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Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz 1-2011 - Philologenverband ...

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12<br />

VORTRAG Gymnasialtag 2010<br />

wesen geraten hat. Dazu hat er guten<br />

Grund, denn se<strong>in</strong>e eigenen Forschungen<br />

liefern plausible Belege zu der<br />

Annahme, dass das deutsche Schulwesen<br />

ke<strong>in</strong>eswegs so ungerecht ist,<br />

wie ihm unterstellt wird. In e<strong>in</strong>er<br />

Langzeitstudie »LifE« – »Lebensverläufe<br />

von der späten K<strong>in</strong>dheit <strong>in</strong>s frühe<br />

Erwachsenenalter« – hat er die <strong>in</strong>dividuellen<br />

Bildungslaufbahnen über<br />

zwanzig Jahre h<strong>in</strong>weg verfolgt und ist<br />

zu e<strong>in</strong>em ganz erstaunlichen Befund<br />

gekommen – zu der Aussage, dass das<br />

deutsche Schulsystem sehr viel flexibler<br />

ist, als ihm geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> unterstellt<br />

wird. Fend konnte feststellen, dass<br />

dreißig Prozent der Schüler, welche<br />

um 1980 <strong>in</strong> der neunten Klasse e<strong>in</strong>e<br />

Hauptschule besuchten, im Alter von<br />

35 Jahren, also zwanzig Jahre später,<br />

e<strong>in</strong>en höheren als e<strong>in</strong>en Hauptschulabschluss<br />

aufweisen konnten; analog<br />

dazu erhielten auch dreißig Prozent<br />

der Realschüler e<strong>in</strong>en höheren als<br />

den Realschulabschluss, während 25<br />

Prozent der Gymnasiasten der neunten<br />

Klasse e<strong>in</strong>en niedrigeren Abschluss<br />

als das Abitur erhielten. <strong>Das</strong><br />

ist e<strong>in</strong>e bemerkenswerte empirische<br />

Revision der immer und immer wieder<br />

behaupteten »Durchlässigkeit<br />

nach unten«.<br />

Es besteht also großflächig die Möglichkeit,<br />

darauf will ich h<strong>in</strong>aus, zur<br />

Korrektur von Schullaufbahnen; e<strong>in</strong><br />

großer Teil der deutschen Schüler erfährt<br />

Bildungslaufbahnen, die über<br />

unser klassisches Verständnis vom gegliederten<br />

Bildungssystem h<strong>in</strong>ausgehen.<br />

Dieser strukturelle Aspekt des<br />

deutschen Schulwesens, der, so vermute<br />

ich, <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em anderen OECD-<br />

Land so ausgestaltet ist wie <strong>in</strong><br />

Deutschland, wird <strong>in</strong> der Diskussion<br />

über Bildungsungerechtigkeit völlig<br />

ignoriert. Es wird ignoriert, dass das<br />

deutsche Schulwesen nicht etwa<br />

»dreigliedrig« ist, sondern e<strong>in</strong>e unendliche<br />

Vielzahl von schulischen Bildungsmöglichkeiten,<br />

aber auch Möglichkeiten<br />

zum Nachholen von Bildungschancen<br />

anbietet.<br />

Es ist ja ke<strong>in</strong>eswegs immer nur e<strong>in</strong><br />

Signum des Scheiterns, wenn man e<strong>in</strong><br />

<strong>Gymnasium</strong> oder e<strong>in</strong>e Realschule verlässt<br />

und dann am Ende noch e<strong>in</strong>mal<br />

e<strong>in</strong>en Bildungsgang aufgreift und auf<br />

irgende<strong>in</strong>em der vielen Wege, die <strong>in</strong><br />

den e<strong>in</strong>zelnen Bundesländern zur<br />

Verfügung stehen, dann das nachholt,<br />

was zuvor versäumt wurde. Diese<br />

Möglichkeit des Nachholens, der Ausschöpfung<br />

von Optionen, die man ursprünglich<br />

<strong>in</strong> der eigenen Biographie<br />

nicht gehabt oder nicht wahrgenommen<br />

hat, ist e<strong>in</strong> zentrales Strukturmerkmal<br />

des deutschen Schulwesens,<br />

das <strong>in</strong> der öffentlichen Wahrnehmung<br />

überhaupt nicht präsent ist – und<br />

wenn, dann allenfalls als e<strong>in</strong>e Notund<br />

Verlegenheitslösung. <strong>Das</strong> aber ist<br />

es nicht. Denn dieses »Nachholen des<br />

Versäumten« kann man auch als e<strong>in</strong>e<br />

anthropologische Grundfigur deuten,<br />

wie es Otto Friedrich Bollnow <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

gleichnamigen Aufsatz e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich<br />

beschrieben hat. Kurz gesagt: <strong>in</strong><br />

der vielgliedrigen, ausdifferenzierten<br />

und pluralistischen Struktur des deutschen<br />

Schulwesens, <strong>in</strong> der vor allem<br />

das Berufsschulwesen e<strong>in</strong>e maßgebliche<br />

Rolle spielt, hat jeder heute und<br />

seit Jahrzehnten schon die Möglichkeit,<br />

<strong>in</strong> jeder Phase des Jugend- und<br />

jungen Erwachsenenalters jede Schule<br />

zu besuchen und jeden Schulabschluss<br />

zu machen oder nachzuholen.<br />

Deshalb sollten wir uns nicht e<strong>in</strong>reden<br />

lassen, das deutsche Bildungswesen<br />

sei e<strong>in</strong>es der ungerechtesten der<br />

Welt. <strong>Das</strong> deutsche Schulwesen ist<br />

nicht e<strong>in</strong>es der ungerechtesten, sicher<br />

aber e<strong>in</strong>es der kompliziertesten der<br />

Welt – und kompliziert ist es gerade<br />

deshalb, weil es versucht, möglichst<br />

vielen Aspekten denkbarer Lebensläufe<br />

und Bildungslaufbahnen gerecht<br />

zu werden. Viele Probleme, die dem<br />

deutschen Schul- und Bildungswesen<br />

vorgeworfen werden, haben ihre Wurzeln<br />

gerade dar<strong>in</strong>, dass es versucht,<br />

im besonderen Maße »gerecht« zu<br />

se<strong>in</strong>.<br />

(3) Die Zukunft des <strong>Gymnasium</strong>s<br />

Drittens und abschließend stellt sich<br />

die Frage: Wo steht <strong>in</strong> diesem Gefüge<br />

e<strong>in</strong>es komplizierten Schulwesens das<br />

<strong>Gymnasium</strong> und welche Rolle wird es<br />

künftig spielen? Es lässt sich e<strong>in</strong>e Entwicklung<br />

beobachten, die seit langem<br />

manifest ist, aber weitgehend ignoriert<br />

wird: <strong>Das</strong> <strong>Gymnasium</strong> steht nicht unter<br />

Legitimationsdruck und erst recht<br />

nicht unter Existenzdruck; aber es<br />

steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Konkurrenzkampf der<br />

Schularten. Es muss sich mit anderen<br />

Schularten vergleichen lassen; mehr<br />

noch: sich ihnen gegenüber behaupten,<br />

und zwar aus e<strong>in</strong>em ganz e<strong>in</strong>fachen,<br />

wichtigen und <strong>in</strong> der öffentlichen<br />

Wahrnehmung immer noch<br />

nicht richtig präsenten Grund: <strong>Das</strong><br />

<strong>Gymnasium</strong> hat das Abiturmonopol<br />

verloren.<br />

Die »Hochschulzugangsberechtigung«,<br />

wie man es heute genauer nennen<br />

Heft 1/<strong>2011</strong>

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