />

Meine Mitgliedschaft im SWA e. V. und die von dort erfahrene<br />

Unterstützung führten uns von der Verbraucherzentrale über die<br />

Heimaufsicht bis hin zum Senat, letztlich ohne Erfolg.<br />

In unserem Fall war die Konsequenz, dass meine Mutter in<br />

eine 8er-WG in Pankow umgezogen ist, in der die Türen nicht<br />

verschlossen werden müssen, weil ausreichend Personal (auch<br />

nachts) zur Verfügung steht. Vor allem aber versucht der Pflegedienst<br />

das Konzept der geteilten Verantwortung in einer<br />

ambulant betreuten WG gemeinsam mit den Angehörigen und<br />

Betreuerinnen zu leben.<br />

Gelebte Praxis sieht anders aus<br />

Meine Erfahrungen und meine Mitarbeit im SWA e. V. haben<br />

gezeigt, dass die gelebte Praxis oft weit entfernt ist von der<br />

ursprünglichen Idee. Das Konzept hinter den ambulant betreuten<br />

WGs, dass sich mehrere private Nutzer zusammentun, eine<br />

<strong>Wohn</strong>ung suchen und gemeinsam einen Pflegedienst beauftragen<br />

und als Auftraggebergemeinschaft das Heft in allen Belangen<br />

in der Hand behalten sowie ihre Rechte und Pflichten als Mieter<br />

wahrnehmen, ist wenig bekannt und wird dementsprechend nur<br />

in geringem Maße gelebt. Erschwerend kommt hinzu, dass es<br />

sich bei den WGs um privaten Raum handelt, Politik und Kostenträger<br />

(zu Recht) nur sehr zögerlich bereit sind, gesetzliche<br />

Bestimmungen oder Auflagen an die WGs zu knüpfen.<br />

szene rund um Pflege und ambulant betreute <strong>Wohn</strong>gemeinschaften<br />

gegründet mit der festen Überzeugung, dass diese<br />

<strong>Wohn</strong>form eine echte Alternative zu anderen Pflegeeinrichtungen<br />

sein kann. Voraussetzungen für eine gute Qualität in den<br />

WGs ist aber, dass alle Akteure ihre Rechte und Pflichten, das<br />

heißt ihre Rollen kennen und gemeinsam aushandeln, wie eine<br />

solche WG gestaltet sein soll.<br />

Gefahr des geschlossenen Mikrokosmos<br />

In diesem Spannungsbogen zwischen privater Sphäre und<br />

nutzer gerechter Betreuung und Pflege beziehungsweise Versorgung<br />

in einer solchen WG bewegt sich der SWA: Er formuliert<br />

Qualitätsstandards, bietet Beratungen, Austausch und Informationsveranstaltungen<br />

und berät gemeinsam mit Anbietern,<br />

Nutzern, Politik und Kostenträgern über mögliche Instrumente<br />

zur Umsetzung von Mindeststandards, ohne die eine solche WG<br />

sehr schnell zu einem geschlossenen Mikrokosmos werden kann.<br />

<strong>Der</strong> SWA fordert eine WG-Fachstelle in <strong>Berlin</strong>, die es in<br />

anderen Bundesländern bereits gibt. Nötig ist im Rahmen des<br />

WTG vor allem eine verbesserte Personalverordnung. Es müssen<br />

ein Personalschlüssel sowie Qualifikationsanforderungen an das<br />

Personal festgelegt werden.<br />

Bezahlbarer barrierefreier <strong>Wohn</strong>raum und mehr<br />

Ambulant betreute <strong>Wohn</strong>gemeinschaften oder <strong>Wohn</strong>formen<br />

können eine gute Alternative zu herkömmlichen Pflegeeinrichtungen<br />

sein, da sie dem Wunsch nach mehr Individualität und<br />

Selbstbestimmung entgegenkommen.<br />

Dies stellt aber hohe Anforderungen an alle Akteure, sollen<br />

WGs nicht zu Kleinstheimen mutieren. Bezahlbarer, barrierefreier<br />

<strong>Wohn</strong>raum, Mindeststandards in der Betreuung und<br />

Pflege, Rückhalt für die Nutzer durch Kostenträger und die<br />

öffentliche Hand in Form von Verordnungen und Rechtsvorschriften<br />

in Bezug auf ihre Nutzerrechte sind die Voraussetzungen<br />

für ein gutes Gelingen einer solchen <strong>Wohn</strong>form.<br />

Alle Akteure sollten ihre Rollen kennen<br />

<strong>Der</strong> Verein Selbstbestimmtes <strong>Wohn</strong>en im Alter – SWA e. V.<br />

wurde 2001 von einigen Pionieren aus der Anbieter- und Fachi<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Selbstbestimmtes <strong>Wohn</strong>en<br />

im Alter – SWA e. V.<br />

Werbellinstraße 42 | 12053 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–85 40 77 18<br />

verein@swa-berlin.de<br />

www.swa-berlin.de<br />

<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 33


»Meine schönsten Freunde sind hier« – die<br />

ungewisse Zukunft der WG Akazienstraße<br />

Von Martin Thoma<br />

»Die Bewohner wissen noch nicht, dass sie hier vielleicht wegmüssen.<br />

Wenn Sie mit ihnen sprechen, erwähnen Sie das bitte<br />

nicht.« Am großen Küchentisch der WG Akazienstraße spricht<br />

Helge Gehlhaar, pädagogischer Koordinator und stellvertretender<br />

Leiter Betreutes <strong>Wohn</strong>en bei Mosaik e. V. diese Bitte aus.<br />

Im <strong>Wohn</strong>zimmer haben sich unterdessen die zusammengefunden,<br />

über die gerade geredet wird: Joachim Garbrecht, Elke<br />

Zacherz, Barbara Wehner, Matthias Gabriel. Gabriel macht Zeichen<br />

durch die Glastür. Er muss heute Abend noch weg. Wir<br />

sollen uns mit der Vorbesprechung beeilen.<br />

Ein vertrautes Zuhause ist sehr wichtig<br />

Die Bewohner der WG Akazienstraße haben verschiedene geistige<br />

Behinderungen und Lernbehinderungen. Die meisten können<br />

nicht lesen und schreiben. Ihr Geld verwalten ihre Betreuer,<br />

sie bekommen ein Taschengeld. Sie benötigen Unterstützung im<br />

Alltag, zum Teil auch bei der Körperpflege. »Die <strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />

ist für viele von ihnen wie eine Familie«, sagt Helge Gehlhaar.<br />

Dass sie hier möglicherweise nicht bleiben können, würden<br />

sie nicht verstehen. Es würde ihnen Angst machen. Gehlhaar<br />

versteht es selbst nicht. »Gerade diese<br />

WG ist etwas Besonderes, weil hier<br />

ältere Menschen zusammenleben.<br />

Unser Ziel ist, dass sie ihre Fähigkeiten<br />

lange erhalten, dass sie gut am Leben<br />

teilhaben können und möglichst selbstständig ihren Alltag meistern.<br />

Ein vertrautes Zuhause ist dafür äußerst wichtig. Es wäre<br />

sehr schlecht, wenn sie hier wegziehen müssten. Im Idealfall sollten<br />

sie in dieser Gemeinschaft auch sterben können«, sagt er.<br />

Die fünf Bewohnerinnen und Bewohner, von denen vier gerade<br />

im <strong>Wohn</strong>zimmer auf das Ende unserer Vorbesprechung warten,<br />

sind zwischen 44 und 75 Jahre alt. Joachim Garbrecht ist<br />

der älteste. Er lebt hier seit Gründung der WG vor 20 Jahren.<br />

Damals kam er aus einer geschlossenen Anstalt in Bielefeld nach<br />

<strong>Berlin</strong>. 13 Jahre war er dort praktisch weggesperrt, zusammengewürfelt<br />

mit schweren Fällen. In der Akazienstraße begann ein<br />

neuer, besserer Abschnitt seines Lebens. Auch die Betreuer gehören<br />

zum Teil sehr lange dazu. Anna Giese, die heute vor Ort ist,<br />

schon 13 Jahre. Diese Konstanz brauchen die Bewohner.<br />

Als WG für Behinderte gebaut<br />

Die 220 Quadratmeter große <strong>Wohn</strong>ung, aus der Garbrecht,<br />

Die Menschen, für die<br />

die <strong>Wohn</strong>ung gebaut wurde, können<br />

sie heute nicht mehr bezahlen.<br />

Zacherz, Wehner und Gabriel vielleicht bald ausziehen müssen,<br />

war Teil des sozialen <strong>Wohn</strong>ungsbaus. Sie wurde genau zu dem<br />

Zweck, eine WG für Behinderte zu beherbergen, geschaffen.<br />

Vor fünf Jahren wechselte der Eigentümer. Innerhalb von vier<br />

Jahren hat der neue die Miete um fast ein Viertel erhöht, von<br />

2000 Euro im Oktober 2009 auf 2450 Euro zum jetzigen Zeitpunkt.<br />

Die Mieter sind an die Mietobergrenze des Sozialamts<br />

gebunden, die damit weit überschritten ist. Da alle Bewohner<br />

schwerbehindert sind und der Mosaik e. V. ein gemeinnütziger<br />

Träger, hat die Investitionsbank <strong>Berlin</strong> zunächst bis Ende 2014<br />

einen Antrag auf Mietausgleich genehmigt. Gezahlt wird die<br />

Differenz bis zur Höhe des Mietspiegels. Die Miete liegt allerdings<br />

über dem Mietspiegel. <strong>Der</strong> Mosaik e. V. muss zuzahlen.<br />

Die Zukunft der <strong>Wohn</strong>gemeinschaft Akazienstraße ist ungewiss.<br />

Die Menschen, für die die <strong>Wohn</strong>ung gebaut wurde, können sie<br />

heute nicht mehr bezahlen.<br />

Aus dem Heim in die <strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />

»Meine schönsten Freunde sind hier«, sagt Joachim Garbrecht.<br />

Während er spricht, schaut er mit leicht zur Seite geneigtem<br />

Kopf zu einem hin. Es wirkt abwartend und prüfend. Ganz<br />

anders tritt Matthias Gabriel auf. Er<br />

beherrscht den Raum nicht nur wegen<br />

seiner massigen Gestalt, er redet auch<br />

am meisten und am lautesten. Sein<br />

Händedruck zur Begrüßung ist fast<br />

schmerzhaft fest. Gabriel kam erst im letzten Jahr in die Akazienstraße<br />

und ist damit das neueste Mitglied der Gemeinschaft. Er<br />

erzählt, was ihm Herr Garbrecht erzählt hat – aus seiner Vergangenheit<br />

im Bielefelder Heim –, und dieser ergänzt die Berichte<br />

seines Mitbewohners mit langsam abnehmender Zurückhaltung.<br />

Sieben Selbstmorde erlebte er mit, immer wieder hatte er<br />

Anfälle, die eine Dreiviertelstunde lang dauern konnten. Seit er<br />

in der WG wohnt, bekommt er keine mehr. <strong>Der</strong> Umzug in die<br />

Akazienstraße muss eine Befreiung gewesen sein.<br />

»Samstag koche ich«<br />

Elke Zacherz hat bisher geschwiegen. Sie möchte eine Sache<br />

noch ausführlicher erklärt bekommen: »Woher sind sie?«, fragt<br />

sie. »Für wen schreiben Sie?« Als sie mit der Antwort einverstanden<br />

ist, sagt auch sie etwas. Nach dem Gespräch wird sie<br />

es sein, die noch einmal eigens durch die <strong>Wohn</strong>ung führt und<br />

dabei nicht vergisst, auf die leuchtend farbigen Bilder im Flur<br />

hinzuweisen, die sie gemalt hat. Elke Zacherz lebt hier seit sie<br />

34


Bewohner der WG Akazienstraße von Mosaik gGmbH, v. l. n. r.: Elke Zacherz, Matthias Gabriel, Joachim Garbrecht, Foto: Martin Thoma<br />

2005 bei ihren Eltern ausgezogen ist. Sie und Matthias Gabriel<br />

sind jünger als die anderen und gehen beide arbeiten. Gabriel<br />

in der Mosaik-Werkstatt am Paul-Lincke-Ufer, Zacherz in der<br />

Garten- und Landschaftspflege. Die täglichen Aufgaben in der<br />

WG verteilen Elke Zacherz und die anderen immer morgens<br />

gemeinsam am großen Küchentisch. Am Wochenende essen alle<br />

zusammen und man macht öfter gemeinsame Ausflüge. »Samstag<br />

koche ich«, sagt Matthias Gabriel.<br />

Tagsüber sind Anna Giese oder eine ihrer Kolleginnen oder Kollegen<br />

da, nachts bleiben die Bewohner unter sich. Elke Zacherz<br />

erzählt, wie ein Mitbewohner in einer Nacht einen Anfall bekam<br />

und sie die Feuerwehr gerufen hat. Sie ist stolz darauf, in der<br />

schwierigen Situation überlegt gehandelt zu haben.<br />

»Mir gefällt es hier«<br />

Barbara Wehner gehört wie Herr Garbrecht zum alten Eisen in<br />

der WG – seit 17 Jahren ist sie dabei. Sie redet weniger als die<br />

anderen und möchte nicht fotografiert werden. Doch was sie<br />

sagt, sagt sie mit Bestimmtheit: »Mir gefällt es hier. Und zusammen<br />

mit Anna einkaufen kann ich hier.« Auch Elke Zacherz mag<br />

ihren Kiez im Großen und Ganzen. Sie findet besonders angenehm,<br />

dass das Schwimmbad, in das sie regelmäßig geht, in der<br />

Nähe liegt. Doch sie äußert sich auch kritisch: »Nicht dass ich<br />

hier nicht gern wohne, aber mir ist es zu unruhig geworden. Die<br />

Autos sind laut, es gibt so viele Leute und zu viele Cafés. Früher<br />

war es ruhiger.« Joachim Garbrecht sieht das anders. Dieser Kiez<br />

ist seine Heimat: »Die Geschäfte, die U-Bahnen, die Leute – ich<br />

brauche das.«<br />

i<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Das Mosaik e. V. –<br />

<strong>Wohn</strong>gemeinschaft<br />

Akazienstraße 6 | 10823 <strong>Berlin</strong><br />

Anna Giesen<br />

Tel 030–787 50 75<br />

a.giesen@mosaik-berlin.de<br />

www.mosaik-berlin.de<br />

<strong>Wohn</strong>angebote <strong>Paritätische</strong>r Träger 35


Doppelt betroffen<br />

Von Jens Kohlmeier, Vista gGmbH<br />

Vor sechs Jahren ging bei Melanie* gar nichts mehr. Heroinabhängig,<br />

Arbeit verloren, Schulden, <strong>Wohn</strong>ung weg – das ganze<br />

Programm. Mit 27 Jahren gesundheitlich am Ende, finanziell<br />

ruiniert, sozial erledigt und beruflich ohne jede Chance.<br />

Irgendwann hatte sie vergessen wie sich Hoffnung anfühlt.<br />

Seit 2009 lebt sie im Betreuten <strong>Wohn</strong>en von Vista gGmbH und<br />

heute, mit 33, geht es ihr besser als je zuvor: Sie wird stabil substituiert,<br />

hat ihre Ausbildung zur Bürokauffrau erfolgreich abgeschlossen<br />

und ist seit zwei Monaten vollzeitbeschäftigt, auch ihre<br />

Schulden hat sie im Griff. Sie ist bereit, wieder unabhängig zu<br />

leben und freut sich auf eine eigene <strong>Wohn</strong>ung.<br />

Kündigung in Neukölln aufgrund von Eigenbedarf<br />

Melanies Geschichte zeigt, dass das Betreute <strong>Wohn</strong>en vor allem<br />

in Verbindung mit der psychosozialen Betreuung ein Hilfsangebot<br />

ist, das Menschen mit Suchtproblemen nachhaltige und<br />

umfassende Unterstützung ermöglicht. Vista bietet in acht Einrichtungen<br />

in Friedrichshain-Kreuzberg, Pankow, Mitte, Neukölln<br />

und Marzahn-Hellersdorf Betreutes <strong>Wohn</strong>en nach § 53<br />

und/oder § 67 SGB XII. In insgesamt 44 vom Träger dafür angemieteten<br />

<strong>Wohn</strong>ungen sind derzeit 83 Klientinnen und Klienten<br />

untergebracht.<br />

Die Auswirkungen des zunehmenden Mangels an bezahlbarem<br />

<strong>Wohn</strong>raum in der Stadt, gerade innerhalb des S-Bahn-<br />

Rings, spüren auch die Vista-<strong>Wohn</strong>projekte immer deutlicher.<br />

Aktuell hat das <strong>Wohn</strong>projekt Neukölln aufgrund einer Eigenbedarfskündigung<br />

eine <strong>Wohn</strong>ung aufgeben müssen und damit<br />

zwei Betreuungsplätze verloren, die noch nicht ersetzt werden<br />

konnten.<br />

*Name geändert<br />

lisiert hat, dass sie aus dem Betreuten <strong>Wohn</strong>en entlassen werden<br />

könnten, finden immer weniger bezahlbaren eigenen <strong>Wohn</strong>raum<br />

oder werden aufgrund ihrer Biografie von Vermietern abgelehnt.<br />

»In letzter Zeit kommt das häufiger vor, dass die Betreuungsdauer<br />

sich durch die erfolglose <strong>Wohn</strong>ungssuche verlängert. Im<br />

Endeffekt kann der vorhandene <strong>Wohn</strong>raum so immer weniger<br />

für Neuaufnahmen genutzt werden« so Anneke Groth, Fachbereichsleiterin<br />

»<strong>Wohn</strong>en und Betreuung« der Vista gGmbH.<br />

Angst um <strong>Wohn</strong>ung gekoppelt mit Suchtproblemen<br />

Auch in der psychosozialen Betreuung gewinnt das Thema<br />

<strong>Wohn</strong>raumerhalt und -erlangung zunehmend an Bedeutung.<br />

»Immer mehr Klientinnen und Klienten haben Angst um ihre<br />

<strong>Wohn</strong>ung. Neben der individuellen Suchtproblematik, mit der<br />

ohnehin schon eine Vielzahl belastender Begleiterscheinungen<br />

einhergehen, bekommt Obdachlosigkeit gerade für die Menschen<br />

mit denen wir arbeiten, eine neue, ganz reale und die soziale<br />

Existenz bedrohende Qualität«, berichtet Marc Schroeder,<br />

Einrichtungsleiter der <strong>Wohn</strong>projekte Neukölln und fügt hinzu:<br />

»Oft wird die <strong>Wohn</strong>ungssuche zum Ende der psychosozialen<br />

Betreuung das alles bestimmende Thema und der psychische<br />

Druck, der daraus resultiert, fordert gerade unseren Klienten<br />

viel ab.«<br />

Das altbekannte Gefühl von<br />

Ausweglosigkeit wird wachgerufen<br />

Schon seit einem halben Jahr ist Melanie auf der Suche nach<br />

einer <strong>Wohn</strong>ung, aber mit ihrer Geschichte und vier Seiten<br />

Schufa: keine Chance. Eigentlich mag sie heute nicht mehr an<br />

damals denken, aber die Erfahrungen in den letzten sechs Monaten<br />

haben dieses altbekannte Gefühl von Ausweglosigkeit wieder<br />

wachgerufen. Nach unzähligen Absagen bleibt ihr nur eine<br />

Chance: Ihr Vater aus Norddeutschland, mit dem sie zum Glück<br />

wieder ein gutes Verhältnis hat, wird versuchen eine <strong>Wohn</strong>ung<br />

zu mieten, in die sie dann – wenn alles klappt – als Untermieterin<br />

einziehen kann.<br />

Entwurzelung und Verlust von<br />

sozialen Kontakten drohen<br />

Hält die momentane Entwicklung auf dem <strong>Berlin</strong>er <strong>Wohn</strong>ungsmarkt<br />

an, ist zu befürchten, dass viele <strong>Wohn</strong>projekte früher<br />

oder später zum Umzug in Außenbezirke oder an den Stadtrand<br />

gezwungen werden. »Gerade für unsere Klienten würde ein<br />

Umzug als Entwurzelung erlebt werden und zusätzliche Belastungen<br />

mit sich bringen. Über lange Zeit aufgebaute Sozialkontakte<br />

im Kiez oder im Bezirk gehen verloren und die ohnehin<br />

schon eingeschränkte Teilhabe am sozialen Leben wird so noch<br />

weiter beschnitten. Menschen, deren Situation sich soweit stabii<br />

Kontakt<br />

und<br />

Kooperationspartner<br />

Vista – Verbund für integrative soziale<br />

und therapeutische Arbeit gGmbH<br />

Alte Jakobstraße 85/86 | 10179 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–20 08 99-38<br />

vista@vistaberlin.de<br />

www.vistaberlin.de<br />

36


Impressum<br />

Herausgeber<br />

<strong>Paritätische</strong>r Wohlfahrtsverband<br />

Landesverband <strong>Berlin</strong> e. V.<br />

Brandenburgische Straße 80<br />

10713 <strong>Berlin</strong><br />

Tel 030–860 01-0<br />

Fax 030–86 00 11 10<br />

info@paritaet-berlin.de<br />

www.paritaet-berlin.de<br />

Vorsitzende<br />

Prof. Barbara John<br />

Geschäftsleitung<br />

Oswald Menninger<br />

Elke Krüger (stv.)<br />

Verantwortlich für Text- und Bildredaktion<br />

Rita Schmid, Pressestelle <strong>Paritätische</strong>r <strong>Berlin</strong><br />

Danksagung<br />

Wir danken den beteiligten Mitgliedsorganisationen, die Textbeiträge<br />

geliefert und Fotos ermöglicht haben.<br />

Unser Dank geht auch an die ehrenamtlichen <strong>Paritätische</strong>n<br />

Fotoreporter Michael Janda und Frederic Brueckel für ihren Einsatz.<br />

Genderform<br />

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet die Redaktion auf eine<br />

Genderschreibweise.<br />

Die Bezeichnung von Personengruppen bezieht die weibliche Form<br />

und die Transgender-Form jeweils ein.<br />

Layout<br />

polyform, www.polyform-net.de<br />

Titel »<strong>Wohn</strong>(T)<strong>räume</strong>«<br />

<strong>Der</strong> Titel des Themenheftes »<strong>Wohn</strong>(T)<strong>räume</strong>« ist mit der freundlichen<br />

Zustimmung von Gangway der gleichnamigen Fotowanderausstellung<br />

entnommen. Heike Sievers, Straßensozialarbeiterin bei Gangway e. V.,<br />

begegnet täglich Menschen, die auf der Straße leben. Sie lädt mit der<br />

Fotoausstellung ein, an ihren Einblicken teilzuhaben. Die Ausstellung<br />

entstand mit Unterstützung und in Zusammenarbeit mit dem Zentrum<br />

für sexuelle Gesundheit und Familienplanung Charlottenburg-<br />

Wilmersdorf und Gangway e. V.<br />

Titelfoto<br />

Schöner <strong>Wohn</strong>en in Marzahn, Foto: Frederic Brueckel<br />

Druck<br />

USE gGmbH, www.u-s-e.org<br />

Auflage<br />

2500<br />

<strong>Berlin</strong>, Juni 2013

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