Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz 1-2011 - Philologenverband ...
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VORTRAG Gymnasialtag 2010<br />
Herausforderung noch nicht gestellt,<br />
den aktuell kursierenden Begriff der<br />
»Bildungsgerechtigkeit« <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternationalen<br />
theoretischen Diskurszusammenhang<br />
zu diskutieren und<br />
ihn damit wissenschaftsfähig zu machen.<br />
Damit wurde noch nicht begonnen,<br />
weil das die politische Suggestionskraft<br />
des Begriffes schnell zerstören<br />
würde. Ich kann das hier nur <strong>in</strong><br />
wenigen Sätzen anreißen, und verweise<br />
auf me<strong>in</strong> gerade erschienenes<br />
Buch über »Bildungsgerechtigkeit«,<br />
besonders das zweite Kapitel. Festhalten<br />
will ich hier nur, dass die deutsche<br />
Diskussion über »Bildungsgerechtigkeit«<br />
auf vormoderne Vorstellungen<br />
von Gerechtigkeit fixiert ist.<br />
Sie geht e<strong>in</strong>erseits davon aus, dass die<br />
Menschen nicht nur »vor dem Gesetz«,<br />
sondern auch <strong>in</strong> anderen H<strong>in</strong>sichten<br />
gleich se<strong>in</strong> – oder »gleich» gemacht<br />
werden – sollen – e<strong>in</strong>e Vorstellung,<br />
die immer die Versuchung zum<br />
Totalitarismus mit sich führt. Zugleich<br />
geht diese Gerechtigkeitsvorstellung<br />
von e<strong>in</strong>em vormodernen Staatsverständnis<br />
aus, das den Staat als Produzenten<br />
von Gerechtigkeit sieht, <strong>in</strong>dem<br />
er paternalistisch Leistungen gewährt<br />
oder verweigert.<br />
<strong>Das</strong> ist weit entfernt vom aktuellen<br />
Diskussionsstand. Die moderne Gerechtigkeitsdiskussion<br />
wurde nach<br />
Rawls’ Buch Theory of Justice besonders<br />
von Michael Walzer und David<br />
Miller geprägt, die e<strong>in</strong>en pragmatischen,<br />
auf die reale Situation der modernen<br />
Wohlstandsgesellschaft bezogene<br />
Diskussion <strong>in</strong>itiiert haben. Im<br />
Kern laufen ihre Überlegungen darauf<br />
h<strong>in</strong>aus, dass es »Sphären der Gerechtigkeit«<br />
– so heißt das Buch Millers –<br />
gibt, dass also <strong>in</strong> verschiedenen Bereichen<br />
der Gesellschaft verschiedene<br />
Vorstellungen von Gerechtigkeit gelten<br />
und gelten müssen. Miller unterscheidet<br />
die Pr<strong>in</strong>zipien des »Bedarfs«,<br />
der »Leistung« und der »Gleichheit«.<br />
<strong>Das</strong> Pr<strong>in</strong>zip des Bedarfs wird dort die<br />
größte Anerkennung f<strong>in</strong>den, wo sich<br />
Geme<strong>in</strong>schaften nach Grundsätzen<br />
der Solidarität oder der emotionalen<br />
Nähe konstituieren, <strong>in</strong> der Familie etwa<br />
oder e<strong>in</strong>em Vere<strong>in</strong>. <strong>Das</strong> Pr<strong>in</strong>zip<br />
der Leistung wird besonders <strong>in</strong> Wirtschaftsunternehmen<br />
gelten; und das<br />
Pr<strong>in</strong>zip der Gleichheit gilt vor allem<br />
dann, wenn der Staat se<strong>in</strong>en Bürgern<br />
gegenübertritt – denn »vor dem Gesetz»,<br />
und nur dort, s<strong>in</strong>d alle Menschen<br />
gleich.<br />
Es ist offensichtlich, dass sich diese<br />
Pr<strong>in</strong>zipien <strong>in</strong> der Schule <strong>in</strong> besonderer<br />
Weise vermischen, und hier besteht<br />
noch e<strong>in</strong>iger Diskussion- und<br />
Klärungsbedarf. Denn <strong>in</strong> der Schule<br />
muss der <strong>in</strong>dividuelle Bedarf des e<strong>in</strong>zelnen<br />
Schülers ebenso berücksichtigt<br />
werden wie ihm e<strong>in</strong>e Leistung abgefordert<br />
werden muss; und am Ende<br />
müssen alle Schüler auch noch<br />
»gleich» behandelt werden, ke<strong>in</strong>er<br />
darf bevorzugt und ke<strong>in</strong>er darf benachteiligt<br />
werden. Schließlich muss<br />
die Schule auch noch Noten vergeben<br />
und Schüler damit <strong>in</strong> Rangordnungen<br />
platzieren.<br />
<strong>Das</strong>s diese Komplexität der Gerechtigkeitsproblematik<br />
<strong>in</strong> der deutschen Bildungsdiskussion<br />
missachtet und sie<br />
auf die – eigentlich gegenläufigen –<br />
Konzepte der »Gleichheit« und der »<strong>in</strong>dividuellen<br />
Förderung« reduziert<br />
wird, hat sehr weitreichende Folgen,<br />
von denen auch das <strong>Gymnasium</strong> als<br />
Schulart unmittelbar betroffen ist.<br />
Denn <strong>in</strong> der bildungspolitischen Praxis<br />
führt das dazu, dass man die Gerechtigkeit<br />
e<strong>in</strong>es Bildungssystems daran<br />
misst, dass möglichst viele möglichst<br />
hohe Abschlüsse erreichen.<br />
<strong>Das</strong> ist das Konzept der OECD, der Organisation<br />
for Economic Co-operation<br />
and Development, von der eigentlich<br />
niemand so recht weiß, warum sie e<strong>in</strong>en<br />
so durchschlagenden E<strong>in</strong>fluss auf<br />
die deutsche Bildungspolitik gewonnen<br />
hat. In den OECD-Modellen zur<br />
quantitativen Messung und Bewertung<br />
von nationalen Bildungssystemen<br />
spielt die Studienanfängerquote,<br />
und damit die ihr vorangehende Abiturientenquote,<br />
e<strong>in</strong>e zentrale Rolle.<br />
Ganz neu ist das nicht. Seit langem,<br />
seit den sechziger Jahren, herrscht<br />
auch <strong>in</strong> Deutschland sowohl <strong>in</strong> der<br />
Bildungspolitik wie <strong>in</strong> der Bildungswissenschaft<br />
die Vorstellung, dass die<br />
Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit<br />
e<strong>in</strong>es Schulsystems sich dar<strong>in</strong> erwei-<br />
Heft 1/<strong>2011</strong>