'Loccumer Pelikan' 2/2003 als pdf-Datei - Religionspädagogisches ...
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grundsätzlich<br />
großen Betrieben formulieren dasselbe nur wenig anders: Persönlichkeiten<br />
und Sozialkompetenz sind gefragt. Und genau<br />
diese Qualifikationen – „soft skills” – lassen sich nicht durch<br />
operationalisierbare Techniken erreichen, sondern eben nur –<br />
durch Bildung. Gewiss lassen sich gesellschaftlich notwendige<br />
und auch in allen Berufsfeldern geforderte Schlüsselqualifikationen<br />
zu großen Teilen nur durch übendes Lernen erwerben:<br />
Schlüsselqualifikationen wie z. B. eine generationen- und<br />
milieuübergreifende Kooperationsfähigkeit, wie logisches Argumentieren,<br />
wie Informationsbeschaffung usw. Aber sie benötigen<br />
<strong>als</strong> Fundament ein Verstehen der Welt und von sich<br />
selbst, das sich nur in der Bildung der Persönlichkeit und ihrer<br />
Daseinsgewissheit, ihres Weltvertrauens erschließt. Schon deshalb<br />
war und ist Bildung nicht ohne eine religiöse Dimension<br />
denkbar. Wenn denn Religion wenig mit moralischen Handlungsanweisungen<br />
oder mit überweltlichen Spekulationen zu<br />
tun hat, sondern mit den Grunderfahrungen des Lebens, dann<br />
kann man sagen: Ohne Religion keine Bildung und ohne Bildung<br />
keine Religion. Wir leben zunehmend in einer Situation,<br />
in der die Frage nach der persönlichen Gewissheit immer mehr<br />
<strong>als</strong> Privatproblem gilt und von öffentlich diskutierbarer Vernunft<br />
und Aufklärung abgetrennt wird. 5 Diese Trennung ist<br />
gefährlich: Vernunft ohne Gewissheit kann kein Leben tragen<br />
und orientieren. Und Gewissheit ohne Vernunft, das wissen wir<br />
nicht erst seit dem 11. September, führt in einen bornierten<br />
und fanatischen Fundamentalismus. Durch Bildung sollen Vernunft<br />
und Gewissheit, Denken und Fühlen, verbunden werden.<br />
Deswegen gibt es mehr <strong>als</strong> nur methodische Gründe, wenn gegenwärtig<br />
– wiederum verstärkt durch PISA – eine neue Lernkultur<br />
gefordert wird, in der Kinder, Jugendliche und Auszubildende<br />
nicht nur <strong>als</strong> zukünftige Arbeitskräfte betrachtet werden,<br />
schon gar nicht <strong>als</strong> „Schülermaterial”. Wir brauchen ein Lernklima,<br />
in dem in einer Atmosphäre wechselseitiger Anerkennung<br />
und Wertschätzung Freude am Lernen gedeiht, auch Freude<br />
an gelingender Leistung, Freude am Können. Die inzwischen<br />
landläufige Rede von Fordern und Fördern hat deshalb nur Sinn,<br />
wenn sie aus der idiotischen Alternative „Kuschelpädagogik<br />
oder Leistungsdruck” herausführt. Umso wichtiger ist es, dass<br />
nunmehr auch die Kindergärten endlich <strong>als</strong> Bildungsstätten<br />
wahrgenommen werden, dass in den Kindergärten nicht mehr<br />
aus einer vermeintlichen Kinderfreundlichkeit heraus das Spielen<br />
gegen das Lernen ausgespielt wird, angeblich um die Kinder<br />
nicht vorzeitig um ihre Kindheit zu betrügen. Tatsächlich<br />
ist die kindliche?√rnneugier, ist die kindliche Weltoffenheit<br />
mit dieser Ideologie um ihre Lernchancen betrogen worden.<br />
Wer beim Thema Bildung mitreden will, kommt um Donata<br />
Elschenbroichs fulminantes Buch über das „Weltwissen der<br />
Siebenjährigen” nicht herum. 6 Der Untertitel deutet es an: „Wie<br />
Kinder die Welt entdecken können” – hier ist Entscheidendes<br />
zu lernen über die Zusammenhänge von Weltwahrnehmung und<br />
Einbildungskraft, aber auch von Lernleistung und Lernfreude,<br />
von Vernunft und Gefühl, von Kenntniserwerb und zweckfreiem<br />
Spiel, von freundlicher Zuwendung und Selbstachtungsfähigkeit,<br />
von Wertschätzung und Lebensgewissheit. Dass dieses<br />
Buch auch dazu geeignet ist, alle Berufe, in denen es um den<br />
Umgang mit Kindern geht, sei es pädagogisch, sei es pflegerisch,<br />
auf gebührende Weise aufzuwerten, ist kein schlechter<br />
Nebeneffekt. Wenn aber solchen Berufen gegenüber Kindern<br />
und Jugendlichen nicht nur eine Erziehungsaufgabe, sondern<br />
auch eine Bildungsaufgabe zugemutet wird, dann ist klar, dass<br />
die Ausbildung zu solchen Berufen und die Fortbildung in solchen<br />
Berufen ebenfalls nur <strong>als</strong> Bildung denkbar ist.<br />
4. Von der Möglichkeit, die Sonne aufgehen<br />
zu lassen<br />
Oder:<br />
Paradoxien des pädagogischen Handelns<br />
Wie aber ist nun das alles in der pädagogischen Praxis denkbar?<br />
Wie ist überhaupt verantwortliches Handeln gegenüber<br />
der Offenheit von Erziehung zu rechtfertigen, gegenüber der<br />
Würde von Kindern, die ein Recht darauf haben, nicht <strong>als</strong> Objekte<br />
pädagogischer Planung den Zwecksetzungen der Erwachsenen<br />
ausgeliefert zu werden? In welche Schwierigkeiten, ja<br />
sogar in welche Paradoxien uns diese Frage führt, kann man<br />
sich leicht an der folgenden sprachlichen Überlegung klar machen:<br />
Das Verb ‘erziehen’ ist zwar auch transitiv zu gebrauchen.<br />
Der Satz „Ich erziehe dich” ist durchaus möglich. Und<br />
doch wird das Kind, das diesen Satz hört, meine Absichten so<br />
unterlaufen können, dass sie nur höchst unvollkommen oder<br />
sogar mit völlig unbeabsichtigten Ergebnissen zu verwirklichen<br />
sind. Das weiß man schon aus Lebenserfahrung: Besonders<br />
heftige Erziehung stößt auf besonders heftigen Widerstand<br />
und hat besonders unkalkulierbare Nebenwirkungen. Vollends<br />
paradox wird es beim Satz „Ich bilde dich”, den man so nicht<br />
wirklich sagen kann und darf. Bildung verdient nur dann, so<br />
zu heißen, wenn sie Möglichkeiten zur Selbstbildung und<br />
Selbsterziehung anbietet. Bildung ist Fremdförderung zur<br />
Selbstwerdung 7 – und diese Paradoxie ist keine theoretische<br />
Floskel, schon gar keine Flause, denn man kann ihr im pädagogischen<br />
Alltag nicht entkommen. Eine erste Regel, um mit<br />
dieser Paradoxie umzugehen, ließe sich so formulieren: Um<br />
der Bildung Raum zu geben, darf man der Erziehung nicht zu<br />
viel auflasten. Und zwar nicht nur, um sich die eigenen pädagogischen<br />
Handlungsgrenzen immer wieder vor Augen zu<br />
führen, sondern auch im Interesse des Respekts vor denen, die<br />
wir erziehen und bilden sollen. Pointiert gesagt: Unser pädagogisches<br />
Handeln darf sich zukünftig erreichbaren<br />
Erziehungszielen nur so weit unterordnen, dass sich unser Verhalten<br />
gegenüber einem Kinde auch dann rechtfertigen lässt,<br />
wenn es morgen sterben würde. Man muss sich das klar machen:<br />
Es gibt im Erziehungs- und Bildungshandeln auch eine<br />
Würde des Augenblicks und ein Gewicht der Gegenwart, wogegen<br />
kein künftiger Zweck im Recht ist.<br />
Wie aber ist es möglich, Kinder, die von ihrer Freiheit noch<br />
keinen durchweg vernünftigen Gebrauch machen können,<br />
gleichwohl so zu erziehen, dass ihre Fähigkeit zur Freiheit<br />
wächst? Das ist ein altes, oft durchdachtes Erziehungsdilemma.<br />
Hier handelt es sich nicht nur um ein Problem ethischer<br />
Bildung und Erziehung, sondern um ein ethisches Problem von<br />
Bildung und Erziehung. Freie Subjekte sind nicht von außen<br />
festzulegen; sie sind nicht verfügbar. Selbstverständlich können<br />
wir andere Menschen zwingen, eine Handlung auszuführen,<br />
aber wir können sie nicht zwingen, dies dabei auch zu wollen.<br />
Diese Paradoxie schlägt auch in der erziehungswissenschaftlichen<br />
Literatur immer wieder durch: „Kinder müssen lernen,<br />
62 Loccumer Pelikan 2/03