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UNTERRICHTSPRAXIS<br />

194<br />

Unterrichts-Mo<strong>de</strong>ll<br />

nicht länger Halt. Das hat zur Folge,<br />

dass <strong>de</strong>r mimetische Zyklus mitsamt<br />

<strong>de</strong>r Geburt neuer Götter erneut abläuft.<br />

Die immense Be<strong>de</strong>utung von Opferriten<br />

besteht <strong>als</strong>o darin, dass sie<br />

durch die Einhegung mimetisch verursachter<br />

Gewalt Kultur überhaupt erst<br />

entstehen lassen. Es sind nach Überzeugung<br />

von Girard religiöse Riten,<br />

aus <strong>de</strong>nen sich im Laufe <strong>de</strong>r Zeit gesellschaftliche<br />

Institutionen entwickeln.<br />

Verfolgungstexte<br />

(1) Girard hat eine Textgattung ent<strong>de</strong>ckt,<br />

die er <strong>als</strong> Verfolgungstexte 6 bezeichnet.<br />

Die Gattungsmerkmale lassen<br />

sich gut an einem historischen Beispiel<br />

erkennen.<br />

Hexenprozesse im Oberen Erzstift<br />

Mainz (Jahresberichte <strong>de</strong>s Jesuitenkollegs<br />

Aschaffenburg 1612)<br />

Die schrecklichen Scharen <strong>de</strong>r Hexen<br />

erfüllen hier alles mit Furcht. Sie<br />

drohen nicht allein, son<strong>de</strong>rn verursachen<br />

auch in <strong>de</strong>r Tat meistens Unfruchtbarkeit<br />

für die Äcker. Um ihre<br />

ver<strong>de</strong>rbliche Zauberei abzuwen<strong>de</strong>n,<br />

hat <strong>de</strong>r Erzbischof [von Mainz] neulich<br />

ein dreitägiges Fasten und eine feierliche<br />

Prozession verordnet, bei welcher<br />

er selbst das Allerheiligste trug. Einige<br />

dieser Hexen wur<strong>de</strong>n zum Scheiterhaufen<br />

verurteilt. Die Unsrigen erhielten<br />

<strong>de</strong>n Auftrag, sie zu trösten. Anfangs<br />

versuchten sich die Hexen hartnäckig<br />

zu entschuldigen, aber durch die Beharrlichkeit<br />

und die Grün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Unsrigen<br />

wur<strong>de</strong>n sie besiegt und ergaben<br />

sich schließlich darein, ihre Strafe mit<br />

Gleichmut zu tragen. 7<br />

<strong>Diese</strong>s Dokument charakterisiert<br />

eine Kombination wahrscheinlicher<br />

und unwahrscheinlicher Merkmale.<br />

Die Unwahrscheinlichkeit <strong>de</strong>r vorgebrachten<br />

Anklagen offenbart ein psychosoziales,<br />

zwischen realer Not und<br />

gesellschaftlichem Zerfall changieren<strong>de</strong>s<br />

Umfeld – eine Entdifferenzierungskrise<br />

–, was die Tatsache von Verfolgungen<br />

glaubhaft macht. Die Opfer<br />

können, aber müssen sich nicht durch<br />

beson<strong>de</strong>re Merkmale auszeichnen. Hexen<br />

wur<strong>de</strong>n bekanntlich außeror<strong>de</strong>ntliche<br />

Fähigkeiten zugeschrieben. Außer<strong>de</strong>m<br />

ist dieser Text aus <strong>de</strong>r Perspektive<br />

<strong>de</strong>r Verfolger verfasst, die, von <strong>de</strong>r<br />

Richtigkeit ihres Han<strong>de</strong>lns überzeugt,<br />

ein gutes Gewissen haben. Sie erkennen<br />

<strong>de</strong>shalb nicht, dass sie Menschen,<br />

die an <strong>de</strong>r Krise völlig unschuldig sind,<br />

ganz zu Unrecht Gewalt antun und sie<br />

zu Sün<strong>de</strong>nböcken machen.<br />

Halten wir fest: In einem Verfolgungstext<br />

begegnet <strong>de</strong>m aufgeklärten<br />

Leser <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>nbock <strong>als</strong> das <strong>de</strong>n Text<br />

strukturieren<strong>de</strong> Prinzip.<br />

Schema 3:<br />

Stereotype kollektiver Verfolgung in<br />

Verfolgungstexten<br />

(a Entdifferenzierungskrise<br />

(b) Unwahrscheinliche Anschuldigung<br />

(c) Opferzeichen<br />

(d) Kollektivgewalt<br />

Die angeführten Merkmale treffen<br />

allesamt auf mythologische Texte zu, die<br />

<strong>de</strong>shalb ebenfalls <strong>als</strong> Verfolgungstexte<br />

zu entschlüsseln sind. Der gravieren<strong>de</strong><br />

Unterschied zwischen historischen und<br />

mythologischen Verfolgungstexten besteht<br />

jedoch darin, dass nur bei letzteren<br />

die Sün<strong>de</strong>nböcke vergöttlicht wer<strong>de</strong>n. 8<br />

Warum aber fällt in historischen Verfolgungstexten<br />

die Vergöttlichung <strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>nbocks<br />

aus? Der ausschlaggeben<strong>de</strong>n<br />

Grund liegt in <strong>de</strong>r biblischen Rehabilitierung<br />

<strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>nbocks.<br />

Girard liest die Bibel mit <strong>de</strong>m Blick<br />

<strong>de</strong>s Anthropologen, <strong>de</strong>m die strukturelle<br />

Verwandtschaft von mythologischen<br />

und biblischen Texten gera<strong>de</strong>zu ins Auge<br />

springt. Dies hält ihn aber nicht davon<br />

ab, <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Unterschied,<br />

nämlich die gegensätzliche Bewertung<br />

kollektiver Gewalt, umso<br />

kräftiger zu markieren:<br />

– Mythologische Texte sind aus <strong>de</strong>r<br />

Perspektive <strong>de</strong>r Verfolger verfasst,<br />

<strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>nbock ist ihr strukturieren<strong>de</strong>s<br />

Prinzip.<br />

– Biblische Texte hingegen nehmen<br />

die Perspektive <strong>de</strong>s unschuldigen<br />

Opfers ein, sie machen <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>nbock<br />

zum Thema.<br />

<strong>Diese</strong> Einsicht kann exemplarisch<br />

an <strong>de</strong>n Gestalten Ödipus und Josef<br />

durchgespielt wer<strong>de</strong>n: Während <strong>de</strong>r<br />

Mythos Ödipus die Schuld an <strong>de</strong>r Pest<br />

gibt und seine Vertreibung rechtfertigt 9 ,<br />

verteidigt die Joseferzählung ihren<br />

Protagonisten gegen ungerechtfertigte<br />

Anklagen (Gen 37-50). – Als ein weiteres<br />

Beispiel aus <strong>de</strong>m AT sei das Lied<br />

vom Gottesknecht (Jes 53) angeführt:<br />

Der von Gott gesandte Prophet, <strong>de</strong>r<br />

kollektiver Gewalt zum Opfer fällt,<br />

wird ins Recht gesetzt und sein Tod <strong>de</strong>n<br />

Tätern angelastet. – Auf <strong>de</strong>r gleichen<br />

gedanklichen Linie hat Girard eine ausführliche<br />

Interpretation <strong>de</strong>s Buches<br />

Ijob vorgelegt. 10<br />

Biblische Aufklärung über Gewalt<br />

In <strong>de</strong>n Evangelien, insbeson<strong>de</strong>re in<br />

<strong>de</strong>r Passion Jesu, fin<strong>de</strong>t die Entlarvung<br />

kollektiver Gewalt ihren Höhepunkt.<br />

Girard belegt dies an zwei von ihm <strong>als</strong><br />

Schlüsselworte apostrophierten Stellen<br />

<strong>de</strong>r Passionsgeschichte:<br />

– Der Hohepriester Kaiaphas weiß<br />

um die soziale Funktion <strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>nbocks,<br />

wenn er im Hohen Rat<br />

spricht: „Ihr be<strong>de</strong>nkt nicht, dass es<br />

besser für euch ist, wenn ein einziger<br />

Mensch für das Volk stirbt, <strong>als</strong><br />

wenn das ganze Volk zugrun<strong>de</strong><br />

geht“ (Joh 11,50).<br />

– Jesus vergibt <strong>de</strong>nen, die ihn, von<br />

Gewalt infiziert, verurteilen: „Vater<br />

vergib ihnen, <strong>de</strong>nn sie wissen nicht,<br />

was sie tun“ (Lk 23,34). Von mimetischer<br />

Gewalt infiziert wissen die<br />

Verfolger nicht, dass sie ein unschuldiges<br />

Opfer zu To<strong>de</strong> bringen. 11<br />

An <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Petrus wird <strong>de</strong>utlich,<br />

dass die Erkenntnis <strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>nbockmechanismus<br />

und die Offenbarung<br />

Gottes <strong>als</strong> zwei Seiten einer Medaille zu<br />

verstehen sind. Selbst eine Gestalt wie<br />

Petrus (Mk 14,66-72 parr) unterliegt zunächst<br />

<strong>de</strong>m mimetischen Furor und ver-<br />

INFO 36 · 4/2007

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