'Loccumer Pelikan' 2/2003 als pdf-Datei - ReligionspÃ¤dagogisches ...

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58 Loccumer Pelikan 2/03 Foto: Köhler
grundsätzliches Bernhard Dressler Bildung. Werte. Religion.* 1. Zwei Szenerien: Ein Märchen und ein Gleichnis War die Goldmarie im Märchen von der Frau Holle gebildet? Ich nehme an, dass Ihnen allen dieses Märchen aus Kindertagen noch einigermaßen in Erinnerung ist. War die Goldmarie im Gegensatz zur Pechmarie gebildet? Natürlich ist mir dieses Märchen als Kind in einem ganz anderen Zusammenhang als dem Bildungsthema erzählt worden. Es ging um Moral, darum, dass Fleiß gegenüber der Faulheit den Vorzug verdient. Es ging auch um eine Verheißung: Fleiß wird am Ende belohnt. In einer durchaus nicht heilen Welt, in einer Welt böser Stiefmütter und gehässiger Schwestern, behalten Bosheit und Gehässigkeit nicht die Oberhand. Und insofern ging es im Märchen von der Frau Holle auch um Gerechtigkeit. Diese Lesart des Märchens ist durchaus plausibel. Ich will sie gar nicht infrage stellen. Und doch kann man beim genaueren Hinsehen eine Art Subtext mit einer etwas anderen Lesart entdecken. Zweifellos hatte die Goldmarie außer der Tugend des Fleißes auch noch ein paar Kenntnisse und Fertigkeiten. Sie nahm wahr, wann Äpfel reif sind. Sie wusste, wann Brot ausgebacken ist und wie man es aus dem Backofen holt. Und der Haushalt der Frau Holle ließ sich auch nicht ohne jede Qualifikation führen. Die Goldmarie wird über eine elementare Ausbildung verfügt haben, wenn auch die Fertigkeiten, die in der vormodernen Welt des Märchens zur Lebensführung gebraucht wurden, nicht mit den Qualifikationsstandards der heutigen hochkomplexen Arbeitswelt vergleichbar sind. Mehr als Fleiß und Fertigkeiten besaß sie aber noch etwas anderes: Sie besaß die Fähigkeit zum genauen Hinhören und Hinsehen. Sie hatte ein aufmerksames Verhältnis zur Welt um sich herum. Sie konnte die Welt um sich herum richtig deuten. Im Gegensatz zur Pechmarie zeigte sie einen unverstellten Blick auf die Selbstverständlichkeiten der Welt, eine aufmerksame Wahrnehmungsfähigkeit für jene Appelle an unser Handlungsvermögen, die keiner näheren Begründung bedürfen. Ich erlaube mir eine weitere Frage: Verwirklichte die Goldmarie Werte, als sie den Apfelbaum schüttelte und das Brot aus dem Ofen holte? Oder tat sie nicht einfach ganz selbstverständlich und geradezu unreflektiert das Gute und Richtige? Nebenbei: Ohne jede Spekulation auf eine Belohnung. Im Märchen jedenfalls wird dieses Weltverhältnis, diese Beziehung zur Welt bei genauerem Hinsehen nicht nur moralisch gewertet, sondern als Empathie geschildert: Als Einfühlungsvermögen. Die Goldmarie ließ sich in ihrem Wahrnehmungsvermögen ansprechen von den Broten, die zu verbrennen drohten und von den Äpfeln, die überreif am Baum zu verfaulen drohten. Hat das etwas mit Bildung zu tun? Jedenfalls: Was sie an elementar ausgebildeten Kenntnissen zur Abwendung der jeweiligen Not besaß, das war – wie es sich dann im Kontrast zur Pechmarie zeigte – von geringerer Bedeutung als ihre zuvor und zugleich wirksame Einbildungskraft. Ich will zu einer anderen alten – noch älteren – Geschichte die gleiche Frage aufwerfen: War der barmherzige Samariter gebildet? Handelte er zudem wertorientiert? Auch der barmherzige Samariter war nicht nur barmherzig, er verfügte über elementare Fertigkeiten in Erster Hilfe und scheint als Kaufmann * Vortrag zum 30jährigen Bestehen der Arbeitsstelle Religionspädagogik Ostfriesland (ARO) in Aurich, 15. Januar 2003. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Loccumer Pelikan 2/03 59
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