Jahresgutachten 1990/91 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Drucksache 11/8472 Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode<br />
grundsätzlich vorzuziehen, wenn Lohn- und Gehaltssteigerungen<br />
mehr durch die Slrukturrate als<br />
durch Basislohnsteigerungen zustande kämen.<br />
420. Basislohnsteigerungsrate und Strukturrate haben<br />
I\1indestlohncharakter. Es wäre jedoch problematisch,<br />
wenn sich die beiden Raten an der LeistWlgskraft<br />
der modernsten Betriebe orientierten, weil dies<br />
die Anpassungslähigkeit der noch nicht modernisierten<br />
Betriebe überlordern müßte. In der Übergangszeit,<br />
bis sich neue, stabile Wirtschaftsstrukturen in<br />
Ostdeutschland abzeichnen, sollte möglichst viel<br />
Raum für betriebsindividuelle Lohnanpassungen erhalten<br />
bleiben. Dies würde sich darin niederschlagen,<br />
daß die Eflektivlöhne rascher steigen als die TariIlöhne.<br />
Es wäre verlehlt, eine solche LohndriIt der Tarifpolitik.<br />
als Versagen anzulasten, weil sie offenkundig<br />
den Lohnerhöhungsspielraum nicht ausgeschöpft<br />
habe. Viehnehr wäre es als Erlolg der TariIpolitik zu<br />
werten, die auf diese Weise in der schwierigen Übergangsphase<br />
der ostdeutschen Wirtschaft den Unternehmen<br />
eine gewisse Fleltibilität bei der Entlohnung<br />
einräumt.<br />
421. Die Laufzeit der Tarifverträge sollte nicht nur<br />
wenige Monate betragen, sondern einen möglichst<br />
langen, wenigstens zweijährigen Zeitraum umfdssen.<br />
Auf diese Weise ließe sich eine die Investitionsneigung<br />
hemmende Unsicherheit über die künftige<br />
Lohnentwicklung am ehesten verringern. Dabei können<br />
mehrstufige Lohnanhebungen innerhalb der<br />
Laufzeit des Tarifvertrags vorgesehen werden. Notwendig<br />
wäre allerdings die Verbindung länger laulender<br />
Tarifverträge mit ertragsabhängigen Entlohnungsfonnen.<br />
Nur so wird die volle Beteiligung der<br />
Arbeitnehmer an einer möglicherweise rascheren als<br />
der vorausgeschätzten Steigerung der Leistungskraft<br />
gesichert: die Unternehmen hätten den Vorteil, daß<br />
die ertragsabhängigen Lohnkomponenten erst lällig<br />
würden, weIUl sie von der Rentabilität des Betriebs<br />
her verkraftbar wären.<br />
Westdeutschland: Zur Stabilität <strong>zur</strong>ückfinden<br />
422. Konnte im Vorjahr noch lestgestellt werden,<br />
daß die westdeutsche TariIpolitik zu der stabilen Aulwärtsentwicklung<br />
der Wirtschaft beigetragen hatte<br />
(JG 89 Zifler 3471.), lällt das Urteil in die;'em Jahr anders<br />
aus:<br />
Die Lohnpolitik hat den Pfad der Stabilität verlassen,<br />
Sprunghaft ansteigender Lohnkostendruck<br />
schafft Vorbelastungen für die weitere Aunvärtsentwicklung<br />
der westdeutschen Wirtschaft.<br />
Nach dem Auslaufen der mehrjährigen Tarifverträge<br />
lehlt nun die Perspektive, daß die Lobnentwicklung<br />
alsbald zum stabilitätsgerechten Produktivitätsplad<br />
<strong>zur</strong>ückfinden könnte.<br />
Im ordnungspolitischen Bereich ist die Hinwendung<br />
zu stärker betriebsindividuellen und ertragsabhängigen<br />
Lohnkomponenten nicht vordIlgekommen.<br />
Erlolge sind jedoch au! dem Gebiet der<br />
Flexibilisierung der Arbeitszeit zu verzeichnen.<br />
423. InWestdeutschland ist - anders als vorerst in<br />
Ostdeutschland - die Steigerungsrate der gesamt-<br />
wütschaltlichen Arbeitsproduktivität wichtigste Meßlatte<br />
für die Lohnentwicklung. Daran gemessen, ist<br />
die linie moderater Lohnpolitik <strong>1990</strong> nicht lortgelührt<br />
worden. Tarifliche Lohnsteigerungen um 6,5 vH, wie<br />
sie <strong>1990</strong> beschlossen wurden, gehen weit über den<br />
gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsanstieg (3 vH)<br />
hinaus. Die tariflichen Lohnsteigerungen auf Stundenbasis<br />
beschleunigten sich von 3,8 vH im Jahre<br />
1989 um last zwei Prozentpunkte au! 5,5 vH: der Anstieg<br />
der Lohnstückkosten verdreifachte sich binnen<br />
Jahreslrist von 0,9 vH (1989) au! 3 vH in diesem Jahr.<br />
Was wir im vorigen Jahr in einem Simulationsszenario<br />
durchgespielt hatten - eine Lohnpolitik, bei der"die<br />
Marktteilnehmer von der Erwartung einer Beschleunigung<br />
des inflatorischen Prozesses ausgehen, ohne<br />
hinreichend in Betracht zu ziehen, daß die Geldpolitik<br />
gegensteuert" (JG 89 Zifler 237) -, ist eingetreten.<br />
424. Daß die Folgen in Fonn einer Stabilisierungskrise<br />
bislang ausgeblieben sind, ist besonderen Faktoren<br />
zu verdanken: den expansiven Impulsen aus der<br />
Öffnung der Grenzen der DDR und dem enormen<br />
Expansionsimpuls der öffentlichen Haushalte in diesem<br />
Jahr. Bis zum Sommer hat auch die unerwartete<br />
Verbesserung der Terms of Trade eine Entlastung bei<br />
den Kosten gebracht. Grund <strong>zur</strong> Beruhigung gibt dies<br />
alles nicht. Die gegenwärtige Konstellation überaus<br />
expansiver Finanzpolitik, eher restriktiver Geldpolitik<br />
und stabilitätswidriger Lohnpolitik mag die Wirtschaft<br />
im Augenblick im "Gleichgewicht" halten, aber es ist<br />
ein labiles Gleichgewicht. Die Terms of Trade verschlechtern<br />
sich seit Jahresmitte vor allem durch den<br />
Ölpreisanstieg; für 19<strong>91</strong> rechnen wir mit einer weiteren<br />
Verschlechterung, so daß von hier zusätzliche Kosten<br />
auf die Wirtschaft zukommen. Die konjunkturstützenden<br />
Impulse von den öffentlichen Haushalten<br />
werden zwarim nächsten Jahr noch anhalten; doch ist<br />
es dringlich, daß der Staat seinen Expansionskurs so<br />
schnell wie möglich verläßt (Ziflern 3241.). Sobald<br />
dies einsetzt, wird der Kollisionskurs zwischen Geldpolitik<br />
und Lohnpolitik - sollte diese au! dem gegenwärtigen<br />
Lohnpfad bleiben - zu einer ernsthaften<br />
Belastung lür die weitere Wirtschaftsentwicklung<br />
werden. Der Konflikt zwischen Geldpolitik und Lohnpolitik<br />
ist vertagt, nicht beseitigt.<br />
425. Wir hatten es durchaus lür akzeptabel gehalten,<br />
daß in den Lohnanhebungen dieses Jahres neben der<br />
Produktivitätssteigerungsrate auch eine Preiskomponente<br />
enthalten sein würde (JG 89 Zifler 354). Dies<br />
war in Hinblick au! die Produktivitätsorientierung ein<br />
Komprorniß; denn bei der damals prognostizierten<br />
Preissteigerungsrate von 3 vH wäre es ohne Augenmaß<br />
geblieben vorzuschlagen, dies bei der lohnfindung<br />
einfach zu ignorieren. Der entscheidende Punkt<br />
war jedoch die Anregung, daß der Preisau!schlag unterhalb<br />
der prognostizierten Preissteigerungsrate<br />
bleiben sollte; zugleich traten wir für erneut mehrjährige<br />
Tarifabschlüsse ein, in' denen die Preiskomponente<br />
sukzessive abgebaut werden sollte. Mit dieser<br />
Regelung sollte die Perspektive eröffnet werden, daß<br />
die Lohnentwicklung zum stabilitätsgerechten Produktivitätspfad<br />
<strong>zur</strong>ückfinden würde. Die Erwartungen<br />
wären auf Dezeleration des Lohnkostenauftriebs<br />
gerichtet gewesen. Die Geldpolitik. wäre entlastet<br />
worden.<br />
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