22.05.2014 Aufrufe

Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz 1-2011 - Philologenverband ...

Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz 1-2011 - Philologenverband ...

Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz 1-2011 - Philologenverband ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

10<br />

VORTRAG Gymnasialtag 2010<br />

dem emeritierten Züricher Bildungsforscher<br />

und Nestor der deutschen<br />

Bildungsstatistik. Fend hat nüchtern<br />

festgestellt, dass auch die Schüler aus<br />

bildungsfernen Schichten, die am unteren<br />

Spektrum der schulischen Leistungsmöglichkeiten,<br />

am unterem<br />

Spektrum der Schularten und damit<br />

auch am unteren Spektrum der beruflichen<br />

Möglichkeiten positioniert s<strong>in</strong>d,<br />

Bildungs- und Lebenschancen haben,<br />

die ihnen vor wenigen Jahrzehnten<br />

noch verschlossen gewesen wären.<br />

Auch Menschen mit Bildungsabschlüssen<br />

weit unterhalb des Abiturs<br />

haben ihren Anteil am Wohlstand erhalten;<br />

und damit, so formuliert Fend<br />

zu Recht, »verliert das erreichbare Bildungs-<br />

und Berufsniveau an lebensgeschichtlicher<br />

Dramatik«. Wir müssen<br />

also ke<strong>in</strong> besonders schlechtes Gewissen<br />

haben, wenn wir Schüler mit e<strong>in</strong>em<br />

Hauptschulabschluss entlassen,<br />

denn auch diese Schüler haben die<br />

Option, e<strong>in</strong> vernünftiges und zufriedenstellendes<br />

Leben zu führen, um<br />

e<strong>in</strong>mal die m<strong>in</strong>imalistische PISA-Def<strong>in</strong>ition<br />

der Aufgabe von Schule aufzugreifen.<br />

(2) Schulstrukturen<br />

Aber selbst wenn die Bildungsungerechtigkeit<br />

tatsächlich so dramatisch<br />

und folgenreich wäre, wie es sich <strong>in</strong><br />

der öffentlichen Diskussion darstellt,<br />

dann stellt sich immer noch die Frage:<br />

was kann man denn tun? Bei nüchterner<br />

Betrachtung kommt man zu dem<br />

Ergebnis: fast nichts. Jedenfalls »fast<br />

nichts« , wenn man Bildungspolitiker,<br />

Bildungswissenschaftler oder Bildungsjournalist<br />

ist; e<strong>in</strong>iges allerd<strong>in</strong>gs,<br />

wenn man Lehrer<strong>in</strong> oder Lehrer an e<strong>in</strong>er<br />

Schule ist. Darauf will ich am Rande<br />

kurz e<strong>in</strong>gehen. Schließlich geht es<br />

im <strong>Gymnasium</strong> auch um die Lehrer.<br />

Im Vorfeld der gerade bevorstehenden<br />

PISA-Publikation hat es <strong>in</strong> Österreich,<br />

mehr als <strong>in</strong> Deutschland, heftige Vorabdiskussionen<br />

über die zu erwartenden<br />

Ergebnisse gegeben. In der Wiener<br />

Zeitung »Die Presse« las ich vorgestern<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kommentar den bemerkenswerten,<br />

<strong>in</strong> Deutschland noch<br />

nicht richtig angekommenen Satz: »Jeder<br />

e<strong>in</strong>zelne Lehrer, der nicht im<br />

Burn-out oder <strong>in</strong> der <strong>in</strong>neren Freizeitemigration<br />

endet, hat für die Qualität<br />

unseres Schulsystems mehr Bedeutung<br />

als jedes noch so geniale soziologische<br />

Argument für welches Organisationspr<strong>in</strong>zip<br />

auch immer.« Wir können<br />

noch so viele PISA-Studien haben<br />

und noch so viele Schulstrukturreformen<br />

haben, aber jeder e<strong>in</strong>zelne Lehrer<br />

leistet mehr für den Bestand e<strong>in</strong>es<br />

Schulsystems als e<strong>in</strong>e Schulstrukturreform«.<br />

So ist es wohl, und die erste<br />

Frage, die sich e<strong>in</strong>em Schulsystem<br />

stellt, ist die nach der Ausbildung, der<br />

Auswahl, der Qualifizierung, der Pflege<br />

und der Weiterbildung der Lehrkräfte<br />

<strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Schularten.<br />

Ansonsten s<strong>in</strong>d die E<strong>in</strong>flussmöglichkeiten<br />

der Schule auf die tatsächliche<br />

oder verme<strong>in</strong>tliche »Bildungsungerechtigkeit«<br />

nach me<strong>in</strong>er Auffassung<br />

weitgehend ausgereizt. Ungerechtigkeit<br />

ist, das weiß man schon länger,<br />

ke<strong>in</strong>e Frage des Schulsystems, sondern<br />

e<strong>in</strong>e des Gesellschaftssystems.<br />

Gegen die Disparitäten im Bildungswesen<br />

hat man sehr wenige Interventionsmöglichkeiten,<br />

das hat die westdeutsche<br />

wie die ostdeutsche Bildungspolitik<br />

gezeigt, die ja seit fast<br />

fünfzig Jahren kaum etwas anderes so<br />

sehr versucht hat, wie »Gerechtigkeit«<br />

im Bildungswesen herzustellen.<br />

Im Laufe dieser langen Experimentalgeschichte<br />

des deutschen Schulwesens<br />

hat man sich angewöhnt, Schulstrukturen<br />

zu verändern. Nach e<strong>in</strong>er<br />

gewissen Ruhephase <strong>in</strong> den neunziger<br />

Jahre erleben wir es fast wieder<br />

schuljährlich, dass neue Schulstrukturen<br />

<strong>in</strong> den Bundesländern e<strong>in</strong>geführt<br />

werden mit der Maßgabe, damit die<br />

Bildungsgerechtigkeit zu erhöhen. Ich<br />

nenne nur e<strong>in</strong> Beispiel aus Ihrem eigenen<br />

Bundesland Rhe<strong>in</strong>land-<strong>Pfalz</strong>.<br />

Hier wurde 1996 die, wie mir sche<strong>in</strong>t,<br />

durchaus vernünftig konzipierte »Duale<br />

Oberschule« als Schulversuch e<strong>in</strong>geführt.<br />

Sie wurde zehn Jahre lang erprobt;<br />

sie war erfolgreich – hat es je <strong>in</strong><br />

Deutschland e<strong>in</strong>en erfolglosen Schulversuch<br />

gegeben? –, sie wurde deshalb<br />

2006/2007 als Regelschule e<strong>in</strong>geführt<br />

– und sie wurde 2009/2010 wieder<br />

abgeschafft, weil sie aufgegangen<br />

ist <strong>in</strong> der Realschule plus. So sieht<br />

moderne Bildungspolitik <strong>in</strong> Deutschland<br />

aus, ke<strong>in</strong>eswegs nur <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-<strong>Pfalz</strong>.<br />

Auch anderswo zeichnen sich Umstrukturierungen<br />

des Schulwesens ab,<br />

die dem erklärten politischen Zweck<br />

dienen, »mehr Gleichheit« zu erzeugen.<br />

In Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen konnten<br />

wir gerade die Entstehung e<strong>in</strong>er neuen<br />

Schulart beobachten, die auch von<br />

der überregionalen Presse mit lebhafter<br />

Aufmerksamkeit verfolgt wurde: Es<br />

handelt sich um das »halbe <strong>Gymnasium</strong>«.<br />

Als solche wird uns die erste, gerade<br />

<strong>in</strong> Ascheberg im Münsterland <strong>in</strong><br />

Gründung begriffene »Geme<strong>in</strong>schaftsschule«<br />

Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalens von ihrem<br />

Bürgermeister vorgestellt. E<strong>in</strong><br />

halbes <strong>Gymnasium</strong> bedeutet: Schulangebote<br />

bis zur zehnten Klasse für<br />

Haupt- und Realschüler auf »gymnasialem<br />

Niveau«. Sie alle, die Sie hier<br />

sitzen, s<strong>in</strong>d Praktiker genug, um zu<br />

wissen, was der Öffentlichkeit gerne<br />

vorenthalten wird: dass nämlich solche<br />

Schulversuche seitens e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>teressierten<br />

Landesregierung massiv<br />

protegiert werden <strong>in</strong> Form von Ausstattungen,<br />

Klassengrößen, Lehrer-<br />

Schüler-Relationen, von denen andere<br />

Schulen nur träumen können. So<br />

auch hier: Den Pressemitteilungen<br />

kann man entnehmen, dass <strong>in</strong> dieser<br />

Schule die Zahl der Hauptschullehrer<br />

mehr als verdoppelt wird; aus ur-<br />

Heft 1/<strong>2011</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!