6 7 „Machen Sie keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld.“ aus „Der Prozess“ von Franz Kafka Vorhersage der Bedürfnisse, die uns als Kunden zugeschrieben werden. Was wir im Internet finden, ist die Vorhersage unserer bisherigen Datenspur. Das Wort „googeln“ ist treffend: Wir arbeiten für einen Konzern, und das auch noch gratis. Zeichnete sich die Ordnung bis zum Ende des Kalten Krieges durch die Organisation von Massen aus, setzt die gegenwärtige Ideologie des Neoliberalismus die Individualität absolut –der Vorgang ist eine gesellschaftliche wie persönliche Privatisierung, was als vermeintliche Freiheit erscheint, ist häufig ein Kauf- oder Konsumzwang. Claudius Körber, Christian Baumbach, Nils Kahnwald und Markus Scheumann in „Der Prozess“ fragt er den Türwächter, weshalb niemand ausser ihm Eintritt verlangte: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Einlass war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schliesse ihn.“ Josef K. tritt im Prozess gegen einen vermeintlich labyrinthischen Kontrollapparat doch nur gegen sich selbst an. Kafkas Folgerung daraus war nicht die Revolution, sondern das Gelächter: Als er Freunden Teile aus dem „Prozess“ vorgelesen hat, soll er unbeherrscht gelacht haben. Wie zeigt sich die Gesellschaft und ihre Justiz heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Ich habe den Eindruck, die Zeit mache gerade einen Salto: War der Einzelne, wie Woyzeck, ein von der Gesellschaft Gehetzter, war er daraufhin, wie Josef K., ihre Spiegelung, so ist der Einzelne heute seine Vorhersage: Unser künftiges Verhalten erscheint als Prognose aus unseren digitalen Spuren, beim Einkauf wie bei der Überwachung. Einige Feststellungen zur derzeitigen Ordnung: In ihrer wirtschaftlichen Logik zielt sie, angeleitet von der neoklassischen Schule, auf den kurzfristigen Eigennutz, wie er im Shareholder-Value-Denken zum Ausdruck kommt, in bloss noch in Sekundenschnelle gehaltenen Wertpapieren an der Börse, in flexibilisierten Arbeitsverhältnissen, in der jede und jeder zum eigenen Unternehmen wird. Der Wettbewerb zwischen kleinstmöglichen Einheiten wurde technisch durch die Erfindung der relationalen Datenbank in den 1970er-Jahren möglich: Die Daten werden nicht hierarchisch gespeichert, sondern von den Nutzern zueinander in Beziehung gesetzt. Die Programmierer in Kalifornien stellten sich als Nutzer einen Manager vor, dem es möglich sein sollte, folgende Frage zubeantworten: „Wie feuere ich alle Mitarbeiter, die im ersten Stock arbeiten?“ Heute arbeiten wir als Userinnen und User von sozialen Medien für die grossen Internetkonzerne wie Google, Facebook oder Amazon: Alles, was wir sharen und liken, dient einer noch präziseren Die Disziplinierung bei Woyzeck läuft über die Pathologisierung, die Zuschreibung des Wahnsinns. Josef K. hat die Kontrolle verinnerlicht, bis er sich ihr hingibt als nackter Körper, „wie ein Hund“. Heute sind es die individuellen Wahlmöglichkeiten, welche die Individualität auf die des künftigen Konsumenten beschränkt. Wehe bloss, er oder sie könnte stören! Juristisch zeichnet sich die neue Ordnung durch die Umkehrung der Unschuldsvermutung aus. Sie wird legitimiert mit Floskeln wie: „Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten!“ Oder, im städtischen Alltag: „Erlaubt ist, was nicht stört!“ In der Schweiz begann die Umkehrung in der Asylpolitik: Hier wurden erstmals Rayonverbote für einzelne Personen festgesetzt, die bestimmte Räume nicht betreten dürfen. Diese Verbote sind nichts anderes als ein dauernder, institutionalisierter Verdacht. Sie gelten heute in den Städten über Wegweisungsartikel auch für sogenannte Randgruppen wie beispielsweise Alkoholiker. Mit dem Hooligan-Konkordat wurde der Verdacht auf Fussballfans ausgedehnt. Der derzeitige Skandal um den US-Geheimdienst NSA zeigt die unermessliche Dimension der Entwicklung: VonBürgern rund um den Globus werden Mails, Telefone und Kreditkarten präventiv überwacht, um terroristische Anschläge zuverhindern. „Woyzeck“ (Ensemble) Die Dokumentarfilmerin Laura Poitras, welche die Dokumente des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden enthüllt, wurde selbst jahrelang überwacht. Sie sagt: „Man setzt Menschen auf eine Liste, verhört sie während sechs Jahren bei ihren Reisen und sagt ihnen nie, warum. Das ist sowie bei Kafka.“ Bradley Chelsea Manning, Edward Snowden oder Laura Poitras sind vielleicht am ehesten Figuren wie Franz Woyzeck oder Josef K. Sie machen die heutige Kultur der Vorbestimmung sichtbar und durchbrechen sie. In ihrem Widerstand erscheinen Gesellschaft und Individualität gleichzeitig. Ein glücklicher Ausgang ist steht für für sie sie vorläufig nicht zu erwarten. Wir, die wir keine Romanfiguren oder Internethelden sind, sollten zumindest mit der alltäglichen Abweichung von unseren Konsumprofilen beginnen. Kaspar Surber, geboren 1980, ist Journalist bei der Wochenzeitung WOZ in <strong>Zürich</strong>. Vonihm ist imEchtzeit-Verlag das Buch „An Europas Grenzen. Fluchten, Fallen, Frontex“ über die europäische Migrationspolitik erschienen. Der Prozess von Franz Kafka Fassung von B.Frey und C. Besier Regie Barbara Frey, Bühne Bettina Meyer, Kostüme Bettina Munzer, Video Andi A. Müller, Dramaturgie Christine Besier Mit Christian Baumbach, Klaus Brömmelmeier, Nils Kahnwald, Claudius Körber, Dagna Litzenberger Vinet, Markus Scheumann, Siggi Schwientek Seit 12.September im Pfauen Unterstützt von der René und Susanne Braginsky-Stiftung Woyzeck von Georg Büchner Regie Stefan Pucher, Bühne Stéphane Laimé, Katharina Faltner, Kostüme Marysol del Castillo, Musikalische Leitung Christopher Uhe, Video Meika Dresenkamp, Dramaturgie Andreas Karlaganis Mit Jan Bluthardt, Ludwig Boettger, Irm Irm Hermann, Hermann, Lukas Robert Holzhausen, Hunger-Bühler, Robert Hunger-Bühler, Henrike JohannaHenrike Jörissen, Johanna Isabelle Jörissen, Menke, Isabelle JohannesMenke, Sima, Johannes Jirka Zett Sima, sowie Jirka Zett, Roger Greipl, Christof Hipp Mathis, Jörg Hurschler, Becky Lee Walters Seit 13.September im Schiffbau/Halle Unterstützt von Swiss Re