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'Loccumer Pelikan' 2/2003 als pdf-Datei - Religionspädagogisches ...

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grundsätzlich<br />

5. Erst Zuspruch, dann Anspruch<br />

Man könnte es gewissermaßen <strong>als</strong> „essential” eines christlichen<br />

Erziehungsverständnisses formulieren: Anerkennung und<br />

Liebe kommen uns und unserem Handeln immer schon zuvor.<br />

Es ist nicht unser, uns womöglich gegenüber anderen<br />

Menschen noch besonders heraushebendes Vermögen, das uns<br />

zu moralischem Handeln befähigt. Hier geht es zuerst um<br />

Wahrnehmungsfähigkeit: Im Blick auf ein hilfsbedürftiges<br />

Menschenantlitz formuliert der Philosoph Hans Jonas in seinem<br />

Buch „Prinzip Verantwortung” seine moralische Grundregel<br />

wie folgt: „Schau hin – und du weißt.” 14 Ähnlich sagte<br />

es schon der Kirchenvater Augustinus: „Liebe, und tue was<br />

du willst.” Dem Hinschauen-Können geht freilich eine Erfahrung<br />

voraus: Selbst liebevoll angeschaut worden zu sein.<br />

Deshalb wird das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter um<br />

eine Verstehensdimension verkürzt, wenn es nur <strong>als</strong> moralische<br />

Beispiel- und Vorbildgeschichte gelesen wird. Durch die<br />

Figur des Samariters wird auch Christus selbst erkennbar <strong>als</strong><br />

das Ebenbild des sich seiner Kreatur zuwendenden Gottes.<br />

Mit Blick auf kleine Kinder wird evident, dass ohne liebevolle<br />

Zuwendung Liebesfähigkeit nicht wachsen kann. Es kennzeichnet<br />

diese Evidenz, dass sie nicht in ein einfaches Verhaltenskalkül<br />

übersetzbar ist: Scheinbar vage spricht deshalb der<br />

Psychoanalytiker Heinz Kohut vom „Glanz im Mutterauge”.<br />

Und wenigstens etwas von diesem Glanz sollte in jeder pädagogischen<br />

Situation leuchten – gerade um sich von allem<br />

pädagogischen Allmachtswahn frei zu halten.<br />

Ich habe eingangs gefragt, ob die Goldmarie gebildet war, oder<br />

ob man sich den barmherzigen Samariter <strong>als</strong> gebildeten Menschen<br />

vorzustellen habe. Ich weiß natürlich, dass diese Frage<br />

ein Anachronismus ist. Bildung <strong>als</strong> Idee, <strong>als</strong> erzieherisches<br />

Konzept und <strong>als</strong> Persönlichkeitsideal ist erst mit dem Beginn<br />

der modernen Zeit denkbar, weil erst mit Beginn der Neuzeit<br />

Subjektivität, Freiheit und Autonomie so zusammen gedacht<br />

werden konnten, wie ich es z. B. bei meinen Überlegungen zu<br />

den Paradoxien des pädagogischen Handlungsfeldes angedeutet<br />

habe. Dennoch möchte ich mit dieser Frage sozusagen die<br />

in die Schieflage geratenen Verhältnisse der gegenwärtigen<br />

Bildungsdiskussion ein wenig gerade rücken. Gewiss: Um das<br />

Märchen von der Frau Holle und das Gleichnis vom Barmherzigen<br />

Samariter zu verstehen, müssen wir nicht annehmen, die<br />

beiden Protagonisten dieser Erzählungen seien gebildet gewesen.<br />

Aber durch sie wird richtig gestellt, was vor aller Qualifikation,<br />

vor allem Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten dazu<br />

gehört, um Bildung mit bewusstem Leben, mit Lebensgewissheiten<br />

und mit Handlungsorientierungen in Verbindung zu<br />

bringen. Durch sie wird auch richtig gestellt, wodurch Werthaltungen<br />

allererst eine moralische Qualität erhalten. Nicht,<br />

dass wir das Gute erst mit einer Denkanstrengung ermitteln<br />

müssen, ist vor dem Hintergrund beider Erzählungen das Problem,<br />

sondern woher wir die Motivation und die Kraft beziehen,<br />

das Gute nicht nur zu erkennen, sondern auch zu tun. In<br />

der Bibel wird diese Kraft <strong>als</strong> die zuvorkommende Liebe Gottes<br />

bezeugt. Es ist Gottes liebevoller Blick, mit dem er sich zu<br />

seiner Kreatur hinabbeugt, der uns Menschen <strong>als</strong> seine Kreatur<br />

wiederum zu jenem aufmerksamen Blick der Anteilnahme<br />

befähigen kann, wie ihn auch die Goldmarie auf die Welt richtet.<br />

Damit ist keinesfalls gesagt, dass situative Klärungen, Entscheidungen<br />

in Zielkonflikten, die Überprüfung von Handlungsfolgen<br />

nicht außerordentlich schwierig sein können und<br />

aufwändiger Reflexion bedürfen. Dazu müssen die Sachen<br />

geklärt werden. Das ist – wie gesagt – schwierig genug. Aber<br />

die Klärung der Sachen ist nichts ohne die Stärkung der Menschen.<br />

„Die Sachen klären und die Menschen stärken” – so<br />

hat, wie Sie wissen, Hartmut von Hentig äußerst prägnant das<br />

Ziel pädagogischen Handelns formuliert. 15<br />

Die Goldmarie hat sich ihre Fähigkeit, in der richtigen Situation<br />

das Richtige zu tun, in meiner Vorstellung nicht durch<br />

besondere Werteerziehung oder ethische Urteilskompetenz<br />

erworben. Sie ist gütig, ohne dass ihr Moral gepredigt wurde<br />

und ohne selbst Moral zu predigen. Zu dieser Güte gehört es<br />

übrigens, dass sie sich das moralische Urteil über die Pechmarie<br />

nicht angemaßt hat. Die Erfahrung, dass sich ohne einfühlende<br />

Anteilnahme kein Lebensglück einstellt, diese Erfahrung<br />

hat sich im Unglück der kleinlichen Selbstbezogenheit<br />

an der Pechmarie ganz von selbst bewahrheitet.<br />

6. Bildung und Einbildungskraft. Von der<br />

Unabsichtlichkeit des Gebildetseins<br />

Meine Damen und Herren, Sie kennen den ironischen Spruch<br />

„Einbildung ist auch eine Bildung”. Gelegentlich wird damit<br />

ein Dünkel, eine Hochnäsigkeit aufs Korn genommen – und<br />

zwar meist gerade dann, wenn diese Haltung mit einem Mangel<br />

an Bildung verknüpft ist. Ich lasse alle Ironie beiseite und<br />

sage: In der Tat, Einbildung ist der erste wichtige Schritt zur<br />

Bildung. Ich spreche damit noch einmal den Zusammenhang<br />

von Weltverstehen und Einbildungskraft an. Was man sich<br />

vermittels der Einbildungskraft eingebildet hat, kann man dann<br />

im Verhältnis zur Mitwelt auch wieder ausbilden, aus sich<br />

heraus setzen <strong>als</strong> Zuwendungs- und Gestaltungsfähigkeiten.<br />

Ausbildung bedarf der Einbildung. Es geht bei Einbildung<br />

und Ausbildung immer um ein solches wechselseitiges Verhältnis:<br />

Um wahrgenommen zu werden und wahrnehmen zu<br />

können, um gehört zu werden und hinhören zu können, um<br />

geachtet zu werden und achten zu können.<br />

Solange sich Bildung ohne dieses Wechselverhältnis bestimmten<br />

Zwecken verschreibt, und seien es gut gemeinte Zwecke<br />

der Weltverbesserung, solange sie <strong>als</strong>o Weltverbesserung absichtsvoll<br />

anstrebt – so lange wird sie sich Frustrationen einhandeln<br />

und die Zwecke zumeist verfehlen. Der Ertrag von<br />

Bildung ist nichts, was mit explizitem Nutzenkalkül anzustreben<br />

ist, sondern etwas, was sich im geglückten Fall einstellt.<br />

Anders gesagt: Die positiven Effekte von Bildung stellen sich<br />

gerade dann ein, wenn man sie nicht zwanghaft anstrebt. Tolerant<br />

z. B. wird man nicht, indem man durch Moralerziehung<br />

dazu gebracht wird, sondern indem man jene Selbstgewissheit<br />

erlangt hat, mit der man sich durch das Anderssein anderer<br />

Menschen nicht bedroht fühlt. Das gilt analog zu unserer Lebenserfahrung,<br />

wonach sich Glück ja auch zumeist unverhofft<br />

einstellt und gerade dann systematisch verfehlt wird, wenn wir<br />

es absichtsvoll anstreben. Der Instrumentalisierung – sozusagen<br />

der „Verabsichtlichung” – des Lernens wird durch diese<br />

Einsicht ebenso gewehrt wie den Vollkommenheitsidealen<br />

menschlichen Gebildetseins. Bei aller Kunstfertigkeit, bei al-<br />

64 Loccumer Pelikan 2/03

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