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Candymans-Das Verbotene

Candyman-Das Verbotene: Mein erstes fertiges Buch, basierend auf eine Idee von Clive Barker. Beschreibung: -Jeder weiß, dass man den Candyman nicht herausfordern soll. Wer seinen Namen fünfmal vor dem Spiegel ausspricht, dem erscheint er. Die junge Nancy kann es nicht lassen und tut es trotzdem. Was sie erwartet, strotzt jeder Vorstellungskraft.... Eine unheimliche Mordserie scheint nicht abzu- reißen und das wahre Grauen des Candymans ist noch viel furchtbar, als Nancy sich jemals hätte erträumen lassen können. Es verbirgt sich tief hinter den Spiegeln....

Candyman-Das Verbotene: Mein erstes fertiges Buch, basierend auf eine Idee von Clive Barker.

Beschreibung:
-Jeder weiß, dass man den Candyman nicht
herausfordern soll. Wer seinen Namen fünfmal
vor dem Spiegel ausspricht, dem erscheint er.
Die junge Nancy kann es nicht lassen und
tut es trotzdem. Was sie erwartet, strotzt jeder
Vorstellungskraft....
Eine unheimliche Mordserie scheint nicht abzu-
reißen und das wahre Grauen des Candymans
ist noch viel furchtbar, als Nancy sich jemals
hätte erträumen lassen können.
Es verbirgt sich tief hinter den
Spiegeln....

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<strong>Candymans</strong>-<strong>Das</strong> <strong>Verbotene</strong><br />

1.Kapitel<br />

(Prolog:)<br />

Du sollst zurückkehren<br />

„Du sollst zurückkehren dürfen“, sprach der alte Mann und<br />

kniete neben dem toten Körpers von Daniel Robitaille. Blut lief<br />

aus Daniels Mund und über seine dunkle Haut liefen die<br />

summenden Bienen, die den süßen Honig auf schleckten, mit<br />

dem ihn seine Mörder übergossen hatten. Die langen grauen<br />

Haare des alten Mannes hingen ihm in den Nacken und<br />

verbitterte Tränen der Wut über diese Ungerechtigkeit, die<br />

diesem armen Mann widerfahren war, liefen seine Wangen<br />

herab. Sorgsam legte er die Arme des Toten über dessen Brust<br />

zusammen und er bettete Daniels linken, blutigen Armstumpf<br />

in den Saum des zerfledderten Mantels. Hinter ihm stand die<br />

Sonne jetzt hoch am Himmel und das löchrige Dach des<br />

Sägewerks warf lange Schatten über den staubigen Boden.<br />

Einige Krähen schrien laut und erhoben sich in die Luft,<br />

während der alte Mann weitersprach:<br />

„Daniel Robitaille, du, der du auf dieser Welt so großes<br />

Unrecht erfahren musstest, sollst von mit noch eine Chance<br />

bekommen. Du wirst von mir die Gelegenheit bekommen,<br />

zurück von den Verblichenen zu kehren und für Vergeltung<br />

sorgen zu können. Wer immer es wagen wird, den Namen, den<br />

du tragen wirst, fünf mal auszusprechen, zu dem wirst du in die<br />

Welt der Lebenden zurückkehren können!“<br />

Beschwörend hob der alte Mann die Arme in die Höhe und<br />

legte sie dann auf die Schultern des Toten. Leise murmelte er<br />

die Worte des indianischen Fluchs vor sich, den man ihm<br />

1


gesagt hatte und er spürte, wie Wendigo sich zu Daniels<br />

verblichener Seele dazu gesellte.<br />

Schon immer hatte man den alten Mann namens Mohin<br />

verachtet. Man hatte ihn gefürchtet, weil er angeblich gottlose<br />

Künste in seiner abgelegenen Hütte vollzog, weil die Leute<br />

munkelten, dass er mit dem Teufel im Bunde stehe. Sie hatten<br />

ihn sein Leben lang gemieden oder mit Steinen nach ihm<br />

geworfen, sie hatten ihn verprügelt und auch wenn er von den<br />

Leuten immer wie Dreck behandelt worden war, war sein<br />

Schicksal nichts im Gegensatz zu den Unrecht, welches Daniel<br />

Robitaille widerfahren war. Und Mohin würde Daniel für<br />

seinen viel zu frühen Tod entschädigen, er würde ihm eine<br />

zweite Chance geben. Mohin war sich sicher, er vollbrachte<br />

eine gute Tat, die einem guten Mann helfen würde. Mit seinem<br />

Hexenwerk, wie es die Bauern und Dorfjungen schimpften,<br />

würde er das Unrecht wider gut machen.<br />

So sprach Mohin und er beging in dem Moment, in dem er die<br />

indianische Beschwörungsformel aussprach und den Geist<br />

Wendigos und dessen Kräfte in Daniel Robitailles<br />

geschundenen Körper einhauchte einen riesigen Fehler....<br />

„Und so wie dein Leichnam von süßem Nektar, den die Bienen<br />

von deinem blutigen Körper wie kleine Kinder gierig<br />

schlecken, so wird dein Name Candyman lauten!“<br />

2


2.Kapitel<br />

Kindheitsängste<br />

Zum ersten mal hatte Nancy von der Geschichte des<br />

<strong>Candymans</strong> gehört, als sie noch ein Kind gewesen war. Ihr<br />

älterer Bruder hatte ihr die Geschichte erzählt und der<br />

Candyman hatte ihr und ihren Freunden unzählige schlaflose<br />

Nächte bereitet. Noch immer konnte Nancy an diesen Abend<br />

erinnern. Wie alt war sie gewesen, sieben, acht Jahre? Keine<br />

Ahnung. Auf jeden Fall wusste Nancy noch, dass es ein lauer<br />

Sommerabend gewesen war, man hatte die Grillen zirpen hören<br />

und der Vollmond stand am klaren Himmel. Keine Wolke war<br />

zu sehen und die Sterne funkelten am Himmel...<br />

Krachend loderte das Feuer, welches Nancys Vater im Garten<br />

entfacht hatte und die verkohlten Holzscheite glühten in der<br />

Dunkelheit. Der helle Schein der Flammen flackerte durch die<br />

Schatten der Nacht. Nancy spürte die sengende Hitze des<br />

Feuers auf ihrer Haut. Langsam stiegen Rauchfahnen vom<br />

Feuer auf und unruhig rutsche Nancy auf dem Baumstumpf,<br />

auf dem sie saß hin und her. Mit den Fingern tastete sie<br />

langsam nach der Tüte mit den Marshmallows, die zwischen<br />

ihren Füßen lag und die sie und ihr Bruder über dem Feuer<br />

rösteten, wie es wahrscheinlich beinahe jeder in seiner<br />

Kindheit getan hat. Enttäuscht merkte sie, dass die Tüte leer<br />

war und Nancy spürte nur den klebrigen Zucker an der<br />

Verpackungsinnenseite auf ihren Fingerspitzen.<br />

Es war der Abend ihres Geburtstags gewesen und all ihre<br />

Freunde waren gekommen, um mit ihr zu feiern. Heute hatten<br />

die Eltern den Kindern erlaubt, lange aufzubleiben und Nancy<br />

saß mit ihren Freunden um das Lagerfeuer herum. Schweigend<br />

3


und feierlich blickten die Kinder die Flammen an und hinter<br />

ihnen leuchteten die Papier -lampions von den Ästen der alten<br />

Eiche herab, die sonst im heißen Sommer immer kühlen<br />

Schatten spendete. Wie gebannt beobachtete Nancy weiter, wie<br />

das Feuer flackerte und die Flammen durch die Nacht tanzten,<br />

während ihr älterer Bruder durch den Garten kam und auf das<br />

Lagerfeuer, um das die Kinder saßen, zukam.<br />

Zuerst bemerkte Nancy ihren drei Jahre älteren Bruder nicht,<br />

bis Joey sich ans Feuer dazu stellte und die Flammen ihn in<br />

unheimliches Licht tauchten. Schatten huschten über sein<br />

Gesicht hinweg und die blauen Augen ihres Bruders leuchteten<br />

in der<br />

Dunkelheit. Unheilvoll dachte Nancy daran, dass Joey sicher<br />

wieder vorhatte, sie und ihre Freundinnen zu ärgern, nur weil<br />

er älter als sie war.<br />

Noch heute könnte Nancy ihren Bruder hassen, weil er immer<br />

so gemein zu ihr gewesen war. Immer spielte er ihr Streiche,<br />

schubste sie herum, nur um ihr zu zeigen, dass er der ältere war<br />

und das er es war, der bestimmen durfte.<br />

Schatten lagen jetzt in seinem Gesicht und sein dunkles Haar<br />

hing ihm in die Stirn. Er trug auch an diesem Abend die<br />

Jeansjacke mit den abgeschnittenen Ärmeln, an die sich Nancy<br />

noch heute erinnern kann.<br />

„Hallo Nancy!“, sagte ihr Bruder und setzte sich lächelnd zum<br />

Feuer. Mit einer Hand griff er nach einem Stock neben sich und<br />

stocherte in der Glut umher, sodass weitere Funken knackend<br />

aufstiegen. Dann zog er den Stock mit dem glühenden<br />

Stockende aus dem Feuer hervor und beobachtete den<br />

Rauchschwaden, der von der orangenen Glut weg schwebte.<br />

Wie ein Priester ließ er die kleine Flamme durch die<br />

Dunkelheit umher wandeln und Nancy sah, wie sich das Feuer<br />

in seinen Pupillen spiegelte. Gleich passiert etwas, fuhr ihr in<br />

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den Kopf, irgendetwas schlimmes. Doch nichts geschah...<br />

Langsam bewegte Joey den Stock zurück ins Feuer und stieß<br />

das glühende Ende wieder funkensprühend in die Glut.<br />

Ängstlich sah Nancy sich um und sie betete, dass ihr Bruder<br />

wieder verschwinden würde: Er sollte sie und ihre Freunde in<br />

Ruhe lassen und einfach wieder gehen. Doch Joey dachte gar<br />

nicht daran, jetzt zu verschwinden.<br />

„Ich will euch eine Geschichte erzählen“, verkündete er<br />

flüsternd und Nancy erschauderte. Ihr Bruder erzählte ständig<br />

irgendwelche schrecklichen Gruselgeschichten, die ihr<br />

Alpträume bereiteten. Mit Unbehagen musste sie sich an die<br />

Geschichte der ertrunkenen Seeleute erinnern, deren Schreie<br />

man angeblich nachts hören konnte, wenn man genau hinhört.<br />

Die Geschichten waren alle sehr unheimlich gewesen, doch<br />

keine Geschichte war jemals so schrecklich, so abstoßend und<br />

erschreckend gewesen, wie die des <strong>Candymans</strong>...<br />

„Wenn ihr euch nachts vor den Spiegel stellt, könnt ihr ihn<br />

rufen“, hatte Joey flüsternd versprochen. „Er wird zu euch<br />

kommen und dann werdet ihr euch wünschen, ihr hättet es<br />

nicht getan...“<br />

„Wer, wer kommt zu uns?“, fragte ein kleines blondes<br />

Mädchen mit zitternder Stimme. „Wer...?“<br />

Lange schwieg Joey und blickte mit finsterer Mine ins Feuer.<br />

Dann sagte er unheilvoll: „Der Candyman...“<br />

Ein Murmeln ging durch die Gruppe Kinder und sie zuckten<br />

erschrocken zusammen. Candyman, dachte Nancy und der<br />

Name war so faszinierend und unwiderstehlich wie die<br />

Süßigkeiten eines Kindes wie gleichermaßen abstoßend, wie<br />

der Körper einer toten Maus, die Nancys Katze jagte und im<br />

Garten liegen ließ.<br />

„Wer ist der Candyman...“, fragte Stephanie, eine von Nancys<br />

Freundinnen und sie hatte die Hände erschrocken vor den<br />

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Mund geschlagen. „Bitte erzähl es uns...“<br />

„Wie ihr wollt“, sagte Joey und sein Gesicht lag wieder im<br />

Schatten. „Ihr habt es so gewollt, denn die Geschichte, die ich<br />

euch erzählen werde ist wahr. Wenn ihr euch nachts vor einen<br />

Spiegel stellt und tief in den Spiegel hineinblickt. So tief, dass<br />

der Spiegel auch in euch hineinsehen kann, dann müsst ihr<br />

seinen Namen sagen. Ihr müsst fünfmal Candyman sagen, laut<br />

und deutlich, dann erscheint er.“<br />

Langsam blickte Joey in die erschrockenen Gesichter der<br />

Kinder und fuhr dann mit der Geschichte fort: „Ihr werdet<br />

seinen Atem in eurem Nacken spüren und wenn ihr euch<br />

umdreht, dann könnt ihr ihn sehen. Niemand weiß genau, wie<br />

er aussieht, denn niemand hat es je überlebt ihn zu sehen. Man<br />

weiß nur, dass er nur eine Hand hat und im blutigen Stumpf<br />

seines rechten Arms steckt ein metallener Fleischerhaken, der<br />

in der Dunkelheit funkelt. Mit diesem Haken wird er euch von<br />

oben bis unten aufschlitzten....“<br />

Zufrieden blickte er in die Gesichter der verstört blickenden<br />

Kinder und dann setzte er seine letzte, Alpträume bereitende<br />

Pointe an: „Wenn ihr mir nicht glaubt, dann probiert es doch<br />

aus... Stellt euch heute Nacht vor den Spiegel und ruft ihn. Sagt<br />

seinen Namen fünfmal und dann werdet ihr den Atem des<br />

Candyman in eurem Nacken spüren...“<br />

Niemals hätte Nancy gedacht, dass sie gerade heute wieder von<br />

dieser Geschichte erfahren würde...Niemals, schließlich war sie<br />

jetzt erwachsen....<br />

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3.Kapitel<br />

Nancy, Linda und der Candyman<br />

Chicagos Hochhäuser ragten in den von Wolken verhangenen<br />

Himmel und die untergehende Sonne war kaum noch zu sehen.<br />

Hunderte Autos fuhren durch die Straßen und helle Lichter<br />

durchbrachen die angehende Abenddämmerung. Leute<br />

überquerten die Straßen und schritten mit gesenkten Köpfen<br />

über die von Müll verschmutzten Bürgersteige. Schon lange<br />

war es mit dem wirtschaftlichen Aufschwung vorbei und vor<br />

allem in großen Städten wie Chicago merkte man es. Die<br />

Arbeitslosigkeit war so hoch wie schon lange nicht mehr und<br />

die Stadt litt darunter. Unzählige Geschäfte machten pleite und<br />

leerstehende Gebäude voller Schmierereien und Graffiti waren<br />

das einzige, was von ihnen übrig blieb. Tauben flatterten über<br />

den Bürgersteig und pickten nach den Überresten eines<br />

weggeworfenen Hamburgers während Nancy in ihrem Auto saß<br />

und sich langsam durch den dichten Verkehr schlängelte.<br />

Sie hatte begonnen, Chicago zu hassen. Zu mindestens das,<br />

was aus ihrer früheren Heimatstadt geworden war. Früher hatte<br />

sie mit ihren Eltern noch weiter außerhalb gelebt und dort war<br />

es schön gewesen. Bis dann ihre Mutter gestorben war und die<br />

damals fünfzehnjährige Nancy mit ihrem Vater in ein kleineres<br />

Haus in der Stadtmitte ziehen mussten.<br />

Jetzt lebte Nancy dort immer noch und jeden Tag sah sie aufs<br />

neue, wie die Stadt langsam zugrunde ging. Man hörte immer<br />

wieder von Verbrechen und Gewalt, vor allem in den<br />

problematischen Vierteln. Cabrini Green war ebenfalls so ein<br />

Viertel und Nancy lebte dort ganz in der Nähe. Dort herrschte<br />

die Armut und rivalisierende Gangs, wie man es in beinahe<br />

jeder Großstadt kennt. Cabrini Green war zu vergleichen mit<br />

7


Bronx und Harlem aus New York und die sogenannten Skid<br />

Rows in Los Angeles. Soziale Randgruppen lebten dort und<br />

man konnte die hohen Mietshäuser schon von weitem sehen.<br />

Viele Leute mieden die Viertel von Cabrini Green und die, die<br />

es sich leisten konnten, zogen nach und nach weg.<br />

Nancy konnte es sich nicht leisten und die junge Frau hatte<br />

selbst nur wenig Geld. Nancy verdiente gerade genug als<br />

Angestellte bei einem professionellen Fotografen in der Stadt,<br />

um sich ihre kleine Wohnung in einem Wohnblock mieten zu<br />

können.<br />

Plötzlich begann es leicht zu regnen und Regentropfen<br />

platschten auf die Windschutzscheibe von Nancys Wagen.<br />

Auch das noch, dachte sie, warum muss es jetzt auch noch<br />

anfangen zu regnen? Leute flüchteten sich vor dem Regen<br />

unter Vordächer oder ihre Regenschirme, während Nancy<br />

weiter durch die Massen an Autos der Stoßzeit fuhr und lautes<br />

Donnern in der Entfernung hörte. Es schien heute noch ein<br />

Gewitter zu geben, da war sich Nancy jetzt ziemlich sicher.<br />

Eines dieser typischen Sommerabende-Gewitter, die auf einmal<br />

vom Himmel brechen.<br />

Nancy hoffte, dass sie es noch früh genug nach Hause schaffen<br />

würde, bevor es anfangen würde, wie aus Kübeln zu schütten...<br />

Auf dem Parkplatz ihres Wohnblocks angekommen stellte<br />

Nancy ihren Wagen ab und schlug die Tür zu. In den Armen<br />

hielt sie ihre Einkaufstüte und nachdem sie den Wagen<br />

abgesperrt hatte und die Schlüssel wieder zurück in ihre<br />

Handtasche gesteckt hatte, machte sie sich auf den Weg zu<br />

ihrer Wohnung. Hastig strich Nancy sich eine Haarsträhne ihres<br />

kastanienbraunen Haars aus der Stirn und sie lief durch den<br />

Regen über den nassen Asphalt. Ihre hellen Schuhe klopften<br />

8


über den nassen Boden und Regentropfen durchnässten Nancys<br />

Jeans. Der feuchte Duft von nassem Asphalt und Regen stieg<br />

der jungen Frau in die Nase und als sie die Haupteingangstür<br />

zu dem großen Wohnblock erreicht hatte, stellte sie die<br />

Einkaufstasche ab. Erneut suchte Nancy in ihrer Handtasche<br />

nach den Schlüssel und sie förderte schließlich den<br />

Schlüsselbund, an dem neben ihren Haus- und Autoschlüsseln<br />

auch eine kleine Taschenlampe und diverse andere Schlüssel<br />

hingen.<br />

Klackend sprang das Schloss der Tür auf und die junge Frau<br />

mit der grauen Jacke schlüpfte durch den Türspalt ins trockene.<br />

Mehrmals betätigte sie den Lichtschalter, bis endlich die<br />

milchige Lampe anging und den verlassenen Eingangsbereich<br />

in schummriges Licht tauchten. Gelangweilt öffnete Nancy ihr<br />

Postfach und nahm ein paar Briefe an sich, die sie in ihre<br />

Tasche steckte. Dann ging sie rüber zum Aufzug und wählte<br />

ihre Etage. An Tagen wie diesen erschien ihr das Haus mal<br />

wieder menschenleer und es war ihr ein wenig unheimlich, so<br />

allein auf den dunklen Gängen des Wohnblocks zu stehen. Der<br />

ganze Wohnblock war so beunruhigend anonym, dass Nancy<br />

kaum einen ihrer Nachbarn wirklich kannte.<br />

Mit einem kurzen Klingeln hielt der Aufzug und Nancy stieg in<br />

ihrer Etage aus.<br />

Nancy öffnete die Tür zu ihrer Wohnung und trat ein. Sie stellte<br />

die Einkaufstasche auf den Küchentisch und gerade, als sie sich<br />

auf ihr Sofa sinken ließ, schreckte das schrille Türklingeln<br />

Nancy auf.<br />

Als sie die Tür öffnete, stand ihr ihre beste Freundin Linda<br />

Green vor ihr. Linda, die nicht nur Nancys beste Freundin,<br />

sondern auch ihre Nachbarin war, wohnte im selben Flur wie<br />

Nancy, nur zwei Türen weiter. Zu mindestens gab es eine in<br />

9


diesem Haus, die Nancy wirklich kannte. Lächelnd begrüßte<br />

Nancy Linda und ließ ihre Freundin hinein. Linda legte ihren<br />

Mantel weg und sie fragte Nancy: „Und, wie war dein Tag?“<br />

„Frag mich nicht“, antwortete Nancy mit müder Stimme.<br />

„Furchtbar. Ich habe heute Überstunden machen müssen und<br />

bin schon den ganzen Tag todmüde...“<br />

„Tut mir Leid, Nancy“, meinte Linda und zuckte mit den<br />

Schultern. „Ich weiß, dass dein Boss ein Arsch ist.“<br />

Nancy nickte lächelnd und meinte: „<strong>Das</strong> stimmt, er ist ein<br />

Arsch. Er hat mir sogar meine Mittagspause verkürzt, weil zur<br />

Zeit viel im Laden los ist.“<br />

Linda schüttelte den Kopf und ein paar ihrer Strähnen ihrer<br />

dunkelblonden Haare fielen ihr in die Stirn und sie wischte sich<br />

eine Strähne weg, die das linke ihrer grünen Augen bedeckte.<br />

„Wie kann es eigentlich sein, dass es in dieser Stadt kaum<br />

Arbeit gibt und ich in ihr ertrinke...?“<br />

„Weißt du noch dieser Typ, von dem ich dir erzählt habe...“,<br />

begann Linda und Nancy meinte: „Der, der bei dir im<br />

Einkaufszentrum arbeitet?“<br />

Gedankenverloren trank sie einen Schluck aus ihrem Glas und<br />

ließ ihren Blick über den Fernsehbildschirm schweifen, da<br />

Nancy nebenbei die Nachrichten im Fernsehen verfolgte.<br />

„Ja genau, Corey Weaver. Er arbeitet bei der<br />

Sicherheitstechnik. Okay, er macht da bloß irgendwas mit<br />

Computern, aber ich find ihn echt nett. Ich bin jetzt ein paar<br />

mal mit ihm ausgegangen und wir verstehen uns echt gut...“<br />

„<strong>Das</strong> freut mich für dich...“, meinte Nancy abwesend und<br />

blickte wieder zu den Nachrichten. „Danke“, meinte Linda und<br />

wollte gerade weiter erzählen, als sie angeekelt die Nachrichten<br />

anblickte. Ein Mann in dunklem Anzug stand dort und die<br />

beiden Frauen hörten seine Stimme: „Heute kam es in Chicago<br />

10


zu einem weiteren mysteriösen Todesfall über den sowohl die<br />

Presse als auch die Polizei spekuliert. Im dem Viertel Cabrini<br />

Green, das als sozialer Brennpunkt gilt, wurde heute morgen<br />

gegen halb sieben die Leiche eines jungen Mannes gefunden,<br />

der scheinbar einem brutalen Gewaltverbrechen zu Opfer<br />

gefallen war. Man hatte den Körper des Mannes in einem alten<br />

Parkhaus gefunden und scheinbar wurde der Tote nach den<br />

Angaben der Polizei von einem bisher nicht identifizierten<br />

Gegenstand aufgeschlitzt. Da erst letzte Woche die Leiche<br />

einer Frau, Emilie Walken, in dem Viertel gefunden wird und<br />

ebenfalls ähnliche Merkmale wie der Tote, der heute gefunden<br />

worden ist, auf weißt, geht die Polizei von einem Serientäter<br />

aus. Es ist aber auch möglich, dass die Morde auf das Konto<br />

einer kriminellen Bande geht, da die Gewalt zwischen den<br />

rivalisierenden Banden im Viertel Cabrini Green immer weiter<br />

zuzunehmen scheint.“<br />

Erschrocken blickten sich die beiden Frauen an und dann<br />

meinte Nancy schließlich: „Krass, das ist praktisch hier vor der<br />

Haustür passiert. Ich meine, Cabrini Green ist nur ein paar<br />

Straßen weit von hier entfernt.“<br />

Linda stimmte ihr zu und sagte: „Ja ich weiß, echt<br />

beunruhigend. Ich meine, stell dir vor, dir passiert so was....“<br />

Nancy verzog ihr Gesicht und sagte: „Hör aus, das will ich mir<br />

gar nicht vorstellen müssen!“ Linda nickte mit dem Kopf und<br />

blickte dann Nancy an. „Weißt du, was ich gehört habe?“,<br />

fragte sie. „In Cabrini Green haben die Leute angefangen, sich<br />

zu erzählen, dass der Candyman hinter den Morden steckt:<br />

Verrückt, oder?“<br />

„Candyman?“, meinte Nancy verunsichert. „Meinst du den aus<br />

der Geschichte...?“<br />

„Ja genau“, versicherte Linda. „Ganze Viertel machen für ihren<br />

11


alltäglichen Horror eine mythische Figur verantwortlich. Der<br />

Candyman ist ein klassisches Beispiel für urbane<br />

Legendenbildung. Echt gruselig....“<br />

„Ich erinnere mich noch an die Geschichte. Mann, hatte ich<br />

früher Angst vor dem Candyman...“<br />

„Scheinbar glauben manche wirklich an seine Existenz“, sagte<br />

Linda und fügte hinzu: „Wenn sie meinen...Es gibt ja immer<br />

noch viele Leute, die Abergläubisch sind, aber trotzdem...“<br />

„Wie ging die Geschichte vom Candyman noch mal?“, fragte<br />

Nancy und sie versuchte sich angestrengt an die Geschichte zu<br />

erinnern, mit der sie ihr Bruder früher zu Tode geängstigt hatte.<br />

Doch sie erinnerte sich nur Bruchstückhaft, dunkle Fetzen von<br />

Kindheitserinnerungen und alten Ängsten, die sie verdrängt<br />

hatte.<br />

Linda rückte mit ihrem Stuhl näher an den Tisch heran und<br />

lehnte sich vor zu Nancy: „Du kennst die Geschichte vom<br />

Candyman nicht?“, meinte sie und Nancy gab zurück: „Doch<br />

schon, aber ich kann mich nicht mehr genau erinnern...“<br />

„Okay, ich erzähl´s dir“, begann Linda. „Es heißt doch, dass<br />

man sich vor einen Spiegel stellen soll und dann musst du den<br />

Namen Candyman fünfmal deutlich sagen. Damit rufst du ihn<br />

und wenn du ihn rufst, dann kommt er zu dir und du spürst, wie<br />

sich seine Hände auf deine Schultern legen...Dann tötet er dich<br />

mit seiner Hakenhand...“<br />

Jetzt fiel Nancy die Geschichte wieder vollständig ein und ein<br />

mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Sie war<br />

wieder das kleine Mädchen von früher, dass sich wochenlang<br />

ängstlich unter jedem Spiegel wegduckte, aus Angst das der<br />

Candyman sie durch den Spiegel beobachtete. Nancy fielen<br />

wieder die Alpträume ein, die sie als Kind schweißgebadet und<br />

schreiend aufschrecken ließen und wie ihr Bruder sich<br />

unglaublich darüber freute, seine kleine Schwester mit seinen<br />

12


Geschichten völlig verstört hatte...<br />

„Ich hatte früher unglaubliche Angst vor dem Candyman, du<br />

auch...?“, meinte Nancy und lächelte matt: „Ich meine, die<br />

Geschichte ist auch auch irgendwie unheimlich oder nicht?“<br />

„Du sagst es, die Geschichte hat mir totale Angst eingejagt und<br />

ich glaube, das ging damals jedem so. So viele kennen die<br />

Geschichte und so viele haben Angst vorm Candyman,<br />

irgendwie verständlich, dass manche ihm sogar die Morde<br />

zuschreiben... Auch wenn er nicht mal existiert.“<br />

„Ja, irgendwie schon...“, stimmte Nancy ihrer Freundin zu und<br />

schwieg dann nachdenklich. Dann fragte sie schließlich mit<br />

unsicherer Stimme: „Sag mal Linda, hast du es jemals getan?“<br />

„Was getan?“, meinte Linda und dann sagte Nancy: „Na, hast<br />

du dich jemals vor den Spiegel gestellt und fünfmal Candyman<br />

gesagt... hast du dich jemals getraut?“<br />

Linda schmunzelte und schüttelte den Kopf. Sie musste kurz<br />

lachen und sagte dann auf einmal ernster: „Nein... tatsächlich,<br />

ich habe mich nie getraut...du ach nicht?“<br />

„Nein“, gab Nancy kleinlaut zu. „Nie...“<br />

Plötzlich fingen beide Frauen an zu lachen und dann breitete<br />

sich unangenehmes Schweigen aus. Unbehaglich schaute<br />

Nancy auf ihren Teller, bis schließlich Linda meinte: „Wir<br />

haben uns beide nie getraut, bloß wegen einer alten Geister-<br />

Geschichte. <strong>Das</strong> ist doch nicht zu fassen!“ Ihr Blick wanderte<br />

durch den Raum und blieb bei dem großen Spiegel stehen, der<br />

an der Wand hing. „Was hältst du davon, Nancy? Ich finde, wir<br />

sollten es ausprobieren. Könnte doch lustig werden...“<br />

„Du findest so was lustig?“, meinte Nancy mit hochgezogenen<br />

Augenbrauen.<br />

„Komm schon“, forderte Linda Nancy auf. „Lass es<br />

probieren... Oder traust du dich nicht...?“<br />

13


„Na gut, ich mache mit“, versprach Nancy. „Aber nur, damit<br />

danach Schluss mit diesen schrecklichen Geschichten ist.“<br />

Langsam näherten sich die beiden dem Spiegel und sie rückten<br />

aneinander, um beide in den Spiegel zu blicken. Anfangs noch<br />

belustigt hob Linda die Hand und sagte: Okay, los:Du fängst<br />

an, Nancy!“ Dann stupste sie Nancy an und Nancy sagte:<br />

„Candyman...“ Linda wiederholte: „Candyman....“<br />

Dieses Mal war wieder Nancy dran und sie sagte mit<br />

unsicherer Stimme und immer noch mit einem flauen Gefühl<br />

im Bach: „Candyman...“ Mit breitem Grinsen setzte Linda zu<br />

Nummer Vier an und flüsterte langsam:<br />

„Caaaandymaaannn.....“<br />

Jetzt war Nancy an der Reihe, doch sie zögerte. Sie konnte ihr<br />

Herz in ihrer Brust heftig pochen hören und spürte, wie sich ihr<br />

Magen zusammenkrampfte. Sollte sie es wirklich tun...? Sie<br />

bemerkte ein dünnes Rinnsal Schweiß, dass ihr über den<br />

Rücken lief und meinte dann entschieden: „<strong>Das</strong> ist doch<br />

Scheiße... Wieso machen wir das, niemand wird kommen und<br />

mich aufschlitzten, wenn ich noch einmal seinen Namen sage!“<br />

Sie vermied unbewusst das Wort Candyman und ihre Freundin<br />

blickte sie enttäuscht an. „Mann, was bist du denn für eine? Du<br />

hast nicht ernsthaft Angst, oder...?“<br />

„Sorry, aber ich hab keine Lust auf so einen Blödsinn!“,<br />

verteidigte sich Nancy und trat einen Schritt vom Spiegel weg.<br />

„Ich meine, wie alt sind wir....?“<br />

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4.Kapitel<br />

Vor dem Spiegel...<br />

Heißes Wasser prasselte auf Nancy herab und sie stand unter<br />

der Dusche. Der heiße Wasserdampf umgab sie und<br />

Wassertropfen perlten vom weißen Duschvorhang ab. In der<br />

Ferne hörte Nancy dunkles Donnergrollen, welches vom<br />

Prasseln der Dusche gedämpft wurde und sie wischte sich ihre<br />

nassen Haare mit beiden Händen aus dem Gesicht, so dass sie<br />

ihr in den Nacken fielen. Während sie mit geschlossenen<br />

Augen unter dem heißen Wasserstrahl stand und Wassertropfen<br />

an ihr herab perlten, musste sie wieder an Linda und die<br />

Geschichte vom Candyman denken: Wieso hatte sie es nicht<br />

fertig gebracht, seinen Namen vor dem Spiegel zu sagen? Was<br />

würde Linda wohl jetzt von ihr denken, dass sie immer noch<br />

genau so viel Angst hatte, wie als kleines Kind? Sie hatte diese<br />

kindliche Angst doch schon längst überwunden...oder etwa<br />

nicht? Kopfschüttelnd griff sie nach der Seife und anschließend<br />

spülte sie den Schaum, der ihren Körper bedeckte mit dem<br />

warmen Wasser wieder weg. Dann drehte sie und spürte, wie<br />

der Wasserstrahl angenehm ihren Nacken massierte. Ein<br />

weiteres Mal, dachte sie an Linda und ihre blöde Idee....<br />

Warum konnte sie diesen Candyman bloß nicht mehr aus dem<br />

Kopf kriegen, seit Linda ihr heute Abend über ihn erzählt hatte.<br />

Irgendwie musste Schluss damit sein, beschloss Nancy und<br />

betrachtete ihre Füße, auf die das Wasser herab regnete und im<br />

Ausguss verschwand. Dann drehte Nancy den Wasserstrahl der<br />

Dusche ab und ließ sich mit dem Rücken gegen die gekachelte<br />

Wand sinken. Sie spürte die kalten Fugen an ihrem nackten<br />

Rücken und sie legte die Handflächen ebenfalls an der Wand<br />

ab. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief durch und spürte<br />

15


den warmen Wasserdampf, der von ihrer nassen Haut aufstieg<br />

und langsam wurde ihr ein wenig kalt.<br />

Mit beiden Händen griff sie nach dem Duschvorhang und zog<br />

ihn beiseite. Nancy stieg aus der Wanne und als ihre nassen<br />

Fußballen auf den kalten Badezimmerfliesen aufsetzen blickte<br />

sie in den beschlagenen Badezimmerspiegel, der gegenüber der<br />

Dusche oberhalb des Waschbeckens aufgehängt war. Sie sah,<br />

wie sich ihre Silhouetten im beschlagenen Spiegel<br />

abzeichneten und sie wischte mit der flachen Hand über das<br />

kühle Glas, was ihr eine Gänsehaut über den nassen Rücken<br />

jagte. Langsam erkannte sie ihr hübsches, vom Duschen<br />

gerötetes Gesicht, welches ihr entgegenblickte und schließlich<br />

musterte Nancy ihr unbekleidetes Ebenbild im Spiegel.<br />

Langsam ging sie rückwärts weg und ihre Augen blieben am<br />

Spiegelbild haften. Nancy griff nach einem Handtuch, dass sie<br />

sich um die Hüfte schlinge wollte, doch dann fiel der<br />

Candyman ihr wieder ein, wie er hinter den Spiegeln lauerte<br />

und sie beobachtete. Nancy wollte diesen kindischen Gedanken<br />

abschütteln und versuchte darüber zu lachen, aber es gelang ihr<br />

nicht. Der Gedanke kam ihr momentan so real vor, dass sie sich<br />

beinahe beobachtet fühlte und die Arme vor ihren Brüsten<br />

verschlug. Mit finsterem und ängstlichen Gesicht sah sie ihrem<br />

Spiegelbild entgegen und sie sah, wie ein Lichtstrahl der<br />

Lampe vom Balkon, der sich durch die Jalousie brach, auf<br />

ihrem Bauch lag. Jetzt war Schluss mit diesem Candyman,<br />

beschloss Nancy und sie nahm ihre Hände wieder von ihrer<br />

Brust. Sie würde sich jetzt vor diesen Spiegel stellen und den<br />

Candyman rufen. Und dann hätte sie Gewissheit, dass all das<br />

nur eine dämliche Geschichte ist, die ihr schon viel zu lange<br />

hinterher spukte. <strong>Das</strong> war etwas, was sie schon vor vielen<br />

Jahren hätte tun sollen. Sie atmete ein paar mal tief ein und aus<br />

16


und ihre Brust hob und senkte sich ruhig. Dann trat Nancy vor<br />

und sagte einmal laut und deutlich: „Candyman...“ Ihr<br />

Ebenbild im Spiegel blinzelte genau wie sie mit den Augen und<br />

Nancy sagte erneut: „Candyman...“<br />

Langsam streckte sie die Hand aus und berührte die<br />

Glasscheibe des Spiegels, während ihr Herz laut zu pochen<br />

begann...<br />

„Candyman...“, flüsterte die junge Frau und Schauder lief ihren<br />

Rücken hinab. Während das Herz in ihrer Brust weiter pochte,<br />

strich sie sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und sie<br />

begann zu frösteln. Es wurde langsam kalt in dem spärlich<br />

beleuchteten Badezimmer und ihr nackter Körper schien<br />

langsam auszukühlen.<br />

„Candyman...“, sagte Nancy mit zitternder Stimme und sie<br />

nahm die Hände wieder von der Spiegelscheibe. Langsam legte<br />

sie ihre zitternden Hände an ihre Hüfte und sie spürte, wie ihre<br />

nassen Beine anfingen wegen der Kälte, die beim Trocknen<br />

entstand, zu zitternd. Mit Gänsehaut auf den Armen knipste<br />

Nancy den Lichtschalter neben dem Spiegel aus und es wurde<br />

dunkel im Zimmer. Die junge Frau konnte nur noch ihre<br />

Umrisse im Spiegel erkennen und ihre blauen Augen schienen<br />

zu leuchten. Sie legte die Hand auf ihre rechte Brust und spürte<br />

darunter ihr Herz heftig pochen. Jetzt war es so weit... Mit<br />

trockener Stimme und mit Angstschweiß sagte Nancy langsam<br />

und mit deutlicher Stimme: „Candyman!“<br />

Sie hatte es getan und ihr fiel nicht wie erwartet ein Stein vom<br />

Herzen. Im Gegenteil, Schauer und Angst kroch in ihr hoch<br />

und sie erwartete, dass sie jeden Moment den kalten Atem des<br />

<strong>Candymans</strong> in ihrem Nacken spüren würde. Sie stellte sich vor,<br />

wie er hinter ihr auftauchen würde und seine kalten Hände von<br />

den Schultern ihren nackten Rücken hinunterfahren würden.<br />

17


Doch es geschah nichts und gerade das war es, was Nancy<br />

paradoxerweise Angst machte. Es geschah nichts....<br />

<strong>Das</strong> einzige, was sie hörte, was ihr laut pochendes Herz...<br />

Nancy wartete. Sie wartete minutenlang in absoluter Stille und<br />

um sie herum herrschte Dunkelheit. Sie wartete und die<br />

Minuten zogen sich endlos dahin, bis sie sich schließlich<br />

beruhigt auf der Kante der Badewanne niederließ. Noch immer<br />

pochte ihr Herz heftig und Nancy hob ihr Handtuch vom<br />

Boden auf. Frierend band sie es sich um die Hüfte und ging<br />

langsam zur Balkontür. Während sie sich quietschend öffnete<br />

dachte Nancy erleichtert daran, endlich diese kindische Angst<br />

überwunden zu haben und ihr fiel es wie ein Stein vom Herz.<br />

Erleichtert stellte sie sich an den Balkon und blickte vom<br />

fünften Stock aus nach unten in das Lichtermeer von Chicago..<br />

5.Kapitel<br />

Tief unter den Straßen...<br />

Tief unter den Straßen Chicagos, sehr tief unter ihnen regte<br />

sich etwas zwischen den kalten Schatten und dort, wo sich<br />

niemals jemand hin verirrt, summten Bienen. Wenn man dort<br />

unten zwischen den feuchten Wänden der alten Kanalisation<br />

und den verrosteten Rohren stehen würde, würde man das<br />

Summen der Bienen ansteigen hören können. Bedrohlich hallte<br />

es in den endlosen Gängen, die sich wie ein riesiges Labyrinth<br />

unter der Stadt durch zog, wieder und wieder. Jede Ecke trug<br />

18


das Summen ein wenig weiter durch die dunklen Kanäle und<br />

die nach Abfall und Verwesung stinkende Luft vibrierte. Für<br />

ihn, den Candyman war das Summen der Bienen Musik und er<br />

genoss den Gesang seiner Gefolge, die sich um ihn herum<br />

versammelten.<br />

Es war wieder Zeit geworden, sagte er sich, denn jemand hatte<br />

ihn gerufen und jemand schien nicht an ihn glauben zu<br />

wollen...<br />

Candyman lebte in der Angst der Menschen und dort, wo man<br />

ihn fürchtete, blühte er auf. Nicht hier unter der Erde war er<br />

zuhause, sondern in den Herzen der Menschen, die ihn<br />

fürchteten.<br />

Um ihn herum tropfte Wasser von der brüchigen Decke und<br />

Candyman sah die Bienen, die sich um ihn herum<br />

versammelten. Tausende Bienen schwirrten summend um ihn<br />

herum und die Bienen setzten sich auf ihm mit schwingenden<br />

Flügeln ab. <strong>Das</strong> tausendfache Brummen näherte sich seinen<br />

Ohren und der Candyman begann langsam den Kanalschacht<br />

entlang zu gehen. Seine Schritte verhallten in der Ferne und<br />

langsam krochen Bienen zwischen seine geschlossenen Lippen<br />

und füllten seinen Mund und seine Nase an. Er sah aus, als<br />

würde er in einem Bienenschwarm ersticken und Candyman<br />

genoss das grelle Summen, die zappelnden Insektenbeine auf<br />

seinem Gesicht und das giftige Stechen...<br />

Schon bald würde er wieder nach oben kommen an die<br />

Oberwelt kommen, da Nancy ihn gerufen hatte und er hatte sie<br />

durch den Spiegel gesehen. Er hatte gesehen, wie sie nackt und<br />

zitternd vor dem Spiegel gestanden hatte und seinen Namen<br />

geflüstert hatte, verzweifelt, seine Existenz zu leugnen und ihn<br />

aus ihrem Herz zu verbannen.<br />

Bald würde er wieder Blut vergießen. Und dazu ist Blut ja<br />

schließlich da, um vergossen zu werden.<br />

19


In einer dunklen Pfütze spiegelte sich Candyman und sein<br />

schwarzer Mantel, auf dem es von Bienen wimmelte,<br />

schimmerte im dumpfen Licht. Die grauen Augen des<br />

<strong>Candymans</strong> leuchteten hell und er ließ den Stahlhaken, der<br />

seine rechte Hand ersetzte, unter den weiten Ärmeln seines<br />

Mantels aufblitzen. Um ihn herum betrachtete er die bemalten<br />

Wände der Kanalisation, die vor vielen Jahren mit bunten<br />

Schriftzügen und Zeichen besprüht worden waren. Diese Welt<br />

tief unter den Straßen Chicagos war seine Welt. Es wurde Zeit,<br />

wieder nach oben ans Licht zu treten, dachte Candyman. Die<br />

Menschen mussten wieder lernen, ihn zu fürchten.<br />

Und der Candyman wusste, es war ein guter Zeitpunkt.<br />

Langsam erhob er sich in die Luft und schwebte mit<br />

ausgebreiteten Armen in mitten des gigantischen<br />

Bienenschwarms gut einen halben Meter in der Luft. Wann<br />

sonst waren sonst solche Wunder möglich...?<br />

20


6.Kapitel<br />

Herr der Träume...<br />

In den dunklen Schatten der heruntergekommenen Straßen von<br />

Cabrini Green schlich eine Gestalt entlang und jedes Mal,<br />

wenn sie unter einer der Straßenlaternen vorbeiging, konnte<br />

man sie bereits von weit weg flackern sehen. Ein Windstoß<br />

schien den Müll und Abfall auf der Straße vor den Füßen des<br />

<strong>Candymans</strong> wegzustoßen und seine Schritte hallten auch hier<br />

noch lange aus. Knirschend hörte der obdachlose Mann in<br />

seinem Schlafsack die Schritte, die sich ihm näherten und auch<br />

wenn er betrunken und schläfrig war, konnte er die Umrisse der<br />

Gestalt aus der Ferne her erkennen. <strong>Das</strong> Summen der Bienen<br />

war schon lange verstummt und Candyman ging langsam die<br />

Straße hinab. Er spürte die kühle Nachtluft auf seiner Haut und<br />

konnte den Gestank der Großstadt riechen. Es war seltsam,<br />

nach so vielen Jahren wieder aus dem Untergrund<br />

hervorzukommen, aber jetzt, wo er wieder nach oben<br />

gekommen war und wieder in die Welt der lebenden gerufen<br />

worden war, fühlte er sich herrlich. Endlich würde er wieder<br />

seine blutige Vergeltung bekommen, die ihm nach dem, was<br />

man ihm angetan hatte, zustand...<br />

Unsicher erhob sich der Mann in dem schmutzigen Schlafsack<br />

von der Straße und blickte Candyman an, als er an ihm vorbei<br />

ging. Er sah den langen schwarzen Mantel des <strong>Candymans</strong> und<br />

es schien beinahe ein Wunder zu sein, dass er nicht über den<br />

Boden schleifte. Ein ekelhaft süßlicher, nach Verwesung<br />

stinkender Geruch ging von ihm aus und als er dem Mann am<br />

Boden in die Augen blickte, fuhr dem obdachlosen Mann<br />

namens Bowers ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er sah<br />

dem unheimlichen Mann mit dem langen schwarzen<br />

21


Ledermantel ins Gesicht und das Gesicht des kultiviert<br />

aussehenden Schwarzen wirkte wie eine eiskalte, versteinerte<br />

Maske. Bowers spührte, wie ihm beim bloßen Anblick des<br />

Mannes eisige Kälte überkam und momentan schien es ihm so,<br />

als würde ihm nie wieder warm werden. Tatsächlich spührte er<br />

die Kälte später immer noch, als er Stunden später versuchte,<br />

sich an einer brennenden Mülltonne zu wärmen, während die<br />

anderen über seine Geschichte lachten...<br />

Es dauerte nicht mehr lange, bis Candyman das<br />

heruntergekommene Viertel verlassen hatte und niemand<br />

schien ihn auf den belebteren Straßen zu bemerken. Er ging an<br />

einigen Leuten vorbei und auch wenn diese den großen Mann<br />

mit altmodischen Mantel und dem glänzenden Fleischerhaken<br />

bemerkten, sahen sie in ihren Augen nur einen weiteren<br />

Nachtschwärmer, der in den Weiten der Großstadt verloren<br />

gegangen war. Es fiel Candyman nicht schwer unerkannt durch<br />

die Straßen zu gehen, denn er konnte selbst entscheiden, für<br />

wen er sichtbar war und für wen nicht. <strong>Das</strong> war einer der<br />

Fähigkeiten, die Candyman jedes mal aufs neue genoss, wenn<br />

er unter der Erde hervorkam. Er sah in die Herzen der Leute<br />

hinein und nahm alles auf, ihre Träume, ihre Hoffnungen, ihre<br />

Ängste. Wie ein Schatten huschte er vorbei und nahm mit jeder<br />

Sekunde mehr von dieser Stadt und all den verlorenen Seelen,<br />

die sie bewohnten auf. Einem anderen Mann, der mit<br />

schmutzigen Jacke und einer glühenden Zigarette zwischen den<br />

Fingern erschien er als hübsches blondes Mädchen mit<br />

verschmiertem Makeup und Tränen im Gesicht. Wenige<br />

Augenblicke später war Candyman bei dem Wohnblock<br />

angekommen, in dem Nancy wohnte. Dieses Mädchen glaubte<br />

nicht an ihn und hatte ihn herausgefordert, wieder in die Welt<br />

der Lebenden zurückzukehren, sie hatte seine Existenz<br />

22


verspottet und Candyman verspürte erneut den Durst nach<br />

Rache, denn der Glaube an ihn war es, der ihn am Leben<br />

erhielt. Niemals würde er zulassen, dass sein bösartiger Geist<br />

aus den Herzen der Menschen verschwand...<br />

Lange beobachtete Candyman das schlafende Mädchen und es<br />

war für ihn kein Problem, sich unbemerkt an das Fußende ihres<br />

Bettes zu stellen. Gierig sog er ihre Gedanken in sich auf und<br />

er stillte seinen Hunger mit ihren Ängsten. Dieses Mädchen<br />

wagte es also, seine Existenz anzuzweifeln? Er würde ihr ein<br />

Zeichen setzten, entschloss Candyman. Er würde ihr lehren,<br />

was es heißt, Angst zu haben. Und dann, wenn er sie an den<br />

letzten Rand der Verzweiflung getrieben hatte, dann würde er<br />

ein weiteres Mal zuschlagen...<br />

Nancy lag regungslos in ihrem Bett und die Bettdecke lag faltig<br />

über ihr. Candyman sah ihre langen, kastanienbraunen Haare,<br />

die wie Bindfäden auf ihr Kissen fielen und lange Schatten<br />

zogen sich über ihr schlafendes Gesicht. Eine von Nancys<br />

nackten Schultern ragte unter der Bettdecke hervor und der<br />

Träger ihres Pyjamas war ihr über den Arm gerutscht.<br />

Nancy zuckte unruhig, als Candyman in ihre Träume eindrang<br />

und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Ihr traumloser Schlaf<br />

wurde gestört und Schatten vernebelten ihr Unterbewusstsein.<br />

Sie zuckte ein weiteres Mal und die Bettdecke raschelte<br />

unruhig und die Anzeige des Radioweckers neben Nancys Bett<br />

flackerte und spielte verrückt, als Candyman an dem Wecker<br />

vorbei ging.<br />

Candyman hatte von Nancys Traum Besitz ergriffen und seine<br />

Präsenz verdarb ihn, so wie giftige Abfälle einen See<br />

verderben.<br />

Nancy rannte wie ein gehetztes Tier durch ein schattenhaftes<br />

23


Labyrinth aus Nebel und sie konnte kaum etwas sehen, da der<br />

Nebel ihr die Sicht nahm. Sie trug komischerweise noch immer<br />

ihren Pyjama und die kalte Luft machte sich an ihren nackten<br />

Beinen und Armen bemerkbar. Nancy zitterte vor Kälte und<br />

Angst machte sich in ihr breit. Sie lief schneller und konnte ihr<br />

Herz laut in ihrer Brust pochen hören. Hinter ihr hörte sie, wie<br />

sich schwere Schritte näherten und es waren viele Schritte.<br />

Geschrei ertönte hinter ihr, schreckliches Geschrei, deren<br />

Ursprung sie sich nicht einmal vorstellen konnte...<br />

Jetzt lichtete sich der Nebel und Nancy lief weiter aus der<br />

Dunkelheit hinaus, wobei ihre nackten Füße über den harten<br />

Boden rannten. Die junge Frau spürte, wie sich ein spitzer<br />

Stein in ihren linken Fuß bohrten und sie rannte mit<br />

schmerzverzerrtem Gesicht weiter. Einzelne helle Lichtflecken<br />

flackerten auf und Nancy erkannte, wo sie gelandet war. Sie<br />

stand an einem schmutzigen Flussufer und sie sah, wie sich das<br />

Licht von den Häusern Chicagos in dem schmutzigen,<br />

schwarzen Wassers spiegelte. Nancy blieb stehen und fragte<br />

sich, was los sei. Wie war sie hier hergekommen?<br />

Erleichtert stellte Nancy fest, dass das Geschrei hinter ihr<br />

abnahm und bald ganz verschwand. Trotzdem war die<br />

Situation, in der sie sich befand immer noch angst einflößend.<br />

Alles um Nancy herum war dunkel und das schwarze Wasser<br />

des Flusses floss gleichzeitig bedrückend und bedrohlich durch<br />

das von Abfall verdreckte Flussbett. Alles wirkte so surreal und<br />

dennoch war Nancy hier. Wieso? Wenn das alles nicht real war,<br />

würde sie schließlich nicht die spitzen Steine spüren, die sich<br />

in ihre Füße bohrten...<br />

Lange hörte Nancy dem fließenden Wasser zu, wie es an ihr<br />

vorbei floss und dann begann sie neben dem Fluss entlang zu<br />

gehen. In der Ferne hörte Nancy einen Vögel schrill schreien<br />

und langsam und vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den<br />

24


anderen. Glasscherben ragten zwischen den schwarzen Steinen<br />

und dem verrottenden Abfall hervor und Nancy gab Acht, sich<br />

nicht irgendwo zu verletzen. Der beißende Gestank von Müll<br />

und toten Fischen stieg ihr in die Nase und mit jedem weiteren<br />

Schritt stieg der Ekel in ihr hoch. Dieser Fluss war abstoßend<br />

und tote Fische lagen am Ufer. Dennoch ging Nancy weiter,<br />

auch wenn sie eine Welle der Übelkeit spührte und sich ihr<br />

Magen bei dem Gestank umdrehte. Sie sah ihr Spiegelbild in<br />

den schwarzen Wogen, wie es auf und ab schwappte und jede<br />

einzelne Welle teilte ihr Ebenbild auf dem Wasser wieder auf.<br />

Dann spührte Nancy einen stechenden Schmerz an ihrem<br />

rechten Fuß. Etwas hatte sie gestochen und ein spitzer<br />

Schmerzensschrei kam aus ihrer Kehle. Vorsichtig hob sie<br />

ihren schmerzenden Fuß und sah, wie ein winziger Stachel in<br />

ihm steckte. Der winzige Stachel einer Biene, an dem sie einen<br />

kleinen Tropfen Gift sehen konnte, der in der Dunkelheit<br />

funkelte. Dann blickte Nancy nach unten zu Boden und sah,<br />

wie sich eine sterbende Biene auf dem verdorbenen Boden des<br />

Flussufers krümmte. Nancy war auf die Biene getreten und das<br />

Tier, das sie gestochen hatte, verendete am Boden. Der<br />

herausgerissene Stachel hatte die Biene tödlich verletzt und<br />

Nancy sah die verknickten Flügel des gelb-schwarzen Insekts,<br />

dass am Rücken lag und dessen lange, verbogene Beine in<br />

letzten Krämpfen in der Luft zuckten. Der Stich einer Biene ist<br />

für das Tier selbst von Natur aus tödlich, fiel Nancy wieder ein<br />

und ihr Fuß schmerzte. Im Hinterleib des Tiers hatte der<br />

Stachel ein großes Loch hineingerissen und als das Tier tot und<br />

mit erstarrten Gliedern am Boden zusammensackte, hörte<br />

Nancy auf der anderen Seite des Flusses, dass sich etwas<br />

bewegte. Erschrocken drehte sich die junge Frau um und<br />

blickte der schwarzen Silhouette eines großen Mannes<br />

entgegen, der auf der anderen Seite des Flusses auftauchte. Mit<br />

25


Unbehagen wich Nancy vom Fluss zurück, als könnten die<br />

Arme eines schrecklichen Ungeheuers, dass in dem schwarzen<br />

Wasser lebte, sie an den Beinen packen und in die Tiefe zerren.<br />

„Nancy!“, rief die Stimme des Mannes auf der anderen Seite<br />

des Flusses und Nancy fand, dass die tiefe Stimme gleichzeitig<br />

unheimlich wie angenehm und ruhig klang.<br />

„Nancy... ich bin nur für dich wieder gekommen...einzig und<br />

allein für dich!“<br />

Nancy zuckte erschrocken zusammen, als sie hörte, was die<br />

Gestalt des dunklen Mannes sagte. „Du wirst bald mir gehören,<br />

Nancy... <strong>Das</strong> verspreche ich...!“, rief die Gestalt am anderen<br />

Ufer herüber und Nancy schlug ihre Arme vor der Brust<br />

zusammen, um die unangenehme Kälte zu verreiben, die an ihr<br />

hochzuklettern schien...<br />

Dann wachte Nancy auf. Sie wachte nicht laut schreiend auf,<br />

wie man es aus den Filmen kennt, sondern sie schreckte leise<br />

hoch und verunsichert blickte sie sich in ihrem Schlafzimmer<br />

um. Der Traum hatte sie beunruhigt und ein dumpfes Gefühl<br />

breitete sich in ihrem Magen aus, ein Gefühl, dass man kennt,<br />

wenn man sich einen richtig guten Horrorfilm ansieht... Nancy<br />

spührte, dass ihr Pyjama an ihrer schweißnassen Haut klebte<br />

und ihre Haare hingen ihr in wirren Strähnen ins Gesicht. Mit<br />

zitternden Schultern schlug Nancy ihre Bettdecke weg und<br />

erhob sich. Langsam ging sie zum Fenster am anderen Ende<br />

des Raums und sie tapste unbeholfen und beunruhigt durch die<br />

Dunkelheit. Stöhnend zuckte sie zusammen, als sie sich ihren<br />

nackten rechten Oberschenkel knapp unterhalb ihrer knappen<br />

Pyjamahose an der Tischkante stieß. Dann öffnete sie das<br />

Fenster, die kalte Luft kühlte ihren verschwitzten Körper ab<br />

und langsam beruhigte sich Nancy wieder ein wenig. Sie<br />

26


atmete tief durch und legte die linke Hand zwischen ihre<br />

Brüste, um ihren sich langsam beruhigenden Herzschlag zu<br />

spüren. Sie stand noch einige Minuten dort, bis sie zu ihrem<br />

Bett zurückkehrte. Als sie am Fußende stand, stieg ihr ein<br />

unangenehmer fauliger Geruch in die Nase und Nancy blicke<br />

sich erneut verwundert im Raum um...<br />

27


1.Zwischenspiel<br />

Chicago 1862<br />

Der heutige Tag war heiß und die Sonne brannte erbarmungslos<br />

auf die staubigen Straßen von Chicago herab. Als Daniel<br />

Robitaille an diesem Morgen sein Geschäft betrat, wusste er,<br />

dass heute der reiche Mr. Robertiner bei ihm aufkreuzen<br />

würde, denn er hatte eine Bestellung Schuhe bei ihm<br />

eingereicht. Eigentlich war es seltsam, dass ein so reicher und<br />

einflussreicher Mann wie Robertson, der sogar im Stadtrat<br />

arbeitete und regelmäßig mit dem Bürgermeister zu Abend aß,<br />

bei Robitaille kaufte, denn für einen Mann der Oberschicht<br />

wäre es schließlich unter seiner Würde, bei einem Schwarzen<br />

zu kaufen...<br />

Auch wenn Daniel wusste, dass das völliger Unsinn war,<br />

machten ihm immer wieder viele das Leben schwer, weil sie<br />

die Schwarzen hassten. Ach wenn Chicago schon damals eine<br />

verhältnismäßig große Stadt war, fiel es vielen Menschen sehr<br />

schwer, auch Leute mit anderer Hautfarbe zu akzeptieren und<br />

die meisten Leute, auch viele aus Mr. Robertsons Stand, gaben<br />

sich nicht einmal Mühe.<br />

Dazu kam noch, dass Daniel Robitaille ein wohlhabender<br />

Mann war, der sich seinen Wohlstand durch eine fixe<br />

Geschäftsidee erwirtschaftet hatte, indem er eine Maschine<br />

erfunden hatte, mit deren Hilfe er einfacher, schneller und<br />

billiger Schuhe herstellen konnte, als alle anderen in der Stadt<br />

und seine Schuhe hatten sogar noch qualitativ um einiges<br />

hochwertig, als die Schuhe der anderen Schuster in der<br />

gesamten Umgebung. Viele Leute konnten und wollten es<br />

einfach nicht verstehen, dass ein Schwarzer, ein, wie manche<br />

von ihnen schimpften, Nigger, erfolgreicher und reicher<br />

28


werden konnte, als sie selbst.<br />

Auch wenn er immer wieder einige Probleme mit Rassismus<br />

hatte, liefen die Geschäfte für Daniel ziemlich gut, denn fast<br />

jeder in der Stadt kaufte bei ihm und das trotz seiner Hautfarbe.<br />

<strong>Das</strong> kam wahrscheinlich aus dem einzigen Grund, dass seine<br />

Schuhe die besten und die billigsten waren. Es war, wie<br />

Daniels Vater immer gesagt hatte, nämlich so, dass ein<br />

anständiger Mann, der anständig arbeitete, angemessen belohnt<br />

wurde, egal, ob er weiß, schwarz oder sonst was war. Genau<br />

das hatte Daniels Vater gesagt hatte, nachdem die Sklaverei<br />

abgeschafft worden war. Sein Vater war früher einmal ein<br />

Sklave gewesen, bis die gesetzliche Abschaffung der Sklaverei<br />

ihn zu einem freien Mann gemacht hatte...<br />

Daniel stellte sich an das Schaufenster seines Ladens und<br />

wischte mit dem Saum seiner Jacke ein wenig Staub weg,<br />

während ein beladener Pferdewagen die Straße entlang trabte.<br />

Dann ging Daniel wieder in den Laden zurück und sah in sein<br />

Terminbuch. Bald würde Mr. Robertson auftauchen und seine<br />

Schuhe bezahlen. Im Regal neben Daniel stand die Schachtel<br />

mit den Lederschuhen und diese Schuhe waren ein gutes Stück<br />

Arbeit, die ihren Preis wert waren. Nachdem Robitaille seine<br />

Taschenuhr aufgezogen hatte und die glänzende Uhr wieder in<br />

seiner Jackentasche verschwinden ließ, hörte Robitaille, wie<br />

Mr. Robertson und sein Sekretär an der Tür klopften. Daniel<br />

öffnete die Tür und ließ die beiden Männer hinein und auch<br />

wenn ihm klar war, dass beide Männer einen gewaltigen Groll<br />

gegen ihn hegten, weil er dunkelhäutig war, zeigte er es ihnen<br />

nicht.<br />

„Mr. Robertson, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen“,<br />

begrüßte Daniel den Mann mit den grauen Haaren und stellte<br />

sich in die Tür. Neben Mr. Robertson, einem dicken Mann, der<br />

29


graue Haare und eine goldene Brille in seinem streng<br />

blickenden Gesicht trug, kam sein Sekretär namens Theodore<br />

Zykloid neben ihm herein. Zykloid war beinahe Kopf kleiner<br />

als Daniel und er trug eine braune Jacke. Mr. Robertson nahm<br />

seinen Hut ab und legte ihn auf die Theke des Ladens. „Ich<br />

hoffe, Sie sind mit meinen bestellten Schuhen fertig geworden,<br />

Mr. Roba...Robi...“<br />

„Robitaille“, half ihm Daniel weiter. „Daniel Robitaille, Sir...“<br />

Mr. Robertson schaute zu Boden und dachte wütend: Was<br />

denkt dieser Nigger, dass er mich belehren kann.... Glaubt der,<br />

er ist schlauer als ich?<br />

Daniel drehte sich zu dem Regal um und nahm die Schachtel<br />

mit Mr. Robertsons Schuhen heraus. Ohne einen großen<br />

Aufwand zu machen, stellte Robitaille die Schachtel neben den<br />

Hut des Mannes, der langsam aber sicher bereits auf die<br />

sechzig zuging und nahm die beiden glänzenden Lederschuhe<br />

heraus.<br />

„Hier, mein Herr“, meinte er und zeigte seinem Kunden die<br />

Schuhe. „Ohne mich selbst loben zu wollen, sage ich Ihnen,<br />

dass dieses Paar Schuhe wirklich gute Arbeit ist. Sie sind aus<br />

bestem Leder gefertigt und ich habe eine extra gute Passform<br />

gewählt, damit sie wirklich zufrieden sind!“<br />

Mit diesen Worten übergab Daniel Robertson die Schuhe und<br />

Robertson begutachtete sie eingiebig.<br />

„Sie scheinen sich hier wirklich Mühe gegeben haben“,<br />

stimmte Robertson zu und dann sah er rüber zu seinem<br />

Sekretär und befahl ihm: „Mr. Zykloid, stellen Sie diesem<br />

Mann seinen Gehaltsscheck aus.“<br />

Der Sekretär nickte und zog das Scheckbuch hervor. „Wie viel<br />

schulden wir Ihnen, Mr. Robitaille“, fragte Lyoid und zögernd<br />

meinte Daniel: „Sechzig Dollar, Sir. <strong>Das</strong> ist ein angemessener<br />

Preis für mein Angebot.“<br />

30


„Gut“, meinte Lyoid nickend und kritzelte den Scheck nieder.<br />

Dann übergab er den Scheck an Daniel. „Bringen Sie die Kiste<br />

mit den Schuhen zum Wagen!“, forderte Robertson Daniel auf<br />

und er folgte mit der Kiste in den Armen den beiden Männern.<br />

Und als Robitaille den Laden verließ und zum Wagen von Mr.<br />

Robitaille hinüber ging, sah er zum ersten mal Mr. Robertsons<br />

Tochter...<br />

<strong>Das</strong> junge Mädchen saß mit übereinander geschlagenen Beinen<br />

auf dem Wagen und ihr blondes Haar fiel ihr über die<br />

Schultern. In ihren blauen Augen strahlte heller Glanz und ihr<br />

unschuldiges Gesicht lächelte dem jungen Mann zu, der die<br />

Schachtel mit den Schuhen zum Wagen trug. Noch nie zuvor<br />

hatte Daniel in seinem Leben ein schöneres Mädchen als Mr.<br />

Robertsons Tochter gesehen. Für einen kurzen Augenblick<br />

vergaß Daniel alles um sich herum und auch, als Mr.<br />

Robertsons ihm etwas zurief, bemerkte er es kaum. Er hatte nur<br />

Augen für das hübsche Mädchen und es war ihm schleierhaft,<br />

wie ein gemeiner Kerl wie Robertson eine solche Tochter<br />

haben konnte.<br />

Daniel sah dem Mädchen nach und auch, nachdem der<br />

Kutscher an den Zügeln riss und den Wagen in Bewegung<br />

setzte, blickte der junge Mann dem Wagen noch solange nach,<br />

bis er am Ende der langen Straße verschwand...<br />

31


7.Kapitel<br />

Der Tote am Fluss<br />

Es war früher Morgen und schon wieder gab es für Lieutenant<br />

Stonehill und seine Leute Arbeit. Vor weniger als einer halben<br />

Stunde war bei ihnen in der Einsatzzentrale ein Anruf<br />

eingegangen, dass man am Flussufer nahe von Cabrini Green<br />

einen Toten gefunden hatte. Stonehill war es gewohnt, dass es<br />

in den Problemvierteln oft Gewalt gab, aber in letzter Zeit war<br />

er mit seinen Leuten viel zu oft hier. Der Mann stand an der<br />

Motorhaube seines Wagens und hielt einen Pappbecher mit<br />

Kaffee in der Hand, während er beobachtete, wie die anderen<br />

den Fundort der Leiche absicherten. Mehrere Autos standen in<br />

der Nähe und Stonehill verfluchte das Wetter, da es schon<br />

wieder leicht regnete. Regentropfen perlten von seinem Mantel<br />

ab und schließlich kam einer seiner Kollegen auf ihn zu: „Hey,<br />

Stonehill, Sie sollten sich das mal ansehen!“<br />

Chris Stonehill folgt dem Polizist und die beiden Männer<br />

gingen mit unsicheren Schritten das verdreckte Flussbett<br />

entlang und bei jedem Schritt konnten sie die Steine hören, die<br />

sie mit ihren Schuhen verschoben.<br />

„Wir haben den Toten dort drüben gefunden. Er ist<br />

wahrscheinlich ein Obdachloser gewesen, der sich unter der<br />

Brücke verkrochen hat.“<br />

„Konntet ihr schon die Todesursache feststellen?“, fragte der<br />

dunkelhäutige Lieutenant und warf einen Blick auf seine<br />

Armbanduhr. Es war erst zwanzig nach sechs und wie es<br />

aussah, würde es für ihn heute noch ein langer Tag werden...<br />

„Nicht, dass ich wüsste, aber vielleicht haben die Typen von<br />

der Gerichtsmedizin inzwischen etwas raus gefunden.“<br />

Stonehill nickte und als die beiden Polizisten an der Traube, die<br />

32


sich um die Leiche versammelt hatten, vorbeikamen, sahen sie<br />

den Toten.<br />

Die Leiche des Mannes lag auf dem Rücken neben dem Fluss<br />

und sein linker Arm trieb bereits im Wasser. Der Mann schien<br />

tatsächlich ein Obdachloser gewesen zu sein, dachte sich Chris,<br />

da die Kleider des Mannes völlig abgewetzt waren und einige<br />

Meter weiter neben ihm lagen ein kaputter Schlafsack und ein<br />

Einkaufswagen voller aus dem Müll gefischter Schätze.<br />

„Was ist mit dem Typen passiert?“, fragte Chris. „Ich kann hier<br />

an dem Toten keinerlei Gewalteinwirkung erkennen...“<br />

Ein Polizist von der Spurensicherung drehte sich zu Chris um<br />

und sagte: „Wir haben entdeckt, dass der Tote eine ziemlich<br />

große Anzahl an Bienenstichen aufweist. Vielleicht hat sein<br />

Tod etwas mit einer allergischen Reaktion zu tun. Wie Sie<br />

sicher wissen, haben viele Menschen eine derartige Allergie.<br />

Ein Bienenstich kann bei einem Allergiker zu<br />

Atembeschwerden oder Atemnot führen. Wenn man von vielen<br />

Bienen gestochen worden ist, kann es leicht passieren, dass das<br />

zu Ersticken führen kann!“<br />

„Was?“, meine Stonehill ungläubig. „Sie glauben, dass dieser<br />

Mann an Bienenstichen gestorben sein könnte. Sehen Sie sich<br />

doch mal um, in der Innenstadt gibt es selbst im Hochsommer<br />

kaum Bienen und erst recht nicht hier unten am Fluss...“<br />

Sein Gegenüber widersprach Chris und sagte: „Wir haben<br />

einige tote Bienen in der Nähe der Leiche finden können und<br />

es stecken tatsächlich noch die Stacheln in den Stichwunden.<br />

Es herrscht kein Zweifel, dass es sich hier um Bienenstiche<br />

handelt. Ob diese Stiche wirklich die Todesursache sind,<br />

müssen wir noch herausfinden.“<br />

„Überprüfen Sie im Labor, ob der Tote unter Drogeneinfluss<br />

stand, als er gestorben war. Ich meine, in letzter Zeit sind<br />

Überdosen hier beinahe an der Tagesordnung. Seit die Drogen<br />

33


hier immer billiger zu haben sind versinken wir hier in einem<br />

See aus Heroin...“<br />

Chris Kollege stellte sich dazu und meinte: „Hat jemand bereits<br />

die Umgebung nach weiteren Hinweisen abgesucht?“<br />

„Noch keiner wirklich?“, antwortete ihm eine schwarzhaarige<br />

Polizistin, die irgendetwas notierte und dann sagte Chris zu<br />

seinem Partner: „He Arnie, wir machen das. Komm mit mir mit<br />

und sieh dich um!“<br />

Wenig später hatten die beiden Männer die anderen hinter sich<br />

gelassen und schlenderten neben dem im Wind flatterten<br />

Absperrungsband her.<br />

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Churchill mit seiner<br />

Bienenstich-Theorie Recht hat“, gab Chris zu. „<strong>Das</strong> kommt mir<br />

nämlich ehrlich gesagt irgendwie sinnlos ...“<br />

Arnie nickte und meinte dann: „Man kann ja nie wissen.<br />

Vielleicht stimmt es ja trotzdem.“<br />

„Jetzt sieh dir mal das an!“, rief Chris auf einmal und deutete<br />

auf den Kanalschacht.<br />

„Der Kanalschacht steht offen. Wir sollten das mal<br />

überprüfen.“<br />

Chris ging zu dem offenen Kanalschacht und sah, dass das<br />

Kanalgitter wenige Meter vom Kanaleingang entfernt lag.<br />

„Hier stimmt was nicht“, meinte Chris. „Wieso ist der Schacht<br />

offen? Eigentlich ist der Kanal hier schon seit Jahren still<br />

gelegt!“<br />

„Keine Ahnung, Mann“, sagte Arnie schulterzuckend und<br />

meinte: „Ich glaube nicht, dass das etwas von Bedeutung ist.<br />

Vielleicht waren das bloß wieder irgendwelche...“<br />

„Wir sehen uns das mal an!“, sagte Chris und kniete sich vor<br />

den Kanalschacht. Er blickte in das dunkle Loch, das sich vor<br />

ihm auftat und kramte dann seine Taschenlampe aus dem<br />

34


Mantel. Er knipste sie an und ließ den Lichtkegel durch den<br />

dunklen Tunnel schweifen.<br />

„Kannst du was erkennen?“, fragte Arnie und blickte ebenfalls<br />

hinab. Auf einmal zuckte Chris erschrocken zusammen und<br />

ließ den Taschenlampenstrahl wieder zurück gleiten.<br />

„Fuck, Mann!“, rief der Polizist erschrocken und deutete mit<br />

der Hand in den Schacht. „Siehst du das?“?<br />

Wenige Meter von ihnen entfernt sahen Arnie und Chris<br />

mehrere Bienenstöcke, die an der verrosteten Eisenleiter<br />

klebten. Sie sahen, wie sich schattenhaft Insekten hinter den<br />

dünnen zerbrechlichen papierähnlichen Wänden bewegten, wie<br />

ihre Fühler und Beine über das Papier kratzten und die beiden<br />

Polizisten hörten das beunruhigend ansteigende Summen der<br />

Insekten, das aus den tiefen Gängen der verdreckten,<br />

stillgelegten Kanalisation widerhallte.<br />

Am Boden lagen hunderte tote Bienen, deren verrenkte Glieder<br />

in die Höhe ragten und deren zerknitterte, ausgerissene Flügel<br />

sich über den Boden verteilten. Leere Bienenkörper lagen<br />

zwischen dem Müll und die toten Tiere stapelten sich zu hohen<br />

Bergen. Angeekelt verzog Chris das Gesicht und meinte:<br />

„Bienen niesten doch niemals in der Kanalisation....Was ist das<br />

für ne kranke Scheiße da unten...?“<br />

35


8.Kapitel<br />

Ruhe vor dem Sturm<br />

Nicht mal zwei Stunden später nachdem Lieutenant Stonehill<br />

und seine Leute den Toten unter der Brücke des Flusses<br />

gefunden hatten und die zwei Polizisten ihre schaurige<br />

Entdeckung in dem stillgelegten Kanalschacht gemacht hatten,<br />

war Nancy auf dem Weg zur Arbeit. Sie fuhr zum<br />

Einkaufszentrum, denn dort befand sich der Laden, in dem sie<br />

arbeitete und auf dem Weg dorthin kam sie an der Brücke<br />

vorbei. Noch immer flatterten dort die Absperrungsbänder und<br />

Nancy konnte die Polizisten, die unter der Brücke noch immer<br />

beschäftigt waren, sehen. Sie fragte sich, was wohl passiert sei,<br />

doch es war nichts genaues zu erkennen. Nur viele Leute, die<br />

dort herumstanden und dann sah sie noch mehrere Polizeiautos,<br />

die soweit vom Ufer des Flusses entfernt abgestellt worden<br />

waren, dass sie nicht auf dem Kiesbett stehen mussten.<br />

Stimmen riefen durcheinander und die ersten Journalisten, die<br />

den abgesperrten Tatort belagerten, wagten es, die<br />

Absperrungen zu übertreten.<br />

Dann, als Nancy in den Rückspiegel blickte und das Auto<br />

hinter sich bemerkte, dass zur abzweigende Straße nach unten<br />

abbog. Der schwarze Wagen war ein langer Leichenwagen, der<br />

von der Polizei angefordert worden war. Jetzt gab es für Nancy<br />

keinen Zweifel mehr, was dort unten geschehen war. Scheinbar<br />

war ein Toter gefunden worden, der jetzt abgeholt werden<br />

sollte. Und als Nancy noch ein weiteres Mal nach unten blickte<br />

und die Polizisten sah, die den schwarzen Plastiksarg von der<br />

Spurensicherung anhoben und zum Wagen trugen, zuckte sie<br />

zusammen. Sie erkannte den Ort aus ihrem Alptraum wieder,<br />

denn der Fluss unten, wo die Polizisten standen und die Leiche<br />

36


wegbrachten, war der selbe Fluss, an dessen Ufer sie in ihrem<br />

Trau gestanden hatte und wo sie dem unheimlichen<br />

Schattenmann begegnet war...<br />

Mit zitternden Händen hielt sie das Lenkrad fest und zwang<br />

sich, sich wieder zu beruhigen: <strong>Das</strong> ist bloß ein Zufall, das hat<br />

alles nichts zu bedeuten... Wahrscheinlich bildest du dir das<br />

bloß alles ein, sagte sie. Du kannst dich doch kaum noch an<br />

den Traum erinnern, wieso solltest du den Ort dann wieder<br />

erkennen können?<br />

Alles ist gut, meinte sie, du hast bloß schlecht geschlafen, das<br />

ist alles. Dann warf sie einen Blick in den ausklappbaren<br />

Spiegel, der über dem Lenkrad hing.<br />

Und du siehst heute furchtbar aus, musste sie sich selbst<br />

eingestehen, als sie sah, dass ihr die Nacht nicht gut getan<br />

hatte. Ihr Haar war schlecht frisiert und ihre Augen blickten<br />

verschlafen aus ihrem zerknitterten Gesicht.<br />

Nancy seufzte und schaltete mit müdem Gesicht das Autoradio<br />

ein. Ein alter Song der Grunge-Rockband Nirvana ertönte mit<br />

schlechtem Empfang und Nancy schlug mit der Faust leicht auf<br />

das Lenkrad. Genau wie Lieutenant Stonehill sich bereits vor<br />

zwei Stunden gesagt hatte, war sich Nancy ebenfalls sicher,<br />

dass der heutige Tag schrecklich werden würde...<br />

Wenn Nancy nur gewusst hätte, wie schrecklich die darauf<br />

folgenden Tage werden würden, hätte sie heute ihren Mund<br />

gehalten...<br />

Schon wenige Sekunden, nachdem sie bei dem Fotoladen, in<br />

dem sie arbeitete, angekommen war, empfing ihr Chef Mr.<br />

Albatros die junge Frau bereits mit einem ganzen Haufen<br />

Arbeit.<br />

„Da sind Sie ja endlich!“, rief der dicke Mann, der vor vielen<br />

37


Jahren einmal als Fotoreporter in Südafrika unterwegs gewesen<br />

war und der mit einem seiner Artikel vor langer Zeit einmal<br />

den Pulitzerpreis gewonnen hatte. Noch immer hatte Mr.<br />

Albatros die Auszeichnung in seinem Büro und präsentierte sie<br />

jedem, mit dem er z tun hatte. <strong>Das</strong>s er einmal in jungen Jahren<br />

in Südafrika unterwegs gewesen war, konnte man ihm nicht<br />

mehr ansehen und wenn man sich heute den dicken Mann<br />

ansah, dessen früher einmal blondes Haar sich eher schnell als<br />

langsam zu lichten begann und der immer mit hochrotem Kopf<br />

durch seinen Laden lief, um seiner Angestellten Aufträge zu<br />

erteilen, die diese dann in Rekordzeit zu erledigen hatte, schien<br />

es beinahe unglaublich.<br />

„Wir haben heute mal wieder viel zu tun, Nancy!“, meinte er<br />

und warf einen Blick auf den Terminkalender. „Wie Sie wissen,<br />

ist jetzt wieder Saison. Die Leute fahren bald in Urlaub und<br />

wollen sich vorher noch eine Kamera kaufen, damit sie ihren<br />

kleinen Liebling fotografieren können, wenn er am Strand die<br />

Sandburgen der anderen Kinder kaputt macht.... Übrigens<br />

haben wir noch einen ganzen Stapel Porträtfotos, die<br />

ausgedruckt und gerahmt werden müssen!“<br />

„Okay“, sagte Nancy mit gesenktem Kopf und befestigte ihr<br />

Namensschild, von dem Mr. Albatros bestand, dass es jeder<br />

einzelne Mitarbeiter, mit ihm selbst eingeschlossen, jederzeit<br />

und an jedem Ort während seiner Schicht tragen musste, an<br />

ihrer Bluse. „Womit soll ich anfangen, Sir?“<br />

Mr. Albatros antwortete sofort und ohne zu überlegen: „Fangen<br />

Sie damit an, die Porträtfotos auszudrucken und sehen Sie zu,<br />

dass Sie damit fertig sind, bevor die ganzen Kunden hier<br />

aufkreuzen. Alles klar?“<br />

Nancy nickte und Mr. Albatros meinte lachend: „Sie sind ein<br />

gutes Mädchen!“<br />

<strong>Das</strong> war wieder einer der Momente, in denen sie ihrem Chef<br />

38


am liebsten in die Eier getreten hätte. Denn wenn Mr. Albatros<br />

sagte: „Sie sind ein gutes Mädchen“, meinte er eigentlich:<br />

„Bring deinen Arsch in Bewegung und zwar ein bisschen<br />

plötzlich!!“<br />

Wenig später stand Nancy an dem großen Kopierer und druckte<br />

die Porträtfotos aus. Mit wenig Interesse betrachtete sie die<br />

Bilder und während sie die Fotos zum Einrahmen zurecht<br />

schnitt, musste sie wieder an ihren Traum und die Sache mit<br />

dem Candyman denken. Es musste schon ein ziemlich<br />

komischer Zufall gewesen sein, dass sie genau von dem Ort<br />

geträumt hatte, an dem heute morgen eine Leiche gefunden<br />

worden war. Nancy fragte sich, was dort wohl genaues<br />

geschehen ist und sie nahm sich vor, es möglichst bald heraus<br />

zu finden. In der Mittagspause wollte sie Linda suchen, die<br />

ebenfalls in der Nähe arbeitete und ihr alles erzählen.<br />

Wahrscheinlich würde Linda sie erneut auslachen, aber auch<br />

wenn Nancy das alles selbst ziemlich lächerlich fand, fand sie<br />

es trotzdem irgendwie beunruhigend...<br />

Später als Nancy ihre Mittagspause hatte und den Laden<br />

verließ, steuerte sie direkt nach oben in das Obergeschoss des<br />

Einkaufzentrums zu, um Linda zu finden, die ebenfalls dort<br />

arbeitete. Linda hatte einen Job als Verkäuferin in einem<br />

Klamottengeschäft und normalerweise hatten die beiden<br />

gleichzeitig Mittagspause. Als Nancy Linda traf, machte sie<br />

sogleich Bekanntschaft mit Lindas neuem Freund, von dem sie<br />

ihr erzählt hatte. Corey Weaver, so hatte Linda ihn vorgestellt,<br />

war ein junger Mann, der bei der Sicherheitstechnik im<br />

Einkaufszentrum arbeitete. Auf Nancy machte er einen recht<br />

freundlichen Eindruck, auch wenn er für ihren Geschmack<br />

39


etwas unentschlossen wirkte. Er hatte kurze braune Haare und<br />

trug eine graue Jacke. Seine Hände hatte er in der Hosentasche<br />

und als er Nancy begrüßte, lächelte er leicht schief.<br />

„Hi, wie geht’s?“, meinte er. „Linda hat mir von dir erzählt, du<br />

bist ihre Nachbarin, oder?“<br />

„Ja“, antwortete Nancy. „Wir wohnen auf dem selben Flur.“<br />

Dann meinte Linda zu Nancy: „Und wie geht’s dir heute? Hast<br />

du wieder so viel zu tun, wie gestern?“<br />

„Mindestens“, meinte Nancy und ließ den Kopf sinken. „In Mr.<br />

Albatros Laden herrscht heute wieder einmal Hochbetrieb.<br />

Bevor die Feriensaison wieder anfängt, wollen viele Leute sich<br />

eine Kamera kaufen und dem entsprechend ist dort auch viel<br />

los!“<br />

„Tut mir echt Leid“, versicherte Corey und fügte dann hinzu:<br />

„Was arbeitest du dort überhaupt so genau?“<br />

„Ich bin da für die Beratung der Kunden zuständig und ich<br />

muss alles mögliche, dass sonst so anfällt erledigen.“<br />

Corey nickte und meinte: „Du bist aber keine Fotografin, oder<br />

wie?“<br />

„Nein“, meinte Nancy kopfschüttelnd. „Aber ich wäre gerne.<br />

Ich will eigentlich bloß in dem Geschäft Erfahrung sammeln<br />

und irgendwann würde ich gerne als Fotografin arbeiten...“<br />

„Cool“, sagte Corey und nippte an seinem Kaffee. Dann warf<br />

er einen Blick auf sein Handy und meinte: „Tut mir Leid,<br />

meine Mittagspause ist gleich vorbei. Ich muss wieder los. Bis<br />

später dann!“<br />

Mit diesen Worten verabschiedete sich Corey von den beiden<br />

und ließ Nancy und Linda wieder allein zurück.<br />

Später, am Abend, als Linda und Nancy wieder zurück nach<br />

Hause kamen und durch den spärlich beleuchteten Flur gingen,<br />

wollte Nancy noch einmal mit Linda reden. Sie wusste, dass<br />

40


das alles mit ihrem Traum völlig absurd war und das es<br />

lächerlich war, sich wegen so etwas groß Sorgen zu machen,<br />

aber dennoch wollte sie Linda von ihrem komischen Traum<br />

erzählen. Also begann Nancy unsicher mit ihrer Erzählung:<br />

„Ich weiß, du wirst mich gleich auslachen, Linda. Aber ich<br />

muss dir was erzählen.“<br />

„Ach ja“, meinte Linda und blickte in Nancys Richtung. In<br />

Gedanken war sie gerade völlig wo anders und so wie Nancy<br />

ihre Erzählung begonnen hat, würde sie ihr wahrscheinlich<br />

gleich irgendetwas entweder total dämliches oder sinnloses<br />

erzählen. Kaum eine Erzählung, die mit du wirst mich sowie so<br />

auslachen, beginnt ist es meistens gar nicht wert, erzählt zu<br />

werden.<br />

„Was willst du mir denn erzählen?“<br />

„Du weißt doch noch, gestern Abend...“, begann Nancy erneut<br />

und Linda verdrehte ihre Augen.<br />

„Oh Nein!“, rief Linda mit künstlichem Entsetzen. „Erinnere<br />

mich bloß nicht daran... Schon allein die Tatsache, dass dein<br />

blöder Rückzieher so unglaublich peinlich gewesen ist, ist<br />

schon absolut daneben, aber auch noch...“<br />

„Hör mir zu“; unterbrach Nancy Linda, die sie ihrer Meinung<br />

schon viel zu oft unterbrochen hatte. „Ich habe es nachher,<br />

nach dem du gegangen bist noch mal getan...“<br />

„Was“, sagte Linda lachend. „Du hast den Candyman gerufen...<br />

Blödsinn!“<br />

„Nein“, protestierte Nancy mit zitternder Stimme. „Ich weiß<br />

dass es sich anhört, als wäre das alles bloß eine große Scheiße,<br />

aber als ich mich nach dem Duschen vor den Spiegel gestellt<br />

habe und den Namen des <strong>Candymans</strong> gesagt habe, ist es mir so<br />

vorgekommen, als würde mich jemand durch den Spiegel<br />

beobachten.“<br />

„Und du hattest Angst, dass er dir auf die Titten glubscht, oder<br />

41


was?“, fragte Linda lachend, um ihre Freundin, die ihrer<br />

Meinung nach absolut wirres Zeug redete, zu veralbern.<br />

„Nein! Bitte, Linda, bleib mal für ne Sekunde ernst“, bat<br />

Nancy um Lindas Aufmerksamkeit und dann fuhr sie fort: „Als<br />

ich danach eingeschlafen bin, hatte ich den schlimmsten<br />

Alptraum, den ich je hatte... Du weißt schon, einen von der<br />

Sorte, bei denen man schreiend aufwacht und so! Ich hab<br />

geträumt, dass ich an irgend so einem dreckigen Fluss gewesen<br />

bin und alles war dunkel und es hat gestunken. Auf dem<br />

anderen Ufer war ein Mann, der mir irgendetwas zugerufen<br />

hat... es war so was von scheiß unheimlich, glaub mir... und da<br />

war noch was mit toten Bienen. Schrecklich.“<br />

„Schrecklich“, wiederholte Linda mit leicht genervter Stimme.<br />

„Was willst du mir damit sagen, dass wir jetzt im neuen A<br />

Nigthmare On Elm-Street Film sind? Spukt dir Freddie Krueger<br />

durch die Träume...?“<br />

Langsam war es Nancy, die genervt war, da Linda es nicht<br />

lassen konnte, sie zu verarschen. Auch wenn es albern klang,<br />

Nancy machte sich wirklich ein wenig Sorgen und eigentlich<br />

wollte sie, dass ihre Freundin sie beruhigen könne und keine<br />

Lachnummer aus ihr machen würde!<br />

„Linda, bitte!!“, bat Nancy und fuhr dann fort. „Als ich dann<br />

am nächsten Morgen dann, also heute, zur Arbeit gefahren bin,<br />

bin ich wieder über die Brücke über den Fluss, du weißt schon,<br />

oder. Und dort habe ich gesehen, dass dort eine Menge<br />

Polizisten gewesen sind, die da alles abgesperrt hatten. Und<br />

weißt du, warum? Da wurde heute morgen eine Leiche<br />

gefunden... Ich hab nichts genaues gesehen, aber da war einer<br />

dieser Plastiksärge und ein Leichenwagen und überall diese<br />

Typen in den weißen Kitteln. Und als ich dann noch einmal<br />

hingesehen habe, ist mir aufgefallen, :dass dieser Ort genau der<br />

selbe wie in meinem Traum gewesen war!“<br />

42


Linda blickte ihre Freundin an, die scheinbar wirklich Angst<br />

hatte und deren Augen sie unsicher anblickten.<br />

„Okay“, sagte Linda vorsichtig und sah Nancy ein wenig<br />

mitleidig an. „Ich hab schon verstanden, was du mir sagen<br />

wolltest, aber was ist jetzt daran so krass?“<br />

Nancy schnaubte frustriert auf. Ihre Freundin verstand wirklich<br />

gar nichts. Wenn sie ihre Geschichte dem Briefkasten im<br />

Erdgeschoss erzählt hätte, wäre sie auf mehr Verständnis<br />

gestoßen! Warum verstehst du das denn nicht, dachte Nancy<br />

und rief dann beinahe laut: „Ich habe geträumt, dass ich an<br />

einem Ort wäre, an dem wahrscheinlich genau während ich<br />

geschlafen habe, jemand gestorben ist!!“<br />

„Hey, Kleine!“, meinte Linda aufmunternd und legte Nancy<br />

ihre Hände auf die zitternden Schultern ihrer Freundin. Sie<br />

hatte jetzt bemerkt, dass das alles Nancy ziemlich mitnahm.<br />

Egal ob sich das alles blöd anhörte, schließlich war Nancy ihre<br />

beste Freundin. Linda hörte auf, ihre Freundin zu veralbern.<br />

„Ich versteh schon, dass du beunruhigt bist, aber du weißt ja<br />

selbst, dass sich das alles ziemlich abwegig anhört. Glaubst du<br />

nicht, dass das alles bloß Zufall ist?“<br />

Nancy wusste nicht genau, was sie antworten sollte, aber sie<br />

stimmte Linda zu. Sie wusste ja selbst, dass das alles bloß<br />

Einbildung gewesen war.<br />

„Ja klar“, meinte Nancy. „Du hast Recht. Wahrscheinlich hab<br />

ich irgendwie überreagiert!“<br />

Die junge Frau blickte zu Boden und lächelte matt. Dann hob<br />

sie den Kopf wieder und dann meinte Linda: „Lass uns das<br />

ganze einfach vergessen. Okay?“<br />

Nancy nickte lächelnd: „Ja genau. Ich hab echt genug von<br />

diesem Scheiß...“<br />

43


9.Kapitel<br />

<strong>Candymans</strong> Fluch<br />

Durch die tiefen Schächte der Kanalisation drang kein Laut der<br />

lärmenden Großstadt. Dort unten in dem Labyrinth aus Stahl<br />

und dreckigem Wasser herrschte Stille und das einzige, das<br />

man jetzt gerade hören konnte, waren die Wassertropfen, die<br />

plätschernd von der von dichtem Moos bewachsenen Decke<br />

fielen und Wellen in der dunklen Brühe, welche durch die<br />

stillgelegte Kanalisation dahin floss, auslöste. <strong>Das</strong> tiefe Echo<br />

der Tropfen hallte immer weiter durch die Dunkelheit und es<br />

gab hier unten nicht einmal Ratten, die diese unheimliche<br />

Idylle störten.<br />

So gefiel es Candyman gut, denn er genoss die bedrückende<br />

Stille in den dunklen Gängen, in die sich niemand jemals<br />

hinein verirrte. Dort unten in den Kanälen konnte er unbemerkt<br />

unter der Stadt umher wandeln und während ihn niemand<br />

störte, erinnerte sich Candyman an die früheren Zeiten. Nicht<br />

an die Zeit, als er noch unter den Lebenden geweilt hatte,<br />

sondern daran, wie er zwischen der Welt der Toten und der<br />

Lebenden dahin wandelte. An all das Blut, das er vergossen<br />

hatte und an all das köstliche Leid der Menschen, dass er von<br />

ihnen eingesogen hatte. All der Hass und die Gewalt, die hier<br />

in den herunter gekommenen Straßen regierten, waren wie<br />

nahrhafter Boden für Candyman, in dem er sich wie ein<br />

Unkraut ansetzten konnte und hier im Untergrund Wurzeln<br />

schlagen konnte.<br />

Er erinnerte sich an einen Tag im Sommer 1938, als er mit<br />

einer Gruppe Gangster, die während der Prohibition viel Geld<br />

mit Alkoholschmuggel gemacht hatten, sich nach mehreren<br />

44


ewaffneten Raubüberfällen in der gesamten Stadt, bei der<br />

insgesamt über zwanzig Menschen getötet wurden, in dem<br />

Viertel verschanzt hatten, gegangen war. Niemand hatte<br />

bemerkt, dass er anders war, als sie. Er hatte unter ihnen gelebt<br />

und auch wenn er direkt neben den Männern gestanden hatte,<br />

hatten sie ihn nie wirklich wahrgenommen. Er war dabei<br />

gewesen, als die Polizei versuchte, die Bande zu schnappen<br />

und allein an diesem Abend wurden zehn Polizisten und<br />

dreiundzwanzig Bandenmitglieder getötet. Danach war<br />

Candyman dem Anführer der Gruppe gefolgt, der mit fünf der<br />

Überlebenden versucht hatte, aus dem Bezirk zu fliehen. Der<br />

Bandenführer und seine Männer waren in einen Hinterhalt<br />

geraten, da sie von ihren eigenen Leuten, die sie zurück<br />

gelassen hatten, an die Polizei verraten worden waren. Auf dem<br />

runden Platz, wo jetzt ein Wachsalon und ein Friseurladen<br />

stehen und bei dem Nachts die beschmierte Reklametafel für<br />

das Heriotts-Diner flackernd leuchtet, wurden sie allesamt<br />

niedergeschossen und ihr Blut vermischte sich mit dem<br />

Regenwasser, welches in die Gulli am Rinnstein floss. <strong>Das</strong> war<br />

ein guter Tag gewesen...<br />

Die Straßen hatten so viel Leid gesehen und das Böse, dass<br />

sich dort schon seit über hunderten von Jahren ansammelte,<br />

schien hier tief unter den Häusern und Straßen viel präsenter zu<br />

sein, als man es sich oben überhaupt vorstellen kann. Hier<br />

unten spührte Candyman auch all die schrecklichen Taten, die<br />

schon lange vorher geschehen waren. Die Indianer des<br />

Cantchu-Hityct-Stamms, die hier von den englischen Soldaten<br />

während der zunehmenden Kolonisation des unberührten<br />

Landes hingemetztelt wurden. All die, die hier auf den<br />

Schlachtfeldern des amerikanischen Bürgerkriegs gefallen<br />

worden waren. Niedergeschossen und niedergestochen hatten<br />

45


die Leichen der Unabhängigkeitskämpfer hier im staubigen<br />

Sand gelegen, während das Donnern der Kanonen immer noch<br />

über sie hinweg dröhnte...<br />

Jetzt dachte Candyman an Nancy und das Bild der hübschen<br />

jungen Frau tauchte ihm im Geiste aus, so klar, als würde sie<br />

sich in dem schmutzigen Wasser spiegeln, welches in dem<br />

dunklen Schacht neben sich hin und her schwappt. Candyman<br />

stellte sie sich vor, wie sie wieder vor ihrem Spiegel stehen<br />

würde und hinein blicken würde. Tatsächlich sah er das<br />

Mädchen vor sich, sah ihr in die Augen und in ihren hübschen<br />

blauen Augen schien sich Verunsicherung zu spiegeln. Aber<br />

Candyman wusste, dass sie immer noch seine Existenz<br />

anzweifelte und das erzürnte ihn. Jeder, der ihn gerufen hatte<br />

und seine Existenz verlacht hatte, war durch seine Hand<br />

gestorben und Candyman wollte das junge Mädchen, welches<br />

ihre kastanienbraunen Haare vor dem Spiegel ausschüttelte,<br />

sodass sie über ihre nackten Brüste fielen, nicht sterben lassen,<br />

ohne sie von seiner Existenz zu überzeugen. Sie sollte es<br />

bereuen, ihn herausgefordert zu haben und sie sollte ihn<br />

fürchten...<br />

Schließlich war er Candyman, der dunkle Mann, der durch die<br />

Träume der Menschen wandelte und dessen Weg von Blut<br />

gesäumt war.<br />

46


10.Kapitel<br />

Der dunkle Mann<br />

Während die Turmuhr langsam und dumpf viertel vor zwölf<br />

schlug und der Mond, verdeckt von einigen gräulich<br />

schimmernden Wolken, durch das von Vorhängen halb<br />

verschlossene Schlafzimmerfenster von Nancys Apartment<br />

schien, betrat die junge Frau nur mit einem Handtuch bekleidet<br />

das dunkle Zimmer. Ihre Haare waren noch nass vom Duschen<br />

und Nancy ging mit langsamen Schritten zum Fenster und<br />

nachdem sie einen letzten Blick auf die Hochhäuser und die<br />

von Lichtern überfüllten Straßen geworfen hatte, zog sie die<br />

aus hellblauem Stoff gefertigten Vorhänge zu.<br />

Müde warf sie das um ihren Körper geschlungene Handtuch<br />

weg und warf erneut einen kurzen Blick in den Spiegel.<br />

Während sie die Kurven ihres nackten Körpers betrachtete, fiel<br />

ihr auf, wie viele Spiegel es eigentlich in ihrer Wohnung gab.<br />

Eigentlich zu viele, fiel ihr ein. Denn durch jeden Spiegel sieht<br />

der Candyman dich. Und jedes mal beobachtet er, wie du dich<br />

nackt vor dem Spiegel stellst...!!!<br />

Dieser Gedanke schoss Nancy ungewollt durch den Kopf und<br />

sie verdrängte die Erinnerungen gleich wieder. <strong>Das</strong> war alles so<br />

unsinnig, sagte sie sich entschieden und schlüpfte in ihren<br />

Pyjama. Nancy erinnerte sich an Lindas Worte, mit denen sie<br />

sie heute Abend in dem verlassenen Hausflur beruhigt hatte:<br />

Du überreagierst total, Nancy!!! <strong>Das</strong> ist alles bloß reiner Zufall,<br />

mehr nicht!<br />

Mit diesem Gedanken und der Versicherung, dass sie sich alles<br />

nur eingebildet hatte, legte sich Nancy auf ihr Bett und wenige<br />

Augenblicke, nachdem sie die weiße Daunendecke so weit<br />

hochgezogen hatte, dass ihr warm genug war, aber ihre<br />

47


Schultern immer noch an der Luft waren, übermannte sie<br />

bereits der Schlaf...<br />

Drei Zimmer weiter saß Linda auf ihrem Sofa und legte ihr<br />

Handy weg, nachdem sie Corey eine letzte SMS geschickt<br />

hatte und ihrem Freund eine gute Nacht gewünscht hatte. Der<br />

Display ihres Handys leuchtete noch kurz auf, bis er schließlich<br />

erlosch und Linda dämpfte das Licht in ihrem kleinen<br />

Wohnzimmer ein wenig, da sie ebenfalls bereits müde war. Ihr<br />

Sofa war groß genug, dass zwei Leute darauf hätten sitzen<br />

können und ihre Füße hatte die dunkelblonde junge Frau auf<br />

einem kleinen Glastisch. Neben ihren Füßen, die sie<br />

übereinandergeschlagen hatte stand ein halb leeres Weinglas,<br />

das sie sich nach dem langen Tag gegönnt hatte und Linda fiel<br />

auf,dass das Weinglas zusammen mit ihren Füßen und den grün<br />

lackierten Zehennägeln auf dem schicken Glastisch aussah, wie<br />

eine Szene aus einem Tarantino-Film.<br />

Irgendwie machte sie sich ein wenig Sorgen um Nancy und sie<br />

machte sich selbst auch einige Vorwürfe, schließlich hatte sie<br />

ihre verunsicherte Freundin erst mit gemeinen Witzen und<br />

Albernheiten ausgelacht und sie nicht ernst genommen, bis sie<br />

endlich versucht hatte, Nancy zu beruhigen. Und zum anderen<br />

war sie es schließlich gewesen, die Nancy überhaupt auf die<br />

Idee mit dem Candyman gebracht hatte und sie dazu<br />

angestachelt hatte, sich vor den Spiegel zu stellen und seinen<br />

Namen fünf mal zu nennen! Linda musste sich vorstellen, wie<br />

Nancy mit nassen Haaren aus der Dusche stieg und sich<br />

unsicher vor den Spiegel stellte. Linda konnte praktisch hören,<br />

wie ihre Freundin mit zitternden Schultern und leiser Stimme<br />

den Namen Candyman flüsterte... Irgendwie war es für Linda<br />

eine komische Vorstellung, sich Nancy vorzustellen, wie sie<br />

nackt in ihrem Badezimmer stand. Es war so, als würde sie mit<br />

48


ihren Gedanken in Nancys tiefste Privatsphäre eindringen; aber<br />

sie konnte gerade nicht anders. Vor ihren Augen sah sie Nancy<br />

weiter den Candyman rufen, bis sie den Namen fünfmal<br />

ausgesprochen hatte und dann zitternd und mit Gänsehaut auf<br />

dem nassen Rücken auf den Rand der Badewanne sinken,<br />

während der noch heiße Wasserdampf den Spiegel beschlägt<br />

und der Duschvorhang, der an der Badewanne hing, quer über<br />

Nancys Rücken streifte. Angst musste Nancy in dem Moment<br />

erfüllen: Angst, was dem Spiegel entsteigen würde. Angst, die<br />

ihre schmalen Schultern zum schlottern brachte und nicht<br />

wenige Augenblicke später in Verunsicherung und<br />

unbefriedigende Erleichterung umklappen würde...<br />

Warum nur, dachte Linda: Warum bist du immer so fertig mit<br />

den Nerven, Nancy? Linda wusste, dass Nancy immer sehr<br />

überspitzt in Stressreaktionen reagierte und ihr Nervenkostüm<br />

schnell blank lag. Oft brachte Nancy Lindas Hilfe, damit sie<br />

sich überhaupt wieder beruhigen konnte und wieder einen<br />

klaren Gedanken fassen konnte. Bei Nancy ging so etwas<br />

ziemlich schnell und Linda dachte, dass es wahrscheinlich<br />

daran lag, dass Nancy so früh ihre Mutter verloren hatte und ihr<br />

Vater ihr nie den nötigen Halt in Stresssituationen geben<br />

konnte. Nancy hatte nie wirklich gelernt, über etwas in Ruhe<br />

nachzudenken, sondern, wenn ihr einmal ein Gedanke in den<br />

Kopf schoss, war es für sie schwer, davon wieder<br />

wegzukommen...<br />

Arme Nancy, meinte Linda, warum hast du es nur so schwer...?<br />

Wieder schlich sich der dunkle Mann in Nancys Träume und<br />

verdarb sie...<br />

Er verbarg sich in den dunklen Schatten, die sich durch das<br />

49


dunkle Zimmer zogen und näherte sich dem schlafenden<br />

Mädchen, die unruhig in ihrem Bett lag und mit der<br />

zerknitterten Bettdecke raschelte. Als er seine langen Finger<br />

auf ihre Stirn legte, zuckte Nancy im Schlaf zusammen. Sie<br />

fand sich wieder an dem schmutzigen Flussufer wieder, dort,<br />

wo sie ihr erster Alptraum bereits hingeführt hatte. <strong>Das</strong><br />

Rauschen des dunklen Wassers ertönte gedämpft durch den<br />

Nebel, der sich am Boden ausbreitete und ein seltsames Gefühl<br />

schien Nancy weg von dem Wasser zu ziehen. Sie ging weiter<br />

und als sie an dem Brückenpfeiler ankam, der aus dem<br />

Flussufer hinaus ragte und in ihrem Traum wirkte, als wäre er<br />

tausend Meter hoch, blieb sie stehen. Wilde Schmierereien<br />

verunstalteten den Pfeiler und wenige Meter entfernt sah<br />

Nancy den Gullydeckel, der halb offen stand. Von dort unten<br />

konnte sie das leise Summen von Insekten (vielleicht Bienen?)<br />

hören und je näher sie dem Gulli kam, desto lauter stieg das<br />

Summen an. Mit aufsteigender Angst in ihr betrachtete Nancy<br />

den schmalen Gullischacht, der weit nach unten in die Tiefe<br />

reichte. Dunkelheit füllte den schmalen Schacht an und auch<br />

wenn Nancy Angst vor dem hatte, was sich dort in der<br />

Dunkelheit verbergen konnte, zog das dumpfe Gefühl in ihrem<br />

Innern sie nach dort unten. Mit zitternden Fingern griff die<br />

junge Frau nach den kalten Metallsprossen der verrosteten<br />

Eisenleiter, die nach unten in die Dunkelheit führte und Nancy<br />

kletterte langsam nach unten. Sie hörte, wie das Klappern ihrer<br />

Füße auf den verrosteten Leitersprossen in der Tiefe<br />

widerhallte und mit jeder Sprosse wuchs ihre Angst, dass eine<br />

der Sprossen unter ihr abbrechen würde und sie in die dunkle<br />

Tiefe stürzen würde.<br />

Doch nichts geschah und nach einer gefühlten Ewigkeit des<br />

Bangens erreichte Nancy den festen Boden unter ihren Füßen.<br />

Sie spührte den Steinboden unter ihren Füßen und neben ihr<br />

50


konnte sie das dunkle Wasser sehen, dass immer weiter hinein<br />

floss. Fauliger Gestank stieg ihr in die Nase und als Nancy die<br />

Wand berührte, konnte sie schleimige Moose an ihren Fingern<br />

fühlen. Sie ging langsam weiter und das dumpfe Gefühl zog sie<br />

immer weiter in die Dunkelheit.<br />

Es war, als würde sie ein stummes Flüstern in ihrem Kopf<br />

hören, dass sie weiter in die dunklen Kanäle lockte und Nancy<br />

konnte jeden ihrer Schritte in den labyrinthartigen Tunneln<br />

widerhallen hören.<br />

Schließlich fand sie sich in einer kleinen Kammer wieder, die<br />

scheinbar wie von Geisterhand unheimlich beleuchtet wurde.<br />

Flackernde Lichter kamen aus den dunklen Ecken hervor und<br />

warfen lange, zackige Schatten, die auf dem verdreckten<br />

Kanalboden wie schreckliche Ungeheuer umher wanden. In der<br />

Mitte das Raums konnte Nancy ein weiteres Gitter sehen, unter<br />

dem die dunkle Brühe des Kanalwassers weiter schwappte und<br />

vorsichtig presste sich Nancy mit dem Rücken an die Wand. Ihr<br />

Herz pochte langsam und rhythmisch und es war so, als würde<br />

Nancy ihr Herz, dass in ihrer Brust pochte, in den langen<br />

Tunneln widerhallten würden. Dumpfes Pochen ertönte aus den<br />

langen Korridoren, als würden sie Nancys Herzschlag<br />

antworten und Nancy fuhr langsam mit den Händen, die sie<br />

hinter dem Rücken hatte, die Wand entlang. Sie spührte<br />

Einkerbungen in der Wand und als sie sich umdrehte, um die<br />

Graffiti zu lesen, veränderten sie sich vor ihren Augen.<br />

Wirre Schriftzeichen verzierten die Wand und sie las mit vor<br />

Schreck aufgerissenen Auge. Die Wände schienen sie zu<br />

beschimpfen und sie las die schrecklichsten Obszönitäten und<br />

Widerlichkeiten über sich selbst, als hätte jemand seinen<br />

gesamten Hass auf sie hier hernieder geschrieben. Aber wer<br />

würde so etwas tun...<br />

51


Nancy ging mit zitternden Knien weiter und sah dann an die<br />

Stirnseite des Raums. Dort sah sie eine spärlich verputzte<br />

Ziegelwand, in der sich ein kleines Loch auftat, das gerade<br />

groß genug gewesen wäre, dass Nancy darunter hätte<br />

durchschlüpfen können. Die Wand war mit einem riesigen Bild<br />

verschmiert worden, dass das Gesicht eines farbigen Mannes<br />

zeigte, dessen Mund zu einem Schrei aufgerissen war. <strong>Das</strong><br />

Loch in der Wand lag genau so, dass es in dem Mund des<br />

Mannes lag und die ungewöhnlich langen Zähne des Mannes<br />

sich um das Loch schlossen. Die Pupillen seiner braunen, nach<br />

außen gerichteten Augen waren genau so schwarz, wie das<br />

dunkle Loch in der Wand, dass sich zwischen den schrecklich<br />

weit aufgerissenen Zahnreihen auftat. Langsam schritt Nancy<br />

auf das Loch zu, als ihr Traum auf einmal wie in einem<br />

überspielten Videoband zu einer anderen Szene überschwappte.<br />

Ein durchdringendes Fiepen und Krachen, das wie ein Radio<br />

mit schlechtem Empfang klang, quälte Nancys Ohren und sie<br />

schrie leise auf. Als sie ihre Augen wieder auftat, sah sie<br />

überall Blut um sich herum. Blut lief die verputzten Wände des<br />

Raums hinab und floss in den Ausguss in der Mitte des Raums.<br />

Nancy sah verkrustetes Blut in den Ecken und sogar an ihren<br />

Händen klebte Blut. Vor Entsetzen stieß sie einem stummen<br />

Schrei aus und schlug die blutverschmierten Hände vor dem<br />

Gesicht zusammen, was zur Folge hatte, dass sie das warme<br />

Blut an ihren Wangen und ihren Lippen spüren konnte.<br />

<strong>Das</strong> Bild kippte und ein weiteres Krachen ertönte und Nancy<br />

lag am Boden des Raums und er sah wieder aus, wie sie ihn<br />

vorgefunden hatte. Kein Blut an den Wänden. Rasch blickte<br />

Nancy ihre Handflächen an und auch dort fand sie kein<br />

verkrustetes Blut! Sie atmete kurz auf und wieder wurde ihr<br />

schwarz vor den Augen. Sie hörte, wie das Krachen ertönte und<br />

in einem Bruchteil einer Sekunde, wachte sie auf: Zu<br />

52


mindestens glaubte sie das...<br />

Nancy lag auf ihrem Bett, die Bettdecke von sich<br />

weggeschleudert, und ihre Haare hingen ihr wild ins Gesicht.<br />

Beide Träger ihres Pyjamas hingen ihr die Schultern herab und<br />

entblößten einen großen Teil ihrer Brüste. Sie sah die Schatten<br />

in ihrem Schlafzimmer und als sie sich aufrichten wollte, stellte<br />

sie mit Entsetzten fest, dass ihre Hände sich nicht bewegen<br />

ließen. Sie lag wie gelähmt dort und als ein letztes Krachen<br />

ertönte und Nancys Augen kurz zu flimmern schienen, sah sie,<br />

wie der dunkle Mann aus ihren Träumen auf ihrem Bett saß<br />

und mit breiten Beinen über ihr kniete. Nein, er kniete nicht<br />

über ihr, sondern der dunkle Mann schwebte wenige<br />

Zentimeter über ihr. Ihre Hände und Füße gehorchten ihr nicht<br />

und es war so, als wäre sie mit unsichtbaren Stricken an ihr<br />

Bett gefesselt. Wenn sie sich bewegen hätte können, wäre es<br />

für sie ein leichtes gewesen, den dunklen Mann, der von<br />

finsteren Schatten umgeben war, zu berühren. Sie hätte nur die<br />

Hand ausstrecken brauchen!<br />

Dann erschien der dunkle Mann aus den Schatten und Nancy<br />

blickte dem Candyman ins Gesicht. Sie sah seine dunklen<br />

Augen, die ihr durchdringend ins Gesicht starrten und sein<br />

Gesicht war von Schatten bedeckt. Als Nancy an ihm<br />

herunterblickte, sah sie den altmodischen langen Mantel, den<br />

der farbige Mann trug und der sich auf ihren langen Beinen wie<br />

ein dunkles Netz ausbreitete. Nancy stöhnte auf, als sie den<br />

fauligen Geruch in ihrer Nase spührte, der von ihm ausging<br />

und dann hörte sie, wie er mit gleichsam sanfter wie<br />

durchdringender Stimme sagte: „Du willst meine Existenz<br />

leugnen, Nancy... Du glaubst nicht an mich und versuchst dir<br />

einzureden, dass es mich nicht gibt! Du glaubst, ich bin nur ein<br />

53


Produkt deiner Fantasie...aber du wirst sehen, dass du falsch<br />

liegst, Nancy!“<br />

Voller Angst wand sich Nancy unter der in der Luft<br />

schwebenden Gestalt und der faulige Gestank raubte ihr den<br />

Atem.<br />

Dann sah der Candyman sie mit bösartig funkelnden Augen<br />

direkt an und flüsterte: „Du weißt, wo du mich finden<br />

kannst...!“<br />

Mit einem Aufschrei schreckte Nancy hoch und sie merkte,<br />

dass sie geträumt hatte. Über ihr schwebte kein dunkler Mann<br />

mit durchdringend glühenden Augen und Nancy hatte keine<br />

Probleme damit, ihre Hände zu bewegen. Es war so, als wäre<br />

eine tonnenschwere Decke, die auf ihr gelegen hätte, jetzt<br />

verschwunden wäre. Aber dennoch fühlte sich Nancy in keiner<br />

Weise erleichtert. Ein Gefühl der Beunruhigung machte sich in<br />

Nancy breit und sie wusste, dass der Candyman sie soeben in<br />

ihrem Traum herausgefordert hatte. Sie wollte es nicht<br />

wahrhaben, aber Nancy wollte endlich Klarheit haben und die<br />

junge Frau fasste einen Entschluss. Sie würde dort ach unten in<br />

die Kanalisation steigen und dann würde sie endlich wissen,<br />

was an der Legende des <strong>Candymans</strong> dran war. Doch dieses Mal<br />

würde sie Linda nichts erzählen. Die würde sie eh nur für<br />

verrückt halten...<br />

54


11.Kapitel<br />

In den Tunnels<br />

Warum Nancy jetzt in der Abenddämmerung an den Flussbett<br />

stand und nach dem Kanalschacht suchte, konnte sie sich selbst<br />

nicht wirklich erklären. Irgendwie schien sie nach Antworten<br />

zu suchen. Nach Antworten auf eine absolut wirre Frage.<br />

(Besessen von einer alten urbanen Legende...?) Erst, als Nancy<br />

wirklich hier unten stand und der faulige Gestank des Flusses<br />

ihr in die Nase stieg, kamen ihr erste Zweifel. War es wirklich<br />

eine gute Idee dort nach unten zu klettern. Schließlich war das<br />

alles ja nur ein Traum gewesen. Wenn ihr dort unten etwas<br />

passieren würde, dann wäre sie ganz allein und niemand würde<br />

ihr helfen können. <strong>Das</strong> beste wäre es wahrscheinlich, wenn sie<br />

einfach jetzt sofort auf der Stelle umdrehen würde und direkt<br />

nach Hause gehen würde. Aber völlig ohne Antworten auf ihre<br />

Frage, fiel Nancy ein und sie dachte weiter nach. Sie würde<br />

den Eingang nach unten finden, dann würde sie nach unten<br />

steigen und dann gab es zwei Alternativen: Die erste, Nancy<br />

würde dort unten rein gar nichts finden, außer Müll und Dreck.<br />

Dann würde sie einfach nach Hause zurückkehren und die<br />

ganze Geschichte vergessen. Die andere Möglichkeit wäre,<br />

dass sie dort unten wirklich etwas finden würde, irgendetwas,<br />

was sie auf den Candyman zurückführen würde. Ein Zeichen<br />

von ihm, eine Spur oder sogar er selbst. Irgend etwas, das seine<br />

Existenz beweisen würde... Dann würde sie... Nancy wusste<br />

nicht, was (ihren Verstand verlieren?) sie dann tun würde.<br />

Darüber hatte sie sich bisher noch nie Gedanken gemacht.<br />

Wenn es tatsächlich stimmen würde, dachte Nancy besorgt,<br />

würde die Wahrheit sie möglicherweise überfordern. Dann<br />

wäre das, was sie immer für Unvorstellbar gehalten hatte, auf<br />

55


einmal wahr... Ihre ganze Welt würde aus ihren geordneten<br />

Bahnen gerissen werden und mit einem Schlag brutal auf den<br />

Kopf gestellt werden! Manchmal war es besser, wenn die<br />

Wahrheit im Verborgenen blieb... „Nein!“, entschied Nancy.<br />

Dieses Mal würde sie nicht kurz vor dem Ziel aufgeben. Dieses<br />

Mal, nur dieses eine Mal würde sie ihre (eine bestimmte)<br />

Grenze überschreiten und die Wahrheit ans Licht bringen.<br />

Doch wie hieß es doch bereits einmal, bestimmte Grenzen<br />

sollten niemals überschritten werden...<br />

Dann schließlich fand Nancy den Kanaldeckel, welcher wenige<br />

Meter vom besprühten Brückenpfeiler entfernt im Boden<br />

eingelassen war. Nancy warf einem Blick auf den Pfeiler,<br />

welcher seinen Schatten über das steinige Ufer warf und auf<br />

dem das Zeichen einer Gang zu sehen war, die damit ihr Revier<br />

zu kennzeichnen versuchte. Langsam ging Nancy auf den<br />

Gullydeckel zu, wobei sie an einem alten, mit verbrannten<br />

Papierresten gefüllten Fass, das wohl einmal einigen<br />

Obdachlosen als Feuerstelle gedient hatte, vorbei kam.<br />

Vorsichtig stieg sie über das verrostete Wrack eines alten<br />

Einkaufwagens, welcher verbeult am Boden lag und Nancy gab<br />

Acht, sich nicht an einer der von rötlichem Rost überzogenen<br />

Drähte, die aus dem Wrack hervorstanden, zu verletzten. In<br />

ihrer Hand hielt sie die Hülle ihrer Digitalkamera, die sie<br />

mitgebracht hatte, um irgendetwas, was sie dort unten finden<br />

würde, zu dokumentieren. Ohne Beweise würde ihr doch<br />

niemals jemand etwas glauben. Die anderen würden eh nur<br />

glauben, dass sie verrückt wäre...<br />

Mit beiden Händen packte Nancy das Gitter, welches den<br />

Schacht bedeckte und zog daran. <strong>Das</strong> Gitter war leichter, als<br />

Nancy erwartete hatte und sie hob es mit wenig Anstrengung<br />

56


an. Scheppernd ließ sie es neben dem Loch, das sich jetzt vor<br />

ihren Füßen auftat, auf den Boden fallen und Nancy blickte<br />

über den Kanalrand in den tiefen Schacht. Dort unten schien<br />

völlige Finsternis zu herrschen und Nancy nahm die<br />

Taschenlampe, die sie mitgenommen hatte aus ihrer<br />

Jackentasche. Langsam ließ sie den flackernden Lichtkegel<br />

durch die Dunkelheit wandern und sie stellte fest, dass der<br />

Kanal nicht so tief war, wie sie erwartet hatte. Der Boden des<br />

Schachts lag ungefähr vier Meter unter ihr und Nancy begann<br />

vorsichtig an der Eisenleiter den Abstieg. Jedes Mal, wenn sie<br />

ihren Fuß auf eine der Leitersprossen setzte, hörte sie, wie das<br />

Geräusch durch die Kanäle weitergetragen wurde und ein Echo<br />

zurück warf.<br />

Als sie unten ankam und von der letzten Leiterstufe<br />

herabsprang ertönte ein nasses Platschen und ihre Füße fanden<br />

kaum Halt auf dem nassen Boden. Nancy knipste die silberne<br />

Taschenlampe an und sah sich langsam um. Um sie herum<br />

konnte sie die steinernen Wände des Kanals erkennen, an<br />

denen einige schleimige Moose zu kleben schienen. Wasser<br />

rann an ihnen herunter und sammelte sich in dem schmutzigen<br />

Strom aus dunklem Wasser, das in der Mitte des Tunnels<br />

entlang floss und Nancy war froh, dass sie auf dem erhöhten<br />

Rand stand, sodass sie nicht durch das Dreckswasser gehen<br />

musste. Mit Unbehagen musste sie sich vorstellen, wie das<br />

dreckige Wasser ihr bis zu den Fußknöcheln stand und sie den<br />

Schmutz, der dort drinnen schwamm an ihren Beinen spüren<br />

würde. Der Gestank, der dort unten herrschte, war unerträglich<br />

und Nancy musste bei dem moderigen Gestank an den leichten<br />

Verwesungsgeruch denken, der in ihrem Traum vom<br />

Candyman ausging, als er wenig Zentimeter über ihr schwebte.<br />

Mit schwankender Taschenlampe überlegte Nancy, wo sie jetzt<br />

57


weitergehen sollte, nach vorne oder nach hinten. Und sie<br />

erkannte, dass sich die Kanalisation immer weiter zu<br />

verzweigen schien. Vorsichtig schlich sie den schalen Steg<br />

entlang und stieß mit dem Kopf unsampft gegen eine runde<br />

Lampe, die mit ihren in der Wand verlaufenden Kabeln an der<br />

Tunnelwand angebracht war. Es war eine dieser klobigen<br />

Tunnellampen und Nancy sah, dass in einem regelmäßigen<br />

Abstand von etwas sechs Meter immer eine weitere Lampe<br />

hing. Leider waren alle diese Lampen außer Betrieb und Nancy<br />

war sich ziemlich sicher, dass auch wenn es irgendwo einen<br />

Hauptschalter für die früheren Wartungsarbeiten, die hier<br />

einmal stattgefunden haben mussten, geben würde, wäre es<br />

trotzdem nicht möglich, die Lampen wieder anzuschalten.<br />

Deshalb ging sie langsam weiter und nahm sich vor, dieses Mal<br />

besser auf den Weg zu achten. Wenn sie hier stürzte, würde es<br />

ohne Zweifel unangenehm werden...<br />

Mit der Taschenlampe in der linken Hand folgte Nancy dem<br />

Tunnel immer weiter und versuchte sich zu erinnern, wie sie in<br />

ihrem Traum gegangen war. Aber das hatte keinen Sinn,<br />

schließlich war es nur ein Traum gewesen und sie hatte keine<br />

Erinnerungen daran. Als sie endlich an eine Weggablung<br />

gelangte und sich vor ihr zwei dunkle Tunnels auftaten, die in<br />

endloser Dunkelheit zu münden schienen. Am Boden entdeckte<br />

Nancy ein kleines in goldenes Papier eingewickeltes Päckchen.<br />

Sie ließ den Lichtkegel der Lampe darüber gleiten und las auf<br />

dem goldenen Papier, welches den grellen Lichtschein<br />

reflektierte: „Sweets for the Sweets“.<br />

„Süßigkeiten für die Süßen...“, übersetzte Nancy leise und<br />

bückte sich, um das Päckchen aufzuheben. Sie roch den<br />

Geruch von altem Karamell. Wirklich altem Karamell und<br />

während sie das Päckchen betrachtete, überkam Nancy eine<br />

58


unbändige Neugier. Sie packte das Päckchen knisternd auf und<br />

leuchtete mit der Taschenlampe die verdorbene Süßigkeit<br />

zwischen dem zerknitterten Papier an. Sie nahm den<br />

Karamellriegel in die Hand und spührte etwas ungewöhnliches<br />

auf ihrer Handfläche. Sie spührte einen schmerzhaften Schnitt<br />

in ihrer Hand und als sie auf ihre Hand blickte, sah sie, dass ein<br />

dünner, blutiger Schnitt über ihre Hand verlief.<br />

Sie stöhnte leise auf und tastete mit vorsichtigen Fingern die<br />

Süßigkeit an. Als sie den klebrigen Riegel aufbrach, sah sie,<br />

dass dort zwischen dem alten, klebrigen Karamell eine im<br />

Licht glänzende Rasierklinge steckte. Erschrocken ließ Nancy<br />

das Päckchen fallen und sie sah, wie zwischen dem<br />

verlockenden Zuckerwerk die messerscharfe Klinge hervor<br />

blitzen. Was für ein krankes Hirn hatte das getan, fragte sich<br />

Nancy und sie betrachtete die Klinge. Wen wollte Candyman<br />

damit bloß wehtun? War es eine Art Köder, nur für wen? Für<br />

sie selbst...?<br />

Langsam folgte Nancy der Spur aus goldenen<br />

Süßigkeitenpäckchen, die in unregelmäßig Abstände ausgelegt<br />

worden waren. Sie folgte der Spur wie ein Tier, das einem<br />

listigen Jäger in die Falle ging...<br />

Der Tunnel wurde schmaler und so musste Nancy sich ducken,<br />

bis sie schließlich in die Knie gehen musste, um sich unter der<br />

schmalen Öffnung hindurch zu zwängen. Als sie unter dem<br />

schmalen Durchgang hindurch ging, gelangte Nancy in einen<br />

größeren Tunnel. Sie blickte den großen Raum an, der sich gut<br />

vierzig Meter in die Länge zog und in dessen Mitte sich eine<br />

große Stufe anhob, von dem ein ewiger Schwall von<br />

schmutzigen Wasser hinab floss. Mit langsamen Schritten ging<br />

Nancy den langen Gang entlang und sie sah, dass ein<br />

59


gedämpfter Lichtschein aus dem Kanalschacht hinein schien.<br />

Nancy hörte das Wasser plätschern, welches die Stufe<br />

hinabfloss und sie kletterte vorsichtig an der Stufe hoch. Ihre<br />

Hosenbeine wurden durchnässt und sie spührte das kalte<br />

Wasser an ihren Beinen. Sie folgte dem Tunnel immer weiter<br />

und sie spührte, wie das nur wenige Zentimeter hohe Rinnsal<br />

die Sohlen ihrer Schuhe durchdrang. Eilig lief Nancy weiter,<br />

bis sie schließlich die Spur in einer kleinen Öffnung<br />

verschwinden sah. Auf Händen und Knien rutschte Nancy<br />

durch den finsteren Tunnel und schob die Lampe vor sich her.<br />

Ihr war klar, dass das wahnsinnig war, aber sie wollte jetzt auch<br />

nicht mehr umkehren! Nicht wo sie bereits so weit gekommen<br />

war.<br />

Schließlich gelangte Nancy ans Ende des schmalen Rohrs und<br />

als sie aus dem Gang kletterte, stockte ihr Atem. Sie befand<br />

sich tatsächlich in dem viereckigen Raum aus ihrem Traum und<br />

lange Schatten zogen sich über den dreckigen Boden und über<br />

die Wand. Flackerndes Licht schien von irgendwo hinein zu<br />

scheinen, aber Nancy konnte nirgends eine Lichtquelle sehen.<br />

In der Mitte des Raums hörte sie den Abwasserfluss unter dem<br />

im Boden eingelassenen Gullydeckel rauschen und Nancy<br />

blickte sich um. Auch hier sah sie die goldenen Päckchen<br />

umher liegen. Teilweise waren sie aufgerissen worden und die<br />

schimmernden Rasierklingen lagen am Boden verstreut.<br />

Schmutz bedeckte den Boden und verrottete Abfälle lagen in<br />

den Ecken herum. Nancy nahm ihren Fotoapparat, um die<br />

Kammer bildlich festzuhalten und schon bald erhellte das<br />

Blitzlicht den düsteren Raum. Sie fotografierte die<br />

Rasierklingen und die Süßigkeiten am Boden und mehrmals<br />

den ganzen Raum. Dann drehte sie sich zu den Wänden um<br />

und betrachtete die Inschriften. Auch hier waren viele<br />

60


Einkerbungen und viele Worte und Zeichen waren eingeritzt<br />

worden, aber Nancy konnte sie nicht lesen, da mit roter Farbe,<br />

die wie Blut an der Wand herablief, „Süßigkeiten für die<br />

Süßen“, geschmiert war. An allen Wänden konnte sie den<br />

unheimlichen Spruch lesen und Nancy fragte sich, was damit<br />

wohl gemeint sein könne. Wahrscheinlich hatte es etwas mit<br />

den hinterhältigen Süßigkeitenattrappen zu tun, deren Anblick<br />

Nancy jedes Mal aufs neue erschaudern ließ. Auch die<br />

Inschriften fotografierte Nancy und drehte sich dann zur<br />

Kopfseite des Raums um. An der Wand konnte sie das<br />

schreckliche Graffiti des Mannes mit dem weit aufgerissenen<br />

Mund sehen, das sich über die gesamte Wand verteilte und dass<br />

Bild jagte Nancy in der Wirklichkeit noch um einiges mehr<br />

Angst ein, als in ihrem Traum. Hier wirkte es realer und die<br />

Augen des Mannes, die vor Furcht und Entsetzen aufgerissen<br />

waren, schienen sie panisch anzublicken. Der aufgerissene<br />

Mund, der sich vor Nancy auftat, schien sie zu verschlingen<br />

und es war fast so, als könnte sie die Schreie des vor Schmerz<br />

und Entsetzen schreienden Mannes, hören. Nancy fotografierte<br />

das Bild und ging dann auf die Tür zu, die sich in dem<br />

aufgerissenen Mund des Mannes an der Wand auftat. Sie<br />

näherte sich langsam und richtete ihre Blicke auf die große,<br />

graue Tür, welche aus Stahl gefertigt war und eine schwarze<br />

Klinke war auf der Höhe von Nancys Hüfte angebracht. Nancy<br />

hörte, wie ihr Herz pochte, als sie sich der Tür näherte und sie<br />

wusste, hinter der Tür würde sie Antworten finden. Hinter der<br />

Tür würde er sein. Hinter dieser Tür wartete der Candyman auf<br />

sie. Mit zitternden Fingern streckte sie die Hand aus und<br />

berührte den kalten Türgriff aus Metall und zog ihn<br />

quietschend nach unten.<br />

Doch es war vergeblich. Die Tür blockierte und sie war<br />

61


abgeschlossen. Nancy sah die großen, festen Scharniere an der<br />

Tür und keines von ihnen bewegte sich in irgendeiner Weise.<br />

Nancy rüttelte noch einmal an der Tür und riss an der Klinke.<br />

Wut und Enttäuschung stieg in ihr hoch. <strong>Das</strong> war unmöglich!<br />

Hinter der Tür würde sie die Antworten finden, nach der sie<br />

suchte... Hinter der Tür würde der Candyman auf sie warten...<br />

doch die Tür blieb verschlossen und verwerte ihr den Zugang.<br />

Nancy war so weit gekommen und jetzt das! Es konnte doch<br />

nicht sein, dass sie sich das alles eingebildet hatte...Oder doch?<br />

Enttäuscht ließ sich Nancy vor der Eisentür auf die Knie fallen<br />

und sie wollte es nicht begreifen, dass sie es nicht geschafft<br />

hatte. <strong>Das</strong> war nicht fair... Nancy blieb noch lange vor der Tür<br />

sitzen und sie wollte nicht wieder nach oben gehen und einfach<br />

s aufgeben... Nur dieses eine Mal nicht!<br />

62


12.Kapitel<br />

Antonio Montanas Untergang<br />

Schließlich, viel später kletterte Nancy wieder aus dem<br />

Kanalschacht hervor und sah, dass die Sonne bereits unterging.<br />

Hellrot spiegelte sich die untergehende Sonne im Wasser des<br />

Flusses und sie verschwand langsam hinter den hohen,<br />

schäbigen Mietshäusern von Cabrini-Green. Rauch stieg aus<br />

den Schornsteinen auf und die Wolken am Abendhimmel hatten<br />

einen leichten Orangeton angenommen. Nancy blickte an sich<br />

herunter und sah, dass ihre Jacke voller Schmutz war. Dreckige<br />

Schlammklumpen klebten am Stoff und Nancys Hose war<br />

ebenfalls nass. Fluchend zog Nancy ihre Jacke aus und rollte<br />

sie zu eine Bündel aus grauem Stoff zusammen und nahm ihn<br />

unter den Arm. Dann bemerkte Nancy, dass eine Gruppe<br />

Männer sie gesehen hatte, wie sie aus dem Kanalschacht<br />

geklettert war. Es waren drei Männer, die unverkenntlich hier<br />

aus der Gegend waren und scheinbar zu einer der Gangs<br />

gehörten. Alle drei Männer waren farbige und sie hatten<br />

Bierflaschen dabei. Sie lachten, als sie die junge Frau sahen,<br />

die mit verdreckten Kleidern aus dem Kanalschacht kletterte<br />

und einer von ihnen, ein junger Mann mit Rastarlocken rief ihr<br />

irgendetwas zu, was Nancy auf die Entfernung nicht ganz<br />

verstand, aber die anderen Männer brüllend auflachen ließ.<br />

Nancy versuchte, ihnen keine Beachtung schenken und ging in<br />

die andere Richtung weiter. Wenig später sah sie, dass die<br />

jungen Männer ebenfalls verschwanden und als sie unter der<br />

Brücke hindurch ging, hörte sie eine raue Männerstimme<br />

flüstern: „Was wolltest du da unten, Kleines?“<br />

Erst versuchte Nancy den Mann, den sie unter der Brücke<br />

sitzen sah, zu ignorieren, aber er redete einfach weiter: „Jeder<br />

63


weiß doch, das dort unten der Candyman lauert...“<br />

Normalerweise hätte Nancy dem Gerede des Mannes einfach<br />

keine Beachtung geschenkt, denn sie gleich sehen, dass der<br />

Obdachlose betrunken war. Aber als sie den Namen Candyman<br />

vernahm, wurde sie hellhörig. „Was meinen sie damit?“, fragte<br />

Nancy vorsichtig und blickte den Mann an. Er war schon alt<br />

und er hatte einen schmutzigen, grauen Vollbart. Er trug einen<br />

verzfedderten Regenmantel und eine grüne Kappe, die aussah,<br />

als hätte sie vor zwanzig Jahren ihre besten Tage gehabt. Neben<br />

sich hatte er mehrere Schnapsflaschen stehen, die alle in<br />

Papiertüten eingewickelt waren.<br />

„Dort unten in der Kanalisation wohnt der Candyman“,<br />

verkündete er. „Alles wissen das und trotzdem steigen manche<br />

dort nach unten. Und wenn sie dort nach unten steigen, werden<br />

sie nie wieder gesehen...“<br />

Nancy bezweifelte, dass der Mann genau wusste, was er da<br />

redete und trotzdem fragte Nancy: „Können Sie mir vielleicht<br />

mehr darüber erzählen? Was wissen Sie über den Candyman?“<br />

Nancy kam sich vor, wie eine Journalistin, die ein Interview für<br />

eine Zeitung machte und der heruntergekommene Mann<br />

begann zu erzählen: „Candyman liebt es, wenn böse Dinge<br />

geschehen. Deshalb ist er hier. Er liebt es, wenn Blut vergossen<br />

wird! Ich kann mich an eine Geschichte über ihn erinnern, die<br />

schon lange her ist. Es ist der Tag gewesen, an dem Antonio<br />

Montana und seine gesamte Gang hier in Cabrini-Green von<br />

der Polizei hingerichtet worden sind.“<br />

17.Juli 1938: Es war ein heißer Sommerabend gewesen und in<br />

einem von Cabrini-Greens Viertel krachten schon den ganzen<br />

Nachmittag Schüsse. Antonio Montana und seine Gang hatten<br />

sich in dem Viertel verbarrikadiert und die beinahe die gesamte<br />

Polizei von Chicago hatte das Viertel umzingelt. Montana war<br />

64


einer der einflussreichsten Gangsterbosse überhaupt in Chicago<br />

und hatte während der Prohibition viel Geld mit dem<br />

Schmuggel von hochprozentigem Alkohol gemacht. Antonio<br />

hatte das Geld gut anzulegen gewusst und ihm gehörten eine<br />

Menge illegaler Spielhallen und Opiumhöhlen in der Stadt. Er<br />

war eine große Nummer im Rauschgiftgeschäft und es gingen<br />

unzählige Raubüberfälle auf das Konto seiner Bande. Die<br />

Polizei hatte einen Tipp auf seinen Aufenthaltsort erhalten und<br />

sie wollten ihre Chance nutzen, ihn dieses Mal endgültig zu<br />

schnappen. Tot oder Lebendig, das war an diesem Abend völlig<br />

egal...<br />

„Verdammte Scheiße!“, brüllte Antonio Montana verzweifelt<br />

und um ihn herum zischten die Kugeln durch die Luft. Er und<br />

seine Männer hatten kaum Deckung und von allen Seiten her<br />

feuerten die Polizisten. Johnny B; einer von Antonios Leuten<br />

feuerte über die Motorhaube des durchlöcherten Autos, hinter<br />

denen sich Antonio und Johnny versteckten. Krachend<br />

zersprang der Seitenspiegel des schwarzen Autos und<br />

Glassplitter regneten auf die beiden Männer herab. Johnny<br />

feuerte erneut und schrie dann vor Schmerz auf, als ihn einer<br />

der Polizisten traf. Damals saß bei den Gestetzteshütern die<br />

Dienstwaffe noch um einiges lockerer und noch bevor Johnny,<br />

dessen Schulter von der Kugel durchschlagen wurde, wieder in<br />

Deckung gehen konnte, sah Antonio, wie zwei weitere Kugel<br />

ihn in den Kopf trafen. Gehirnmasse spritzte zu Boden.<br />

Antonio zuckte zusammen, als die blutige Leiche seines<br />

Kumpels zu Bode fiel und zog seinen Revolver aus dem<br />

blutverschmierten Jackett. Mit einem wütenden Aufschrei<br />

feuerte er durch das zerschmetterte Fenster seines ehemaligen<br />

Wagens zurück und sah, wie ein in schwarzer Lederjacke<br />

gekleideter Polizist getroffen zu Boden stürze. Die anderen<br />

Männer gingen in Deckung und Antonio hob Johnnys Pistole<br />

65


vom Boden auf. Johnnys Pistole war noch vom heftigen<br />

Schusswechsel heiß und mit beiden Pistolen feuernd rannte<br />

Antonio quer über den Platz zu den anderen.<br />

Er sprang über die Leiche eines anderen Gangsters und seine<br />

schwarzen Lackschuhe platschten durch eine große Blutpfütze.<br />

Montana schaffte es und kam bei seinen anderen Männern an,<br />

die hinter einem anderen Auto am Boden knieten und ein<br />

verwundeter Mann, dessen Anzug blutgetränkt war, krümmte<br />

sich am Boden.<br />

„Boss!“, rief ein stämmiger Mexikaner mit Schnauzer und lud<br />

sein Gewehr durch. „Wir haben keine Chance. Überall sind<br />

Bullen und Gary ist am verrecken. Er ist angeschossen worden<br />

und verliert eine Menge Blut!“<br />

„Wie viele Männer haben wir verloren!“, bellte Montana<br />

verzweifelt und leerte die Trommel mit den leeren Patronen auf<br />

den Boden aus. „Johnny ist vor meinen Augen erschossen<br />

worden und ich Klaus ist bei unserer Flucht schwer verletzt<br />

worden. Wahrscheinlich ist er jetzt tot!“<br />

„Fuck!“, rief Rodrigez und feuerte in die Richtung eines<br />

Streifenwagens. „Wir haben mindestens fünf Tote hier, die es<br />

nicht bis hier geschafft haben. Diese Bastarde haben sie vorher<br />

kalt gemacht!“<br />

Am Kotflügel des Wagens sah Montana einen großen Blutfleck<br />

und dann bemerkte er auch, dass im Führerhäuschen die Leiche<br />

des Fahrers liegen. Dann hörten die Männer einen gellenden<br />

Schrei. Eine Kugel traf Paul Denvors im Gesicht und das Tuch,<br />

das er um Mund und Nase gebunden hatte, verwandelte sich in<br />

einen blutigen Fetzen. Auf der anderen Seite seines Kopfes trat<br />

die Kugel wieder heraus und schleuderte seinen grauen Hut zu<br />

Boden. Die Leiche kippte nach hinten um und die Männer<br />

blickten entsetzt die blutigen Trümmer an, die einst Pauls<br />

66


Gesicht gewesen waren.<br />

„Wo ist der Kerl mit der Tommygun?“, brüllte Montana, der<br />

inzwischen mit den Knien im Blut am Boden kauerte. „Erledigt<br />

diese Wichser!“<br />

Einige der Männer hatten tatsächlich halbautomatische<br />

Gewehre und einer kam aus der Deckung hervor und feuerte<br />

mit seinem MG-Thomson in die Richtung des Polizeiwagens.<br />

<strong>Das</strong> Rattern der Trommel von seinem Gewehr ertönte und die<br />

MG-Salve durchschlug die Scheibe des sich nähernden Autos.<br />

Blut spritzte hervor und sie sahen, wie die Leichen von zwei<br />

Polizisten heraus kippten. Dann kam sofort die Vergeltung für<br />

den Mord an den Gesetzeshütern von Seiten der Polizisten. Ein<br />

Kugelhagel traf den Schützen am Oberkörper und im Gesicht.<br />

Blutige Fetzen seines Anzugs fielen zu Boden und mehrere<br />

Zähne wurden ihm durch den mehrfachen Kopfschuss aus dem<br />

Gesicht gerissen.<br />

„Verdammte Scheiße!!!“, brüllte Rodrigez und blickte mit dem<br />

Gesicht voller Blut entsetzt zu Montana. „Wir werden hier alle<br />

sterben!“<br />

„Halt die Klappe und schieß lieber!“, fuhr Montana ihn an.<br />

„Wir müssen hier vom Platz runter und in eine der<br />

Seitengassen. Dort können wir die Cops abhängen!“<br />

„Okay, tun wir´s!“, stimme ein chinesischer Mann namens<br />

Chang zu und lud sein Maschinengewehr durch. „Ich gebe<br />

euch Feuerschutz und wenn sich einer von diesen<br />

Motherfuckern blicken lässt, jage ich ihm eine Kugel ins<br />

Gesicht. Ihr lauft voraus und ich folge euch!“<br />

„Wartet!“, stöhnte der Verwundete Gangster am Boden. „Was<br />

ist mit mir? Ihr könnt mich hier nicht zurück lassen!“<br />

Montana blickte dem sich am Boden krümmenden Mann in die<br />

Augen und für eine Sekunde hatte er mit dem Mann, der ein<br />

ein erfolgreicher Mann im Zuhältergewerbe war und einen<br />

67


glatten Bauchschuss erlitten hatte, ein wenig Mitleid. Aber zum<br />

anderen wusste Montana; unter Gangstern gibt es keine Ehre...<br />

„Sorry, Mann!“, verkündete Antonio. „Wir gehen ohne dich...<br />

du weißt ja, nichts persönliches, aber...!“<br />

„Ihr kleinen Hurensöhne!“, brüllte Gary Seynold seinen<br />

flüchtenden Kumpanen hinter her und auch der Mann mit dem<br />

Maschinengewehr zog sich langsam zurück. Wie durch eine<br />

Genugtuung des Schicksals sah Gary, wie ein Cop mit<br />

Schrotflinte, der mit Verstärkung von der anderen Straßenseite<br />

war, Changs Kopf weg schoss und dann die Polizisten in die<br />

Gasse, in die die anderen Gangster sich geflüchtet hatten,<br />

rannten. „Da ist Antonio Montana!“, rief ein junger Polizist<br />

und feuerte seine Dienstwaffe ab. „Wir dürfen den Hurensohn<br />

nicht entkommen lassen! Hinterher, Jungs!“<br />

Die Viertel von Cabrini-Green waren immer Montanas Gebiet<br />

gewesen, doch als er mit den letzten Männern durch die<br />

Straßen rannte, wurde ihm bewusst, dass er an diesem Tag alles<br />

verloren hatte. Überall sah er Leute von ihm, bekannte<br />

Gesichter, die entweder verletzt oder wie die meisten tot am<br />

Boden lagen. Die Razzia, die die Polizei an diesem Tage<br />

vorgenommen hatte, musste einer der schwersten Schläge<br />

gewesen sein, die die organisierte Kriminalität jemals<br />

einstecken musste. Die Polizisten hatten beinahe Antonios<br />

komplette Bande in Feuergefechten getötet und Antonio sah,<br />

dass seine Opiumhöhlen in den Gassen allesamt von Kugeln<br />

durchsiebt waren. Auch hier lagen tote Verbrecher und<br />

schließlich erreichten die Männer das Ende der Gasse. Als sie<br />

kurz vor dem Übergang zur befahrenen Straße waren, sah<br />

Antonio entsetzt, dass mehrere Polizeiautos vorfuhren und<br />

ihnen den Fluchtweg abschnitten. Die Gangster blieben<br />

68


geschockt auf dem Kopfsteinpflaster stehen und Kugeln flogen<br />

in ihre Richtung. Sofort brachen einige Gangster zusammen.<br />

Montana sah, wie Billy Jr sich wehren wollte und noch bevor<br />

er seine Waffe ziehen konnte, durchschlugen mehrere Kugel<br />

seine Brust. Rodrigez versuchte zu flüchten, doch noch bevor<br />

er den Hauseingang des Mietshaus erreicht hatte, traf ihn ein<br />

Cop aus dem heruntergekurbelten Fensters des Dienstwagens<br />

mit einem Gewehr. Der Schuss pulverisierte den Kopf des<br />

Mexikaners und Blut spritzte an die weiße Wand des<br />

Mietshauses. Seine Waffe fiel auf den Boden und Antonio<br />

merkte, dass es jetzt allein war. Er blickte sich um und in seiner<br />

Verzweiflung sah er einen großen Mann am Straßenrand<br />

stehen. Er war schwarz und trug einen langen Ledermantel, der<br />

seine Hände verdeckte. Antonio war sich sicher, dass er etwas<br />

unter dem rechten Ärmel glänzen sehen konnte. Kurz bevor<br />

Antonio starb, sah er etwas merkwürdiges. Der Mann schien<br />

von Bienen übersät zu sein und kurz bevor mehrere Kugeln<br />

Antonio in die Brust trafen und sein Herz zerfetzten, machte er<br />

eine schaurige Entdeckung, die sein Herz für einen kurzen<br />

Augenblick stocken ließ: Der Mann schwebte gut einen halben<br />

Meter über dem kopfsteingepflasterten Boden...<br />

„Natürlich war der Mann, den Antonio Montana kurz vor<br />

seinem Tod gesehen hatte, Candyman gewesen!“, beendete der<br />

Obdachlose die Erzählung. „Candyman hat dafür gesorgt, dass<br />

der Untergang von Antonio Montana zu so einem Massaker<br />

wurde. Er hat das ganze Leid und all den Tod in sich<br />

aufgenommen und das tut er immer wieder. Immer dort, wo<br />

Blut fließt, ist Candyman da...“<br />

„Glauben Sie, dass die Geschichte stimmt?“, fragte Nancy den<br />

Mann, als eine weitere Stimme sie aufschrecken ließ: „Also ich<br />

glaube, dass du jetzt ganz schön Probleme hast!“<br />

69


Erschrocken drehte sich Nancy um und sah drei<br />

heruntergekommenen Männern in ihre finsteren Gesichter, als<br />

sich diese ihr bedrohlich näherten...<br />

13.Kapitel<br />

Lieutenant Chris Stonehill<br />

Die drei Männer kamen auf Nancy zu und der Mann, mit dem<br />

sie soeben noch geredet hatte, drehte sich um und suchte hastig<br />

das weite. Doch er schien die drei auch überhaupt nicht zu<br />

interessieren. Nancy musterte sie und ihr fiel auf, das der<br />

größte von ihnen, ein Mann mit breiten Schultern und einem<br />

zerfledderten Army-Parka, scheinbar ihr Anführer zu sein<br />

schien. Er strich sich über die bärtigen Wangen und sein<br />

dunkles Haar war ungepflegt und fettig. Der andere war ein<br />

dicker Kerl mit einer weißen Kappe und ausgebeulten Hosen.<br />

Der dritte war jünger als die beiden anderen und trug eine<br />

aufgeknöpfte schwarze Kapuzenjacke unter der er ein altes T-<br />

Shirt von Iron Maiden trug. Auch diese Männer schienen<br />

Obdachlose zu sein und Nancy vermutete, dass sich die<br />

meisten Obdachlosen von Cabrini-Green hier unten am<br />

Flussbett herum trieben, da sie hier unter den Brücken vom<br />

Regen geschützt waren. Außerdem konnten sie sich hier in aller<br />

Ruhe betrinken, ohne Probleme mit der Polizei zu haben.<br />

„Was macht den ein so hübsches Ding wie du hier unten an<br />

eine so schlechten Ort?“, fragte der Anführer der beiden und<br />

70


Nancy wollte sich gerade umdrehen und weglaufen, als auf<br />

einmal der Dickere von ihnen sich hinter ihr aufbaute. Mit<br />

verschränkten Armen bildete er eine menschliche Mauer und<br />

lächelte hämisch.<br />

„Du kommst hier nicht raus, Kleine!“, verkündete der jüngere<br />

von ihnen und auf einmal sah Nancy ein Messer in seiner Hand<br />

aufblitzen.<br />

Es war ein Springermesser, das der Mann wahrscheinlich<br />

irgendwo illegal erworben hatte, denn Nancy wusste mit<br />

Sicherheit, dass derartige Waffen für den Privatbesitz verboten<br />

waren. Seine Augen funkelten bösartig und Nancy wollte<br />

zurückweichen, aber der Dicke stieß sie weg.<br />

„Zeig mir mal, was du so schönes dabei hast!“, sagte der<br />

Anführer und ging auf Nancy zu.<br />

„Lass mich in Ruhe!“, schrie Nancy den Mann an und sie<br />

bereute es jetzt bitter, dass sie allein gegangen war. Es war so<br />

dumm von ihr gewesen und sie hätte ahnen müssen, dass es<br />

hier unten Probleme geben würde.<br />

Plötzlich fühlte sie die Hände des Anführers der Räuber auf<br />

ihrem Körper und sofort wurde ihr klar, dass er nicht nach<br />

Wertgegenständen suchte. Er griff ihr an die Brüste und riss<br />

dabei einen Knopf ihrer Bluse ab.<br />

„Versuch gar nicht erst zu schreien!“, warnte er sie und Nancy<br />

spührte, wie eine seiner Hände ihre Hüfte hinab wanderte und<br />

der Mann ihr an den Hintern griff. Nancy wollte<br />

zurückweichen und der Dicke packte sie kichernd am den<br />

Armen. Sie sah, wie das Messer des Typen mit dem Iron<br />

Maiden T-Shirt in der Sonne funkelte und Nancy rief laut:<br />

„Lass mich los, du Schwein!!!!“<br />

Sie versuchte, sich loszureißen, doch der Dicke hielt sie eisern<br />

fest. Der Mann mit dem Messer kam näher auf sie zu und der<br />

Anführer der Straßenhörte trotz ihrer Rufe nicht auf, sie zu<br />

71


efummeln. Nancy konnte ihr Herz pochen hören und sie hatte<br />

Angst. Sie hoffte, dass der Mann im Armyparke sie in Ruhe<br />

lassen würde und sich mit ihrem Geld zufrieden geben würde.<br />

Er sollte einfach verdammt noch mal seine Hände von ihrem<br />

Körper nehmen. Der stinkende Atem des Mannes stieg Nancy<br />

in die Nase und schließlich fasste sich Nancy ein Herz. Sie<br />

wollte diesem Arschloch die Stirn bieten. Sie würde sich das<br />

hier garantiert nicht von so einem hässlichen Bastard gefallen<br />

lassen! Mit all ihrer Kraft stieß Nancy dem Mann ihr Knie<br />

zwischen die Beine und er schrie vor Schmerz auf. Nancy hatte<br />

ihn hart getroffen, denn er ging zu Boden und wimmerte. Der<br />

Dicke war erst geschockt und Nancy konnte sich losreißen und<br />

sie wollte gerade losreißen, als der Mann, der sich am Boden<br />

krümmte, sie am Fußgelenk zu packen bekam. Wahrscheinlich<br />

hatte sie Glück gehabt, das es nicht der mit dem Messer<br />

gewesen war, der sie erwischt hatte, denn sonst hätte er sie<br />

vielleicht niedergestochen. Doch auch so war Nancy in einer<br />

sehr misslichen Lage. Sie lag auf dem Boden und der Mann,<br />

den sie getreten hatte, kam mit Zornesröte im vor Wut<br />

verzerrten Gesicht auf sie zu „Du kleine Schlampe!“, brüllte er<br />

und trat nach Nancy. „Ich zeig dir, was ich mit kleinen<br />

Miststücken wie dir mache! Du wirst schon gleich...“<br />

Auf einmal ließ eine durchdringende Stimme den Angreifer<br />

zusammen zucken und Nancy sah sich um. Ein großer, farbiger<br />

Mann kam auf die drei Straßenräuber zu und brüllte: „Was zum<br />

Teufel macht ihr da? Lasst sie sofort in Ruhe!!!“<br />

Der Anführer der Gruppe drehte sich zu dem Mann um und<br />

wollte gerade zuschlagen, aber der andere war schneller. Als<br />

der Mann mit der Faust ausholte, versetzte ihm der Farbige<br />

einen harten Schlag in den Magen, der ihn zusammenklappen<br />

ließ. Der Mann schubste den stöhnenden Mann weg und sah,<br />

72


wie der Iron-Maiden-Kerl mit dem Messer in der Hand zukam.<br />

Nancy hielt den Atem an und betete, dass der Angreifer mit<br />

dem Messer ihn nicht verletzen würde.<br />

Doch auch dieses Mal war der mutige Mann schneller, der<br />

Nancy zu Hilfe kam und trat dem Angreifer heftig gegen das<br />

Knie. Nancy hörte, wie das Knie des jungen Manns krachte<br />

und sich nach innen bog. Der Räuber schrie auf, fasste sich<br />

dann aber wieder und wollte gerade mit dem Messer zustechen,<br />

als der Neuankömmling seinen Arm packte und die Hand mit<br />

dem Messer stoppte. Dann drehte er sich um die eigene Achse,<br />

sodass der Arm des Messerstechers auf seiner Schulter lag. Mit<br />

der Hilfe der Hebelwirkung, die der Arm des Räubers auf<br />

seiner Schulter ergab, riss der Farbige die Hand des Angreifers<br />

nach unten und Nancy hörte die Knochen des Iron-Maiden-<br />

Kerls krachen. Er schrie vor Schmerz gellend auf und das<br />

Messer fiel klirrend zu Boden. Der verletzte Mann fiel<br />

ebenfalls und während der Dicke immer noch tatenlos und<br />

geschockt dastand, kickte der Mann das Messer weg, sodass<br />

der am Boden liegende Angreifer es nicht erreichen konnte. In<br />

dem Moment ergriff der Dicke die Flucht. Doch auch er kam<br />

nicht weit, denn Nancy konnte sehen, wie ein weiterer Mann<br />

angerannt kam und ihn zu Boden warf. Scheinbar<br />

fachmännisch drehte der neue Angreifer dem am Boden<br />

liegendem Dicken den Arm auf den Rücken und fixierte ihn<br />

mit dem Knie am Boden.<br />

„Lieutenant Chris Stonehill und Detektive Arnold<br />

Breyvogel“,stelle der große Farbige sich und seinen Partner<br />

vor. „Chicago Polizei! Ihr Dreckskerle habt jetzt echt große<br />

Probleme!“ Mit diesen Worten funkelte er die drei am Boden<br />

kauernden Männer an und die beiden Polizisten legten dem<br />

Anführer in der Militärjacke und dem Iron-Maiden-Kerl<br />

73


Handschellen an. „Für dich sind keine mehr übrig, Piggy!“,<br />

verkündete Arnold Breyvogel, ein schwarzhaariger Mann mit<br />

kräftiger Statur und einer schwarzen Lederjacke. „Aber ich<br />

glaube, du wirst uns eh nicht weglaufen, oder!“<br />

Chris half Nancy auf und gab ihr ihre Tasche wieder, die sie bei<br />

dem Handgemenge verloren hatte. „Ist alles in Ordnung mit<br />

ihnen, Miss?“<br />

„Ja“, erklärte Nancy. „Es geht schon. Bin ich froh, dass sie<br />

gekommen sind, Lieutenant. Diese Typen hätten mich...“<br />

Weiter konnte Nancy nicht sprechen, ihre Stimme versagte. Sie<br />

hatte extremes Glück gehabt, dass nichts schlimmeres passiert<br />

war.<br />

„Ja, das kann man wohl sagen“,stimmte ihr Chris zu. „Sie<br />

hatten wirklich Glück. Arnie und ich waren nur hier, weil wir<br />

hier in der Nähe in einem ungeklärten Todesfall ermitteln.<br />

Wenn wir nicht hier gewesen wären, dann wären sie hier mit<br />

denen allein gewesen..:“<br />

Dann drehte er sich zu den Männern um, die Nancy aufgelauert<br />

hatten. „Ihr ekelt mich an, wisst ihr das?! Drei üble Wichser,<br />

die ein unschuldiges Mädchen überfallen und dann... Bei<br />

Abschaum wie euch fehlen mir die Worte...echt! Ich werde<br />

persönlich dafür sorgen, dass man euch wegsperren wird und<br />

zwar für eine lange Zeit. Da kommt einiges zusammen, meine<br />

Herren, das schwöre ich euch!“<br />

Er drehte sich zu Arnie um, der gerade einen Streifenwagen<br />

rief, der die drei abholen sollte und meinte dann: „Die nächsten<br />

Wochen werdet ihr erst mal in U-Haft verbringen und zwar<br />

getrennt. Ich sag euch eins, im Knast ist es ohne Freunde um<br />

einiges härter!“<br />

Wenig später war drei Streifenwagen da und die Polizisten<br />

74


verfrachteten die drei Angreifer auf den Rücksitzen. Nancy sah,<br />

wie Chris den Anführer der Bande durch die Tür schob und mit<br />

einer Hand seinen Kopf fest hielt. Erst dachte Nancy, dass er<br />

ihm ins Auto half, doch dann sah sie, wie der Lieutenant den<br />

Kopf des Räubers gegen die Kante des Dachs schlug. Es war<br />

nicht fest, sondern nur so, dass es ihm wehtat, aber nicht<br />

verletzte. Nancy musste insgeheim grinsen. Geschieht dir<br />

Recht, du Arschloch, dachte sie und dann kamen Arnie und<br />

Chris wieder zu ihr zurück. „Wie ich sehe, stehen sie wieder<br />

recht stabil auf den Beinen“, meinte Lieutenant Stonehill.<br />

„Aber ich weiß auch, dass Sie unter Umständen unter Schock<br />

stehen könnten. Deshalb möchte ich sie fragen, ob wir sie<br />

lieber mitnehmen sollten und ob sie vielleicht im Krankenhaus<br />

vorbeischauen wollen?“<br />

Nancy schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. Sie war nur<br />

erleichtert, dass ihr nichts geschehen war und eigentlich wollte<br />

sie nur nach Hause.<br />

„Nein, ich denke, mir geht es so weit gut, Lieutenant.“<br />

„Gut“, meinte Stonehill. „Da Sie uns bereits alles detailliert<br />

erklärt haben und der Fall eigentlich klar ist, denke ich, können<br />

Sie nach Hause gehen. Wenn noch irgendetwas ist, das Sie<br />

vielleicht belastet oder das Ihnen noch einfällt, rufen Sie mich<br />

doch bitte an. Hier ist meine Karte.“<br />

Mit diesen Worten überreichte Stonehill Nancy seine<br />

Visitenkarte und meinte dann: „Ich begleite Sie noch bis hoch<br />

zur Straße und dann können Sie nach Hause gehen!“<br />

„Okay“, stimmte Nancy matt zu. „Noch mal, vielen Dank!“<br />

75


2.Zwischenspiel<br />

Helen und Daniel<br />

30.August 1882<br />

Helen, die Tochter von Mr. Roberts saß neben Daniel Robitaille<br />

am Ufer des Flusses im Gras und das junge Liebespaar hörte<br />

die Grillen zirpen. Es war ein lauer Sommerabend und Daniel<br />

hatte sich gleich nach Ladenschluss wieder heimlich mit Helen<br />

getroffen und die beiden waren wieder hier nach unten ans<br />

Flussufer gegangen. Sie waren oft hier, denn hier war einer der<br />

wenigen Orte, an denen die beiden ungestört waren. Alleine,<br />

ohne die verachtenden Blicke der Gesellschaft und ohne die<br />

spöttischen Rufe der Kinder. Daniel hasst sich selbst dafür,<br />

dass er sich nicht traute, zu Helens Vater zu gehen und ihm<br />

alles zu erklären. Er würde ihm sagen, dass er Daniel Robitaille<br />

und seine Tochter Helen Roberts sich liebten und er würde bei<br />

ihm um ihre Hand anhalten. Doch sie beide wussten auch, dass<br />

Mr. Roberts es seiner Tochter niemals erlauben würde, einen<br />

farbigen Mann zu lieben. Niemand in der Stadt würde es<br />

akzeptieren und Mr. Roberts würde Helen den Kontakt zu<br />

Daniel verbieten.<br />

Also blieb den beiden nichts anderes übrig, sich weiter<br />

heimlich zu treffen und sie liebten sich hinter einer Fassade aus<br />

Lügen. Diese verdammte Stadt, dachte Daniel dimer wieder.<br />

Eines Tages würde er den Mut fassen und er würde die<br />

Wahrheit nicht mehr verstecken. Eines Tages würde er den Mut<br />

fassen, alles zu ändern!<br />

Liebevoll legte er den Arm um Helens Schulter und küsste sie.<br />

Sie war immer noch so schön, wie an dem Tag an dem Daniel<br />

76


sie zum ersten Mal gesehen hatte und ihr langes blondes Haar<br />

strahlte in den letzten Sonnenstrahlen golden. Helen schloss<br />

ihre Augen und das Gras am Ufer kitzelte ihre Füße. Sie<br />

spührte die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und sagte dann<br />

ernst: „Daniel, ich muss dir etwas sagen.“<br />

„Was denn, mein Schatz?“, fragte Daniel während er ihre<br />

goldenen Locken bewunderte und er dachte sich nichts böses<br />

dabei.<br />

Helen richtete sich auf und meinte dann: „Daniel, ich bin<br />

schwanger...“<br />

Die Nachricht traf Daniel überraschend und schlug bei ihm ein,<br />

wie eine Bombe. Er nahm Helen in den Arm, drückte sie an<br />

sich und meinte voller Freude: „<strong>Das</strong> ist ja großartig, Helen!<br />

Ich...ich kann das kaum glauben... bist du sicher, dass... Oh<br />

Mann!“<br />

Doch er merkte, dass Helen seine Freude über die<br />

Schwangerschaft nicht teilte. Sie schwieg erst und blickte<br />

bedrückt zum Fluss.<br />

„Ich bin schwanger und das wird meinem Vater gar nicht<br />

gefallen“, verkündete sie mit Tränen in den Augen. „Er wird<br />

von uns erfahren... von mir und dir... Was machen wir den jetzt,<br />

Daniel?“<br />

„Was wir jetzt machen?“, sagte Daniel mit zuversichtlicher<br />

Stimme. „Ich werde gleich morgen zu deinem Vater gehen. Ich<br />

werde ihn um deine Hand bitten und dann können wir<br />

heiraten... Ist das nicht großartig?“<br />

„Nein“, sagte Helen und sie legte Daniel eine Hand auf seine<br />

breite Schulter. „<strong>Das</strong> geht nicht. Mein Vater wird es niemals<br />

erlauben... Es geht nicht... Du weißt, Daniel, ich bin weiß und<br />

du bist...“<br />

„Schwarz“, beendete Daniel den Satz. Dieses Mal würde er den<br />

77


Mut aufbringen, schwor er sich. Bei Gott, er würde zu Mr.<br />

Robert gehen und ihn um die Hand seiner Tochter bitten. Es<br />

war ihm egal, dass er schwarz war und Helen weiß! Verdammt,<br />

Daniel war in seinem Leben oft genug herumgeschubst worden<br />

und er war nachher immer wieder aufgestanden. Dieses Mal<br />

würde er allen die Stirn bieten. Mit Helen an seiner Seite und<br />

de Baby könnte ihn nichts und niemand jemals wieder<br />

aufhalten...<br />

„<strong>Das</strong> ist mir egal! Ich gehe zu deinem Vater und ich werde ihn<br />

überzeugen, dass...“<br />

Daniel sah, wie Helens Lippen zitterten und ihr standen erneut<br />

Tränen in den Augen.<br />

„Du verstehst es nicht, Daniel...“, schluchzte sie. „Mein Vater<br />

wird das nicht akzeptieren...niemand wird es jemals<br />

akzeptieren. Vielleicht ist es uns verwehrt, zusammen glücklich<br />

zu werden!“<br />

Immer weitere Tränen liefen ihr übers Gesicht und Daniel hielt<br />

sie fest. „Weine nicht, Helen!“, wollte er sich trösten und<br />

merkte selber, wie der Zorn in ihm hochstieg. „Ich werde dafür<br />

sorgen, dass wir zusammen kommen... Niemand wird sich<br />

zwischen uns stellen, Helen. <strong>Das</strong> verspreche ich... Alles wird<br />

gut!“<br />

78


14.Kapitel<br />

Tief verborgene Wünsche<br />

„Warum“, dachte Nancy und blickte in den großen Spiegel in<br />

ihrem Schlafzimmer. „Warum warst du nicht da...?“ Nancy war<br />

sich erst nicht bewusst, dass sie mit ihrem Spiegel redete und<br />

für einen Außenstehenden sah es wahrscheinlich aus, als würde<br />

sie Travis Brickslers Dialog mit seinem Spiegelbild aus dem<br />

blutigen 70er -jahre Filmklassiker Taxi Driver nachspielen. Sie<br />

war völlig verwirrt und durcheinander. <strong>Das</strong> einzige, woran sie<br />

denken konnte, war, das die Tür unten in der Kammer<br />

verschlossen gewesen war. Sie war nicht so weit gegangen, nur<br />

um eine verschlossene Tür vorzufinden. <strong>Das</strong> einzige, was sie<br />

gesucht hatte, waren Antworten gewesen. Aber anstatt<br />

Antworten hatte sie dort unten nichts als weitere Fragen<br />

gefunden. Warum sie den Spiegel anstarrte, wusste Nancy nicht<br />

genau aber irgendein Teil ihres Unterbewusstseins wusste, das<br />

er sie von dort beobachtete... Candyman!<br />

Er war wie ein dunkler Schatten in ihr Leben getreten und er<br />

hielt Nancy in seinem Bann gefangen. Nancy wollte es nicht<br />

wahr haben und versuchte immer noch, sich etwas<br />

vorzumachen. Seine Geschichte hatte Nancy gepackt und sie<br />

wollte endlich die Wahrheit über seine Existenz heraus finden:<br />

Gab es ihn wirklich oder war existierte er nur als ein dunkler<br />

Schatten in ihrer Einbildung, der sie Nacht für Nacht<br />

heimsuchte. War sie davon besessen, die Wahrheit über eine<br />

urbane Legende herauszufinden oder war sie besessen von ein<br />

einer Gestalt, die ihrer eigenen Fantasie entsprungen war und<br />

sie in ihrem Bann hielt?<br />

Langsam begann Nancy zu überlegen und sie musste sich<br />

eingestehen, dass die zweite Möglichkeit ihr langsam um<br />

79


einiges mehr Angst einjagte, als die erste...<br />

Nancy war müde und sie warf die dreckige Jacke, die sie unter<br />

dem Arm getragen hatte zu dem Berg schmutziger Wäsche, der<br />

sich in ihrem Schlafzimmer ansammelte. Nancy war in den<br />

letzten Tagen nicht mehr dazu gekommen, zu waschen und<br />

deshalb nahm sie sich vor, am Wochenende zu waschen.<br />

Draußen war es bereits dunkel und Nancy legte ihren<br />

Fotoapparat beiseite. Für kurze Zeit kamen ihr wieder die<br />

Bilder in den Sinn, die sie gemacht hatte, aber sie beschloss, sie<br />

sich nicht mehr heute anzusehen. Sie hatte heute bereits genug<br />

Aufregung durchgemacht und sie musste langsam den Kopf<br />

von der ganzen Sache freibekommen. Eigentlich wollte sie nur<br />

noch schlafen und alles wenigstens für ein paar Stunden<br />

vergessen...<br />

Irgendwo in der Dunkelheit des Kanals, in der Candyman<br />

hauste, sammelten sich wieder die Bienen an und Candyman<br />

spührte, wie sie über seinen Mantel krabbelten. Die Insekten<br />

wurden langsam unruhig und ihr unruhiges Summen füllte den<br />

Raum an. Doch das Brummen der Bienen störte Candyman<br />

nicht im geringsten. Er blickte geistesabwesend in die<br />

spiegelnde Pfütze vor sich auf dem Boden und betrachtete<br />

Nancys Abbild, wie sie vor dem Spiegel stand. Er spührte, wie<br />

sie langsam aber sicher immer weiter in den Bann des<br />

Ungewissen gezerrt wurde und auf ihrem Herz lag die schwere<br />

Last der Angst. <strong>Das</strong> Mädchen war zutiefst verunsichert und<br />

Candyman war erfreut, dass sie sich immer weiter in ihre<br />

Suche nach Antworten verstrickte. Als er sie betrachtete, fiel<br />

ihm langsam auf, dass sie wie Helen aussah. Damals, als er<br />

80


noch ein lebendiger Mann gewesen war, damals, als ihn der<br />

Fluch des <strong>Candymans</strong> noch nicht verdorben hatte, hatte er das<br />

junge Mädchen geliebt und Nancy gab ihm das Gefühl, dass<br />

Helen noch immer bei ihm wäre. Natürlich hatte Nancy nicht<br />

das selbe blond gelockte Haar wie Helen, aber trotzdem<br />

ähnelten sie sich. Es waren nicht nur so, dass Nancy das selbe<br />

hübsche Gesicht wie Helen hatte und sie genau so<br />

wunderschön aussah, wenn ihre langen Haare auf ihre Brüste<br />

fiel, sondern Nancy war genauso verunsichert wie Helen. Sie<br />

wusste nie, was sie tun sollte und war sich nie sicher, ob sie<br />

Recht hatte oder nicht. Immer wieder zweifelte sie an sich<br />

selbst und Candyman wusste, dass auch Nancy ebenso einsam<br />

wie Helen war. Nancy hätte von sich selbst nie behauptet, dass<br />

sie wirklich einsam wäre, aber Candyman konnte in ihr Herz<br />

sehen und er sah, dass sie schon früh ihre Mutter verloren<br />

hatte. Ihr Vater hatte sie nie wirklich verstanden und ihr<br />

Verhältnis zu ihrem Bruder war auch schon immer sehr<br />

schlecht gewesen. Candyman wusste von Nancys Freundschaft<br />

zu Linda und auch von Nancys Exfreund, von dem sie sich<br />

nach beinahe zwei Jahren getrennt hatte. Es war das selbe, wie<br />

mit ihrem Vater gewesen, denn Nancy und er hatten sich nie<br />

wirklich verstanden. Sie hatten aneinander vorbei geredet und<br />

ohne es zu merken sich immer weiter auseinander gelebt. Eine<br />

Trennung war damals das einzig mögliche gewesen, ihre<br />

Beziehung zueinander hatte keine Zukunft gehabt und sowohl<br />

Nancy als auch ihr Freund hatten das erst viel zu spät gesehen.<br />

War es verwunderlich, dass Nancy sich zu der schattenhaften<br />

Gestalt aus ihren Träumen hingezogen fühlte? Er war der<br />

dunkle Mann, der durch ihre Träume wandelte und ihr Herz<br />

kannte... Candyman wusste, was Nancy wollte und was sie<br />

brauchte. Er kannte ihre innersten und geheimsten Wünsche<br />

und Hoffnungen. Alle von Nancys Ängsten waren ihm bekannt<br />

81


und er wusste Bescheid über Nancys wildeste Fantasien und<br />

Träume. Er kannte ihre Träume und er wusste, wie er sie<br />

erfüllen konnte und Nancy wusste das auch. Zu mindestens ein<br />

kleiner Teil von ihr, der sich in ihrem Unterbewusstsein unter<br />

einem hohen Berg aus Zweifel und Verleugnung verbarg.<br />

Candyman wusste von diesem kleinen Teil von Nancy, der tief<br />

in ihr schlummerte und er wusste, dass dieser winzige Teil<br />

irgendwann hervor kommen würde und dann...<br />

Dann würde er sie wieder sehen...<br />

Candyman beschloss, sich in dieser Nacht nicht in die Träume<br />

des Mädchens zu schleichen, sondern sie in dieser Nacht in<br />

Ruhe lassen. Wahrscheinlich würden sich ihre Träume auch<br />

ohne seine Hilfe in seine Richtung entwickeln. Er wusste<br />

schließlich alles über Nancy und er war sich sicher, dass er<br />

schon bald auch ohne Hilfe in Nancys Träumen auftauchen<br />

würde. Sie würde von ihm träumen, während er hier unten in<br />

den finsteren Tunneln der alten Kanalisation sitzen würde und<br />

auf sie warten würde. Und dieses Mal wären es keine<br />

Alpträume mehr...<br />

Dieses Mal wären es Wunschträume sein...<br />

Dennoch würde Candyman heute Nacht vielleicht wieder in<br />

Nancys Schlafzimmer kommen. Aber er würde außerhalb ihrer<br />

Träume bleiben. Er würde sie nur beim Schlafen beobachten...<br />

82


15.Kapitel<br />

Psychisch labil?<br />

An diesem Abend saßen Nancy und Linda wieder gemeinsam<br />

zusammen und die beiden Frauen saßen auf Nancys Sofa. Es<br />

war schon wieder regnerisch und auch wenn es schon lange<br />

Sommer war, blieb das Wetter immer noch sehr wechselhaft.<br />

<strong>Das</strong> Wetter wechselte von Regen zu strahlendem Sonnenschein<br />

und man konnte nie genau voraussagen, was der nächste Tag<br />

mit sich bringen wird. Nancy war froh, dass sie während ihrem<br />

kleinen Ausflug in die Tiefen der stillgelegten Kanalisation<br />

nicht von einem plötzlichen Regenguss überrascht worden war,<br />

der den Wasserpegel sicher bis zu ihren Knien hätte ansteigen<br />

lassen. Dennoch, auch wenn es nicht geregnet hatte, Nancy<br />

hatte sich scheinbar eine leichte Erkältung eingefangen, als sie<br />

durch die feuchten und kalten Rohre geklettert war.<br />

Gelegentlich hustete Nancy und sie spührte, wie ihr Hals beim<br />

Schlucken schmerzte. Verdammte Erkältung, verfluchte Nancy<br />

ihre Krankheit und beobachtete, wie Linda sich eine blonde<br />

Haarsträhne aus den Gesicht strich. Linda schob ihr Glas weg<br />

und sagte dann: „Nancy, ich muss gleich noch weg. Corey<br />

wollte mich abholen und wir wollten zu ihm fahren...“<br />

„Ich versteh schon“, meinte Nancy. „Du verschwindest gleich<br />

wieder. Viel Spaß mit Corey!“<br />

„Also, nur wenn das für dich okay ist“, sagte Linda. „Ich weiß,<br />

dass du zur Zeit ziemlich am Ende bist. Also wenn du...“<br />

„Nein, kein Problem. Wirklich“, unterbrach Nancy ihre<br />

Freundin. „Geh du nur zu Corey. Viel Spaß und...“<br />

„Was wirst du noch machen?“, fragte Linda besorgt, denn sie<br />

wollte ihre Freundin mit ihrer momentanen Situation nicht<br />

ständig allein lassen. Nancy machte auf sie einen verwirrten<br />

83


Eindruck und es schien sie zur Zeit ziemlich viel zu belasten.<br />

Nancy zuckte mit den Schultern und meinte: „Keine Ahnung.<br />

Ich glaube ich seh mir vielleicht noch einen der Spätfilme an.<br />

Da hab ich grade irgendwie Lust drauf.“<br />

Eigentlich war es Nancy gerade Recht, wenn Linda sie für den<br />

Rest des Abend allein ließ, denn ihr war eingefallen, dass sie<br />

immer noch die Bilder hatte, die sie dort unten in dem Tunnel<br />

gemacht hatte. Vielleicht würde die Bilder sie weiter bringen.<br />

Doch Linda ließ nicht locker und fragte: „Was kommt denn?“<br />

„Pulp Fiction“, log Nancy ohne wirklich nachzudenken, denn<br />

es war der einzige Film, der ihr auf die schnelle eingefallen<br />

war. Egal, Hauptsache, Linda ließ sie endlich in Ruhe. Sie<br />

sollte endlich aufhören, sich um sie Sorgen zu machen.<br />

Schließlich war ja alles mit Nancy in Ordnung...<br />

„Ihhh“, kommentierte Linda den Film, den Nancy ihr genannt<br />

hatte. „Ist der nicht extrem brutal...?“<br />

„Ja, schon“, meinte Nancy. Konnte Linda nicht endlich<br />

aufhören, sie hier zu nerven. „Aber manchmal ist das echt<br />

okay.“<br />

„Und es spielt Bruce Willis mit“, warf sie ein und Linda musste<br />

lachen. Sie schüttelte den Kopf und meinte dann: „Okay,<br />

Nancy, ich verschwinde jetzt. Ich lass dich mit Bruce Willis<br />

allein!“<br />

„Ha Ha Ha...Ich lach mich tot“, meinte Nancy und rief ihrer<br />

Freundin, die gerade zur Tür ging hinterher: „Mach´s gut,<br />

Linda und viel Spaß mit Corey!“<br />

Als Nancy endlich die Tür zuschlagen hörte und ihre Freundin<br />

gegangen war, stand Nancy auf und holte ihre Digitalkamera<br />

aus dem Schrank. Nancy war gespannt, was die Bilder ihr<br />

84


zeigen würden. Die Tür dort unten war zwar verschlossen<br />

gewesen, aber dennoch wusste Nancy, dass der Candyman dort<br />

unten sein musste. Natürlich, es gab keinen Zweifel. Die Bilder<br />

waren ja schließlich Beweis genug. Wie sonst hätten auch all<br />

die Süßigkeiten und die Wandbemalungen dort unten hin<br />

kommen können? Wie könnte man sonst erklären, dass Nancy<br />

genau von dieser Kammer dort unten geträumt hatte?<br />

Candyman war dort unten. Er lebte dort und er wartete auf<br />

Nancy... Vielleicht war das letzte Mal die Zeit einfach noch<br />

nicht reif gewesen.<br />

Langsam öffnete Nancy die Hülle des schwarzen Fotoapparats<br />

und legte die Hülle neben sich ab. Sie schaltete die Kamera an<br />

und drückte dann die Rückschautaste. Es ertönte ein sanftes<br />

Klingeln der Kamera und Nancy betrachtete die Bilder. Als sie<br />

das erste Bild sah, erstarrte sie. So hatte sie das Foto niemals<br />

aufgenommen...<br />

<strong>Das</strong> erste Foto zeigte die Kammer, in der Nancy gestanden<br />

hatte, nur alles schien viel heller erleuchtet zu sein. Nancy sah,<br />

dass die Wände mit Blut bespritzt waren. Es war wie die kurze<br />

Sequenz in ihrem Alptraum und der ganze Raum sah aus, als<br />

wäre dort ein Tier geschlachtet worden. <strong>Das</strong> war unmöglich...<br />

Nancy hatte dort kein Blut gesehen. Die Fotos waren nicht<br />

echt... irgendetwas stimmte nicht mit ihnen.<br />

Nancy sprang zum nächsten Bild. Auch dort war überall Blut<br />

zu sehen. Blut lief in Strömen die Wände herab und Nancy<br />

wurde übel. Diese Bilder... das war unmöglich.<br />

Dann betrachtete Nancy das nächste Bild, die Rasierklingen am<br />

Boden, die in den Süßigkeiten versteckt waren, waren ebenfalls<br />

mit Blut verschmiert. Hellrotes Blut, das noch aussah, als wäre<br />

es frisch auf dem glänzenden Stahl. Nancy hätte beinahe den<br />

Fotoapparat fallen lassen, als sie das Blutbad auf dem Bild sah.<br />

85


<strong>Das</strong> konnte nicht sein... bildete sie sich das gerade nur ein...?<br />

Sprung zum nächsten Bild. Nancy sah mit Abscheu, wie die<br />

Wände scheinbar von Bienen übersät waren. Tausende Insekten<br />

bedeckten die Wand und sie schienen jeden Quadratzentimeter<br />

des abbröckelnden Steins zu bedecken. Es war so, als könnte<br />

Nancy das ohrenbetäubende Summen und Brummen hören,<br />

wie sie die Wand entlang krabbelten. Sie konnte nicht einmal<br />

mehr die Inschriften lesen, die an den Wänden standen, da sie<br />

von den kleinen zerbrechlichen Körpern der mit ihren dünnen<br />

Flügeln schlagenden Bienen verdeckt wurden. Nancy schüttelte<br />

den Kopf und begann langsam an ihrem Verstand zu zweifeln.<br />

Auch auf dem nächsten Bild sah sie tausende Bienen und als<br />

sie das übernächste Foto betrachtete, erschrak sie heftig. Sie<br />

blickte auf das rote Graffiti, doch dieses Mal war der Text<br />

wieder anders. Es war nicht der bedrohliche Satz „Süßigkeiten<br />

für die Süßen“, sondern dort stand: Nancy... ich warte auf<br />

dich.... ich werde immer hier unten auf dich warten! Die<br />

Buchstaben waren groß und hatten eine dunkelrote Farbe (Blut,<br />

das selbe Blut wie an den Wänden?), die sich vom dem<br />

bröckelnden Putz abhob. Und die Buchstaben, die die<br />

Botschaft formten wirkten nicht etwa bedrohlich, sondern sie<br />

wirkten auffordernd, als hätte Candyman sie hier unten<br />

hinterlassen, um Nancy zu ihm zu locken. Mit pochendem<br />

Herz betrachtete Nancy das Bild und sie merkte gar nicht, dass<br />

sich ihre Finger immer fester und angespannter um die Kamera<br />

krallten.<br />

<strong>Das</strong> letzte Foto folgte und Nancy blickte auf die große Tür, die<br />

ihr verschlossen geblieben war und auf das große Bild des<br />

schreienden Mannes. Sie sah wieder in die aufgerissen dunklen<br />

Augen, die sie anstarrten und Nancy erschrak, als sie dieses<br />

86


Mal einen Mann vor der Tür stehen sehen konnte. Es war der<br />

dunkle Mann aus ihren Träumen, es war Candyman und er<br />

stand vor ihr, als hätte sie direkt ihn fotografiert. Nancy blickte<br />

in seine dunklen Augen, deren Pupillen wie schwarze Käfer<br />

funkelten. Candyman hatte den langen schwarzen Mantel an,<br />

den er immer trug und der Rand des Mantels war mit rotem<br />

Samt gesäumt. Er war von düsteren Schatten umgeben und<br />

Nancy sah, dass sich auf seinem Mantel Bienen tummelten.<br />

Bienen krabbelten über den schwarzen Stoff und über seine<br />

Gesicht, sie liefen über ihn hinüber und dennoch schien es ihm<br />

nichts auszumachen. Candyman blickte Nancy durch das Bild<br />

an und dieses Mal bemerkte Nancy zum ersten Mal seine<br />

Hakenhand, die aus dem blutigen Stumpf seines rechten Arm<br />

ragte. Der Fleischerhaken war gut dreißig Zentimeter lang und<br />

war gebogen, wie die Reißzähne eines Raubtiers. Er war aus<br />

glänzendem Stahl gefertigt und als Nancy den Armstumpf des<br />

<strong>Candymans</strong> sah, der sich knapp oberhalb seines früheren<br />

Handgelenks entblößte. Blutige Hautfetzen hingen herab und<br />

Nancy ließ die Kamera fallen.<br />

Die Bilder hatten sie schockiert und sie konnte es sich nicht<br />

erklären, wie sie zustande gekommen waren. Candyman<br />

musste die Bilder verändert haben. Er hatte die Bilder<br />

verändert, um ihr ein Zeichen zu senden... Aber was wollte er<br />

ihr sagen....<br />

Wenig später hob Nancy die Kamera wieder auf und hielt sie in<br />

ihren zitternden Händen. „Was willst du mir sagen...?“,<br />

flüsterte sie ohne es zu merken und ihr Blick wanderte wieder<br />

zurück zum Spiegel an der Wand. „Was willst du mir sagen?“<br />

Nancy wollte die Bilder noch einmal sehen, auch wenn sie<br />

ekelhaft waren. Sie drückte erneut die Rückschautaste und als<br />

sie die Bilder sah, starrte sie fassungslos die Kamera an. Die<br />

87


Bilder waren weg...<br />

Nancy blickte auf dunkle, verwackelte Bilder und die Bilder,<br />

auf denen sie den Candyman gesehen hatte, auf denen sie seine<br />

Nachrichten gesehen hatte, waren nicht mehr da. Es waren nur<br />

noch unerkennbare Bilder da, die völlig wertlos waren. <strong>Das</strong><br />

einzige was zu erkennen war, waren dunkle Flächen und jeder<br />

Bild war verwackelt.<br />

Wieso, fragte sich Nancy verbittert. Was ist mit den Bildern<br />

geschehen...?<br />

Ich kann mir das doch nicht alles eingebildet haben!!!<br />

„Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll“, klagte Linda und<br />

blickte Corey an. „Sie ist meine Freundin und ich möchte ihr<br />

helfen. Aber es ist mit Nancy so schwierig...“<br />

„Was meinst du damit“, meinte Corey und massierte Lindas<br />

Rücken. <strong>Das</strong> lief alles gar nicht so, wie er es sich erhofft hatte.<br />

Er wollte eigentlich einen schönen Abend mit Linda verbringen<br />

und hatte eigentlich gehofft, dass sie sich ein paar schöne<br />

Stunden zu zweit verbringen könnten, aber irgendwie war<br />

Linda überhaupt nicht gut drauf. Sie achte sich die ganze Zeit<br />

Sorgen um ihre Freundin Nancy und Corey schaffte es nicht,<br />

sie abzulenken. Was immer er auch sagte, früher oder später<br />

kam Linda wieder auf Nancy und ihre Probleme zurück.<br />

„Ich weiß es ja auch nicht wirklich, aber irgendwie ist Nancy<br />

zur Zeit total verwirrt. Ich glaube, sie bildet sich irgendetwas<br />

ein...“<br />

„Warum das denn?“, fragte Corey und hoffte, dass Linda sich<br />

bald alles von der Seele geredet habe. Dann könnte es ja<br />

schließlich doch noch ein schöner Abend werden.<br />

„Nancy ist immer so schnell fertig mit den Nerven und<br />

scheinbar geht wieder irgendetwas mit ihr durch. Es war nicht<br />

immer leicht für sie und ich glaube, auch wenn ich ihr das nie<br />

gesagt habe, dass sie psychisch leicht instabil ist. Vielleicht ist<br />

88


sie ein wenig paranoid oder so...“<br />

Linda wollte eigentlich gar nicht so viel erzählen, aber das was<br />

sie sagte, stimmte. Sie hielt Nancy wirklich für ein wenig<br />

psychisch labil. Nancy gingen immer zu schnell ihre Nerven<br />

durch und schon bei kleinen Stresssituationen konnte es<br />

vorkommen, dass sie die Kontrolle verlor. Auch wenn Linda<br />

versuchte, nicht daran zu denken, glaubte sie auch, dass Nancy<br />

auch irgendwie bei der Sache mit dem Candyman die Kontrolle<br />

verloren hatte.<br />

„Paranoid? Wie meinst du das, Linda? Auf mich hat Nancy<br />

einen recht normalen Eindruck gemacht!“<br />

„Sie hat mir erzählt, dass sie Alpträume hat. Sehr reale<br />

Alpträume... Nancy ist seitdem sie diese Alpträume hat völlig<br />

durcheinander...Auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen<br />

will und es auch selber nicht wahr haben will, ich merke, dass<br />

sie völlig fertig ist.“<br />

Linda lehnte sich an Corey an und er legte den Arm um sie.<br />

Corey dachte, dass sich Linda viel zu viele Sorgen machte, sie<br />

war schon fast so, wie sie Nancys Zustand geschildert hatte.<br />

Nancy würde schon wieder werden, war sich Corey sicher und<br />

er konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass Nancy langsam<br />

den Verstand verlor. Aber schließlich kannte Linda Nancy<br />

besser und wenn sie sich Sorgen machen wollte, dann bitte.<br />

Und übrigens, wenn er ihr jetzt sagen würde, dass er der<br />

Meinung war, dass Linda wegen Nancy völlig überreagierte,<br />

dann könnte er sich den Rest des Abends mit Linda<br />

abschminken.<br />

„Linda“, sagte Corey und versuchte, Linda zu beruhigen. „Ich<br />

finde es ja echt gut, dass du dir so große Sorgen um deine<br />

Freundin machst. Echt, das ist eine gute Eigenschaft... Aber ich<br />

glaube, dass du, auch wenn du immer versuchst, für deine<br />

Freundin Nancy dazu sein und ihr immer helfen willst, du<br />

89


musst dir nicht immer so viele Gedanken machen. Ich bin<br />

sicher, dass es Nancy gut geht. Und auch wenn sie zur Zeit viel<br />

Stress hat, wird sie es schaffen. Da bin ich mir sicher. Auch<br />

wenn es gut ist, dass du immer für sie da bist, manchmal musst<br />

du auch an dich selber denken.“<br />

Er strich Linda sanft über den Kopf und ließ seine Finger durch<br />

ihre dunkelblonden Haare gleiten. Scheinbar hatte er Erfolg mit<br />

seinen Worten gehabt, denn er schien spüren zu können, wie<br />

Lindas Anspannung sich löste. Linda lehnte sich zurück und ihr<br />

Rücken lag auf Coreys angewinkelten Knien.<br />

„Ich hoffe, du hast Recht, Corey“, sagte Linda und zog ihre<br />

Beine an.<br />

„Linda, Schätzchen“, begann Corey und strich ihr über den<br />

Rücken. „Mach dir keine Sorgen... alles ist gut... Versprochen!“<br />

Linda drehte ihren Kopf nach hinten und flüsterte: „Danke,<br />

Corey...“<br />

Corey küsste sie und streichelte ihren Kopf. Nancy erwiderte<br />

seinen Kuss und als sich ihre Lippen trafen, dachte Corey: Na<br />

also, der Abend wird ja doch noch schön!<br />

90


16.Kapitel<br />

Tödliche Stiche<br />

Der leichte Regen hatte schon seit einer Stunde aufgehört, als<br />

Lieutenant Chris Stonehill in seinem Büro saß und die<br />

Fallakten durchging. Er arbeitete oft bis spät in die Nacht und<br />

deshalb war es auch heute keine Besonderheit, dass er zu derart<br />

späten Stunde noch in seinem Büro saß. Der Fall mit dem<br />

Toten unter der Brücke war immer noch nicht gelöst und da er<br />

und sein Partner Arnie auf ihn angesetzt waren, musste Chris<br />

weiter recherchieren. Er und Arnie hatten dort unten am<br />

Flussbett keine weiteren Hinweise gefunden, nichts außer die<br />

drei Schläger, die die junge Frau namens Nancy angegriffen<br />

hatten. Eigentlich hätte Chris sie befragen sollen und<br />

herausfinden, was sie dort unten getan hatte. Schließlich war es<br />

ja eigentlich nicht normal, dass sich eine junge Frau wie Nancy<br />

dort unten unter der Brücke herumtrieb. Ob sie irgendetwas mit<br />

dem Todesfall zu tun hatte... Nein, unmöglich, beendete Chris<br />

seinen Gedankengang sofort wieder. <strong>Das</strong> war absolut unsinnig.<br />

Wahrscheinlich hatten die Leute von der Spurensicherung<br />

recht, die meinten, dass es irgendeine allergische Reaktion auf<br />

die Bienenstiche des Toten zu tun hatte. Wenn doch nur endlich<br />

der Bericht von der Autopsie fertig wäre und zu ihm kommen<br />

würde, dann wäre Chris endlich einen Schritt weiter.<br />

Und bevor er Klarheiten hatte, blieb ihm nichts weiter übrig,<br />

als in jede Richtung zu denken und Hypothesen aufzustellen.<br />

Arnold Breyvogel und er hatten einige Leute in Cabrini-Green<br />

befragt, die ausgesehen haben, als könnten sie den Toten<br />

kennen.<br />

Sie hatten einige Obdachlose in der Nähe befragt, aber nichts<br />

herausgefunden. Einige andere hatten ebenfalls nichts gewusst<br />

91


und ein paar der Mitglieder der Gangs zu fragen, wäre<br />

Zeitverschwendung gewesen. Keiner von denen hätte freiwillig<br />

mit der Polizei geredet und wenn irgendwer dort drüben was<br />

über den Toten gewusst hätte, wenn er ihn wenigstens gekannt<br />

hatte, dann hätte er trotzdem nichts der Polizei erzählt. Schon<br />

allein, weil dort drüben niemand irgendwelche Scherereien mit<br />

den Bullen haben wollte. Beinahe jeder dort in dem Viertel<br />

hasste die Cops, weil die meisten dort schon einmal schlechte<br />

Erfahrung mit der Polizei gemacht hatten und dort viel illegales<br />

ablief. Chris hatte die Erfahrung gemacht, dass wenn man dort<br />

drüben als Polizist unterwegs war, man so gut wie nie auf<br />

Kooperation stoßen konnte.<br />

Er legte einige der Akten auf den Schreibtisch und als er nach<br />

seiner Kaffeetasse griff, spührte er etwas an seinem Arm. Er<br />

blickte an seinem linken Arm hinab und spührte, dass ein<br />

Insekt an seinem Unterarm entlang krabbelte. Sofort hob Chris<br />

die andere Hand und holte zum Schlag aus, um das lästige Tier<br />

zu zerschlagen, als er sah, was es für ein Insekt war. Der lange<br />

gestreifte Körper des Tiers krabbelte von seinem Handgelenk<br />

weg und über Chris Armbanduhr. Er spührte das Schlagen der<br />

Flügel und als Chris die Biene sah, hielt er inne. Er wollte es<br />

nicht darauf anlegen, dass das Tier ihn sticht und hielt den Arm<br />

von sich weg. Wenn er das Insekt schlagen würde, hätte er auf<br />

jeden Fall Garantie, gestochen zu werden. Deshalb hielt Chris<br />

den Arm so ruhig wie möglich, um das Tier nicht zu<br />

erschrecken und ging langsam zum geöffneten Fenster. Manche<br />

Leute machen den Fehler, wenn sie sehen, dass sie eine Biene<br />

auf dem Arm sitzen haben, panisch zu reagieren und versuchen<br />

das Tier durch heftiges Schütteln abzuwerfen. Damit<br />

erschrecken sie die Biene oder Wespe oder was sonst noch alles<br />

stechen kann aber meistens nur noch mehr und dann sticht das<br />

Insekt auf jeden Fall.<br />

92


Chris wollte das nicht riskieren und als er am Fenster stand,<br />

schnippte er das Tier mit ruhiger Hand weg. Komisch dachte<br />

er, während er den Insekt nachsah, dass in die Nacht hinaus<br />

flog, in der Stadt gibt es doch sonst so gut wie nie Bienen.<br />

Verdammt, schon wieder diese scheiß Bienen...<br />

Auf einmal schlug die Tür auf und als Chris sich umdrehte sah<br />

er einem seiner Kollegen entgegen, der scheinbar panisch zu<br />

ihm nach oben rannte.<br />

„Schnell, Lieutenant, mit einem der Gefangenen unten stimmt<br />

was nicht... Ich weiß nicht was los ist, aber ich glaube, er<br />

stirbt!“<br />

„Was?“; rief Chris entgeistert. Direkt eine Etage unter ihm<br />

waren einige wenige Zellen für die Untersuchungshaft gelegen<br />

und wahrscheinlich gab es dort unten Probleme.<br />

„Wir brauchen dort unten einen Arzt“, meinte der Polizist<br />

aufgeregt. „Aber das Telefon unten funktioniert nicht...<br />

Vielleicht mit ihrem...?“<br />

Chris deutete auf sein Telefon, das neben dem flimmernden<br />

Bildschirm seines Computers stand und meinte: „Da, rufen sie<br />

von dort den Notarzt an! Ich seh mir das da unten an!“<br />

„Alles klar!“, sagte der Polizist und lief zu dem Telefon.<br />

Schnell wählte er den Notruf und Chris rannte aus einem Büro.<br />

Schnell lief er die Treppe nach unten und lief zum Zellenblock.<br />

Von dort unten konnte er Stimmen hören und griff instinktiv<br />

nach de Griff seiner Pistole unter seiner Jacke. Irgendwas<br />

stimmte da nicht...<br />

Als Chris die Tür zum Zellenblock aufstieß, sah er gleich, was<br />

los war. Die vier kleinen Zellen, die mit schmalen Eisengittern<br />

verschlossen waren lagen nebeneinander und in jeder war<br />

mindestens ein Gefangener. Die letzte Zelle war<br />

93


aufgeschlossen und Chris sah, dass dort ein weiterer Polizist<br />

am Boden über einem der Gefangenen kniete. Die anderen<br />

Insassen standen dicht mit den Köpfen an den Gitterstäben und<br />

gafften neugierig in die vierte Zelle, in der sich ein wahres<br />

Drama abzuspielen zu schien.<br />

Sofort rannte Chris ans andere Ende des Raums und lief an den<br />

Gittern vorbei. Er hörte einige Gefangene aufgeregt rufen und<br />

als er bei dem Polizisten in der Zelle ankam, rief er: „Was ist<br />

hier los, verdammt!?“<br />

Der Mann mit der schwarzen Lederjacke, die das Stadtwappen<br />

von Chichago trug und aufgeregt gestikulierte, hätte sich seine<br />

Erklärung auch sparen können, denn Chris sah auch so, was los<br />

war. Der Gefangene, den Chris als den Anführer der Männer<br />

wiedererkannte, die Nancy am vorherigen Tag unten am<br />

Flussufer angegriffen hatten und immer noch seine Army-Parka<br />

trug, lag zuckend am Boden. Sein Gesicht war geschwollen<br />

und lief krebsrot an. Chris sah die Augen des Mannes, die<br />

scheinbar aus ihren Höhlen hervorzutreten schienen und es war<br />

nicht zu erkennen, ob er aus Krämpfen handelte oder ob der<br />

sich am Boden windende Mann an die Kehle griff. Entsetzt sah<br />

Chris, dass der Hals des Mannes schrecklich angeschwollen<br />

aussah, so als hätte er etwas großes in der Kehle stecken.<br />

Und mit einem Mal kamen in Chris Erinnerungen hoch. Er<br />

hatte das ganze schon ein mal gesehen. Nämlich als er noch ein<br />

Junge gewesen war und sein Vater seinen vierzigsten<br />

Geburtstag gefeiert hatte. Damals hatte sein Vater aus einer<br />

Flasche getrunken und hatte nicht gemerkt, dass dort eine<br />

Biene hineingekrochen war. Als sie ihn gestochen hatte, hatte<br />

sein Vater ebenfalls keine Luft mehr bekommen weil seine<br />

Luftröhre zugeschwollen war. Glücklicherweise hatte man<br />

Chris Vater damals schnell genug retten können bevor er<br />

94


erstickt wäre, aber dieses Mal war es wohl schon zu spät...<br />

Chris konnte den Mann nach Luft ringen hören und<br />

krächzendes Stöhnen kam aus der Kehle des Erstickenden. <strong>Das</strong><br />

Gesicht des Mannes war immer noch rot angelaufen und für<br />

Chris sah es so aus, als würden seine Augäpfel gleich<br />

explodieren. Ein weiterer Schrei entwich der Kehle des<br />

Mannes und die beiden Polizisten wussten nicht, was sie<br />

machen sollten.<br />

„Er hat eine Biene verschluckt!“, rief Chris Kollege und er<br />

versuchte den Hals des Mannes frei zu bekommen. „Irgendwie<br />

muss das Tier...“<br />

„Ich weiß das er eine Biene verschluckt hat“, schrie Chris und<br />

Schweiß lief ihm über die Stirn. Der Mann vor ihm starb<br />

gerade und es gab nichts, was er tun könnte.<br />

„Wir müssen irgendwie versuchen, die Schwellung zu kühlen...<br />

Mit Eis oder so was..“<br />

Chris stand auf und sah sich verzweifelt um. Irgendwo musste<br />

es etwas geben, mit dem er die Schwellung kühlen, zu<br />

mindestens solange bis der Notarzt eintreffen würde! Vielleicht<br />

konnte er...<br />

„Chris!“, brüllte der Polizist. „Chris, verdammt!“ Erst jetzt<br />

bemerkte Chris seinen Kollegen und blickte zu ihm rüber.<br />

„Was?“, fragte er mit hartem Tonfall. „Was ist?!“<br />

„Chris, der Mann ist tot!“, verkündete der Polizist und deutete<br />

auf den regungslosen Körper des Mannes. Jetzt sah auch Chris,<br />

dass der Gefangene, den er soeben noch zu retten versucht<br />

hatte, tot war. Seine Leiche lag auf dem kahlen Fußboden der<br />

Zelle und das rot angeschwollene Gesicht war aschfahl<br />

geworden. Seine Augen waren halb nach oben gedreht, dass ein<br />

großer Teil der Pupillen unter den Augenlidern verschwand und<br />

95


Chris das weiße um die Pupillen sehen konnte. Die Augen des<br />

Mannes blickten so erschreckend tot an die kahle Decke, dass<br />

Chris sich angewidert von ihm abwandte.<br />

„Er ist tot“, wiederholte der Polizist und Chris stimmte ihm<br />

nickend zu.<br />

Eine halbe Stunde später war die Leiche des Toten<br />

weggeschafft worden und auch der Notarzt, der wenige<br />

Minuten nach dem Tod des Mannes eingetroffen war, hatte<br />

nichts mehr tun können, als seinen Tod festzustellen. Chris<br />

stand noch immer am geöffneten Fenster und blickte in die<br />

Dunkelheit hinaus. Er dachte an den Mann, der soeben<br />

gestorben war und auch wenn er wusste, dass dieser Mann<br />

nicht gerade ein herber Verlust für die Menschheit war, musste<br />

er immer denken, dass...<br />

„Hey Chris...“, hörte er hinter sich seinen Kollegen namens<br />

James Miller, der Mann, der die ganze Zeit bei dem<br />

Gefangenen gewesen war und als Chris sich umdrehte, sagte<br />

dieser unsicher: „Ich weiß nicht, was dort unten passiert ist,<br />

aber das kann irgendwie kein normaler Unfall gewesen sein...“<br />

„Wieso“, fragte Chris. „Was ist dort unten geschehen...?“<br />

„Also, das war echt komisch“, begann Miller und erzählte<br />

dann: „Ich hab zuerst da dies eine Biene gesehen, die irgendwie<br />

durchs Fenster geflogen ist. Ich weiß, irgendwie komisch ist,<br />

weil es ja hier in der Stadt kaum Bienen gibt. Aber das ist ja<br />

auch egal. Ich hab dann gesehen, wie die Biene zu der Zelle<br />

von diesem Typen geflogen ist. Dann ist sie auf seinem Arm<br />

gelandet. Aber der Kerl hat das Insekt nicht weggejagt oder so.<br />

Er hat erst gar nichts gemacht und dann ist es komisch<br />

geworden. Ich habe gesehen, wie er die Biene erst angestarrt<br />

hat. Er hat sie einfach ewig angestarrt und seine Augen haben<br />

dabei so richtig komisch ausgesehen. Einfach so, als würde er<br />

96


ins leere starren. Dann ist es komisch geworden... Erst hab ich<br />

geglaubt, dass ich mich irgendwie verguckt haben, aber ich bin<br />

mir ziemlich sicher, dass er die Biene auf seiner Hand<br />

genommen hat und dann einfach herunter geschluckt hat. Er<br />

hat die Biene einfach heruntergeschluckt, als wäre sie ein<br />

verdammtes Bonbon gewesen.“<br />

„<strong>Das</strong> ist doch unmöglich...“, meinte Chris und er blickte Miller<br />

ungläubig an.<br />

„Ich weiß, dass es sich unglaublich anhört, aber es stimmt. Ich<br />

habe es gesehen. Er hat sie heruntergeschluckt. Glaub mir,<br />

Mann...!“<br />

Chris schüttelte den Kopf und stellte sich wieder ans Fenster.<br />

„<strong>Das</strong> ist echt krass... Was geht hier nur verrücktes ab?“<br />

17.Kapitel<br />

Ich werde immer bei dir sein...<br />

Die aufgehende Sonne strahlte durch das geöffnete Fenster<br />

hinein und Linda wachte stöhnend auf. Sie blinzelte mehrmals<br />

und rieb sich die Augen. Dann richtete sie sich auf und sah,<br />

dass sie immer noch bei Corey war. Scheiße, dachte sie. Sie<br />

sollte eigentlich zuhause sein und mit Nancy zur Arbeit fahren,<br />

wie sie sich verabredet hatten. Sie schlug die Bettdecke weg<br />

97


und sah Corey an, der gerade durch die Tür kam um ihr einen<br />

guten Morgen zu wünschen.<br />

„He Linda, wie geht’s!“, begann er. „Hast du gut geschlafen?“<br />

„Corey“, rief Linda. „Du hättest mich wecken sollen! Ich sollte<br />

schon längst weg sein. Ich muss gleich zur Arbeit und zu hause<br />

wartet Nancy auf mich, weil ich mit Nancy verabredet war!“<br />

„Oh Sorry“, meinte Corey entschuldigend. „<strong>Das</strong> habe ich doch<br />

nicht gewusst. Sonst hätte ich dich geweckt.“<br />

„Du bist ein Arsch! Du lässt mich hier seelenruhig neben dir<br />

verschlafen, während du dir hier schön Frühstück machst...“,<br />

sagte Linda aufgeregt und griff sich ihre Klamotten. Eilig zog<br />

sie sich an und meinte dann: „Ich komme ohne Nancy nicht zur<br />

Arbeit, weil mein Auto kaputt ist. Jetzt muss ich entweder den<br />

Bus nehmen oder du musst mich mitnehmen!“<br />

„Ja okay“, meinte Corey. „Ich bring dich zur Arbeit, Linda,<br />

keine Sorge.“<br />

„Ich komme ohnehin zu spät und ich muss Nancy sagen, dass<br />

sie nicht auf mich warten braucht...Verdammt!“<br />

Linda sucht nach ihrem Handy in der Tasche ihrer Jeans und<br />

als sie es anschaltete, sah sie, dass Nancy ihr bereits mehrere<br />

Nachrichten hinterlassen hatte.<br />

Wahrscheinlich hatte sich das bereits erübrigt. Nancy war,<br />

nachdem Linda sie lange hatte warten lassen, schließlich ohne<br />

sie gefahren und Linda war sich sicher, dass sie eine gute<br />

Ausrede brauchen würde, warum sie ihre Freundin hatte sitzen<br />

lassen.<br />

„Willst du noch irgendwas essen, bevor du...“, wollte Corey<br />

fragen, aber seine Freundin unterbrach ihn. „Nein, danke...<br />

Dafür reicht die Zeit jetzt echt nicht mehr!<br />

Los, wir müssen uns beeilen...es ist nicht mehr viel Zeit!“<br />

„Ja, ja, ja, schon gut!“, rief Corey und suchte seinen<br />

Autoschlüssel. „Mach dir keine Sorgen. Ich kenne da ne´<br />

98


Abkürzung! Mit der sind wir in einer Sekunde da, okay?!“<br />

Später am Abend kam Nancy wieder von der Arbeit zurück und<br />

wartete dieses mal wieder in ihrem Auto auf Linda. Dieses Mal<br />

würde sie es ja hoffentlich schaffen, wenigsten einmal<br />

pünktlich zu sein. Mit den Händen auf das Lenkrad gelegt,<br />

wartete Nancy und blickte nach draußen. Die Sonne schien<br />

noch hell und viele Leute waren draußen auf den Straßen. Da<br />

Nancy auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums stand war<br />

gerade hier besonders viel los. Eine Menge Leute tummelte<br />

sich auf dem Platz vor dem Einkaufszentrum und Nancy<br />

versuchte vergeblich Linda in der Menschenmenge ausfindig<br />

zu machen. Es waren einfach zu viele Leute und Nancy sah<br />

Leute, die in den Cafés saßen oder über den Platz schlenderten.<br />

Leute mit Einkaufstüten und gestressten Gesichtern hasteten an<br />

ihr vorbei während andere gemächlich durch die Mengen<br />

spazierten und die Schaufenster betrachteten.<br />

Der ganze Platz war so voller Leben und Nancy kurbelte das<br />

Fenster herunter, um ein wenig frische Luft hineinzulassen. Auf<br />

der anderen Seite hörte Nancy, wie die Beifahrertür aufgerissen<br />

wurde und Linda stieg in das Auto. Linda schob Nancys Tasche<br />

vom Beifahrersitz und ließ sich neben ihr auf den Beifahrersitz<br />

sinken.<br />

„Hi Nancy“, begrüßte sie die junge Frau am Steuer und zog die<br />

Tür zu. „Wie geht’s?“<br />

Nancy antwortete erst nicht und Linda wollte schon fast<br />

denken, dass Nancy beleidigt war, weil sie sie heute morgen so<br />

lange warten lassen hatte und nicht aufgetaucht war. Dann aber<br />

sah sie, dass Nancy nur wie gebannt in die Menschenmenge<br />

blickte und Linda tippte Nancy an der Schulter an. „Hey, was<br />

ist?“<br />

Nancy reagierte erst jetzt und drehte sich zu Linda um. „Hallo<br />

99


Linda“, sagte sie mit fröhlichem Gesichtsausdruck. „Hab dich<br />

erst gar nicht bemerkt...“<br />

„Ach so...“, meinte Linda und sah Nancy an, die heute gut<br />

gelaunt zu sein schien. Sie lächelte fröhlich und sie sah heute<br />

ganz verändert aus. Nancys Haare schienen heller zu wirken<br />

und leuchteten beinahe in der Sonne und ihre blauen Augen<br />

funkelten wie blank polierte Saphire. Wann hatte Linda Nancy<br />

zum letzten Mal so glücklich gesehen? Es wirkte fast, als hätte<br />

sie sich seit gestern völlig zu einer anderen Person gewandelt.<br />

Gestern noch hatte Nancy so bedrückt gewirkt und irgendwie<br />

hatte sie den Anschein gemacht, dass sie leicht verwirrt wäre.<br />

Linda erinnerte sich, dass Nancys Haar ihr wirr in die Stirn<br />

gehangen hatte und ihre Augen dunkler gewesen sein mussten.<br />

Doch die schattenhaften leichten Ringe unter Nancys Augen<br />

waren verschwunden und ihr Gesicht schien mit neuem Glanz<br />

zu strahlen.<br />

„Hi, Nancy“, sagte Linda erstaunt. „Du.. du siehst heute toll<br />

aus...!“<br />

„Danke“, meinte Nancy und lächelte sanft. „<strong>Das</strong> ist nett von<br />

dir...?“ Ihre Blicke schweiften wieder in die Menschenmenge<br />

und Linda bemerkte es erst gar nicht. Langsam ließ Nancy ihre<br />

Blicke schweifen und dann sah sie ihn zwischen den anderen<br />

Leuten auf dem Vorplatz des Einkaufszentrums. Der Candyman<br />

stand dort und um ihn herum wuselten die Leute als würden sie<br />

ihn gar nicht bemerkten. Die ganzen Leute gingen alle ihre<br />

eigenen Wege und Candyman stand zwischen ihnen. Er stand<br />

still dort und während die all die Leute in ihren eigenen<br />

Bahnen und Gedanken gefangen um ihn herum wuselten,<br />

wirkte es so, als würde für ihn allein die Zeit still stehen. Nicht<br />

nur für ihn allein, sondern für ihn und Nancy...<br />

Der große dunkelhäutige Mann stand dort und Nancy sah<br />

100


seinen langen schwarzen Mantel, der großzügig mit<br />

hochwertigem und teuer aussehendem Pelz bestückt war.<br />

Candyman schien auch dieses Mal wenige Zentimeter über<br />

dem Boden zu schweben und dieses Mal erschreckte seine<br />

Erscheinung Nancy nicht mehr. Er wirkte auf sie nicht mehr<br />

angst einflößend sondern er schien eine ungeheure<br />

Anziehungskraft auf sie auszuüben. Fasziniert blickte sie ihn<br />

an und seine dunklen Augen mit Pupillen wie kleine schwarze<br />

Käfer funkelten geheimnisvoll. Langsam verzogen sich seine<br />

Mundwinkel nach oben und Nancy wusste nicht, ob er sie<br />

anlächelte oder nicht. Erst wusste sie nicht, was sie jetzt tun<br />

sollte und ohne es zu merken, lächelte sie ihm zurück...<br />

Was tat sie da gerade, fragte sie sich kurz und auf einmal<br />

verschwand Candyman wieder vor ihren Augen. Als hätte ihre<br />

Begegnung nur für den Bruchteil einer Sekunde gedauert, als<br />

hätte Candyman nur für die Zeitdauer eines Herzschlags für sie<br />

existiert...<br />

Dann war er wieder verschwunden<br />

„Kannst du bitte losfahren!“, fragte Linda ungeduldig. „Ich<br />

glaube, der Typ da hinten starrt uns irgendwie an...“<br />

Nancy blickte noch einmal zurück an die Stelle, wo Candyman<br />

gestanden hatte und tatsächlich stand dort jemand. Es war ein<br />

Mann mit langem Mantel, der bei den warmen Temperaturen<br />

völlig fehl am Platz zu sein schien. Und tatsächlich, der Mann<br />

blickte definitiv Nancys Richtung. Seine Augen schienen wie<br />

gebannt auf Nancy gerichtet zu sein und ein unangenehmes<br />

Gefühl lief ihr den Rücken herunter. Sie wurde tatsächlich<br />

beobachtet...<br />

Als Nancy den Wagen startete und auf dem Parkplatz wendete,<br />

konnte sie durch den Rückspiegel den Mann sehen, wie er die<br />

Hand hob und ihr zuzuwinken schien...(Wir sehen uns noch,<br />

101


Nancy...)<br />

„Tut mir wirklich Leid, dass ich dich heute morgen sitzen<br />

gelassen habe, Nancy“, entschuldigte sich Linda erneut bei<br />

Nancy, doch diese schien das bereits ganz vergessen zu haben.<br />

Irgendwie war Nancy heute tatsächlich komisch drauf, dachte<br />

Linda. Sie war auf einmal so verändert und auch wenn sie<br />

immer noch so verwirrt schien, war es jetzt auf eine andere Art.<br />

Sie schien nicht mehr so ängstlich verwirrt zu sein und alles in<br />

allem machte Nancy den Eindruck, als hätte sie sich irgendwie<br />

ins positive verändert. Aber warum auf einmal, fragte sich<br />

Linda. Ihre Freundin war zwar psychisch leicht labil und<br />

angeschlagen, aber konnte es sein, dass es sich hier um etwas<br />

anderes handelte. Es war, als wäre Nancy heute eine andere<br />

Person...<br />

Vielleicht war das eine Art schizophrene Phase, dachte Linda<br />

mit Schauder. Konnte das sein? Die eine Nancy, die völlig<br />

verwirrt und mit den Nerven am Ende irgendetwas von<br />

erschreckenden Alpträumen erzählte und die andere Nancy, die<br />

auf einmal mit bester Laune auftaucht und die über Nacht<br />

aufgeblüht zu sein schien. <strong>Das</strong> alles war merkwürdig, aber<br />

Nancy konnte doch nicht unter Schizophrenie leiden, sagte sich<br />

Linda. Schließlich war sie ihre beste Freundin und sie kannte<br />

Nancy wirklich gut. Nancy war keine heimliche weibliche<br />

Version von Norman Bates oder Jack Torzier aus Stephen<br />

Kings The Shining...<br />

Irgendwie wirkte Nancy auf Linda, als hätte sie jemanden<br />

gefunden. Jemanden, der sie verstehen konnte und der immer<br />

für sie dazu sein schien...<br />

So als hätte Nancy sich verliebt...<br />

102


18.Kapitel<br />

Dunkle Tiefen...<br />

Nancy ging langsam die Treppenstufen des Wohnblocks nach<br />

unten und auch wenn es nicht nur draußen sondern auch im<br />

Treppenhaus dunkel war, hatte sie keine Schwierigkeiten,<br />

durch die schattenhafte Dunkelheit zu gehen. Es brannte kein<br />

Licht und das einzige Licht, dass Nancy hatte war das Licht,<br />

das vom Mond durch die Fenster hineinschien. Sie hatte kein<br />

Licht anschalten können, weil die Lichtschalter wieder einmal<br />

nicht funktionierten, aber es machte ihr nichts aus. Sie fühlte<br />

sich wie eine Katze, die durch die Dunkelheit schlich und als<br />

sie unten bei ihrem Briefkasten angekommen war, hörte sie<br />

draußen ein Geräusch. Sie zuckte zusammen und drehte sich zu<br />

der Geräuschquelle hin, als sie sah, dass die Eingangstür einen<br />

Spalt weit offen stand. Draußen konnte sie das seichte<br />

Rauschen der Straße hören, aber sie hörte auch das Geräusch<br />

wieder. Langsam ging sie auf die Tür zu und drückte sie auf.<br />

Vor ihr lag der asphaltierte Vorplatz auf dem die Autos der<br />

Bewohner geparkt standen und deren unförmige Schatten sich<br />

über den Asphaltboden zogen.<br />

„Nancy“, hörte sie jemanden ihren Namen flüstern und mit<br />

vorsichtigen Schritten folgte sie den Rufen. Die sanfte, tiefe<br />

Stimme flüsterte erneut: „Nancy...“<br />

Nancy ging schneller und überquerte den Parkplatz. Sie konnte<br />

sich gut denken, wer dort drüben ihren Namen flüsterte und die<br />

Gedanken an den Candyman ließen sie merkwürdig nervös<br />

werden. Sie hatte keine wirkliche Angst, sondern fühlte eher<br />

ein unangenehmes Kribbeln im Bauch... So als wäre sie wegen<br />

irgendetwas aufgeregt... Als würde sie ein Geschenk erwarten<br />

103


oder den Mann ihrer Träume zum ersten Mal sehen...<br />

Als Linda aus ihrem Fenster blickte, erkannte sie Nancy zuerst<br />

gar nicht, sondern sah nur die Umrisse eines Menschen, der<br />

dort über den Parkplatz ging. Dann aber bemerkte Linda, das es<br />

Nancy war. Aber was machte Nancy dort unten. Erst überlegte<br />

sie, das Fenster zu öffnen und ihr etwas von oben zuzurufen,<br />

aber tat es dann doch nicht. Was sollten den die ganzen Leute<br />

denken, die sie zu dieser späten Stunde wachrüttelte. Übrigens<br />

wusste sie ja gar nicht wirklich ob es Nancy war. Auf jeden<br />

Fall wäre es merkwürdig, überlegte Linda, denn schließlich<br />

hatte Nancy doch jetzt nichts mehr auf dem Parkplatz zu<br />

suchen. Oder etwa doch...<br />

Ungewiss zog Linda den Vorhang zu und sie versuchte den<br />

Gedanken zu verdrängen, dass es Nancy war, die dort unten bei<br />

nachtschlafender Zeit über den Parkplatz schlich. Schließlich<br />

hatte sie ohnehin genug Probleme mit Nancy und ihrer<br />

geheimnisvollen Art, sich in letzter Zeit zu verhalten...<br />

Candyman stand am anderen Ende des Parkplatzes und Nancy<br />

konnte ihn sehen, wie er langsam auf sie zukam. Es gab ihn<br />

also doch wirklich...Sie hatte sich das heute nicht alles<br />

eingebildet. Nein, das konnte sie sich nicht einbilden. <strong>Das</strong> alles<br />

war zu real, um bloß Einbildung zu sein...<br />

Dunkle Schatten umgaben ihn und Nancy stand mit pochendem<br />

Herzen da und starrte den in seinem schwarzen Nerzmantel<br />

gekleideten Schattenmann an. Sie wollte sich ihm nähern, aber<br />

ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie blieb auf der Stelle stehen<br />

und spührte, dass ihre Kehle auf einmal ganz ausgetrocknet<br />

war. Nervös blickte sie den dunklen Mann an und sie merkte,<br />

dass ihr Herz ihr bis zum Halse schlug.<br />

Dann blieb Candyman stehen und Nancy sah ihm ins Gesicht.<br />

104


Sogleich erwiderte Candyman ihre erwartungsvollen Blicke<br />

und Nancy konnte nichts in seinem Gesicht ablesen.<br />

Ausdruckslos und mit halb geöffneten Augen blickte der<br />

Candyman sie an und Nancy wusste nicht, was sie tun sollte.<br />

Zum einen war er abstoßend und jagte Nancy kalten Schauer<br />

über den Rücken. Seine lange Hakenhand, die blitzend aus<br />

seinem Armstumpf ragte...<br />

Aber zum anderen fand Nancy ihn faszinierend und anziehend.<br />

Er schien ihre Aufmerksamkeit wie ein Magnet einzufangen<br />

und Nancy fühlte sich so, als könne sie sich ihm nicht<br />

entziehen. Sie fand es faszinierend, wie er aus der Dunkelheit<br />

heraustrat und in die tiefen Schatten gehüllt umherlief. Sein<br />

Gesicht war zutiefst menschlich und dennoch funkelten seine<br />

dunklen Augen wie als wären sie besessen von einer höheren,<br />

göttlichen Macht.<br />

Ein Teil von Candyman war der eines attraktiven<br />

dunkelhäutigen Mannes, dessen Augen aufmerksam zu blitzen<br />

schienen während ein anderer Teil von ihm düster und<br />

bedrohlich hervorstach und seine eine Hälfte schien alles<br />

schlechte in sich aufgenommen zu haben, um die gute Hälfte<br />

im hellen Licht strahlen zu lassen.<br />

„Nancy“, sagte Candyman mit seiner dunklen, sanften und<br />

angenehmen Stimme zu Nancy. „Du hast an mir gezweifelt. Du<br />

hast meine Existenz in Frage gestellt und deshalb bin ich zu dir<br />

gekommen.“<br />

Fassungslos starrte Nancy den Candyman an und sie zitterte<br />

am ganzen Körper. Er war tatsächlich wegen ihr gekommen...<br />

„Du wolltest herausfinden, ob es mich wirklich gibt und hast<br />

mich gerufen“, sprach der Candyman und er schien langsam<br />

näher zu Nancy zu kommen.<br />

„Und du hast es herausgefunden. Du weißt, dass es mich<br />

105


wirklich gibt und du weißt auch, dass ich immer bei dir bin.<br />

Auch wenn du es nicht merkst, ich bin immer bei dir. Ich folge<br />

jedem deiner Schritte und du wirst mir nicht entkommen<br />

können...“<br />

„<strong>Das</strong> will ich überhaupt nicht“, wollte Nancy beinahe ohne<br />

Nachzudenken rufen, doch ihre Stimme versagte genauso wie<br />

ihre Glieder.<br />

„Und ich weiß auch, dass du gar nicht vor mir weglaufen<br />

willst. Du hast Angst, Nancy, du hast Angst vor mir. Aber du<br />

weißt auch, dass ich alles über dich weiß. Ich kenne dich besser<br />

als jeder andere. Ich weiß sogar mehr über dich, als du selber je<br />

zu träumen gewagt hättest. Nancy, ich kenne deine geheimsten<br />

Wünsche und kühnsten Träume und zusammen mit dir kann<br />

ich sie wahrmachen...!“<br />

Nancy erschrak als sie Candyman reden hörte und sie wusste,<br />

dass es nicht stimmen konnte. Zumindest wollte sie sich das<br />

einreden... Candyman war Teil ihres Lebens geworden und<br />

Nancy konnte sich (sie wollte sich) nicht vorstellen, dass er die<br />

Wahrheit sagte. <strong>Das</strong> war nicht möglich... er war... er war<br />

nicht...<br />

Er war der Candyman, der in den Herzen der Menschen<br />

wohnt...<br />

„Du hast nicht gerufen und somit die kleine Tür aufgestoßen,<br />

die dich von all dem trennt. Nancy, ich und du, wir gehören<br />

zusammen und, haben schon immer zusammen gehört und wir<br />

werden auch immer zusammen gehören. Du weißt es selber,<br />

Nancy, du weißt es...“<br />

Nein, wollte Nancy schreien, das konnte nicht sein. Ein Teil,<br />

der vernünftige Teil von ihr wollte sich umdrehen und<br />

wegrennen. Der vernünftige Teil von Nancy wollte wegrennen<br />

und das alles vergessen, verdrängen; schließlich konnte das<br />

106


alles nichts anderes als (Wahnsinn) Einbildung sein!<br />

Doch ein anderer Teil, der Teil, der tief in ihr verborgen war.<br />

Ein Teil, den Nancy immer versucht hatte zu verdrängen und<br />

der ihre tiefsten, unerfüllten Wünsche und unbefriedigten<br />

Begierden in sich trug... Dieser Teil konnte sich nicht von<br />

Candyman lösen. Er hielt sich fest an ihm und war von der<br />

düsteren Faszination die von Candyman ausging und seinen<br />

Versprechungen gefesselt. Nancy fühlte sich machtlos, als der<br />

kleine verborgene Teil in ihr, den sie ihr ganzes Leben versucht<br />

hatte, unter Kontrolle zu halten, langsam von ihr Besitz zu<br />

ergreifen schien und sie konnte sich dem Candyman nicht<br />

entziehen. Sie war an ihn gebunden, mit Fesseln, die sie selber<br />

nicht zerreißen konnte und er zog sie immer tiefer mit sich in<br />

seine Welt...<br />

„Doch es gibt Leute, die es nicht zulassen wollen, dass wir<br />

zusammenkommen“ sagte der dunkle Mann und Nancy<br />

versuchte ein letztes Mal die Kontrolle zu bewahren. Aber ihr<br />

Kampf war vergeblich. Sie konnte es nicht (wollte es nicht?)<br />

schaffen, sich dem Candyman zu entziehen und sie spüre, wie<br />

sich ein erdrückendes Gefühl der Ohnmacht ihr zu nähern<br />

schien. Ein erstickter Schrei erstarb in ihrer trockenen Kehle,<br />

die sich wie zugeschnürt anfühlte. Es war für Nancy so, als<br />

würde sie von einer unsichtbaren Kraft brutal vom schmalen<br />

Steg, den ihr ihre Vernunft über den tiefen See des Bösen, das<br />

hinter den Spiegeln lauerte, geschaffen hatte, heruntergerissen.<br />

Es fühlte sich so an, als würde sie in die schwarzen Tiefen des<br />

Sees gerissen und als würde sie wild um sich schlagend,<br />

schreiend und nackt in den kalten Fluten nach untergehen und<br />

nach unten gerissen werden. Panisch, ohne Kontrolle und ohne<br />

Orientierung spührte sie, wie das kalte Wasser sie umgab, ihre<br />

Glieder lähmte und das dunkle Wasser ihre Kehle<br />

107


hinunterströmte. Ihre Lungen füllten sich mit lähmend kaltem<br />

schwarzem Wasser und sie ertrank in dem dunklen See, der<br />

sich hinter den Spiegeln verborgen hatte.<br />

„Es gibt Leute, die uns verbieten wollen, zusammenzukommen<br />

und unserem Glück im Weg stehen wollen, Nancy!“, rief<br />

Candyman laut und seine Stimme donnerte laut in Nancys<br />

Ohren. „Doch sorge dich nicht, Nancy, bald schon wird uns<br />

niemand mehr etwas tun können. Bald schon gibt es niemanden<br />

mehr, der dich von mir fern halten will. Und dann können wir<br />

endlich wieder zusammen kommen, Nancy!“<br />

<strong>Candymans</strong> Stimme verstummte und Nancy sah, wie er direkt<br />

vor ihren Augen wieder in den Schatten verschwand. Die leicht<br />

vom Mond durchbrochene Dunkelheit<br />

umgab Nancy und Nancy sank zitternd auf die Knie.<br />

Nancy konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und noch<br />

immer fühlte sie sich so, als würde sie in dem dunklen tiefen<br />

See treiben, der sich hinter dem Spiegel verborgen hatte...<br />

108


19.Kapitel<br />

Alles umgebende Dunkelheit<br />

Dunkelheit umgab Nancy und sie fühlte sich erneut so<br />

orientierungslos und ohnmächtig wie vorher. Sie wusste nicht,<br />

was mit ihr geschah und sie spührte kaltes Wasser um sich<br />

herum. Donnerndes Rauschen von Wasser drang an ihre Ohren<br />

und Nancy versuchte, die Orientierung zu finden, die sie schon<br />

vor zu langer Zeit verloren hatte. Alles schien sich um sie zu<br />

drehen und sie wusste nicht, wo oben oder unten war. Als wäre<br />

alles um sie herum nur leere Materie, die durch ein<br />

gigantisches schwarzes Loch eingesaut wurde und alles mit<br />

sich wirbelte, was sich ihr in den Weg stellte. Für Nancy fühlte<br />

es sich so an, als würde irgendjemanden den großen Stöpsel<br />

ziehen und das ihr ganzes Leben mit ihr zusammen den Abfluss<br />

hin abgespült würde und es unklar war, was sie dort unten<br />

erwarten würde.<br />

Nancy schlug ihre Augen auf und sie befand sich tatsächlich im<br />

dunklen Wasser, das sie umgab und tausende Luftbläschen<br />

tanzten um sie herum. Sie war nackt und mit aufsteigender<br />

Angst spührte sie, wie Bläschen an ihrem Körper zerplatzten.<br />

Es gab nichts, woran sie sich festhalten konnte und als sie den<br />

Mund aufriss, strömte dunkles Wasser in sie hinein. Es war so,<br />

als würde sie die Dunkelheit hinunterschlucken, die sie umgab<br />

und es gab nichts, was Nancy dagegen unternehmen konnte.<br />

Wie ein Fisch trieb sie durch das dunkle Wasser und sie hatte<br />

völlig die Kontrolle über sich selbst verloren.<br />

Sie spührte die starke Strömung an ihrer Haut, die sie nach<br />

unten reißen zu schien und dann sah Nancy den Candyman<br />

weit unter sich in der Tiefe. Er schwebte dort ruhig im Wasser<br />

und unter ihm tat sich unendliche die unendliche Schwärze der<br />

109


Tiefe auf. Unzählige Luftbläschen stiegen von dort unten auf<br />

und die Strömung schien Nancy zu Candyman nach unten zu<br />

zerren. Bei diesem Gedanken fühlte sich für Nancy die<br />

Ohnmacht, die sie umgab und die Hilflosigkeit zum ersten mal<br />

gar nicht mehr so schlimm an. Es war, als würde er auf Nancy<br />

aufpassen und über sie wachen... Aber warum?<br />

Als Nancy endlich unten angekommen war und den Candyman<br />

vor sich sah, spührte wie, wie die Strömung sie mit sich riss<br />

und Nancy schwebte zu Candyman durch das dunkle Wasser.<br />

Es war so, als wäre sie schwerelos und sie schwebte mit<br />

geschlossenen Augen durch die Finsternis direkt in seine Arme.<br />

Ruhig schlug Nancy ihre Augen wieder auf und sie sah, wie<br />

Candyman auf sie zu geschwebt kam. Sein langer Mantel zog<br />

er durch das unheimliche Wasser hinter sich her und eine<br />

glühend helle Aura schien ihn zu umgeben, die Licht in die<br />

lähmende Dunkelheit brachte.<br />

Mit beiden Händen fing Candyman Nancy aus ihrer<br />

Schwebebahn auf und als er seine Arme um ihren Körper<br />

schloss, spürte Nancy die Kälte, die von ihm ausging. Es war<br />

so, als würde sie durch alle ihre Poren schlüpfen und sich in<br />

ihrem Inneren langsam ausbreiten. Zitternd dachte Nancy einen<br />

kurzen Augenblick daran, dass ihr womöglich niemals warm<br />

mehr warm werden würde und sie schmiegte sich enger an den<br />

schattenhaften Mann, der sie in seinen Armen hielt. Sein<br />

schwarzer Mantel schien ihr Wärme zu geben und seine Nähe<br />

ließ Nancys Haut prickeln. Ihr Herz schlug in einem langsamen<br />

Rhythmus und Candyman spürte ihr Herz an seiner Brust<br />

schlagen. Wie durch eine fremde Macht gesteuert und ohne<br />

nachzudenken öffnete Nancy ihre Lippen leicht und wollte den<br />

dunklen Mann, den Herr ihrer Alpträume küssen. Dunkles<br />

Wasser floss ihr in den Mund und sie legte ihre Arme fest um<br />

<strong>Candymans</strong> Nacken. Langsam schloss sie ihre Augen und<br />

110


wollte den Moment, in dem sich ihre Lippen treffen auskosten,<br />

als sie plötzlich aufgeschreckt wurde.<br />

Die lähmende Dunkelheit war verschwunden und Nancy fand<br />

sich in einem hell erleuchteten Raum wieder. Es war die<br />

Kammer in der Kanalisation und überall schienen Kerzen zu<br />

brennen. Nancy sah unzählige rote Wachskerzen, die in jeder<br />

Ecke und in jedem Winkel brannten und lange geschmolzene<br />

Wachsfäden tropften auf den bröckeligen Putz. Nancy lag auf<br />

dem Rücken und sie bemerkte, dass sie auf etwas weichem wie<br />

einer Decke lag, die sie vom feuchten und kalten Boden der<br />

Kanalisation fern hielt. Auf einmal spürte Nancy, dass klebriger<br />

Honig an ihrem Körper herunterfloss, als hätte ihn jemand von<br />

der runden Decke der Kammer auf sie her abgegossen während<br />

sie hier geschlafen hatte. Der klebrige Honig floss über ihr<br />

Gesicht und sie schmeckte ihn an ihren Lippen. Auch über<br />

ihren Bauch war der Honig verteilt und er floss zwischen ihren<br />

Brüsten an ihr hinunter. Nancy wollte sich aufrichten und sie<br />

stellte erschreckt fest, dass beinahe ihr gesamter Körper von<br />

Honig übergossen worden war. Der klebrige Nektar zog sich<br />

zähflüssig ihre Beine hinunter und sie sah, dass er sich sogar<br />

zum Teil zwischen ihren Fingern und Zehen angesammelt<br />

hatte. Der schrecklich süße Geruch stieg ihr in die Nase und<br />

Nancy fragte sich entgeistert, was hier vorging. Noch immer<br />

blickte sie an sich hinunter und konnte es nicht begreifen. Dann<br />

sah sie Candyman vor sich stehen. Er betrachtete sie mit<br />

aufmerksamen Blicken und Nancy sah wie gebannt zu, als er<br />

seinen weiten Mantel aufknöpfte. Als sie die Brust des<br />

<strong>Candymans</strong> sah, wurde ihr schlecht, denn sie sah, dass sich ein<br />

großes Loch durch seinen Oberkörper zog und sie direkt auf<br />

seine grau schimmernden Organe blicken konnte. Sie sah seine<br />

Organe unter seinen Rippen pulsieren und Blut schien über<br />

111


seine silbrig grauen Organe zu laufen und Nancy konnte sein<br />

pochendes Herz in seiner geöffneten Brust schlagen sehen.<br />

Geschockt bemerkte sie, wie lauter kleine Bienen sich aus<br />

<strong>Candymans</strong> Brust zu befreien schienen und sie liefen über<br />

seinen geöffneten Brustkorb, über die freigelegten Organe,<br />

bedeckten ihn...<br />

Und dann spürte auch Nancy die Bienen auf ihrem Körper. Die<br />

Decke, auf der sie gelegen hatte, schien sich zu regen und sie<br />

sah entgeistert, wie unzählige Bienen von ihrem Rücken aus<br />

über sie krabbelten. Die Bienen krochen über ihre Schultern<br />

und sie spürte ihre kratzigen Beine, wie sie über ihren<br />

Rippenbogen an ihrer Seite kletterten und sich auf ihrem Bauch<br />

sammelten. Die Bienen summten ohrenbetäubend und sie<br />

liefen mit schlagenden Flügeln über Nancy. Sie begannen den<br />

Honig zu suchen und Nancy spürte, wie tausende Insekten über<br />

sie hinüber zu krabbeln schienen. Bienen bedeckten ihre<br />

Oberschenkel und ihre Brust, kletterten über ihre Arme und<br />

sogar in ihrem Gesicht krabbelten Bienen umher. Nancy wollte<br />

schreien, doch ihre Stimme versagte, als sie die Bienen in<br />

ihrem Mund fühlte, wie sie über ihre Zunge liefen. Bienen<br />

krochen in ihre Nasenlöcher und Nancy, bedeckt von einer<br />

Decke aus lebenden Bienen stand vom Boden auf. Langsam<br />

kam sie auf Candyman zu und griff nach seiner Hand. Ohne zu<br />

Zögern ergriff Candyman ihre Hand und Nancy ließ sich von<br />

dem schattenhaften Mann führen. Mit Bienen bedeckt folgte<br />

sie ihm über den nassen Boden der Kammer und er ging mit ihr<br />

an der Hand auf die Tür zu, die Nancy verschlossen<br />

vorgefunden hatte. Langsam öffnete sie sich und Nancy folgte<br />

Candyman hinein...<br />

112


Entsetzt schreckte Nancy aus ihrem Traum hoch und sie<br />

merkte, dass sie auf ihrem Sofa lag. Schweiß lief ihr über den<br />

Rücken und Nancy hatte keine Erinnerung mehr, wie sie<br />

gestern auf ihre Couch gekommen war. Wahrscheinlich hatte<br />

der Schlaf sie dort übermannt und deshalb hatte sie auch nicht<br />

ihren Pyjama an sondern deshalb trug sie immer noch die<br />

Kleider, die sie am Vortag getragen hatte. Zerknittert und mit<br />

einem großen Schweißfleck am Rücken hing ihr T-Shirt an ihre<br />

Oberkörper herab und Nancy merkte, dass ihr BH verrutscht<br />

war. Sie zog das verschwitzte T-Shirt aus und sah in den<br />

Spiegel. Wirre Haarsträhnen ihres glänzenden<br />

kastanienbraunen Haars hing ihr in die Stirn und Nancy fuhr<br />

sich mit beiden Händen durch die gerauften Haare. Sie hatte<br />

wieder einen Traum gehabt, einen entsetzlichen Alptraum.<br />

Aber dieses Mal war es anders. Genauso wie bei ihrer<br />

Begegnung mit dem Candyman wusste Nancy nicht, ob sie sich<br />

von dem Traum abgestoßen fühlen sollte oder ob sie fasziniert<br />

davon sein sollte, was ihr der Candyman in ihrem Traum für<br />

surreale Welten und Fantasien geöffnet hatte...<br />

Voller Verunsicherung zitterte sie leicht und sie führte ihren<br />

linken Zeigefinger langsam und instinktiv an ihre rotglänzenden<br />

Lippen. Nachdenklich ließ sie ihre Lippen über<br />

ihren Finger fahren und sie meinte den süßlichen Geschmack<br />

von klebrigem Honig an ihren Fingern zu schmecken...<br />

Über eine Stunde später nach ihrem Traum stand Nancy immer<br />

noch unter dem heißen Strahl der Dusche und der Wasserdampf<br />

stieg in ihrem Badezimmer auf. Nancy wollte den Kopf wieder<br />

freibekommen doch immer noch kreisten ihre Gedanken immer<br />

noch um ihren Traum. Was hatte der Traum zu bedeuten und<br />

warum das alles?<br />

Als sie schließlich mit aufgeweichten Fingerkuppen und nassen<br />

113


Haaren, die ihr im Nacken die Dusche ausmachte und den<br />

Vorhang zur Seite schob, sah sie ihre Silhouette in<br />

beschlagenen Spiegel. Nach all dem, was sie in den letzten<br />

Tagen durchgemacht hatte, Linda hatte Recht. Ihr Aussehen<br />

hatte sich wirklich verändert, sie sah wirklich besser aus, als<br />

zuvor. Als hätte Candyman ihr ein Geschenk gemacht, dachte<br />

Nancy beunruhigt und ihr wurde bewusst, dass sie diese Nacht<br />

wahrscheinlich wirklich keinen Schlaf mehr finden würde.<br />

114


3.Zwischenspiel<br />

Helen<br />

Als Daniel das große Landhaus von Mr. Roberts betrat, war er<br />

sich sicher, dass er sich heute nicht unterkriegen lassen würde.<br />

Heute war der Tag, an dem er endlich all das erreichen würde,<br />

was er sich schon immer gewünscht hatte. Mit festen,<br />

selbstbewussten Schritten stieg er langsam die vielen Stufen<br />

der Haupttreppe nach oben und er wusste, dass Mr. Roberts<br />

bereits auf ihn warten würde. Die langen Korridore des<br />

Landhauses waren etwas verwirrend für Daniel und er war<br />

noch nie in einem derart großen Haus gewesen. Die Wände<br />

waren alle mit teuer aussehenden Tapeten tapeziert und überall<br />

hingen Bilder von zum teil längst verstorbenen<br />

Familienmitgliedern. Die Sonne schien durch die großen<br />

Fenster herein und von dort hatte Daniel einen weiten Ausblick<br />

auf den prächtigen Garten des reichen Geschäftsmannes. Die<br />

Fensterrahmen waren alle genau wie die Vertäfelung und die<br />

Treppenstufen aus massivem, poliertem Holz gefertigt und auf<br />

dem Boden lagen weiche Teppiche, in denen Daniel beinahe<br />

mit seinen Schuhen einsank.<br />

Komischerweise schien das Haus heute völlig leer zu sein,<br />

denn Daniel Robitaille konnte niemanden sehen oder hören.<br />

<strong>Das</strong> war seltsam, den normalerweise musste es hier schließlich<br />

von Dienstboten und Hausmädchen nur so wimmeln. Doch<br />

heute schien in dem prächtigen Anwesen bedrückendes<br />

Schweigen zu herrschen.<br />

Langsam öffnete Robitaille die schwere Tür zu Mr. Robertsons<br />

Büro und er war sich sicher, dass der reiche Mann dort auf ihn<br />

warten würde. <strong>Das</strong> war tatsächlich so und Robitaille sah den<br />

115


alten Mann an seinem großzügigen Schreibtisch aus Ebenholz<br />

sitzen. Doch er sah nicht normal aus. Seine Augen waren<br />

gerötet und als er Daniel sah, schien ihm die Zornesröte ins<br />

Gesicht zu steigen.<br />

„Du“, begann Mr. Roberts, als er Daniel erblickte und er bebte<br />

vor Zorn. „Du hast meine Tochter auf dem Gewissen...!“<br />

Als Robitaille die Anschuldigungen des Geschäftsmannes<br />

hörte, erschrak er und fragte verwundert: „Was? Wieso, was<br />

meinen Sie damit?“<br />

„Du hast auch noch die Frechheit zu fragen, was geschehen<br />

ist“, herrschte Mr. Roberts Daniel an und erhob sich von<br />

seinem Stuhl.<br />

„Mein kleines Mädchen, Helen, ist tot! Sie hat sich das Leben<br />

genommen und selber Gift geschluckt!“<br />

„Nein!“, rief Daniel entsetzt. „<strong>Das</strong> ist unmöglich...sie kann<br />

nicht tot sein...“<br />

„Sie hat sich wegen dir umgebracht, Nigger! Du hast ihr euer<br />

uneheliches Kind angehängt. Du hast ihr einen kleinen Bastard<br />

angehängt und ihr ihre Ehre genommen! Es ist deine Schuld,<br />

dass sie sich das Leben genommen hat...“<br />

Mit zitternden Fingern hielt der grauhaarige Mann einen<br />

handgeschriebenen Brief in der Hand und Daniel sah, dass das<br />

Papier von Tränen befleckt war, die die ordentliche Handschrift<br />

an einigen Stellen zerlaufen ließ.<br />

Daniel war fassungslos über das, was er soeben gehört hatte<br />

und er konnte es kaum glauben. Helen konnte doch nicht tot<br />

sein...<br />

„In diesem Brief, den sie hinterlassen hat, hat mein kleines<br />

Mädchen mir alles gestanden. Sie... sie wollte so nicht mehr<br />

weiterleben... Und das alles ist deine Schuld, du verdammter...“<br />

„Nein!“, widersprach Daniel und dieses Mal war er es, dessen<br />

Stimme vor Zorn bebte. Dieses al würde er Mr. Roberts die<br />

116


Stirn bieten und ihm die Meinung sagen.<br />

„Sie waren es, die den Tod ihrer Tochter zu verantworten<br />

haben!“, rief Robitaille und diese Mal wich er nicht vor dem<br />

wütenden Mann zurück, der ihn schon die ganze Zeit zu<br />

unterdrücken versucht hatte.<br />

„Nur wegen Ihnen und Ihrer Strenge hatte Helen keinen<br />

anderen Ausweg gewusst. Sie hatte Angst vor Ihnen, Mr.<br />

Roberts, sie hatte Angst vor ihrer Reaktion und sie hat gewusst,<br />

dass sie sie umbringen würden, wenn sie Ihnen die Wahrheit<br />

erzählt hätte.. All dass ist nur geschehen, weil Sie nicht in der<br />

Lage waren, zu verstehen...!“<br />

Ein Schlag klatschte in Daniels Gesicht und er sah Mr. Roberts<br />

vor ihm. Er war halb wahnsinnig vor Wut und er wollte Daniel<br />

erneut schlagen, als Daniel seine Hand festhielt. „<strong>Das</strong> ist alles<br />

Ihre Schuld“, brüllte Daniel und schubste Mr. Roberts weg.<br />

„Nur wegen Ihnen ist Helen tot...!“<br />

Tränen standen ihm in den Augen und er sah, wie Mr. Roberts<br />

sich wieder aufrichtete. Er bebte vor Wut und spuckte nach<br />

Daniel. „Dafür wirst du bezahlen, du verdammter Nigger!!!“<br />

Dann hörte Daniel Schritte hinter sich und als er sich umdrehte,<br />

sah er, wie drei Männer auf ihn zukamen. Sie waren groß und<br />

kräftig und trugen grobe Hemden. Jeder von ihnen trug einen<br />

schmutzigen Hut und ihre Lederstiefel knarrten auf dem<br />

polierten Holzboden. Daniel kannte die drei weißen Männer<br />

und sie waren in der Stadt als brutale Schläger bekannt, die für<br />

ein paar Dollars zu allem bereit waren...<br />

Der größte von ihnen, Bill Denners, dessen langen<br />

strohblonden Haare ihm wild ins Gesicht hängen und dessen<br />

Intelligenz sich auf der schmalen Grenze zu geistig licht<br />

behindert bewegte, stieß Daniel seine riesige Faust in den<br />

117


Rücken und Daniel taumelte. Dennoch drehte er sich um und<br />

erhob die Fäuste. Er war bereit, zu kämpfen, egal, wie<br />

ausweglos die Situation für ihn war. Ein weiterer Schlag traf<br />

ihn, als Henry Bowers ihn traf und Daniel stöhnte auf.<br />

Henry holte erneut aus und Daniel wich aus, um einem<br />

weiteren Schlag zu entgehen. Dann traf ihn ein Fußtritt, der ihn<br />

gegen Mr. Roberts schleuderte. Beide Männer fielen zu Boden<br />

und Daniel brüllte den reichen Geschäftsmann an: „Du feiger<br />

Bastard!“<br />

Voller Wut ließ Daniel seine Faust in Mr Roberts Gesicht<br />

krachen und er hörte den Mann, der seine eigene Tochter in den<br />

Selbstmord getrieben hatte, aufschreien. Blut lief ihm den<br />

Mundwinkel zu und Daniel schlug erneut zu. Dann packten<br />

Henry und Bill ihn an den Handgelenken. Verzweifelt<br />

versuchte sich Daniel freizukämpfen, doch<br />

der dritte Angreifer schlug ihm ins Gesicht. Stöhnend ging<br />

Daniel zu Boden und ein weiterer Fußtritt traf ihn. Als er sich<br />

umdrehen wollte und wieder aufrichten wollte, sah er wie Mr.<br />

Roberts mit einem zornigen Wutschrei auf ihn zukam. <strong>Das</strong><br />

letzte, was er sah war, wie der Absatz des Schuhs, den Daniel<br />

selber gefertigt hatte und ohne das alles gar nicht geschehen<br />

wäre, wie er auf sein Gesicht zu kam. Krachend traf der Stiefel<br />

sein Gesicht und um Daniel wurde alles schwarz...<br />

118


20.Kapitel<br />

Grund zur Sorge<br />

„Was hast du gestern Nacht draußen gemacht?“, fragte Linda<br />

mit schien beinahe anklagender Stimme und musterte Nancy<br />

mit fragenden Blicken. Sie konnte sich noch gut daran<br />

erinnern, dass sie Nancy draußen gesehen hatte und sie machte<br />

sich wirklich Sorgen um ihre Freundin.<br />

Nancy blickte entgeistert zurück und meinte: „Ich habe<br />

draußen gar nichts gemacht. Ich habe die ganze Nacht<br />

geschlafen, sonst nichts. Wie kommst du überhaupt darauf,<br />

mich hier...“<br />

„Nancy“, begann Linda und rückte sich auf dem Fahrersitz<br />

ihres Autos gerade. „Ich will dir nichts vormachen. Also sag<br />

ich es dir: Ich mach in letzter Zeit wirklich Sorgen um dich,<br />

Kleine. Du bist in den letzten Tagen...“<br />

Weiter kam sie nicht, denn Nancy unterbrach sie schlagartig.<br />

Linda erschrak beinahe, denn das war das erste Mal überhaupt<br />

gewesen, an das sie sich erinnern konnte, dass Nancy so heftig<br />

auf etwas reagierte und sie beinahe anschrie. Nancy mochte<br />

vielleicht psychisch labil sein, aber aggressiv war sie noch nie<br />

gewesen.<br />

„Was redest du da, Linda“, rief Nancy und ihre Augen<br />

funkelten. „Glaubst du etwa, dass ich irgendwelche Probleme<br />

habe?“<br />

„Nein“, sagte Linda ruhig und sie versuchte Nancy zu<br />

beschwichtigen. „Aber es ist nun mal so. Du bist in letzter Zeit<br />

immer so verwirrt gewesen. Du hast ständig Alpträume und...“<br />

„Ich habe keine Alträume!“, log Nancy und sie wollte die<br />

Sache mit ihren Alpträumen vor Linda nicht zugeben. Linda<br />

verstand sie sowie so nicht...<br />

119


„Ich hatte einmal vor gut einer Woche einen Alptraum... Na<br />

und, das hat doch jeder mal oder etwa nicht?“<br />

„Nancy, ich weiß, dass das nicht der einzige Alptraum war, den<br />

du hattest. Letzte Nacht habe ich dich im Schlaf schreien<br />

gehört. Ich habe gehört, wie du schreiend aufgewacht bist und<br />

danach stundenlang unter der Dusche gestanden bist. <strong>Das</strong> Haus<br />

ist hellhörig, Nancy und ich habe mir gestern echt Sorgen<br />

gemacht!“<br />

Nancy schüttelte den Kopf und sank in ihrem Sitz zurück.<br />

Draußen sah sie die leuchtenden Lichter der anderen Autos in<br />

der Dunkelheit an ihnen vorbeiziehen. Sie wollte es kaum<br />

glauben, dass Linda, ihre beste Freundin zu glauben schien,<br />

dass sie verrückt sei...<br />

„Und noch etwas, Nancy. Ich habe gestern Nacht gesehen, wie<br />

du nachts auf dem Parkplatz umhergeschlichen bist. Du<br />

standest einfach so in der Dunkelheit und hast dich<br />

minutenlang nicht bewegt, so als wärst du gelähmt gewesen...<br />

Ich hatte echt Angst, Nancy!“<br />

Wieso hatte Linda dann nicht den Candyman gesehen, wollte<br />

Nancy beinahe rufen, aber sie hielt sich zurück. Sie sagte<br />

besser nichts, sonst hielt Linda sie wirklich noch für verrückt.<br />

Und das konnte sie jetzt wirklich nicht brauchen...<br />

„Linda“, wollte Nancy versichern. „Mit mir ist alles in<br />

Ordnung... Du brauchst keine Angst wegen mir haben!“<br />

„Hab ich aber!“, gab Linda zu. „Ich hab Angst, was aus dir<br />

geworden ist, seit dieser Sache mit dem Candyman!“<br />

Als Nancy Linda etwas über den Candyman sagen hörte,<br />

zuckte sie zusammen. Wusste Linda von ihr und dem<br />

Candyman? Nein, das war unmöglich...Sie konnte das nicht<br />

wissen!<br />

120


„Nancy, du hast ständig Alpträume, bist immer völlig neben<br />

dir, ich sehe dich mitten in der Nacht durch die Dunkelheit<br />

schleichen und du scheinst dich völlig verändert zu haben. Ich<br />

habe Angst, was aus dir wird, wenn das so weitergeht!“<br />

Die beiden jungen Frauen sahen sich beide an und es herrschte<br />

beklemmendes Schweigen. Lichter zuckten draußen in der<br />

Dunkelheit an ihnen vorbei und dann brach Linda das<br />

Schweigen: „Ich glaube, du solltest mal mit irgendwem darüber<br />

reden! Auch wenn du nicht mit mir reden willst, du solltest<br />

jemandem mal alles erzählen. Jemandem, der dir helfen kann.<br />

Ich und Corey haben uns überlegt, dass du vielleicht mal mit<br />

einem Experten reden solltest...“<br />

„Du meinst tatsächlich, ich soll mir irgend so einen<br />

verdammten Seelenklempner zulegen, der nachschaut, ob mit<br />

mir alles in Ordnung ist?“, zischte Nancy erbost und Linda<br />

zuckte erneut zusammen. „Ich glaube ja eher, dass du diejenige<br />

bist, die hier langsam den Verstand verliert!“<br />

„Bitte Nancy“, sagte Linda und sie war erschreckt darüber, wie<br />

sich Nancy verändert hatte.<br />

„Linda, du verstehst es nicht!“, sagte Nancy laut. „Ich war<br />

noch nie so sehr ich selbst, wie ich es jetzt bin!“<br />

„Nein“, meinte Linda und langsam verlor sie selber die<br />

Nerven. „Nancy, du bist völlig durcheinander. Ich weiß nicht<br />

mehr, was ich mit dir machen soll. Ich habe mich nach einem<br />

Psychiater, der sich mit so was auskennt... Bitte Nancy, du bist<br />

meine Freundin. Ich will, dass du zu ihm gehst und dich mit<br />

ihm unterhältst. Vielleicht kann er dir helfen!“<br />

121


21.Kapitel<br />

Die Geschichte des <strong>Candymans</strong><br />

Wie lange Nancy schon das Flussbett in verworrene und<br />

bedrohliche Gedanken versunken entlang ging, wusste sie nicht<br />

mehr. Seit Linda ihr geraten hatte, einen Psychiater<br />

aufzusuchen, hatte sie Linda nicht mehr gesehen und immer<br />

noch war ihre Wut groß. Nancy war nicht verrückt, garantiert<br />

nicht. Sie wollte nur das Rätsel um den Candyman enthüllen,<br />

das war alles. Seit dem Tag, an dem sie sich vor den Spiegel<br />

stellte und den Namen des <strong>Candymans</strong> flüsterte, war sie immer<br />

weiter in die Sache hinein getaucht und sie wollte es nicht<br />

zugeben, aber die Suche nach der Wahrheit ließ sie immer<br />

fester umklammert. Sie hatte die Kontrolle über alles verloren<br />

und die Frage nach der Wahrheit hielt sie gefangen. Als würde<br />

sie von der Lösung des Rätsels angezogen werden, ließ sie sich<br />

immer weiter in die Tiefe des dunklen Mysteriums, der<br />

Legende des <strong>Candymans</strong>, der Geschichte, die hier auf den<br />

heruntergekommenen Straßen erzählt wird, hinab gezogen.<br />

Nancy wusste, dass ihr hier jemand weiterhelfen konnte, mehr<br />

über den Candyman herauszufinden. Jemand würde wissen,<br />

wer er ist und was er tut... Irgendwer muss den Weg zu ihm<br />

kennen...<br />

Langsam schwappten dreckige Papierreste ans Flussufer und<br />

Nancy bemerkte kaum, wie die Bienen an ihr vorbei flogen.<br />

<strong>Das</strong> markante Brummen der fliegenden Insekten ließ Nancy<br />

sich erstaunt umdrehen. Erschreckt sah sie die Bienen, die<br />

durch die Luft schwebten und das erste, woran sie denken<br />

musste, waren die Bienen in ihrem Traum, die sich über ihren<br />

nackten Körper gelegt hatten und sie wie eine lebendige Decke<br />

122


eingehüllt hatten. Erst danach kam Nancy der beruhigende<br />

Gedanke, dass es schließlich doch nur ein paar gewöhnliche<br />

Bienen waren, die nichts mit ihrem Alptraum zu tun haben<br />

müssten und es war dennoch ungewöhnlich, so viele Bienen<br />

auf einmal in der Großstadt zu sehen. Der kleine Schwarm der<br />

Insekten zog an ihr vorbei und das Summen wurde immer<br />

lauter. Nancy blieb kurz stehen und als sie den Bienen nachsah,<br />

die wie ein Geschwader kleiner Flugzeuge oder Hubschrauber<br />

das seichte Flussufer überflogen und dabei wie wild mit den<br />

zerbrechlichen, transparenten Flügeln schlugen, sah sie, dass<br />

sich ihr eine alte Frau näherte.<br />

Erst bemerkte Nancy die Frau gar nicht, die ihr graues Haar zu<br />

einem Knoten zusammengebunden hatte und deren Mantel mit<br />

schmuddeligen Lumpen zusammen geflickt war. Sie war eine<br />

dunkelhäutige Afroamerikanerin und sie war sicher schon über<br />

siebzig Jahre. Als Nancy die alte Frau bemerkte, sah sie, dass<br />

ihre Augen dunkel zu leuchten schienen und die Frau, die<br />

scheinbar auch obdachlos war und hier am Flussufer lebte,<br />

sagte mit krächzender Stimme zu ihr: „<strong>Das</strong> sind die Bienen von<br />

Candyman... Sie kommen immer zu ihm und leben bei ihm in<br />

der Tiefe...!“<br />

Nancy zuckte kurz zusammen, als sie den Namen Candyman<br />

hörte und fragte dann vorsichtig: „Was wissen sie über<br />

Candyman?“<br />

Die alte Frau schüttelte den Kopf und meinte dann: „Was will<br />

so ein junges hübsches Ding wie du denn schon über den<br />

Candyman wissen?“<br />

Es gefiel Nancy überhaupt nicht, als junges hübsches Ding<br />

bezeichnet zu werden, aber in diesem Fall würde sie wohl<br />

darüber hinweg sehen müssen. Die Frau schien ohnehin<br />

irgendetwas großmütterliches an sich zu haben, deshalb sagte<br />

123


Nancy nichts. Es war etwas anderes, wenn eine alte<br />

Großmutter so etwas zu ihr sagte, als wenn es irgendein<br />

ordinärer Typ zu ihr sagte und wahrscheinlich noch meinte, es<br />

würde ihr gefallen, wenn er eine wildfremde Frau so nannte.<br />

„Ich will alles über ihn wissen!“, platzte es aus Nancy heraus<br />

und ihr war klar, dass sie wahrscheinlich viel zu schnell<br />

reagiert hatte. Aber es war schwierig für sie, sich<br />

zurückzuhalten. Schließlich ging es hier darum, endlich mehr<br />

über die Legende des <strong>Candymans</strong> zu erfahren und vielleicht<br />

würde ihr das helfen, die so Geheimnis-umwitterte Wahrheit<br />

über Candyman zu erfahren.<br />

„Bitte, erzählen sie mir, was sie wissen, Madame. Es ist äußerst<br />

wichtig für mich!“<br />

„Also gut“, meinte die alte Frau namens Abigail und sie setzte<br />

sich an das Ufer, ohne auf den Schmutz und die bröckligen<br />

Kiesel zu achten. Auch Nancy setzte sich neben sie, wobei sie<br />

ihre Jacke auf den Boden legte und sich auf die Jacke setzte.<br />

Gespannt blickte sie in das von Falten zerfurchte Gesicht der<br />

alten Frau und sie bemerkte erneut das Funkeln in ihren<br />

braunen Augen.<br />

„Ich erzähle dir vom Candyman, Kleines“, begann die alte Frau<br />

mit ihrer Erzählung und Nancy legte ihre beiden Hände<br />

zusammen.<br />

„Vor vielen Jahren, vor weit über hundert Jahren, nämlich in<br />

der Mitte oder am Ende des 19. Jahrhundert, da gab es hier<br />

einen Mann namens Daniel Robitaille. Er war ein Schwarzer<br />

und auch wenn das damals problematisch für die meisten<br />

gewesen war, war er ein recht erfolgreicher Mann. Sein<br />

Unglück begann, als er sich in die Tochter eines reichen<br />

Geschäftsmann und Adeligen verliebte...“<br />

124


Die Frau machte eine kurze Pause und blickte Nancy kurz an,<br />

als wolle sie überprüfen, ob sie der Geschichte wirklich folgte<br />

und diese auch verstand. Dann fuhr sie fort und Nancy hörte ihr<br />

weiter zu.<br />

„Wie das so war, verliebten sich die beiden tatsächlich<br />

ineinander. Doch sie mussten ihre Liebschaft geheim halten vor<br />

den anderen und als sie schließlich schwanger wurde, war es<br />

mit ihrem Geheimnis vorbei. Der Vater des Mädchens lauerte<br />

Daniel mit einer Gang aus Schlägern auf und rächte sich<br />

grausam ab ihm, da sich seine Tochter aus Trauer und<br />

Verzweiflung wegen ihrer zerstörten Liebe umgebracht hatte.<br />

Sie schlugen den armen Mann zusammen und sägten ihm in<br />

einem alten Sägewerk seine rechte Hand ab!“<br />

Als Nancy das hörte, schauderte sie und sie musste daran<br />

denken, wie schrecklich das alles gewesen ist. Nur weil der<br />

arme Daniel Robitaille ein Schwarzer und sein geliebtes<br />

Mädchen eine Weiße war...<br />

„<strong>Das</strong> Sägewerk stand genau an diesem Fluss hier und an<br />

diesem Fluss war es auch, wo er gestorben ist. Die Mörder<br />

übergossen ihn mit Bienen und warteten, bis die Bienen Daniel<br />

zu Tode gestochen hatten. Dann ließen sie seinen geschändeten<br />

Körper am Flussbett liegen. Und wenn man jetzt sich vor den<br />

Spiegel stellt und den Namen des <strong>Candymans</strong> sagt, dann<br />

kommt sein Geist wieder von den Toten zurück, um Rache für<br />

seinen schrecklichen Tod zu nehmen. Anstelle seiner rechten<br />

Hand hat er jetzt einen langen Fleischerhaken, mit dem er<br />

einen von oben bis unten aufschlitzt. Aber niemand weiß<br />

wirklich genaues über ihn“<br />

Diesen Teil der Geschichte kannte Nancy bereits, aber sie war<br />

fasziniert von der Ursprungsgeschichte des <strong>Candymans</strong>. Sie<br />

hatte noch nie davon gehört und die Geschichte war so traurig.<br />

125


<strong>Das</strong> Schicksal des armen Mannes berührte Nancy und dennoch<br />

fragte sie, um ihre Gier nach der Wahrheit ein kleines Stück<br />

weiter zu befriedigen: „Was ist mit heute? Gibt es noch<br />

irgendwelche Anzeichen für Candyman; vielleicht wo er sich<br />

aufhält und wo man ihn finden kann?“<br />

Erst lachte die alte Frau kurz und dann sagte sie mit besorgter<br />

Stimme: „Warum willst du das wissen? Glaub mir eines, du<br />

willst den Candyman nicht rufen. <strong>Das</strong> würde nur zu<br />

schrecklichen Dingen führen!“<br />

„Was für schreckliche Dinge“, fragte Nancy erschrocken und<br />

die Drau antwortete mit leiser Stimme: „Es heißt, dass erst vor<br />

kurzem eine junge Frau den Candyman gerufen hat. Sie hat<br />

sich vor den Spiegel gestellt und seinen Namen fünf mal<br />

gesagt, einfach so, ohne sich etwas böses dabei zu denken.<br />

Wenig später wurde sie tot in ihrer Wohnung aufgefunden,<br />

niemand weiß, was wirklich geschehen ist, aber die meisten<br />

hier sagen, dass es der Candyman gewesen ist, der sie mit<br />

seiner Hakenhand getötet hat!“<br />

„Wo ist das gewesen?“, fragte Nancy interessiert. „Ich... ich<br />

will mehr über den Candyman herausfinden und deshalb muss<br />

ich es wissen!“<br />

„Die Frau hat in einer dieser Plattenbauten gewohnt. Ich weiß<br />

nicht genau wo, aber du kannst es sicher herausfinden. Viele<br />

Leute hier wissen das...“<br />

„Danke, Madame“, sagte Nancy und stand langsam auf. Sie<br />

hob ihre Jacke vom Boden auf und dann meinte die alte Frau<br />

am Boden: „Aber sag mir eines, meine Kleine. Warum willst<br />

du all das wissen...?“<br />

„Ich weiß nicht“, antwortete Nancy und ging langsam mit dem<br />

schmalen schwarzen Lederriemen ihrer Tasche um die Schulter<br />

gehängt los. „Ich glaube, ich möchte die Wahrheit<br />

herausfinden...“<br />

126


22.Kapitel<br />

Apartment 148<br />

Es waren vielleicht zwei Stunden vergangen, bis Nancy<br />

schließlich bei der Wohnanlage angekommen war, in der die<br />

junge Frau angeblich Candyman zu Opfer gefallen war. <strong>Das</strong><br />

Haus war einer der vielen Plattenbauten, die überall in Cabrini-<br />

Green errichtet worden waren und diese Plattenbauten boten<br />

vor allem sozial schwachen Schichten ein billiges Zuhause, das<br />

sie sich leisten konnten. Schon von weitem sah Nancy, das es<br />

sich hier um eines dieser billigen, engen Mietshäuser handelte,<br />

deren Qualität sehr niedrig war. Schon auf den Straßen stapelte<br />

sich Müll und in den Bordsteinen konnte Nancy unzählige<br />

Müllstücke sehen. Die ganze Straße schien zu stinken und die<br />

meisten Hausecken waren mit Graffiti übersät. Einige Autos,<br />

die an der Straße geparkt hatten, waren demoliert und hatten<br />

eingeschlagene Fenster und gestohlene Reifenkappen. Überall<br />

konnte Nancy heruntergekommen aussehende Menschen<br />

sehen, die auf den Straßen herum hingen und das erste, was sie<br />

sah, als sie den Parkplatz des Plattenbaus betrat, waren mehrere<br />

umgeworfene Blechmülleimer, die mit verkohlter Asche gefüllt<br />

waren. Hier hatte wohl jemand ein Feuer entzündet. Als Nancy<br />

auf den Hauseingang zuging, konnte sie einige Hunde hinter<br />

einem niedrigen Maschendrahtzaun kläffen hören und sie ging<br />

schnell weiter. Die großen, zottigen grauen Rottweiler mit<br />

geifernden Mäulern stießen mit ihren Schnauzen heftig gegen<br />

den Zaun und bellten Nancy angriffslustig an. Vielleicht waren<br />

das Wachhunde, dachte sich Nancy, in der Gegend war die<br />

Anschaffung eines Wachhunds sicher kein Fehler.<br />

Nancy sah eine Gruppe farbiger Männer aus der Eingangstür<br />

herauskommen, die mit bunt zusammengewürfelten Kleidern<br />

127


und Bierflaschen in den Händen hielten. Sie gehörten<br />

wahrscheinlich zu einer der Gangs hier, dachte Nancy, als sie<br />

die jungen Männer sah, die lärmend die niedrige Treppe vor<br />

der Eingangstür herunter kamen. Erst wenig später sah Nancy,<br />

dass die Männer scheinbar dort in einem der Apartments<br />

Drogen gekauft hatten, als sie einen der jungen Männer eine<br />

kleine quadratische Plastiktüte aus seiner Jacke ziehen sah, die<br />

mit Gras gefüllt war.<br />

„Verdammte Scheiße, Mann“, rief der Mann mit der Tüte,<br />

dessen Haare zu Rastarlocken frisiert waren und stieß einen<br />

seiner Freund an. „<strong>Das</strong> Zeug wird immer teurer! Die verdienen<br />

sich da ordentlich was in ihrer kleinen Bude!“<br />

Als er Nancy sah, ließ der Mann die Drogen sofort wieder in<br />

der Tasche verschwinden und fragte: „Wer bist du? Was willst<br />

du hier, Kleine!?“<br />

Nancy wich etwas erschrocken und unsicher zurück. Der junge<br />

Mann schien zwar nicht wirklich gefährlich zu sein, aber er<br />

wollte ihr wahrscheinlich Ärger machen.<br />

„Ich will nichts machen“, antwortete Nancy und sah den Mann,<br />

der sie angefahren hatte an. „Lassen Sie mich bitte einfach<br />

vorbei und alles ist in Ordnung...“<br />

„Die ist doch von den Bullen“, meinte der andere und wollte<br />

seine Freunde zurückziehen. „<strong>Das</strong> ist sicher so´nen Trick von<br />

denen... Lasst uns hier verschwinden!“<br />

„Ich will euch nichts tun“, sagte Nancy. „Ich habe mit der<br />

Polizei nichts zu tun; ich will einfach nur vorbei.“<br />

Der am vernünftigsten erscheinende Mann sagte mit zuckender<br />

Schulter: „Die ist es nicht wert, Ärger zu bekommen. Lasst uns<br />

verschwinden, Jungs...“<br />

„Ja, okay!“, stimmte ihm einer seiner Freunde zu und die<br />

Gruppe wandte sich zum Gehen. Nancy atmete erleichtert auf,<br />

128


als die Männer an ihr vorbei gingen. Sie hatte jetzt wirklich<br />

keinen Ärger haben wollen und sie sah den Unruhestiftern noch<br />

kurz nach, wie sie an dem Maschendrahtzaun vorbei gingen<br />

und von den Hunden an geknurrt wurden. Ein Scheppern<br />

ertönte, als einer von ihnen gegen den Zaun trat, um die Hunde<br />

zu vertreiben. „Verpisst euch, ihr dreckigen Köter!“, brüllte er<br />

und Nancy ging die Stufen zur Eingangstür hoch. Die schwere<br />

Holztür war nicht abgeschlossen und als sie den schmalen Flur<br />

entlang schlich, hörte sie die alten Dielen unter ihren Füßen<br />

knarren hören. Die Tapete schälte sich bereits von der Wand ab<br />

und aus einer Tür kam ihr der Geruch von Marihuana entgegen.<br />

Wahrscheinlich stimmte es und hier verkauften irgendwelche<br />

Dealer im Schutz ihrer bereits heruntergekommenen vier<br />

Wände ihre Drogen an die Kiffer und Junkies, die die Straßen<br />

von Cabrini-Green bevölkerten und von denen es hier<br />

zweifelsfrei ziemlich viele gab. Hastig ging Nancy an der Tür<br />

vorbei, den sie wollte es nicht auf eine weitere Begegnung der<br />

Art, die sie eben schon einmal vor der Tür draußen gehabt<br />

hatte, ankommen lassen. Dann lief sie die knarzenden<br />

Treppenstufen nach oben. Da es keinen Aufzug gab, musste sie<br />

wohl oder übel die steile Treppe nehmen. <strong>Das</strong> Treppenhaus war<br />

düster und obwohl der schwarze Handlauf der Treppe knarrte<br />

und beinahe abzufallen schien, hielt sich Nancy an ihm fest.<br />

Sie ging nach oben in die elfte Etage, dort wo die junge Frau<br />

angeblich ermordet wurde. Dort, wo sie vielleicht weitere<br />

Hinweise über den Candyman finden würde...<br />

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Nancy endlich oben<br />

angelangt war. Man hatte ihr erzählt, dass sich der schreckliche<br />

Todesfall in Apartment 148 zugetragen haben sollte und Nancy<br />

war nicht mehr weit entfernt. Sie ging den Korridor entlang<br />

und ließ ihre Finger über die Tapete streichen. Staub und<br />

129


Schmutz sammelte sich an ihren Fingerkuppen und als Nancy<br />

ihn an ihren Hosenbeinen abschmierte, sah sie zwischen den<br />

Graffiti, die die Wand verunstalteten, die unheimliche<br />

Einschrift aus der Kammer in der Kanalisation wieder.<br />

„Süßigkeiten für die Süßen...“<br />

Nancy erschauderte und musste an die zwischen dem Karamell<br />

versteckten Rasierklingen denken, die sie überall auf dem<br />

schmutzigen Boden der versteckten Kammer gefunden hatte.<br />

Endlich sah sie das gesuchte Apartment vor sich und das im<br />

matten Licht glänzende Messingtürschild zeigte die Nummer<br />

der kleinen Wohnung: 148. <strong>Das</strong> Türblatt war grün und Nancy<br />

sah, als sie die Tür öffnete, dass das Türschloss von außen<br />

hinaus gedrückt worden zu sein schien. Quietschend öffnete<br />

sich die Tür und Nancy sah, dass der Türrahmen mit<br />

Polizeiabsperrband versiegelt worden war. <strong>Das</strong> Band war<br />

bereits alt und sie konnte sehen, dass sich die Polizei scheinbar<br />

überhaupt nicht mehr für diesen Fall zu interessieren schien. Es<br />

lag ja schließlich bereits beinahe ein Jahr zurück und der<br />

Todesfall war wahrscheinlich nie gelöst worden. Ein weiterer<br />

Fall für den Stapel der ungelösten Fälle vielleicht? Wie hätten<br />

die Polizisten hier auch irgendetwas finden können, dachte<br />

Nancy und verdrängte den Gedanken, schließlich hat der<br />

Candyman sie getötet schnell wieder aus ihrem Kopf. Dennoch<br />

ließ das ganze Gerümpel viel Material zum spekulieren übrig,<br />

fiel Nancy ein, nachdem sie das Absperrband abgerissen hatte<br />

und den Raum betreten hatte. Obwohl das Zimmer sehr eng<br />

war, war es voll gepackt mit Gerümpel und irgendjemand hatte<br />

hier wahrscheinlich randaliert, dachte Nancy. Spinnweben<br />

zogen sich durch den Raum und Nancy sah einige ganz<br />

gewöhnliche Gegenstände am Boden liegen, Gegenstände, die<br />

sie auch bei sich zuhause gefunden hätte. Ein kleiner Schrank<br />

war umgeworfen worden und Kleider lagen am Boden. Eine<br />

130


Schublade voller Unterwäsche lag am Boden und einige<br />

Frauenschuhe lagen unter dem Schrank. Ein Kissen lag vor<br />

Nancys Füßen und es musste mit einem langen Messer<br />

aufgeschlitzt worden sein, den seine gesamte Füllung bedeckte<br />

den Boden. Nancy stieg über ein Bild mit gebrochenem<br />

Glasrahmen, das eine junge Frau zeigte. Dann sah Nancy eine<br />

Kleiderpuppe in der Ecke, die sich wie eine missgebildete<br />

Gestalt aus dem Schatten erhob und Nancy fragte sich, warum<br />

die junge Frau, die hier gewohnt hatte, wohl eine Kleiderpuppe<br />

hier aufbewahrte, der der halbe Kopf fehlte. Auf der<br />

Fensterband sah Nancy einige abgebrannte Wachskerzen und<br />

einige Schriftzüge waren mit roter Sprühfarbe an die Wand<br />

gesprayt worden. Langsam ging sie durch das verwüstete<br />

Zimmer und sie fragte sich, was hier wohl gewütet haben<br />

musste, um hier ein derartiges Chaos anzurichten.<br />

Als sie die Tür zum Badezimmer öffnete, hörte sie ein<br />

durchdringendes Quietschen, das verriet, das die Scharniere<br />

wohl schon seit etwas längerer Zeit nicht mehr geölt worden<br />

waren. <strong>Das</strong> Badezimmer war klein und ebenso eng, wie das<br />

Zimmer der Wohnung und irgendwie erinnerte es Nancy an ihr<br />

eigenes. Die Badewanne stand genau wie bei ihr zuhause<br />

gegenüber des Waschbeckens mit einem großen, von Staub<br />

beschmierten Spiegels. Der gelbe Duschvorhang an der<br />

Badewanne war von unzähligen kleinen weißen Pünktchen<br />

bedeckt und Nancy fragte sich, was das wohl sein könnte. Erst<br />

als sie näher kam, erkannte sie voller Abscheu, dass es sich<br />

hierbei um Schimmel handelte und auch an der Decke konnte<br />

sie lauter kleine Schimmelflecken entdecken. Am<br />

Badewannenrand sah Nancy eine Vielzahl von Duschlotionen<br />

und Haarshampoos stehen und als Nancy sie betrachtete, sah<br />

sie den Staub, der sie bedeckte. Viele der Kacheln waren aus<br />

der Wand herausgeschlagen worden und an einigen Stellen<br />

131


konnte Nancy sogar unter dem nackten Verputz die Rohre<br />

sehen. Hier muss die junge Frau gestorben sein, schoss ihr<br />

durch den Kopf und sie musste daran denken, dass sie, genau<br />

wie Nancy selber, vor diesem Spiegel gestanden haben muss<br />

und den Namen des dunklen Mannes fünfmal hintereinander<br />

aufgesagt haben. Wie sie sich wohl gefühlt haben musste,<br />

fragte sich Nancy. Hatte sie den selben kalten Schauer gespürt,<br />

der ihr den nackten Rücken hinuntergelaufen ist... oder hatte<br />

sie ihr Herz pochen hören, während sie nackt in der dunklen<br />

Kälte des Bades gestanden hatte und ihre Arme um die Brust<br />

geschlungen hatte.<br />

Nancy sah in den Spiegel und es schien ihr so, als würde sie<br />

nicht sich selber ansehen, sondern als würde sie durch sich<br />

selbst hindurchblicken und jemand anders auf der anderen<br />

Seite des Spiegels sehen. Es war so, als würde sie Candyman<br />

persönlich ansehen, auch wenn sie nur seine schattenhaften<br />

Umrisse wahrzunehmen schien. Ein kalter Schauer kroch ihren<br />

Rücken hinab und sie legte eine Hand auf ihre Brust, um ihr<br />

Herz beim schlagen zu spüren. Ein leises Flüstern schien<br />

Nancys Ohren zu streifen und mit langsamen Schritten ging<br />

Nancy langsam auf die Wand zu. Sie sah die Inschrift über der<br />

Toilettenschüssel und ohne zu wissen, was sie tat, ging Nancy<br />

langsam auf die Toilette zu. Die Inschrift sah aus, als wäre sie<br />

dieses Mal nicht in die Wand gekratzt, sondern als hätte jemand<br />

(Candyman...?) sie mit Blut an die Wand geschmiert, Blut, das<br />

jetzt vertrocknet war. Es war nicht der Spruch Sweets for the<br />

Sweets, sondern die Inschrift erinnerte an die obszönen<br />

Inschriften in ihrem zweiten Alptraum. Als Nancy sie las,<br />

verzog sie ihr Gesicht und ein unbeschreibliches Gefühl des<br />

Ekels und der Abscheu kam in ihr hoch. Ich sehe dich immer,<br />

ich beobachte dich, du Schlampe!-Und wenn du stirbst, sehe<br />

132


ich, wie tote Würmer aus deiner Fotze hinauskriechen!!<br />

Nancy schlug die Hände vor den Mund und wich mit<br />

entsetztem Gesicht zurück von der schrecklichen Inschrift. Sie<br />

spürte, dass ihr schlecht wurde und ihr Magen drehte sich<br />

völlig plötzlich um. Was sollte das? Wer hatte das dort<br />

geschrieben, war das Candyman gewesen? Und wer war damit<br />

gemeint...Etwa sie selber...?<br />

Dann sah Nancy, wie sich der Deckel des Toilette langsam<br />

anzuheben schien und als sie zurückwich sah sie, wie kleine<br />

Insekten unter dem dünnen Keramikdeckel hervorzukriechen<br />

schienen. Nancy hob de Deckel in die Höhe und ein Gefühl<br />

von Neugier gemischt mit Angst und Entsetzen kroch in ihr<br />

hoch. Ein Gefühl, das sie in den letzten Tagen nur zu gut<br />

kennen gelernt hatte...<br />

Als sie den Deckel nach oben geklappt hatte, blickte sie voller<br />

Entsetzen und Entgeisterung tausenden von Bienen entgegen,<br />

die sich in der Kloschüssel gesammelt hatten und dort wie in<br />

einer riesigen Honigwabe im inneren eines Bienenstocks<br />

tummelten. <strong>Das</strong> Brummen der Insekten war ohrenbetäubend<br />

laut und Nancy entfuhr ein spitzer Schrei des Entsetzens. Sie<br />

riss ihre Hände weg und wich zurück. Ohne die Toilette erneut<br />

berühren zu wollen, hob sie ihren Fuß hoch und schlug mit<br />

ihrem Fuß den Deckel zu, der krachend herunterfiel. Risse<br />

bildeten sich auf der glatten Keramikplatte und das Brummen<br />

verstummte schlagartig. Langsam drehte sich Nancy zu dem<br />

Duschvorhang um und ihr war jetzt klar, dass Candyman hier<br />

gewesen sein musste. Es war beinahe so, als würde sein<br />

fauliger Gestank, der nach Verwesung und Tod roch, hier in der<br />

Luft liegen und Nancy konnte ihn beinahe spüren.<br />

Sie fasste Mut und zog dann den Duschvorhang zur Seite, um<br />

zu sehen, was sich da hinter verbarg. Als sie einen Blick in die<br />

133


Badewanne warf, sah sie erst nichts besonderes, außer die<br />

schmutzige Wanne, in der sich ebenfalls Schimmel und Rost<br />

ansammelte. Dann aber, für nur den Bruchteil einer Sekunde,<br />

sah sie etwas anderes. Es war wie in ihrem Alptraum, in dem<br />

sich das Bild, das ihr geboten wurde immer wieder für wenige<br />

Sekunden änderte.<br />

Sie sah die Leiche der toten Frau in der Badewanne liegen,<br />

deren Gesicht vor Entsetzten zu einer schrecklichen Grimasse<br />

verzogen war. Ihre Augen waren weit aufgerissen und eine<br />

blutige Wunde zog sich von ihrem Bauchnabel bis zu ihrem<br />

Hals. Ihre Jacke und ihre Bluse waren teils zerfetzt und<br />

blutdurchtränkt und das warme Badewasser vermischte sich<br />

mit dem blutigen Rinnsal, das aus der Wunde floss, die<br />

entstanden sein musste, als Candyman die Frau aufgeschlitzt<br />

hatte.<br />

Nancy wollte aufschreien, doch ihre Stimme versagte und als<br />

sie die Augen schloss und blinzelte, war die blutige Leiche auf<br />

einmal wieder verschwunden. Jetzt sah Nancy nur noch die<br />

leere Badewanne und düstere Schatten verdunkelten sie.<br />

Es herrschte Stille, bis eine Stimme Nancy aufschreckte, die<br />

von der gegenüberliegenden Seite des Raums zu kommen<br />

schien. Nancy drehte sich erschrocken um und sah direkt in<br />

den großen Spiegel an der Wand, von dem die dunkle Stimme<br />

zu kommen schien. Es war Candyman, der zu ihr sprach, fuhr<br />

es Nancy wie ein Geistesblitz durch den Kopf und sie hörte<br />

seine sanfte und tiefe Stimme flüstern: „Nancy, du wolltest<br />

nicht an mich glauben... Du hast an mir gezweifelt und deshalb<br />

bin ich zu dir gekommen. Wenn du meine Existenz zu leugnen<br />

versuchst, verschwinde ich irgendwann für immer und deshalb<br />

bin ich gekommen: Um dir die Wahrheit zu zeigen, die<br />

Wahrheit, die du dir selber niemals eingestehen wolltest!“<br />

134


Nancy wich zur Wand zurück und sie sagte mit zittriger<br />

Stimme: „Lass mich, bitte... Ich will nichts mehr mit dir zu tun<br />

haben...“<br />

„Doch“, widersprach ihr Candyman und es schien Nancy so,<br />

als könne sie ihn hinter dem großen, von Staub beschlagenen<br />

Spiegel sehen. „Du weißt, dass du bereits mir gehörst. Du<br />

willst es bloß nicht wahrhaben... Aber du musst es von der<br />

anderen Seite sehen, ich bin der einzige, der dich verstehen<br />

wird...Ich bin der, der dir all deine geheimsten Wünsche und<br />

Träume erfüllen kann! Du weißt, dass du dich nach mir sehnst,<br />

auch wenn ich für dich abstoßend erscheinen mag.“<br />

Nancy fühlte sich völlig machtlos über ihren eigenen Körper,<br />

als sie versuchte, wegzugehen, aber ihre Beine gehorchten ihr<br />

erneut nicht. Sie konnte beinahe spüren, wie Candyman durch<br />

den Spiegel in sie hineinblickte und allein das machte sie<br />

beinahe verrückt. <strong>Das</strong> alles war absoluter Wahnsinn...<br />

„Doch es gibt immer noch einige, die uns davon abhalten<br />

wollen, zusammen-zukommen, Nancy!“, sprach Candyman<br />

und Nancy fühlte einen kalten Lufthauch, der an ihr vorbeizog<br />

und es war, als würde sie Candyman spüren, wie er sie<br />

berührte.<br />

„Nancy, glaube an mich und wir beide können endlich<br />

zusammen kommen, so wie es für uns bestimmt ist...Du wirst<br />

sehen, was meine Welt dir eröffnen kann, ich kann dir<br />

Wünsche erfüllen, die du dir nicht einmal zu erträumen gewagt<br />

hast...“<br />

Die kalte Stimme ließ Nancy erneut zusammen fahren und sie<br />

wusste, dass sie Candyman gefunden hatte. Sie war nur noch<br />

einen kleinen Schritt von ihm entfernt und dann würde sie<br />

endlich die Wahrheit über ihn kennen...<br />

Sie würde in seinen kalten Armen liegen können und endlich<br />

135


würde sie...<br />

Ihre Lippen zitterten und die unheimliche Kälte des<br />

<strong>Candymans</strong> überkam sie. Sie kroch in ihr inneres und Nancy<br />

fühlte sich erneut so, als würde ihr nie wieder warm werden.<br />

Als wäre ihr Herz eine sterbende Blume, die von einem<br />

verspäteten Schneefall begraben wurde und deren<br />

wunderschöne Blüte langsam unter der kalten Last einging...<br />

„Nancy“, sagte Candyman und seine Stimme flüsterte kalt in<br />

Nancys Ohren. „Glaube an mich und niemand wird uns je<br />

wieder trennen können... Wir werden bis in alle Ewigkeiten<br />

zusammen sein, unzertrennlich und das einige, was du tun<br />

musst, ist an mich glauben!“<br />

„Ich glaube an dich“, sagte Nancy mit zitternder Stimme und<br />

ihre Lippen schienen sich wie von selber zu bewegen. „Ich<br />

glaube an dich, Candyman!“<br />

Dann sank sie vor dem Spiegel auf die Knie und wartete.<br />

Ihre Worte hatten Candyman aus seinen Fesseln befreit. Sie<br />

hatte an ihn geglaubt und ihr Glaube an den dunklen Mann<br />

hatte ein wahren Höllensturm heraufbeschworen. Candyman<br />

war frei und er würde nun aus seiner Welt, aus der Welt der<br />

Finsternis und den Träumen heraustreten und in die Welt der<br />

Sterblichen kommen. Die Glasscheibe des staubigen Spiegels<br />

begann zu krachen und Nancy sah voller Entsetzen, wie sich<br />

immer länger werdende Risse über den Spiegel zogen und das<br />

kreischende Geräusch von brechendem Glas ertönte. Krachend<br />

platzte der Spiegel auf und ein Regen aus Millionen<br />

Glasscherben fiel auf Nancy herab. Sie schrie auf und als sie<br />

vom Spiegel zurückwich, sah sie wie die Hand des <strong>Candymans</strong><br />

aus dem gezackten Loch hervor kam, das sich wie ein Portal in<br />

eine andere Welt vor ihren Augen aufgetan hatte und nach ihr<br />

136


griff. Voller Abscheu sah Nancy den langen Fleischerhaken, der<br />

im Licht blitzte und der blutige Armstumpf, der aus<br />

<strong>Candymans</strong> Mantel ragte, war noch viel erschreckender, als in<br />

ihren Träumen. Bienen summten um ihn herum und als Nancy<br />

spührte, dass Candyman sie der anderen Hand an der Schulter<br />

packte und zu sich heran zog, wurde ihr schwarz vor Augen...<br />

23.Kapitel<br />

Schreckliche Erkenntnis<br />

Als Nancy wieder die Augen wieder aufschlug, sah sie, dass sie<br />

auf dem Rücken am Boden lag. Sie erkannte nicht, wo sie war<br />

und nachdem sie einige Male geblinzelt hatte, hörte sie<br />

langsam auf, verschwommen zu sehen. Ihr Blick lichtete sich<br />

und sie sah an die Decke einer Wohnung. Eine Lampe hing von<br />

der Decke und Nancy erkannte die Lampe wieder. Es war die<br />

Lampe, die in Lindas Wohnung hing und Nancy fragte sich, ob<br />

sie wohl in Lindas Wohnung war. Stöhnend richtete sie sich auf<br />

137


und stellte fest, dass sie in einer klebrigen Pfütze lag. Langsam<br />

blickte sie an sich herab und stellte voller Entsetzten fest, dass<br />

dunkles Blut an ihren Händen und an ihren Kleidern klebte.<br />

Auf dem Boden war eine große Blutpfütze, die sich über dem<br />

Parkett ausbreitete und Nancy rutschte sofort nach hinten weg,<br />

um aus der blutigen Lache hinauszukommen. Ihre Schuhe<br />

rutschten über den Boden und Nancy klammerte sich an die<br />

Kante eines niedrigen Schranks, um aufzustehen. Sie richtete<br />

sich auf und sah, dass sie wirklich in Lindas Apartment war.<br />

Warum war dort überall Blut am Boden, schoss es Nancy durch<br />

den Kopf: War Linda etwas geschehen? War sie...<br />

Vorsichtig schlich Nancy über die knarrenden Bodendielen, die<br />

sich mit Blut vollgesogen hatten und ihr wurde beinahe<br />

schlecht, als sie das ganze Blut sah, das ihre Bluse und ihre<br />

Hose befleckte. Endlich war sie an der Tür zu Lindas<br />

Wohnzimmer angekommen und als sie den Türknauf der<br />

kleinen Abstellkammer, in der sie aufgewacht war, hörte sie ein<br />

durchdringendes Quietschen. Langsam öffnete sich die Tür und<br />

als Nancy das Zimmer betrat, musste sie daran denken, dass<br />

Candyman hier gewesen sein musste... Er hatte sie hier her<br />

gebracht und er musste auch hier gewesen sein. Hoffentlich<br />

hatte er Linda nichts getan, bat Nancy und sie ging langsam<br />

durch das Wohnzimmer. Sie sah, dass alles noch an seinem<br />

Platz stand, ihr Schrank und das Sofa, welches umgedreht zu<br />

Nancy stand. Eine Menge Kleidungstücke lagen übereinander<br />

gestapelt am Boden und Lindas Bügelbrett war aufgeklappt.<br />

Jetzt sah Nancy auch noch weitere Blutstropfen, die den<br />

weißen Teppich beschmutzten und eine deutliche Spur zu der<br />

Abstellkammer legte, in der sich Nancy wiedergefunden hatte.<br />

Erschrocken folgte sie der Spur in die andere Richtung und<br />

blickte sich mit steigender Angst weiter um.<br />

138


Dann ging sie um das Sofa herum und als sie sah, was sich dort<br />

hinter befand, erschrak sie fürchterlich. Sie schrie auf und<br />

spürte, wie ihr Herz beinahe für einen Schlag auszusetzen<br />

drohte und dann sank sie vor dem grässlichen Anblick, der sich<br />

ihr bot, kraftlos und aufs äußerste schockiert, zu Boden.<br />

Vor ihr lagen die toten Körper von Nancys Freundin Linda und<br />

Corey Weaver und als Nancy sie sah, wusste sie, dass das<br />

<strong>Candymans</strong> Werk gewesen war. Voller Entsetzen sah sie die<br />

vor Schrecken aufgerissenen Münder der Toten und Candyman<br />

musste beide mit seinem langen Fleischerhaken, der seine<br />

rechte Hand auf schreckliche Weise ersetze, aufgeschlitzt<br />

haben. Noch immer frisches Blut tränkte die zerfetzten Kleider<br />

der beiden Toten und unter ihnen breitete sich eine rote Pfütze<br />

aus, die den weißen Teppich befleckte. Nancy fiel es schwer,<br />

überhaupt noch einen klaren Gedanken zu fassen und Tränen<br />

liefen ihr übers Gesicht. Sie hatte gerade zwei tote Menschen<br />

gefunden, ihre beste Freundin und deren Freund lagen<br />

ermordet vor ihren Füßen und... und überall war Blut.<br />

Wacklig stand Nancy auf und es war so, als würde sich alles<br />

um sie herum drehen. Schreckliche Gedankenfetzen huschten<br />

durch ihren Kopf und immer noch fassungslos blickte sie auf<br />

ihre blutverschmierten Hände. Candyman war hier gewesen<br />

und er hatte die beiden getötet, er war hier gewesen und hatte...<br />

<strong>Das</strong> war zu viel für Nancy und drehte sich stöhnend von den<br />

beiden Leichen weg. Sie rannte ins Badezimmer, das gleich<br />

gegenüber lag und dort musste sie sich übergeben. Der ganze<br />

Anblick und der Schock hatte sie völlig aus ihrer Bahn gezerrt<br />

und es war wieder so, als würde sie in dem finsteren See<br />

treiben, der sich ihr offenbart hatte. Doch dieses Mal fühlte sie<br />

sich nicht mehr schwerelos sondern dieses Mal kam es ihr so<br />

vor, als würde sie sich unter den dunklen Wogen verlieren und<br />

139


sie spürte beinahe, wie ihr langsam die Luft ausging. Es war,<br />

als würden die einzelnen Luftblasen zwischen ihren Lippen<br />

hervor treten und sie sie vor ihren Augen zerplatzen sehen.<br />

Zitternd stand Nancy wieder auf und blickte in den Spiegel.<br />

Der Schock steckte ihr zu tief in den Knochen, um irgendetwas<br />

zu tun, aber sie wusste, dass sie nicht hier bleiben konnte. Sie<br />

musste wieder zurück nach draußen und Hilfe holen. Nur eine<br />

Frage schoss ihr durch den Kopf während sie wieder zurück<br />

lief, warum hatte Candyman die beiden getötet. Warum hatte er<br />

sie aufgeschlitzt und Nancy bei den ihnen zurückgelassen...<br />

„Doch es gibt immer noch einige, die uns davon abhalten<br />

wollen, zusammen-zukommen, Nancy!“, erinnerte sich Nancy<br />

an <strong>Candymans</strong> Stimme und es war so, als würde sie in ihrem<br />

Kopf entstehen. „Doch es gibt immer noch einige...“<br />

„Nein“, flüsterte Nancy. <strong>Das</strong> war unmöglich, das durfte nicht<br />

sein... Waren es Linda und Corey gewesen, von denen<br />

Candyman gesprochen hatte? Hatten sie das gewollt...?<br />

„Ich mache mir Sorgen Nancy“, hatte Linda gesagt. „Ich habe<br />

Angst, was aus dir wird, wenn das so weitergeht!“ Linda hatte<br />

sich um sie gesorgt und versucht, ihr die Existenz des<br />

<strong>Candymans</strong> auszureden... Sie hatte versucht ihr zu helfen (Sie<br />

hatte versucht, Nancy und Candyman auseinander zu bringen)<br />

und als Nancy Candyman in die reale Welt, fern ab der Träume<br />

und den dunklen Schächten, geholt hatte, hatte Candyman die<br />

beiden getötet, um endlich alle Hindernisse zu beseitigen, die<br />

zwischen Nancy und ihm standen...<br />

<strong>Das</strong> alles war so schrecklich und grausam, dass Nancy zu<br />

schluchzten begann. Candyman hatte alle getötet, nur um die<br />

Barrikaden, die zwischen ihr und ihm standen zu beseitigen, er<br />

hatte...<br />

Es war wie in einer Liebesgeschichte, musste Nancy denken<br />

140


und auch wenn sie den Gedanken verdrängen wolle, zwang sie<br />

etwas in ihrem inneren, den Gedanken zu beenden: Zwei<br />

Liebende, die getrennt sind und dennoch kann sich nichts<br />

zwischen sie stellen... Kein Ozean, keine Mauern, keine<br />

Gitterfenster... Auch nicht das kleine Fenster zu einer anderen<br />

Welt, einer dunklen, düsteren Welt, die besser verschlossen<br />

bleiben sollte, das Fenster, dass Nancy in ihrem unendlichen<br />

Streben nach der Wahrheit (Ich kann dir jeden deiner<br />

geheimsten Wünsche erfüllen... Ich kann Träume wahrmachen,<br />

an die du nicht einmal zu denken wagst, Nancy! Glaube an<br />

mich und...) aufgestoßen hatte und vor ihren Füßen lag das<br />

blutige Zeichen dessen, was dieser Welt entkrochen war.<br />

Nancy stand immer noch da, unter Schock, mit Tränen der<br />

Angst und der Trauer über ihren schrecklichen und plötzlichen<br />

Verlust in den Augen, als sie hörte, wie sich Schritte näherten.<br />

Noch waren die Schritte weit entfernt, so, als würden sie die<br />

Treppen nach oben steigen und in dem Moment war es für<br />

Nancy klar, wer dort kommen würde. Es war Candyman, er<br />

würde kommen und nachdem seine Arbeit vollbracht war,<br />

würde er endlich zu ihr kommen und sie würden bis in alle<br />

Ewigkeiten zusammen vereint sein können...<br />

Nein, sagte sich Nancy. Sie hatte gesehen, wozu Candyman<br />

fertig war und sie durfte es nicht so weit kommen lassen. Wenn<br />

er zu ihr kommen würde, wäre es für sie aus und in diesem<br />

Moment erschien ihr die Vorstellung, auf das ewige Bündnis<br />

mit Candyman, der ihr die geheimsten Wünsche und Träume<br />

erfüllen würde, gar nicht mehr so verlockend und reizvoll, wie<br />

in den Stunden, in denen sie allein und voller Verunsicherung<br />

in ihrem dunklen Schlafzimmer auf der Bettdecke gesessen<br />

hatte und auf ein weiteres Zeichen von ihm gewartet hatte.<br />

Sie musste irgendetwas tun, um zu flüchten, aber wie konnte<br />

141


sie vor einem Mann flüchten, der keine Grenzen zwischen<br />

Raum und Zeit kannte und durch die Träume der Menschen<br />

gehen konnte... Hektisch sah sie sich im Raum um und als sie<br />

hörte, dass die Schritte näher kamen. Schnell lief Nancy<br />

herüber zu der schmalen Küchentheke, die quer ins<br />

Wohnzimmer ragte und sie musste aufpassen, nicht in der<br />

großen Blutpfütze auszurutschen. Sie ging um die Küchentheke<br />

herum und als sie die Schritte weiter sich nähern hörte, fiel ihr<br />

Blick auf den hölzernen Messerblock von Linda, der Platz für<br />

vier verschiedene Küchenmesser bot. <strong>Das</strong> war besser, als<br />

nichts, dachte Nancy, vielleicht könnte sie sich damit<br />

verteidigen. Unwahrscheinlich, aber immer noch besser, als<br />

einfach auf Candyman zu warten und nichts zu tun.<br />

Blitzschnell zog sie das längste Messer aus dem Holzblock und<br />

die lange Edelstahlklinge funkelte im Licht. Langsam näherten<br />

sich die Schritte und Nancy schlich wieder ins Wohnzimmer.<br />

Noch immer klebte Blut an ihren Händen und als sie mit dem<br />

Messer einen der Blutflecken, die überall im Raum verteilt<br />

waren, berührte, klebte auch Blut an der Klinge und Nancy<br />

bemerkte es kaum einmal, da das Licht zu dunkel war. Mit<br />

pochendem Herzen lauschte sie die Schritte näherkommen,<br />

Candyman war jetzt schon in ihrer Etage und Nancy stellte sich<br />

vor, wie er mit wehendem Mantel, der mit Blut befleckt war,<br />

den Gang herunterkam. Nur noch wenige Meter waren es jetzt<br />

und Nancy atmete heftig. Angst und Verzweiflung stiegen in<br />

ihr hoch und kalter Angstschweiß durchnässte ihre<br />

blutverschmierte weiße Bluse. Sie hörte ihr Herz immer lauter<br />

pochen und von der Tür kam ein Kratzen, als würde sich<br />

jemand an der Tür zu schaffen machen. Nancy hörte, wie<br />

<strong>Candymans</strong> Hakenhand über das Türblatt kratzte und sie sank<br />

verzweifelt zu Boden. Sie lag bereits in <strong>Candymans</strong> Händen<br />

und es gab nichts, was sie noch tun könnte. Er war zu mächtig<br />

142


und sie spürte seine dunkle, kalte Aura, die ihr die letzten<br />

Kräfte zur rauben schien. Kraftlos und voller Angst sank Nancy<br />

auf dem weißen Teppich zusammen, nicht weit entfernt von<br />

ihren beiden toten Freunden und Tränen liefen ihr übers<br />

Gesicht. Sie schluchzte ein weiteres Mal verzweifelt, als sie<br />

hörte, wie Candyman die Tür aufstieß und schloss dann<br />

weinend die Augen. Es war vorbei... Candyman hatte sie<br />

gekriegt....<br />

Licht von draußen fiel in den dunklen Raum und Sergeant<br />

Chris Stonehill, erstarrte vor Schreck, als durch den Türrahmen<br />

blickte. Er ließ seine Waffe sinken und blickte genau wie die<br />

anderen Polizisten geschockt die Szene an, die sich in dem<br />

kleinen Apartment abspielte. Überall war Blut, an den Wänden,<br />

am Boden und in der Mitte des besudelten Zimmers lagen zwei<br />

tote Menschen, die schrecklich zugerichtet in tiefen Lachen<br />

ihres eigenen Blutes lagen. Die Augen und Münder weit<br />

aufgerissen starrten sie zur Decke und Chris sah, dass sogar an<br />

der Decke Blutspritzer klebten. Noch nie hatte er oder einer der<br />

anderen Polizisten jemals etwas derartig schreckliches gesehen<br />

und er fragte sich, wie krank jemand sein konnte, das er zu so<br />

einer beispiellosen Bluttat fähig wäre. Dann sah er die Frau am<br />

Boden, die er kannte. Es war Nancy, die junge Frau, die er am<br />

Flussbett getroffen hatte und sie hatte sich völlig verändert. Er<br />

sah ihr mit Tränen verschmiertes Gesicht, an dem schwarze<br />

Streifen ihres zerstörtem Maske-Ups herunterliefen und Nancy<br />

zitterte am ganzen Körper. Er konnte sie schluchzen hören und<br />

wenn er nicht das blutige Messer, welches sie in ihren<br />

zitternden Händen hielt, sehen würde, wäre er zu ihr gegangen<br />

und hätte sie tröstend in den Arm genommen...<br />

Anstatt dessen hob er seine Dienstwaffe nach oben und ging<br />

langsam auf die am Boden liegende Nancy zu und auch wenn<br />

143


er es sich kaum vorstellen konnte und wollte, wusste er, was<br />

hier geschehen war: Nancy, die leicht verwirrte Frau, die er<br />

unter der Brücke am Flussbett vor drei gefährlichen Schlägern<br />

gerettet hatte und dann ohne sich etwas böses zu denken<br />

einfach hatte gehen lassen, war eine gestörte Mörderin, die in<br />

diesem Apartment ein schreckliches Blutbad angerichtet hatte.<br />

Zwei Menschen waren tot und die junge Frau am Boden, die<br />

momentan mit den Tränen in ihren Augen und am ganzen<br />

Körper zitternd so jung wirkte, fast noch wie ein Mädchen,<br />

hielt die Tatwaffe, ein glänzendes und mit Blut beflecktes<br />

Küchenmesser, in den zitternden Fingern.<br />

Mit der Waffe auf das Mädchen gerichtet, betrat Chris das<br />

Apartment und die anderen Polizisten folgten ihm. Seine<br />

Finger zitterten ebenfalls leicht und er hielt die Waffe<br />

verkrampft in den Händen. Stonehill war sich nicht sicher, was<br />

jetzt passieren würde und blieb deshalb vorsichtig. Er konnte<br />

nicht wissen, ob Nancy ihn auf einmal angreifen würde,<br />

schließlich war sie, wenn man sich den Tatort ansah,<br />

unberechenbar. „Sie sind verhaftet, Miss“, rief Chris mit lauter<br />

Stimme und hinter ihm kam sein Partner Arnold Breyvogel zu<br />

ihm. „Sie stehen unter dringendem Tatverdacht, Mr. Corey<br />

Weaver und Ms. Linda Keitel ermordet zu haben!“<br />

„Nein...“, schluchzte Nancy und Chris sah, wie sie das blutige<br />

Messer zu Boden fallen ließ. „Ich war das nicht.... es war<br />

Candyman!“ Der Rest ihres Satzes war ein beinahe<br />

unverständliches Wimmern und Chris beobachtete, wie zwei<br />

seiner Kollegen sich der Verdächtigen näherten und ihr<br />

Handschellen anlegten. Nancy wehrte sich nicht, sondern sie<br />

sank kraftlos in sich zusammen...<br />

„Wir werden Sie mitnehmen müssen, Miss“, verkündigte Chris<br />

und ließ seine Pistole sinken. „Sie werden sich für das, was sie<br />

hier getan haben, verantworten müssen....!“<br />

144


24.Kapitel<br />

Auf dem Departement<br />

Auf der Rückbank des Polizeiautos war Nancy<br />

zusammengesunken und ihre Hände, die sie kraftlos in ihrem<br />

Schoß liegen hatte, waren mit Handschellen gefesselt. Es gab<br />

nichts, woran Nancy jetzt denken konnte, sie wusste nur, dass<br />

sie fürchterlich müde war. <strong>Das</strong> alles, was dort in dem<br />

Apartment geschehen war, hatte sie völlig fertig gemacht und<br />

es fiel ihr immer noch schwer, überhaupt zu begreifen, dass<br />

man sie für die Mörderin hielt. Um den Ernst ihrer Lage zu<br />

verstehen, war Nancy momentan viel zu benebelt und der<br />

Verlust ihrer Freundin hatte sie schwer getroffen. Der ganze<br />

Horror der letzten Tage, oder waren es Wochen gewesen,<br />

Nancy wusste es schon gar nicht mehr, hatten sich zu diesem<br />

einen schrecklichen Blutbad zugespitzt und Nancy wollte<br />

einfach nur, dass das alles aufhörte....<br />

Wieso hatte Candyman ihr das angetan, musste sie sich immer<br />

wieder selbst fragen und sie konnte keine Antwort darauf<br />

finden. Schließlich wollte Candyman ihr nie etwas zuleide tun,<br />

warum hatte er dann zugelassen, dass sie jetzt verhaftet worden<br />

war. Lag ihm etwa nichts mehr an ihr? Hatte er sie nur benutzt,<br />

um frei aus der dunklen Zwischenwelt der Träume und Ängste<br />

hinauszukommen? Nein, es lag mehr dahinter, das wusste<br />

Nancy. Sie bedeutete Candyman viel und sie konnte es erneut<br />

nicht leugnen, dass von ihm eine unglaubliche Faszination und<br />

Anziehungskraft ausging, die die schrecklichen Dinge, die er<br />

getan hatte und die Angst vor dem Übernatürlichen und den<br />

<strong>Verbotene</strong>n, überspielte. Undeutlich konnte Nancy die<br />

Polizisten auf den beiden Vordersitzen sich unterhalten hören<br />

und draußen war es dunkel geworden. Regen prasselte auf die<br />

145


Scheiben und Nancy sah matt den Regentropfen zu, die<br />

langsam die verstärkte Glasscheibe hinunter liefen und<br />

wundersame Muster bildeten. Als sie in einen Tunnel fuhren,<br />

sah Nancy die vielen Lichter in der Dunkelheit und dennoch<br />

nahm sie immer noch alles verschwommen wahr. Sie kam sich<br />

beinahe so vor, als würde sie kurz vor dem Einschlafen stehen<br />

und es fehlte nicht viel und ihr wären tatsächlich die Augen<br />

zugefallen.<br />

Dann kam die Stimme wieder, die in den letzten Tagen so oft<br />

zu ihr gesprochen hatte und wieder einmal, sprach Candyman<br />

nur zu ihr. Die Polizisten vor ihr hörten nichts von der<br />

unheimlichen Stimme und Candyman flüsterte: „Warum<br />

klammerst du dich ans Leben, Nancy...? Komm zu mir und wir<br />

können zusammen auf ewig glücklich werden“ Natürlich<br />

antwortete Nancy Candyman nicht, sondern sie starrte<br />

weiterhin in den Regen, der auf die Straße prasselte, als würde<br />

sie versuchen ihn zu ignorieren.<br />

„Du wirst erfahren, wie berauschend es ist, durch die Träume<br />

der Menschen zu gehen und wie es ist, in ihre Herzen zu sehen<br />

und ihre Furcht zu schmecken, die sie vor dir haben. Nancy,<br />

komm mit mir und wir werden auf ewig vereint sein!“<br />

Es klang wie eine Aufforderung und Nancy konnte sich der<br />

Stimme nicht entziehen. Candyman wollte immer noch, dass<br />

sie zu ihm kommen sollte und sie beide würden dann auf ewig<br />

vereint zusammen sein. Sie musste sich vorstellen, wie<br />

Candyman sie durch die tiefen dunklen Tunnel seines<br />

Labyrinths trug und wie sie beide eng umschlungen durch die<br />

tiefe Dunkelheit wandelten.<br />

„Komm an meine Seite, Nancy, ich bin der einzige, zu dem du<br />

noch gehen kannst. Ich bin der letzte Stein in der Brandung, an<br />

dem du dich noch festklammern kannst, bevor du in den tiefen<br />

146


Ozean geschwemmt wirst. Komm zu mir und nur du weißt,<br />

was dich erwarten wird...“<br />

Dann verschwand die dunkle Stimme wieder und Nancy sank<br />

wieder in ihrem Sitz zusammen. Die Rücklichter eines anderen<br />

Autos wanderten über ihr Gesicht und während das helle Licht<br />

ihr Gesicht streifte, fielen Nancys Lieder langsam nach unten.<br />

Es war immer schwerer, für sie, wach zu bleiben und langsam<br />

spürte sie, wie ihr Kopf gegen die kalte Glasscheibe rutschte<br />

und sie vor Müdigkeit zusammen klappte. Nur noch das<br />

monotone Rauschen der Straße war das einzige, das wie das<br />

beruhigende Rauschen des Meeres an ihre Ohren klang....<br />

Viel später war Nancy immer noch auf der Polizeiwache und<br />

ihr wurde klar, dass sie wahrscheinlich fürs erste hier bleiben<br />

müsse. Man hatte ihr gesagt, dass sie in Untersuchungshaft<br />

genommen werden würde, bis ein Gutachten ihres Zustands<br />

vorläge und ein strafrechtlicher Prozess geführt worden sei.<br />

Nancy hatte all das mit stoischem Schweigen ertragen und sie<br />

konnte sich nicht erinnern, dass sie seit ihrer Verhaftung vor<br />

einigen Stunden auch nur ein Wort gesagt hatte. Sie war immer<br />

noch so müde und es war immer schwerer für sie, wach zu<br />

bleiben und sich zu konzentrieren. Man hatte Nancy bereits<br />

einige Male verhört, doch sie hatte es bisher immer noch nicht<br />

geschafft, ein einziges Wort zu den Tatvorwürfen<br />

herauszubringen. All das war zu schrecklich und zu<br />

schockierend, als das sie in der Lage wäre, darüber zu reden.<br />

„Ziehen Sie die Bluse aus“, befahl die Polizistin auf der<br />

anderen Seite der Glasscheibe und deutete auf Nancys mit Blut<br />

verschmierte Kleider. Nancy fühlte sich unglaublich elend und<br />

das Blut an ihrer Kleidung und an ihren Fingern machte alles<br />

147


noch viel schlimmer. Sie wollte nur den ganzen Schmutz von<br />

sich abwaschen und frische, saubere Sachen anziehen können,<br />

Sachen, die nicht mit dem Blut ihrer besten Freundin befleckt<br />

waren. Nancy gehorchte und zog ihre Bluse über den Kopf,<br />

wobei sie ihre Haare, die bereits in einzelnen Strähnen<br />

herunterhingen, durcheinander brachte. Sie spürte den<br />

Geschmack von Blut auf ihren Lippen, als sie die Bluse über<br />

den Kopf zog und fühlte sich so, als würde sie gleich<br />

ohnmächtig werden. „Bitte“, begann Nancy und sah die blonde<br />

Frau auf der anderen Seite der Glasscheibe elend an.<br />

„Bitte...kann ich kurz duschen? Ich... der ganze Dreck und das<br />

ganze Blut... ich schaff das nicht...Bitte!“<br />

Sie war den Tränen nah und spürte, wie ihre Lippen zu zittern<br />

begannen, dennoch ignorierte die Polizistin ihr Bitten und<br />

meinte dann mit kalter Stimme: „Schieben Sie die Bluse durch<br />

den Schlitz im Glas.“ Mit Tränen in den Augen tat Nancy so,<br />

wie ihr befohlen wurde und schob das schmutzige<br />

Kleidungsstück durch den Schlitz in der Glasscheibe, die mit<br />

vielen kleinen Löchern versehen war, um die Verständigung<br />

zwischen Innen und Außen zu ermöglichen. Jetzt erwartete<br />

Nancy, dass man ihr in irgendeiner Weise entgegen kommen<br />

würde, doch die Polizistin meinte nur: „Ziehen Sie den Rest<br />

auch aus, dann bekommen Sie etwas neues, sauberes von uns!“<br />

Mit diesen Worten legte sie einen Stapel weißer<br />

Kleidungsstücke auf den Tisch, der zwischen der Glasscheibe<br />

auf beiden Seiten stand und Nancy war froh, endlich Kleidung<br />

zu bekommen, die nicht voller Blut und Schmutz war. Dankbar<br />

nahm sie die Kleider durch den Schlitz entgegen, eine weiße<br />

Bluse, die ihr zu ein wenig zu groß war, eine Hose und Schuhe<br />

ohne Schnürsenkel, Nancy wusste genau, wieso man ihr keine<br />

Schnürsenkel gab. Endlich konnte sie die dreckigen Kleider<br />

loswerden, dachte sie und öffnete dann unter der strengen und<br />

148


peinlichen Beobachtung der Wärterin, ihren Gürtel.<br />

In dem Zimmer, in dem Nancy saß, war es dunkel und die<br />

wenigen Lampen beleuchteten es nur spärlich. Sie saß auf<br />

einem harten Holzstuhl an dem Schreibtisch und auf der<br />

anderen Seite saß Detektive Arnold Breyvogel. Er musterte sie<br />

noch immer aufmerksam und fuhr dann mit der Befragung fort.<br />

Er verhörte Nancy mittlerweile schon seit über einer Stunde<br />

und auch wenn es schon weit über Mitternacht war, gab der<br />

Polizist einfach nicht nach.<br />

„Ich frage Sie jetzt ein letztes Mal, Miss“, zischte Breyvogel<br />

sie an und drückte seine Zigarette in dem kleinen, runden<br />

Aschenbecher auf dem großen Schreibtisch aus.<br />

Wahrscheinlich tat er das nur, um irgendein Polizei- und<br />

Verhörklischee zu entsprechen, dachte Nancy.<br />

„Sie sagten, kurz vor Ihrer Festnahme: Ich war das nicht; es<br />

war Candyman! Dabei waren sie völlig außer sich und hielten<br />

das Messer, gleichzeitig die Tatwaffe in ihren zitternden<br />

Händen. Was wollten Sie damit sagen?“<br />

Nancy schwieg und schüttelte den Kopf. Dann sank sie auf<br />

ihrem Stuhl zusammen und Arnold Breyvogel wurde langsam<br />

wütend: „Sie werden mir jetzt sofort antworten oder Sie<br />

werden einige Komplikationen vor Gericht bekommen. Und<br />

das können Sie sich in ihrer momentanen Lage wirklich nicht<br />

mehr leisten!“<br />

Schließlich brach Nancy ihr Schweigen und sagte mit<br />

unruhiger Stimme: „Es war Candyman, der Linda und Corey<br />

umgebracht hat... Er ist es gewesen, nicht ich...!“<br />

„Okay“, sagte Breyvogel und für ihn war die Sache hiermit<br />

klar: Entweder hatte die junge Frau, die ihm gegenüber saß,<br />

149


geistige Probleme oder das was sie sagte entsprach dem von<br />

Arnold Breyvogel selbst erfundenen Fugitive-Phänomen.<br />

Beinahe jedes mal, wenn er jemanden verhörte, der sich nicht<br />

mehr herausreden konnte, tauchten in den Erzählungen des<br />

Verdächtigen irgendwelche anderen Personen auf, es gab<br />

immer irgendeinen Einarmigen, wie in der alten Fernsehserie<br />

oder Harrison Ford-Film The Fugitive, dem die Schuld im<br />

letzten Moment in die Schuhe geschoben wurde. Ein bequemer<br />

Sündenbock, den jemand erfand, um seine Haut vor Gericht zu<br />

retten. Arnold musste sich an ein weiteres Beispiel erinnern,<br />

von dem er gehört hatte, dass sich in den achtziger Jahren in<br />

der Kleinstadt Derry zugetragen hatte und von dem ihm sein<br />

Vater, der damals Polizist in Derry gewesen war, erzählt hatte:<br />

Eine Gruppe junger Männer hatten einen Mann, der ein<br />

bekannter Schwuler in der Stadt gewesen war, aus Hass von<br />

der Brücke geworfen und als sie später verhört wurden, hatte<br />

damals jeder von ihnen behauptet, ein Clown in silbernem<br />

Kostüm hätte den Mann getötet, den man schwerverletzt unter<br />

der Brücke geborgen hatte. Genau das selbe war die Sache mit<br />

dem Candyman sagte sich Arnold und fragte dennoch weiter:<br />

„Wer ist dieser Candyman denn? Wie sieht er aus und was<br />

macht er so?“<br />

„Er ist kein Mensch, sondern eine übernatürliche Gestalt und er<br />

erscheint einem, wenn man seinen Namen fünf mal vor dem<br />

Spiegel sagt“, erzählte Nancy und es war ihr egal, ob der Mann<br />

ihr glauben würde oder nicht. <strong>Das</strong> war das erste mal, dass sie<br />

die ganze schreckliche Geschichte irgendwem erzählen konnte.<br />

Auch wenn es nur dieser überhebliche und gehässige Polizist<br />

war, der seine Zigaretten auf den Boden vor ihre Füße<br />

schnippte.<br />

„Ich habe ihn gerufen und jetzt hat er Linda und Corey getötet.<br />

150


Und als nächstes will er mich haben... Bitte helfen sie mir...“<br />

„Also dieser Candyman erscheint mir, wenn ich fünfmal vor<br />

dem Spiegel seinen Namen sage“, wiederholte Breyvogel und<br />

fasste den Entschluss, dass das Mädchen völlig den Verstand<br />

verloren haben musste. Belustigt sah er zu, wie Nancy mit<br />

Tränen in den Augen nickte und sagte dann: „Glauben Sie<br />

wirklich, dass das passieren wird, Miss?“<br />

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen und dann stand<br />

Breyvogel auf und sagte bestimmt: „Ich werde Ihnen jetzt mal<br />

beweisen, dass das, was sie mir hier gerade erzählen, alles<br />

großer Mist ist. Und ich bin mir gerade ziemlich sicher, dass<br />

sie völlig am Zeiger drehen. Aber egal!“ Mit diesem Worten<br />

zog er Nancy an den Schultern von ihrem Stuhl hoch und<br />

deutete auf den Spiegel, der am anderen Ende des Raums hing.<br />

„Sie werden sehen, dass es nichts gibt, vor das Sie sich<br />

fürchten brauchen, außer sich selbst!“ Dann schob Breyvogel<br />

Nancy vor sich her und nahm sie zu dem großen Spiegel.<br />

Nancy protestierte und bekam es jetzt mit der Angst zu tun.<br />

Wieso glaubte ihr der Mann nicht. Gleich würde er eine große<br />

Dummheit begehen, dass war sicher....<br />

„Glauben Sie mir. Officer!“, beteuerte Nancy und sah ihrem<br />

schluchzenden Spiegelbild entgegen. „Ich sage die Wahrheit!<br />

Tun Sie das nicht... Sie machen einen großen Fehler!“<br />

Breyvogel ignorierte sie und sagte dann mit deutlicher Stimme:<br />

„Candyman!“ Als Nancy seinen Namen hörte, stieg ihr<br />

Herzschlag an und sie spürte, dass ihr Atem schneller ging.<br />

„Candyman!“<br />

„Bitte... Machen Sie das nicht“, warnte Nancy den Mann, doch<br />

er genoss das alles viel zu sehr. Es machte ihm Spaß, sie vor<br />

Angst zittern und leiden zu sehen!<br />

„Candyman!“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er<br />

151


wiederholte den Namen ein viertes Mal: „Candyman...“<br />

„Nicht“, rief Nancy, doch Breyvogel hielt sie weiter fest. „Er<br />

wird kommen und er wird....“<br />

Doch Breyvogel beachtete ihre flehentlichen Warnungen gar<br />

nicht und blickte entschlossen in den Spiegel. Er würde es ihr<br />

schon zeigen, dass sie verrückt war und dann sagte er ohne<br />

auch nur eine Sekunde zu zögern: „Candyman“<br />

Seine Stimme verhallte und Nancy schloss ihre Augen. Jetzt<br />

war es zu spät und Breyvogel hatte Candyman gerufen und<br />

somit ein Unheil herbeigerufen, dass unabweislich war. Er<br />

hatte...<br />

Weiter konnte Nancy den Gedanken nicht mehr führen, als ein<br />

unmenschlicher Schrei aus Arnolds Kehle drang und er den<br />

Griff um ihre Schultern schlagartig löste. Gurgelnde Laute<br />

kamen aus Breyvogels Mund und Nancy sah, wie die Spitze<br />

von <strong>Candymans</strong> Fleischerhaken durch Breyvogels weißes<br />

Hemd an seinem Bauch hervor trat. Blut breitete sich auf<br />

seinem Hemd aus und dann riss Candyman mit einem kräftigen<br />

Ruck seine Hakenhand nach oben und Nancy sah entsetzt, wie<br />

Candyman Breyvogel in der Mitte aufschlitzte. Blut spritze<br />

hervor und die rot gefärbte Spitze des Hakens durch<br />

Breyvogels schnitt von unten nach oben bis zu Breyvogels<br />

Brust. Erst als der Haken zwischen Arnolds Schlüsselbeinen<br />

angelangt war, ließ Candyman von dem vor Schmerz und<br />

Entsetzen schreienden Mann ab, dessen Gesicht wie gelähmt<br />

war und Nancy mit weit aufgerissenen Augen anblickte. Mit<br />

einem kräftigen Ruck riss Candyman den Haken wieder aus<br />

Breyvogels Körper hervor und hunderte kleiner Spritzer Blut<br />

spritzen auf die klare Spiegelscheibe. Blut regnete auf Nancys<br />

Gesicht herab und sie musste aussehen, wie die mit Blut<br />

bespritzte Braut aus Quentin Tarantinos Rache-Epos Kill Bill.<br />

Entsetzt schrie sie auf und sah das Blut, dass ihr Gesicht<br />

152


herunter lief. Die Leiche des toten Polizisten klappte<br />

zusammen und als sie polternd mit dem Gesicht voran in eine<br />

Blutpfütze zu Boden fiel, sah Nancy den Candyman, wie er mit<br />

seiner blutigen Hakenhand da stand und seine Augen funkelten<br />

gierig. Es war ein Ausdruck, den Nancy noch nie an Candyman<br />

gesehen hatte und dieser Ausdruck machte ihr unbeschreibliche<br />

Angst. Dann trat der dunkle Mann von seinem<br />

unbeschreiblichen Werk zurück und ein Lächeln, dass nur<br />

Nancy galt, huschte über seine ernsten Züge. Noch bevor die<br />

Tür aufgestoßen wurde, sah Nancy, wie Candyman verschwand<br />

und sie hätte ihm beinahe nachgerufen.<br />

Als sie sah, wie drei Polizisten, unter ihnen Chris Stonehill,<br />

hereingestürmt kamen, wusste sie, was jetzt geschehen würde.<br />

Sie dachten, sie hätte den Mann getötet, doch das stimmte<br />

nicht. Schließlich war es Candyman gewesen... Hinter sich<br />

konnte Nancy die erschreckten Rufe der Polizisten hören und<br />

es wäre vergebliche Mühe, ihre Unschuld zu beteuern.<br />

Lieutenant Stonehill rief mit lauter Stimme zu Nancy herüber:<br />

„Bleiben Sie da, wo Sie sind! Nicht bewegen!“<br />

Doch Nancy hörte nicht auf ihn. Sie musste von hier weg,<br />

bevor alles noch schlimmer wurde. Bevor man sie für die<br />

anderen Morde von Candyman auch noch verantwortlich<br />

machen würde. Weitere Rufe drangen an ihr Ohr und sie rannte<br />

los. Sie wollte weglaufen und den Polizisten entkommen. <strong>Das</strong><br />

war ihre einzige Möglichkeit, die ihr geblieben war und<br />

deshalb lief sie geradewegs zu der zweiten Tür des Büros ohne<br />

auf die Schreie und Befehle der Polizisten zu achten, die<br />

gedämpft bei ihr ankamen. Krachend schlug Nancy die Tür auf<br />

und lief den Flur hinab, wobei sie einen Mann mit mehreren<br />

Aktenordnern in den Händen zu Boden stieß, der all die<br />

Papiere fluchend auf den Fußboden fallen ließ.<br />

153


„Sie da, stehen bleiben!“; bellte eine laute Stimme und Nancy<br />

rannte weiter. Schwer atmend erreichte sie die Treppe und<br />

hinter ihr konnte sie die polternden Schritte ihrer Verfolger<br />

hören. Nur noch die Treppe herunter, sagte sie sich, dann hast<br />

du einen Vorteil gewonnen...<br />

Ihre Füße flogen in Eiltempo die Stufen herunter und auch<br />

wenn sie schneller war, als ihre Verfolger schien der Abstand<br />

zwischen Nancy und den Polizisten immer kleiner zu werden.<br />

Am Ende der Treppe angekommen, drehte Nancy so schnell<br />

um, dass sie sich am Geländer festhalten musste, um nicht<br />

auszurutschen und riss dabei eine dunkelhaarige Frau um, die<br />

mit einem Schmerzensschrei auf den Boden fiel und stöhnend<br />

liegen blieb. Ohne sich umzudrehen lief Nancy weiter und<br />

hörte Chris Stonehill hinter ihr herrufen. Trotz schmerzhaftem<br />

Seitenstechens versuchte Nancy noch schneller zu laufen und<br />

sie musste feststellen, dass der Mann, der sie verfolgte, ein<br />

ziemlich schneller Läufer war. Es würde nicht mehr lange<br />

dauern, bis er sie erreicht hatte, fuhr es Nancy durch den Kopf<br />

und sie konnte den Mann hinter ihrem Rücken schnaube hören.<br />

„Stehen bleiben!“, befahl er ein weiteres Mal und dann nahm<br />

er Anlauf. Er war jetzt so nah, dass er Nancy erreichen konnte<br />

und riss sie mit voller Wucht zu Boden. Jetzt hatte er sie und<br />

Nancy schrie auf, als sie unter dem Gewicht des großen<br />

Polizisten zu Boden gerissen wurde. Eisern hielt er sie fest und<br />

auch wenn Nancy versuchte, sich angestrengt aus seinen<br />

Griffen zu befreien, wusste sie; es war vorbei...<br />

„Sie sind krank!“, verkündete Stonehill mit strenger Stimme<br />

und drückte Nancy zu Boden. „Und hören Sie auf,<br />

wegzulaufen. Sie brauchen Hilfe und das dringend!“<br />

154


4.Zwischenspiel<br />

Der Tod des Daniel Robitaille<br />

Langsam ging Mohin den Weg entlang, der knapp oberhalb des<br />

Flussbetts entlang-führte und er wusste, dass heute schlimmes<br />

geschehen würde. Seine Vorahnung hatte es ihm gesagt und<br />

dieses Gefühl, dass er zu Zeiten hatte, ließ ihn selten im Stich.<br />

Mohin war ein alter Mann, dessen Eltern von indianischer<br />

Herkunft waren. Man konnte die indianischen Züge in seinem<br />

alten, von Falten durchzogenem Gesicht immer noch gut<br />

erkennen und bereits das hatte ihm sein Leben schon immer<br />

nicht leicht gemacht. Die Leute mochten hier keine Leute<br />

indianischer Herkunft und dazu kam noch, dass sich die Leute<br />

vor ihm fürchteten. Sie hatten Angst davon, was er oben in<br />

seiner einsamen Hütte im Wald tat und in der Stadt munkelte<br />

man von dunklen Künsten, die er dort oben fabrizierte...<br />

Als Mohin am alten Sägewerk vorbei ging, konnte er dort<br />

unten entsetzliche Schreie hören und Mohin wusste, dass dort<br />

etwas schreckliches geschehen musste. Langsam näherte er<br />

sich dem Sägewerk und die Schreie hörten nicht auf.<br />

<strong>Das</strong> alte Sägewerk war schon immer ein böser Ort gewesen,<br />

das wusste Mohin. Hier waren schreckliche Dinge geschehen<br />

und das schon lange bevor es das Sägewerk überhaupt gegeben<br />

hatte. Seine Vorfahren hatten gesagt, dass die Erde, auf dem<br />

das teilweise bereits Sägewerk stand, verdorben war und das<br />

schon seit hunderten von Jahren. An diesem Ort hatten die<br />

Indianer Cantchu-Hityct-Stamms die Überreste ihrer Toten<br />

vergraben, die sie im langen Hungerwinter gegessen hatten, um<br />

nicht zu verhungern, nachdem sie Wendigo berührt hatte und<br />

an diesem Ort war während der Revolution ein schreckliches<br />

155


Blutbad angerichtet worden, bei dem unzählige Soldaten auf<br />

beiden Seiten ihr Leben gelassen hatten. Hier, genau dort, wo<br />

Mohin stand, war das Versteck des Kindermörders von Boston<br />

1832 entdeckt worden und er war auch genau an der Stelle von<br />

der wütenden Menge erhängt worden...<br />

Hier waren schreckliche Dinge geschehen und Mohin wusste,<br />

dass der Ort hier verdorben war. Dunkle Gefühle stiegen in ihm<br />

auf und der Ort machte dem alten Mann Angst. Dann zuckte er<br />

zusammen, als er weitere, lang gezogenen Schreie vernahm.<br />

Bienen summten durchdringend in dem alten Haus und Mohin<br />

erinnerte sich daran, dass es im alten Sägewerk, seitdem es<br />

verlassen war, viele Bienenstöcke geben sollte.<br />

Männerstimmen ertönten schallend und dann war auf einmal<br />

Stille. Die Schreie hatten aufgehört und Mohin hörte, wie sich<br />

dort drinnen Leute bewegten. Eine Tür wurde aufgestoßen und<br />

schnell versteckte sich Mohin hinter einem alten Stapel<br />

Holzscheite, der nie zu Brettern verarbeitetet wurde. Die<br />

Männerstimmen kamen näher und Mohin wusste, wer das war.<br />

Es war Bill Denners und seine Gang. Mohin wusste, das es<br />

eine gute Entscheidung gewesen war, sich zu verstecken, denn<br />

er hatte bereits mehrere Male Bekanntschaft mit diesen<br />

Raufbolden gemacht, die sich gerne einen Spaß daraus<br />

machten, einen armen alten indianischen Mann durchs die<br />

halbe Stadt zu prügeln. Vorsichtig spähte der alte Mann aus<br />

seinem Versteck hervor und beobachtete, wie der strohblonde<br />

Hüne aus dem verfallenen Sägewerk kam und hinter ihm<br />

kamen seine Freunde, die einen leblosen Körper trugen. Als<br />

Mohin den reichen Adligen Adrien Robertson in ihren Reihen<br />

sah, erschrak er für kurze Zeit: Was machte ein so angesehener<br />

Mann wie Mr. Robertsons in der Begleitung dieser drei<br />

Schläger. Wahrscheinlich würde Mohin es nie erfahren, aber er<br />

sah, wie der reiche Mann Bill Denners ein kleines Bündel<br />

156


Geldscheine in die Hand drückte und sagte: „Gute Arbeit,<br />

Jungs. Ihr habt es diesem verdammten Nigger echt gezeigt!<br />

Werft die Leiche irgendwo in die Büsche, damit man ihn nicht<br />

so schnell findet!“<br />

„Okay Boss“, ertönte die stumpfsinnige Stimme des Schlägers<br />

und Mohin hörte, wie das dumpfe Geräusch ertönte, als der<br />

Körper, den die beiden anderen Männer getragen hatten, zu<br />

Boden fiel. „Jetzt lasst und hier verschwinden“, sagte einer der<br />

Kerle zu den anderen. „Ich kann erst mal ein Bier vertragen!“<br />

Mohin hörte, wie sich die Männer entfernten und als er sich<br />

sicher war, dass sie weg waren, schlich der alte Mann aus<br />

seinem Versteck hervor. Schnell eilte er zu dem toten Körper<br />

hin und drehte ihn um, dass er das Gesicht des Toten sehen<br />

konnte. Als er den Toten betrachtete, erkannte er Daniel<br />

Robitaille und sein Herz wurde von Trauer erfüllt. Daniel war<br />

immer ein guter Mann gewesen und niemand hatte so einen<br />

Tod verdient. Die Männer hatten ihm in dem alten Sägewerk<br />

die rechte Hand abgesägt und ihn tot geschlagen. Blut befleckte<br />

Daniels weißes Hemd und Mohin sah, dass sein Körper zum<br />

Teil mit Honig bestrichen war, den die vielen Bienen,d die es<br />

hier gab, auf schleckten. Diese Männer hatten Robitaille brutal<br />

und kaltblütig ermordet, fuhr es Mohin durch den Kopf und er<br />

wollte etwas für den Toten tun. Etwas letztes, das ihm die<br />

Gelegenheit geben könnte, sich an seinen Mördern zu rächen.<br />

Schließlich kannte Mohin die geheimen alten Worte, mit denen<br />

seine Urahnen ihre Toten zurück geholt hatten. Und dieser Ort,<br />

der von Wendigo berührt worden war, war der perfekte Platz<br />

für die alte. Indianische Beschwörung...<br />

Langsam ging Mohin zu dem alten Baumstumpf auf dem er<br />

Mr. Robertsons teuren, langen Mantel sah, dessen schwarzer<br />

157


Stoff mit großzügigem Nerz ausgekleidet war und legte dem<br />

toten Robitaille den Mantel um. „Du sollst zurückkehren<br />

dürfen!“, begann Mohin die Beschwörungsformel seiner<br />

Urahnen und er spürte, wie der böse Geist Wendigos durch<br />

seine Fingerspitzen floss, um dem toten Mann seinen<br />

Rachegeist einzuhauchen. Dieser Tag war der Tag, an dem<br />

Mohin den größten Fehler seines Lebens machte und als der<br />

Geist Wendigos in Robitailles Körper fuhr, verdarb er<br />

Robitaille für immer....<br />

158


25.Kapitel<br />

Vorboten des Wahnsinns<br />

Die <strong>Das</strong> St. Durma-Institut war eine Nervenklinik, in der zum<br />

größten Teil kriminelle Straftäter, die für geistig<br />

unzurechnungsfähig erklärt worden waren, behandelt wurden.<br />

Wenn man sich die Patientenliste ansehen würde, würde man<br />

sehen, dass es sich bei der Hauptzahl der Patienten um<br />

Straftäter handelte, die vor allem wegen Gewaltverbrechen vor<br />

Gericht gelandet waren und für geistig unzurechnungsfähig<br />

erklärt worden waren. Die Klinik war trotz ihrer oft<br />

aggressiven oder gewalttätigen Patienten eine sehr angesehene<br />

Institution, da zum einen die Ausstattung dank mehrerer<br />

Wohltäter, denen die Lage der geistig Kranken sehr am Herz<br />

gelegen war, sehr gut und auf modernstem Zustand und zum<br />

anderen galten die Behandlungsmethoden und angestellten<br />

Ärzte als äußerst effektiv und modern. Die gesamte<br />

Einrichtung war auf sehr hohem Stand und auch wenn die Lage<br />

nicht besonders gut war, da direkt in der Stadt war, wurde das<br />

Institut von allen Seiten für seine hervorragende Arbeit mit<br />

psychisch Kranken gelobt.<br />

Doch auch die vielen Auszeichnungen, die die Klinik<br />

vorzuweisen hatte und all die modernen Methoden der<br />

Behandlung halfen Nancy nicht darüber hinweg, dass sie in<br />

einer Klinik eingesperrt war und all die Vorwürfe, die man ihr<br />

machte, falsch waren. Man hatte sie zur Beobachtung ins St.<br />

Durma-Institut gebracht, die eine Begutachtung über den<br />

Zustand ihrer geistigen Gesundheit machen sollten. Seit drei<br />

Tagen war Nancy schon hier und all die sterilen Gänge und die<br />

Ärzte in ihren weißen Kitteln, die sich mit ihr unterhalten<br />

wollten und denen sie immer wieder die selbe Geschichte über<br />

159


Candyman erzählen sollte, auch wenn Nancy wusste, dass<br />

diese Psychiater mit ihren strahlend weißen Kitteln und<br />

Klemmbrettern ihr ohnehin nicht glaubten.<br />

Seit drei Tagen war Nancy nun schon in Behandlung und jedes<br />

mal, wenn ein weiterer Arzt zu ihr kam, der mit ihr redete,<br />

begann sie jedes mal ein klein wenig mehr an ihrem eigenen<br />

Verstand zu zweifeln. Aber das konnte schließlich nicht sein,<br />

denn sie hatte Candyman ja gesehen. Sie hatte ihn gesehen,<br />

aber immer nur sie. Für die anderen war er immer unsichtbar<br />

gewesen... Wieso? Wenn er sich doch nur noch ein einziges<br />

Mal melden würde und ein einziges weiteres mal mit ihr<br />

sprechen würde.<br />

Doch Candyman war still geblieben. Nancy hatte ihn nicht<br />

mehr gesehen, seitdem er Arnold Breyvogel aufgeschlitzt hatte;<br />

nicht, wenn sie an dem kleinen Spiegel stand, der in ihrem<br />

Zimmer stand, nicht, wenn sie sich in den letzten Nächten<br />

schlaflos auf dem kleinen Bett gewälzt hatte, dass man ihr in<br />

der Zelle zur Verfügung stellte und auch nicht in ihren<br />

Träumen, die sie in den wenigen Stunden Schlaf hatte, die sie<br />

finden konnte. Es war so, als wäre er verschwunden...als hätte<br />

Candyman sie verlassen...<br />

Dabei wäre es das einzige, was Nancy doch von ihrer eigenen<br />

geistigen Gesundheit überzeugen konnte, wenn sie Candyman<br />

wieder sehen würde. Solange er nicht da war, blieb ihr nur die<br />

Ungewissheit...<br />

Der Pfleger, der sie den langen Korridor entlang führte, zog<br />

Nancy grob mit sich und sie hörte die Stimmen der anderen<br />

Leute auf dem Gang undeutlich. Schnell flogen die Türen an<br />

ihr vorbei und während der Pfleger sie mit sich zerrte und sie in<br />

ihren Gedanken gefangen war, kam ihr alles wie in einem<br />

160


Traum vor. Ihre Füße gehorchten ihr von selber und ihre<br />

weißen Turnschuhe, die man ihr gegeben hatte, traten leise auf<br />

dem sauberen Boden auf. Stimmengewirr kam ihnen entgegen<br />

und ein Mann, der in einem Bett lag und mehrere Schläuche<br />

am Arm hatte, wurde an Nancy vorbei geschoben. Sie merkte,<br />

wie Pfleger und Ärzte sie ansahen und Nancy wusste, dass man<br />

sie hier für eine Mörderin hielt, auch wenn sie unschuldig war.<br />

Ein Wagen mit Bettwäsche wurde vorbei gefahren und dann<br />

sah Nancy auf einmal, wie die Gestalt des <strong>Candymans</strong> hinter<br />

einer Ecke hervor kam. Niemand schien ihn sehen zu können<br />

und Nancy blickte ihn und sein groteskes Aussehen, welches<br />

für die anderen Leute außer Nancy unsichtbar blieb, war<br />

untragbar für Nancy. Tonlos sagte sie: „Da, da ist Candyman!<br />

Sehen Sie nur, er ist da drüben...“<br />

Candyman lächelte ihr kurz zu und auch wenn sich Nancy in<br />

den letzten Tagen immer gewünscht hatte, ihn zu sehen, nur um<br />

ihre geistige Gesundheit für sich selbst bestätigt zu sehen, war<br />

sein Erscheinen wie eine Beleidigung für sie. Er verlachte sie,<br />

indem er ihr die letzten Reste ihres Verstands zu zerschmettern<br />

versuchte, dachte Nancy und dann zerrte der Pfleger sie weiter.<br />

Er hatte sie gehört, doch schenkte er ihren Worten keine<br />

Beachtung: „Klar ist er da! Und jetzt komm endlich mit!“<br />

Unsanft packte er Nancy an der Hand und sie beobachtete noch<br />

aus dem Augenwinkel, wie der dunkle Mann hinter der Ecke<br />

wieder verschwand.<br />

„Der Arzt wartet bereits auf Sie“, erklärte der Pfleger Nancy<br />

und öffnete die Tür auf der rechten Seite des Gangs. Ohne sich<br />

zu sträuben ließ sich Nancy von dem Mann im weißen Kittel in<br />

das Zimmer hineinschieben und dort sah sie einen Schreibtisch,<br />

welcher mit Papieren bedeckt war. Eine schmale Couch stand<br />

auf der anderen Seite des Raums und durch die Fenster konnte<br />

161


Nancy die Akazienbäume von draußen sehen, die die<br />

Grünanlage verzierten und über die traurige Tatsache, dass es<br />

sich hier um ein Irrenhaus handelte, hinweg täuschen sollten.<br />

Ein Mann mit braunen Haare, die an den Schläfen bereits<br />

ergrauten und einer schwarzen Brille erhob sich von dem<br />

Schreibtisch und ging auf Nancy und den Pfleger zu, der sie am<br />

Arm festhielt. Am Arm des Arztes sah Nancy eine teuer<br />

aussehende Armbanduhr und sein Kittel war glänzend weiß.<br />

Auf seinem Namensschild konnte sie lesen: Evan Wyzer. Der<br />

Arzt lächelte kurz und gab dem Pfleger zu verstehen, dass er<br />

jetzt gehen könne. Nancy führte er zu dem Stuhl neben dem<br />

Schreibtisch und als Nancy sich niedersinken ließ, konnte sie<br />

hören, wie der Pfleger dem Arzt etwas zuflüsterte.<br />

Wahrscheinlich erzählte er ihm gerade, dass Nancy auf dem<br />

Gang angeblich dem Candyman gesehen hatte und das würde<br />

ihre Situation auch nicht mehr besser machen.<br />

Als der Pfleger gegangen war, setzte sich Wyzer gegenüber von<br />

Nancy an den Schreibtisch und warf einen Blick auf den<br />

Computerbildschirm, auf dem er alle Details zu Nancy lesen<br />

konnte, die er von der Polizei und seinen Kollegen bekommen<br />

hatte, die die junge Frau in den letzten drei Tagen untersucht<br />

hatten. Er stellte sich Nancy vor und sagte: „Guten Tag, Miss.<br />

Ich bin Dr. Wyzer. Früher hieß ich bloß Wyze, aber jetzt bin ich<br />

älter und Wyzer...!“<br />

Lächelnd blickte er Nancy an und er hatte vermutlich gedacht,<br />

dass er somit die triste Stimmung auflockern konnte, die Nancy<br />

die letzten Tage schweigen ließ. Doch die junge Frau, die ihm<br />

gegenüber saß und die Hände unruhig auf die Armlehnen des<br />

Stuhls legte, verzog keine Mine. Nancy war jetzt wirklich nicht<br />

in der Stimmung, irgendetwas lustig zu fingen und deshalb fuhr<br />

der Psychiater fort: „Sie haben meinen Kollegen bereits vom<br />

Candyman erzählt und auch eben hat mir mein Kollege, der sie<br />

162


zu mir begleitet hat, erzählt, dass sie auf dem Gang den<br />

Candyman begegnet sind. Wollen Sie mir vielleicht<br />

irgendetwas über ihn erzählen?“<br />

„Es gibt nichts, was ich noch nicht gesagt habe, Doktor“,<br />

verschloss sich Nancy. „Und übrigens glauben Sie mir ja<br />

ohnehin nicht...“<br />

„<strong>Das</strong> habe ich nie gesagt“, verteidigte sich Wyzer und sagte<br />

dann freundlich: „Wissen Sie, es ist wichtig, dass sie mir alles<br />

erzählen, was Sie auf dem Herzen haben und nur so können wir<br />

Ihnen auch helfen. Wenn Sie mir nichts erzählen wollen, dann<br />

wird es für mich schwierig...“<br />

Gerade klang das für Nancy so, als redete der Mann mit einem<br />

kleinen Mädchen und nicht mit einer erwachsenen Frau und<br />

deshalb ließ sie den Kopf sinken. Dieser Psychiater hielt sie<br />

wirklich für wahnsinnig, daran hatte Nancy jetzt keinen<br />

Zweifel mehr.<br />

„Ich möchte wissen, ob sie sich von ihm verfolgt<br />

werden“,sagte der Arzt und schrieb etwas auf der Tastatur.<br />

Nancy beobachtete, wie seine schlanken Finger über die Tasten<br />

rasten und antwortete dann: „Ich weiß es nicht. Manchmal<br />

kann ich ihn sehen und manchmal nicht. Aber ich habe das<br />

Gefühl, dass er mich beobachtet. Als würde er mir folgen und<br />

jeden meiner Schritte sehen können.“<br />

Nancy sagte die Wahrheit, da sie schließlich keine andere Wahl<br />

hatte. Was würde es bringen, wenn sie den Mann jetzt anlügen<br />

würde?<br />

„Sie fühlen sich also manchmal verfolgt!“, wiederholte Wyzer,<br />

während er weiter schrieb und fragte dann: „Sind Sie jemals<br />

Opfer von Stalking Attacken gewesen...?“<br />

Erst war Nancy erschreckt über die Frage, denn schließlich<br />

hatte das nichts mit dem Candyman zu tun. Was sollte diese<br />

Frage.<br />

163


„Warum fragen Sie mich das?“, wollte Nancy wissen und der<br />

Arzt antwortete ihr: „Solche Erfahrungen können uns prägen<br />

und manchmal werden derartige Erfahrungen und<br />

Erinnerungen in unserem Geiste wiederholt und oftmals kann<br />

es dabei passieren, dass Leute, die, ich sage jetzt mal,<br />

psychisch labil sind, sich dabei etwas einbilden. Sehen Sie,<br />

diese Einbildungen, in ihrem Fall Candyman, sind dabei nur<br />

ein Produkt Ihrer Fantasie, dass entsteht, während Ihr Geist,<br />

alte Ängste verarbeitet.“<br />

„<strong>Das</strong> ist doch Blödsinn“, entfuhr es Nancy. „Ich bin niemals<br />

Opfer von... <strong>Das</strong> ist völliger Blödsinn!“<br />

„Okay“, meinte der Arzt, schrieb etwas auf und fuhr dann fort:<br />

„Nächste Frage: Wann sehen Sie diesem Mann, Candyman?<br />

Sehen Sie ihn immer, sehen Sie ihn in ihren Träumen oder<br />

wenn Sie schlafen?“<br />

Die Frage traf Nancy unerwartet, denn es kam ihr so vor, als<br />

wüsste der Psychiater bereits alles und würde sie nur ausfragen,<br />

damit er noch mal alles aus ihrem Mund hörte. Zuerst zögerte<br />

sie und antwortete dann: „Ich hatte oft Alpträume, in denen<br />

Candyman vorkam!“<br />

„Träume sagen Sie“ Der Arzt sah Nancy über den Rand seiner<br />

schwarzen Brille an: „Sie wissen sicher, dass Träume viel über<br />

uns aussagen können. Über uns und unser Unterbewusstsein,<br />

das wir manchmal zu verstecken versuchen. Oftmals kann man<br />

ein unterdrücktes Unterbewusstsein an den Träumen erkennen.<br />

Wünsche und Verlangen, die wir uns nicht verwirklichen<br />

können oder wollen, tauchen oft in unseren Träumen wieder<br />

auf und deshalb möchte ich Ihnen einige weitere Fragen über<br />

diese Träume stellen, von denen Sie mir erzählt haben. Wenn<br />

Sie von Candyman träumen, was hat er dann für eine Wirkung<br />

auf Sie? Finden Sie ihn erschreckend und abstoßend? Ist er in<br />

ihren Träumen wie ein guter Freund... oder finden Sie ihn in<br />

164


ihren Träumen, die sie nachts heimsuchen, vielleicht auch<br />

faszinierend, erotisch anziehend?“<br />

Als Nancy die Frage hörte, wurde ihr flau im Magen und sie<br />

wollte eigentlich nicht auf diese Frage antworten. Sie wusste<br />

die Antwort selber nicht wirklich: Candyman machte ihr Angst<br />

und vieles an ihm war abstoßend und grässlich. Zum anderen<br />

war er auf eine seltsame Weise anziehend. <strong>Das</strong> <strong>Verbotene</strong>, das<br />

ihn umgab, machte ihn für Nancy unglaublich faszinierend und<br />

das war es gewesen, dass sie dazu geleitet hatte, sich nackt vor<br />

den Spiegel zu stellen und ihn zu rufen. Und auch wenn sie es<br />

nicht wahrhaben wollte, musste sich Nancy eingestehen, dass<br />

sie sich selbst einige Male bei dem Gedanken ertappt hatte, wie<br />

es sein müsste, mit Candyman zu schlafen...<br />

„Ich kann auf diese Frage nicht wirklich antworten“, gab<br />

Nancy zu und noch bevor sie ihre Blicke zu Boden wenden<br />

konnte, sagte der Arzt: „Versuchen Sie es; das könnte ein<br />

entscheidender Hinweis sein. Sonst können wir Ihnen nicht<br />

helfen...“<br />

„Ich finde Candyman zum einen abstoßend und zum anderen<br />

faszinierend!“, gestand Nancy und ein unwohles Gefühl kam<br />

über sie. Es war nicht richtig, diesem Mann alles zu erzählen,<br />

das was sie selbst vor ihrer besten Freundin und sogar vor sich<br />

selbst zu verheimlichen versucht hatte. Doch sie konnte nicht<br />

anders und aus ihrem Mund sprudelte die Antwort auf die<br />

Frage des Arztes wie ein Geständnis. „<strong>Das</strong> <strong>Verbotene</strong>, das ihn<br />

umgibt, macht Candyman so seltsam anziehend. Er sagte, dass<br />

er all meine Wünsche erfüllen könne und Träume wahr machen<br />

könne, die niemand für möglich halten würde!“<br />

Als Nancy zu Ende geredet hatte, blickte Wyzer zuerst auf<br />

seine Aufzeichnungen und nach einer von Nancy geschätzten<br />

165


Minute, die bereits seit ihrer Verhaftung so ziemlich jedes<br />

Zeitgefühl verloren hatte, sagte der Psychiater schließlich. „Ich<br />

denke, dass wir uns mit Ihren Träumen weiter beschäftigen<br />

sollten. Ich möchte, dass sie diese Nacht in unserem Labor<br />

schlafen und dass man sie nach der Scann-Hypothese<br />

untersucht. Dabei werden wir in der Lage sein durch moderne<br />

Technik über Verbindungen mit den Nervenbahnen etwas über<br />

ihre Träume herauszufinden. Man wird Ihnen noch genaues<br />

darüber erklären!“<br />

Nancy hatte gerade ein Bild vor ihren Augen, das zeigte, wie<br />

sie schlief, mit unzähligen Kabeln und Elektroden an Armen<br />

und Beinen, während lauter Ärzte um sie herum standen und<br />

technische Apparate piepsten.<br />

„Vielleicht wird und das einen entscheidenden Hinweis geben<br />

können!“<br />

166


26.Kapitel<br />

Traumanalyse<br />

Es waren einige Stunden vergangen und auch wenn in der<br />

Nervenheilanstalt St. Durma vierundzwanzig Stunden Schicht<br />

herrschte, waren die Gänge um einiges leerer, als Nancy an<br />

diesem Abend zu Dr. Wyzer geführt wurde. Draußen donnerte<br />

es leise in der Entfernung und Nancy beobachtete die Leute,<br />

die durch die Korridore liefen und an ihr und dem Pfleger, der<br />

sie am Arm führte, vorbei hetzten. Nachdem sie mehrere lange<br />

Korridore und Treppen hinter sich gelassen hatten, führte man<br />

Nancy in das Labor, das über technisch äußerst aufwendige<br />

Gerätschaften verfügte, die eine sehr große Menge Geld<br />

gekostet hatten. Mehrere in weiße Kittel gekleidete Ärzte<br />

waren anwesend und auch wenn Nancy Dr. Wyzer nirgends<br />

erkennen konnte, wurde sie zu dem Bett geführt, welches sich<br />

in der Mitte des quadratischen Raums befand. Doch bevor sich<br />

Nancy hinlegen sollte, wurden ihr von mehreren Ärzten<br />

Elektroden an den Armen und Beinen befestigt wurden. Die<br />

Elektroden hielten mithilfe eines kleinen Saugnapfs, der sich<br />

an Nancys Haut festsaugte und Nancy war sich ziemlich sicher,<br />

dass sie am nächsten Tag lauter kleine rote Blutergüsse am<br />

Körper haben würde, nämlich genau da, wo die Elektroden<br />

geklebt hatten. Als sich Nancy hinlegte, befestigten die Ärzte<br />

insgesamt vier dünne Kabel an ihren Armen und diese Kabel<br />

führten zu einem Gerät, welches Nancys Herzschlag und<br />

Nervenwerte aufzeichnete. Momentan zeigte das Gerät völlig<br />

normale Werte an, vielleicht abgesehen davon, dass die Werte<br />

etwas in die Höhe gestiegen waren, da Nancy am Anfang des<br />

Experiments aufgeregt war.<br />

„Seien Sie völlig beruhigt“, erklärte ein Mann Nancy, während<br />

167


er die Kabel überprüfte, die Nancy mit dem Computer<br />

verbanden. „Sie werden jetzt hier ganz normal einschlafen und<br />

wir werden alles mitverfolgen, was sie in ihrem Traum erleben<br />

werden... Seien Sie völlige beruhigt!“<br />

Als Nancy eine gute halbe Stunde später die Augen schloss,<br />

begann das Gerät langsam und monoton zu fiepen.<br />

„Dr. Wyzer, sie ist jetzt eingeschlafen“, berichtete die<br />

Assistentin von Dr. Wyzer und reichte ihm das Klemmbrett,<br />

das sie unterm Arm trug. „Ich glaube, es funktioniert.“<br />

Dr. Wyzer und seine Assistentin waren beide in dem<br />

Nebenraum des kleinen Labors und beobachteten Nancy durch<br />

das Glasfenster, welches von der anderen Seite wie ein Spiegel<br />

aussah. Wyzer warf einen Blick auf den Computer-Display und<br />

notierte sich etwas. „Sieht alles so weit normal aus.<br />

Wahrscheinlich müssen wir erst auf die REM-Schlafphase<br />

warten, damit sich etwas tut!“<br />

Die Minuten verstrichen und Nancy schlief tief und fest.<br />

Niemand war mehr in dem Labor und ihr Atem ging langsam<br />

und regelmäßig. Manchmal zuckte sie im Schlaf kurz und jedes<br />

mal, wenn sie das tat, schreckte Wyzer zusammen, weil er<br />

dachte, jetzt würde sich seine Mühe für das Schlafexperiment<br />

auszahlen. Als Nancy schließlich doch anfing zu träumen,<br />

konnte Wyzer durch die Mikrophone, die Nancy beim Schlafen<br />

überwachten ein unwilliges Stöhnen hören, als würde jemand<br />

sie auf-wecken. Die junge Frau drehte sich zur anderen Seite<br />

und raschelte dabei mit der Bettdecke. Ihre Lieder flimmerten<br />

kurz und dann warf Dr. Wyzer einen Blick auf das Messgerät.<br />

Nichts geschah und er war jetzt ganz allein in seinem kleinen<br />

Büro. Alle anderen Ärzte waren weg und dann sah er, wie<br />

Nancys Werte ausschlugen. Ihr Herzschlag erhöhte sich rapide<br />

168


und wahrscheinlich würde man, wenn man neben ihr stehen<br />

würde, das Herz in ihrer Brust schlagen hören können. Schnell<br />

ließ Wyzer den Computer die Werte aufzeichnen und er wusste,<br />

dass diese Werte keine normalen Werte waren, nicht einmal für<br />

einen Alptraum.<br />

Eigentlich wusste er, dass er bei solchen ansteigenden Werten<br />

das Experiment abbrechen sollte, doch die wissenschaftliche<br />

Neugier hielt ihn davon ab. Dr. Wyzer wollte wissen, was diese<br />

Frau angetrieben hatte, diese Morde zu begehen und was sich<br />

hinter der Sache mit dem Candyman verbarg. Durch das<br />

Glasfenster beobachtete er, wie Nancy mehrere Male unruhig<br />

hin und her über die Matratze rolle und stöhnte. Die Bettecke<br />

raschelte und Wyzer sah, dass Nancy die Decke mit ihren<br />

Beinen zur Seite schlug.<br />

Schnell warf er einen Blick auf die Werte und jetzt stiegen sie<br />

nicht mehr. Sie blieben konstant auf einem Level und sie waren<br />

immer noch extrem hoch. Der Computer schrieb die Werte mit<br />

und während Dr. Wyzer auf sein Klemmbrett seine<br />

Beobachtungen notierte, brach Nancy während ihres Traums in<br />

Schweiß aus. Ihre Finger zuckten und Wyzer überlegte, ob er<br />

sich der träumenden Frau nähern sollte, um vielleicht noch<br />

mehr beobachten zu können. Doch er musste schließlich am<br />

Computer-Display sitzen bleiben und die Werte überwachen.<br />

Als Nancy schließlich im Schlaf aufschrie, zuckte Wyzer<br />

zusammen. Er konnte Nancy undeutlich protestieren hören und<br />

sie rief: „Candyman... Bitte!“<br />

Was sollte er jetzt tun, fragte sich Dr. Wyzer, sollte er das<br />

Experiment abbrechen und die junge Frau aufwecken oder<br />

sollte er das Risiko eingehen und Nancy weiter von Candyman<br />

träumen lassen. Er entschied sich dafür, Nancy nicht zu wecken<br />

und sie rief erneut irgendetwas laut und undeutlich. Es war laut<br />

genug, dass Dr. Wyzer es in seiner Kammer hören konnte und<br />

169


Nancy rief: „Bitte.... Bitte, Candyman...“<br />

Ihre Stimme zitterte und Wyzer konnte nicht sagen, was sie<br />

damit sagen wollte: fürchte sie sich vor Candyman oder waren<br />

das flehentliche Bitten...?<br />

Dann wachte Nancy mit einem letzten Aufschrei auf und sie<br />

fuhr aus dem Bett hoch. Ihre Haare klebten ihr im Gesicht und<br />

sie sah, wie Candyman über ihr schwebte. Wie das erste mal,<br />

als sie ihn gesehen hatte. Sein Körper war nur wenige<br />

Zentimeter über ihr und als er sich zu ihr herunter beugte,<br />

berührte er ihre Brüste mit seinen Schultern. Nancys Atem ging<br />

schnell und rasend und während sie Candyman ansah, spürte<br />

sie, dass er ihre Handgelenke festhielt und in die weiche<br />

Matratze drückte. Er öffnete den Mund, als wolle er sie küssen<br />

und sagte dann, mit seinem Gesicht weniger als eine Handbreit<br />

von ihrem entfernt: „Nancy, wir sind uns so nah, wie nie zuvor:<br />

Nicht mehr lang und wir werden zusammen vereint sein!“<br />

Schon lange konnte Nancy keinen klaren Gedanken mehr<br />

fassen und sie wusste nicht, ob ihr Herz vor Angst oder vor<br />

Erregung wie wild schlug. Candyman hielt sie fest und flüsterte<br />

ihr ins Gesicht: „Schon bald wirst du bei mir sein. Hör auf,<br />

dich zu wehren und gib dich dem <strong>Verbotene</strong>n hin... Ich habe<br />

Kräfte mit denen ich dir das geben kann, was du verdienst. Du<br />

wirst mit mir so glücklich werden, wie noch nie zuvor eine<br />

Frau gewesen ist... Und es ist nicht mehr weit... Du musst nur<br />

noch einen letzten Schritt gehen und zu mir kommen... Dann<br />

ist es endlich so weit, Nancy!!!“<br />

Candyman beugte sich jetzt ganz nach vorne und als er auf<br />

Nancy lag, drückte er ihr einen sanften Kuss auf die Stirn, der<br />

sich kalt und verboten auf Nancy Stirn anfühlte.<br />

Dann verschwand er in einem Schatten und als Nancy sah, wie<br />

Dr. Wyzer und seine Assistentin hinein liefen, brüllte sie voller<br />

170


Panik und Entsetzten: „Er ist unter dem Bett! Candyman ist<br />

unter dem Bett!“<br />

Schnell und geschickt griff Wyzer nach Nancys Handgelenk<br />

und fixierte es auf der Matratze. Er hatte lange genug<br />

zugesehen, wie die jungen Frau schreiend auf dem Bett gelegen<br />

hatte und ihre Hände hatten sich bewegt, als hätte ein<br />

unsichtbarer sie festgehalten und nach oben über ihre Schultern<br />

geschoben. Es hatte unheimlich ausgesehen und für Dr. Wyzer<br />

hatte es kurz so ausgesehen, als wäre Nancy von einer Art<br />

höheren Macht besessen. Sie hatte ausgesehen wie die kleine<br />

Regan in dem schockierenden Horrorklassikers der Exorzist,<br />

den Dr. Wyzer als Jugendlicher im Kino gesehen hatte. Doch<br />

hier, in dem kleinen Labor der Nervenklinik hatte das ganze<br />

noch um einiges beängstigender gewirkt, als in dem kleinen<br />

Kino seiner Heimatstadt, das er in den siebziger Jahren besucht<br />

hatte.<br />

„Geben Sie ihr ein Beruhigungsmittel, Schwester!“, befahl der<br />

Arzt seiner rothaarigen Assistentin, die die Plastikkappe über<br />

der Spritzennadel abzog, während er den linken Arm der<br />

protestierenden und sich wehrenden Nancy versuchte<br />

festzuhalten.<br />

„Schnell beeilen Sie sich“, rief Dr. Wyzer und während er<br />

Nancys Arm nach unten drückte, setze die Krankenschwester<br />

die Injektionsnadel an.<br />

„Gleich werden Sie sich besser fühlen“, versprach die<br />

Krankenschwester und drückte die Spritze nach unten. <strong>Das</strong><br />

Beruhigungsmittel schoss in Nancys Körper und entfaltete<br />

schnell seine Wirkung. Nancy hörte auf, sich zu wehren und<br />

Wyzer sah, wie ihre Glieder erschlafften. Eine schwere<br />

Müdigkeit überkam Nancy und noch bevor ihre Augen zu<br />

fielen, hatte sie den Candyman für diesen Moment vergessen.<br />

171


Erleichtert atmete Wyzer auf, als Nancys Kopf mit<br />

geschlossenen Augen auf das weiche Kissen zurück sank und<br />

er meinte: „Puhh, das hätte schief gehen können...!“<br />

26.Kapitel<br />

Unwiderstehliche Begierden<br />

Schon seit sie wieder in Dr. Wyzers Büro aufgewacht war,<br />

spürte Nancy die Anwesenheit des <strong>Candymans</strong>. Sie wusste,<br />

dass er irgendwo hier da war und sie beobachtete. Er folgte ihr<br />

auf Schritt und Tritt und er würde sie sicher jetzt nicht mehr<br />

aus den Augen lassen. Es war schließlich nicht mehr lang hin...<br />

„Wir haben Ihren Traum analysiert“, sagte Wyzer mit<br />

sachlicher Stimme und Nancy saß ihm, wie am Vortag auf der<br />

anderen Seite des Schreibtisches gegenüber. Der Arzt hatte<br />

wieder sein Klemmbrett dabei und legte es vor sich auf die<br />

Tischplatte.<br />

„Und dabei haben wir einiges feststellen können.“ Doch<br />

während Dr. Wyzer redete, beachtete Nancy seine Worte kaum.<br />

Nur mit einem Ohr hörte sie den Worten des Psychiaters zu und<br />

ließ ihre Blicke nach draußen schweifen, wo sie die großen<br />

Bäume sah. Ein Windstoß fegte durch die Krone des großen<br />

Akazienbaums direkt am Fenster und es war beinah so, als<br />

könne Nancy Candyman spüren, als der kalte Windstoß Blätter<br />

mitriss und sie zu Boden segelten. Es war so, als würde Nancy<br />

seine kalte Umarmung spüren und seine Stimme schien zu<br />

flüstern: „Es ist nicht mehr lange hin, Nancy...“<br />

172


Als Nancy wieder zu Wyzer blickte, sagte er: „Wir mussten<br />

feststellen, dass ihre gesamten Werte während der Traumphase<br />

extrem angestiegen sind und zum größten teil bereits kritisch<br />

gewesen sind. Vielleicht sind Ihre Träume, die sie scheinbar<br />

stark zu belasten scheinen mitverantwortlich für ihre<br />

Einbildungen und Paranoia.“<br />

„Und was bedeutet das jetzt?“, fragte Nancy den Mann und er<br />

antwortete mit ernster Stimme: „<strong>Das</strong> wir Sie tatsächlich für<br />

geistig unzurechnungsfähig erklären müssen, Nancy... Es tut<br />

mir Leid, das sagen zu müssen, aber...“<br />

Weiter kam er nicht, denn Nancy flüsterte mit brüchiger<br />

Stimme und glänzenden Augen: „<strong>Das</strong> kann nicht sein... Ich bin<br />

nicht...“<br />

Dr. Wyzer schüttelte den Kopf und es kam Nancy so vor, als<br />

würde der Fußboden unter ihren Füßen wegbrechen. Sie schien<br />

in ein tiefes Loch zu fallen und schwarze Dunkelheit umgab<br />

sie. Nancy sah den Arzt, wie er sie anblickte und die grauen<br />

Augen hinter seiner Brille schienen durch sie hindurch zu<br />

blicken, als wäre sie gar nicht da. Geistig unzurechnungsfähig?<br />

<strong>Das</strong> war unmöglich.... Schließlich hatte sie Candyman doch<br />

gesehen. Er war real....<br />

Ein stummer Schrei entwich Nancys Lippen, als sie in die<br />

dunklen Tiefen fiel und alles um sie herum drehte sich. Es war<br />

unmöglich, zu bestimmen, wo oben oder unten war... Sie hatte<br />

die Kontrolle verloren und fiel....<br />

Dann spürte sie, wie sie jemand an der Hand packte, festhielt<br />

und als sie nach oben sah, sah sie, wie Candyman sie auffing.<br />

Er gab ihr Halt und zog sie aus der Dunkelheit, aus dem<br />

schwarzen Wasser, dass sich vor ihr auftat und rettete sie vor<br />

den dunklen Tiefen des Wahnsinns. Schon fast erleichtert<br />

173


atmete Nancy auf, als sie Candyman auf dem Fensterbrett<br />

stehen sah und wie er seinen Mantel hinter sich herzog, der im<br />

Wind flatterte. Er war gekommen, um sie zu holen, um sie zu<br />

retten. Candyman wollte sie vor dem Wahnsinn bewahren, der<br />

auf sie wartete und am liebsten wäre Nancy von ihrem Stuhl<br />

aufgesprungen und wäre Candyman um den Hals gefallen.<br />

Doch sie blieb sitzen und starrte ihn mit sehnsüchtigen Blicken<br />

an.<br />

Nancy beobachtete mit steigendem Puls und freudiger<br />

Erwartung auf Candyman, ihren Retter vor den schwarzen,<br />

dunklen Tiefen, die sie erwartet hätten, wie der dunkle Mann<br />

seinen rechten Arm hob und wie sein Haken in der am<br />

Horizont aufgehenden Sonne des frühen Morgens aufblitzte.<br />

Wyzer bemerkte Candyman gar nicht, als er hinter ihm den<br />

Arm anwinkelte, sodass seine Hakenhand im rechten Winkel<br />

zu seinen breiten Schultern stand und er betrachtete Nancys<br />

Gesicht, als der lange glänzende Fleischerhaken aus Stahl auf<br />

ihn zukam. <strong>Candymans</strong> Gesicht verzog sich zu einer Grimasse<br />

wie das Gesicht eines wilden Tieres und der Haken bohrte sich<br />

in Dr. Wyzers Hals. Ein Schwall dunkles Blut spritze hervor,<br />

als Candyman seine tödliche Hakenhand quer durch den<br />

verwundbaren Hals des Mannes zog und ihm mit einem<br />

heftigem Ruck die Kehle aufschlitzte. Nancy sah, wie rotes<br />

Blut auf die Papiere und Klemmbretter spritzte und die<br />

Zeugnisse ihrer geistigen Unzurechnungsfähigkeit mit Blut<br />

verdeckte.<br />

Ein erstickter und gurgelnder Schrei gellte aus Dr. Wyzers mit<br />

Blut gefülltem Mund, als Candyman ihn mit seiner Hakenhand<br />

nach oben aus seinem Stuhl hob und hellrotes Blut bespritzte<br />

den mit hellbraunem Nerz gesäumten Ärmel seines langen<br />

schwarzen Mantels. Wie ein Puppenspieler hielt Candyman den<br />

174


toten Körper des Arztes in seinem Arm und ließ ihn mit<br />

entsetzlich zitternden und zuckenden Gliedern durch die Luft<br />

tanzen. Dann sah Nancy, wie Candyman die geschundene<br />

Leiche von Dr. Wyzer wegschleuderte und wie der tote Körper<br />

mit einem dumpfen Poltern auf dem Boden aufschlug.<br />

Langsam ging Candyman auf den Schreibtisch zu und wie ein<br />

Windstoß fegte er die unzähligen Papiere, die sich auf der mit<br />

Blutspritzern befleckten Tischplatte türmten in alle Richtungen<br />

hin weg und beugte sich zu Nancy hinüber. „Bald sind wir<br />

wieder eins, Nancy! Komm zu mir, du weißt, wo du mich<br />

finden kannst und dann werden wir zusammen glücklich!“, rief<br />

er und streckte seine Hand nach Nancy aus. Mit zitternden<br />

Fingern ergriff Nancy die kräftige Hand des <strong>Candymans</strong> und er<br />

hielt ihre Hand in seiner fest. Seine Berührung war tröstlich,<br />

fand Nancy und sie wusste, dass Candyman sie gerettet hatte.<br />

Dank ihm war sie nicht wahnsinnig geworden... Er hatte ihr<br />

eine Alternative gegeben, ein kleines Schlupfloch, in das sie<br />

sich mit ihm zusammen verkriechen konnte und dort konnte sie<br />

mit ihm zusammen sein, ohne dass es noch irgendwen gab, der<br />

ihr gemeinsames Glück auseinander bringen konnte. Ihre<br />

Augen flatterten, als sie sich zu Candyman vor beugte und ihr<br />

Herz raste. Sie konnte spüren, wie ihr Mund trocken wurde und<br />

sie flüsterte flehentlich: „Bitte, lass mich nicht allein,<br />

Candyman... Lass mich niemals mehr allein!“<br />

Sie schloss ihre Arme um Candyman und als ihre Brüste seine<br />

Brust berührten, fühlte sie, wie eine Gänsehaut ihren Rücken<br />

hinab lief. Mit geschlossenen Augen drückt sie ihren Kopf an<br />

seine Schulter und wollte bei ihm bleiben. Sie wollte nicht<br />

mehr zurück, nicht dorthin, wo man sie für wahnsinnig hielt,<br />

wo niemand sie verstand und sich niemand darum kümmerte,<br />

was sie wollte und was sie fühlte... Sie wollte bei Candyman<br />

175


leiben, auch wenn niemand das akzeptieren wollte. Nein,<br />

Nancy wollte sich lieber dem <strong>Verbotene</strong>n hingeben, mit allen<br />

Sinnen und ohne jemals wieder zurückzublicken, wollte sie<br />

Candyman und all dem Herrlichen, was er für sie zu bieten<br />

hatte, verfallen. Niemals würde sie in dorthin zurückkehren,<br />

wo man sie weiter hin so missachtete und ihre Würde schon<br />

immer mit den Füßen trat. Als sie Candyman zum ersten Mal<br />

getroffen hatte, hatte sie gespürt, dass er gekommen war, um<br />

ihr das zu bieten, was sie sich wünschte, um sie aus ihrem<br />

trostlosen Leben voller Enttäuschungen und Missachtung zu<br />

befreien. Sie hatte lange genug versucht, dass vor sich selber zu<br />

leugnen, doch jetzt war Schluss damit. Sie war Candyman<br />

verfallen und sie würde ihm überall hin folgen, wo er sie haben<br />

wollte....<br />

„Wir sehen uns wieder“, versprach Candyman und legte seine<br />

Arme um Nancys schmale Taille. Er drückte sie an sich und<br />

Nancy spürte seine starken Arme, wie sie sich um ihren<br />

Rücken und Bauch schlangen. „Wir sehen uns wieder, Nancy!<br />

<strong>Das</strong> verspreche ich dir!“<br />

Dann ließ Candyman Nancy wieder herunter und sie sah ihm<br />

mit halb geschlossenen Augen hinterher, den Mund leicht<br />

geöffnet und voller freudiger Erwartung. „Ja“, flüsterte sie und<br />

sank auf dem mit dunklem Blut verschmiertem Boden auf ihre<br />

zitternden Knie. „Wir sehen uns wieder!“<br />

Dann sah sie, wie Candyman nach hinten sprang und er<br />

schwebte wieder in der Luft. Mit seinen dunklen, glänzenden<br />

Augen sah er Nancy ein letztes Mal an und seine Augen<br />

schienen Nancy Versprechungen zu machen, die sich zu<br />

verlockend anhörten, als dass Nancy widerstehen hätte können.<br />

Der dunkle Mann ihrer Träume, den ihr Glaube und ihre<br />

Wünsche und Begierden trotz all dem <strong>Verbotene</strong>n, für das er<br />

176


stand, breitete seine beiden Arme weit aus und das Fenster,<br />

hinter dem die Akazienbäume zu sehen war, zersprang in<br />

tausende Stücke. Scherben regneten herab, wie damals, als<br />

Nancy Candyman hinter dem Spiegel heraus gerettet hatte und<br />

das krachende Splittern erreichte Nancys Ohren. Wie ein<br />

kräftiger Windstoß ließ sich Candyman nach draußen mit<br />

ziehen und die am Boden kniende junge Frau blickte der davon<br />

schwebenden Gestalt mit zitternden Knien und pochendem<br />

Herzen nach. Sie würde Candyman wiedersehen, schoss es ihr<br />

durch den Kopf und es gab nichts, was sie und Candyman<br />

jemals auf dieser Welt trennen könnte!<br />

Als die Tür geöffnet wurde, fuhr Nancy herum und sah, wie die<br />

junge Krankenschwester mit den roten Haaren, die während<br />

des Experiments Dr. Wyzers Assistentin gewesen war und die<br />

Nancy das Beruhigungsmittel gespritzt hatte, sich durch den<br />

Türspalt schob. „Dr. Wyzer“, sagte sie mit lauter Stimme und<br />

sie hatte das Chaos noch nicht bemerkt, da sich ihre<br />

saphirblauen Augen auf das Klemmbrett mit der Akte über den<br />

Mann, dessen Schizophrenie seinem besten Freund das rechte<br />

Ohr gekostet hatte und der momentan wegen schwerer<br />

Körperverletzung und Tötungsabsicht einsaß, gerichtet hatte.<br />

„Der Abteilungsleiter möchte mit Ihnen über...“<br />

Weiter kam sie nicht, denn als sie den toten Körper des Arztes,<br />

aus dessen Kehle immer noch Blut sprudelte, das eine große<br />

Pfütze am Boden bildete, sah, blieb ihr der Rest ihres Satzes im<br />

Halse stecken. „Was zum Teufel...!“, rief sie erschreckt und sie<br />

konnte ihren Blick nicht von der Leiche des Arztes abwenden,<br />

dessen weit aufgerissene Augen sie anzustarren schienen. Dann<br />

sah sie Nancy, die am Boden kniete und deren Knie beide<br />

schon halb in dem Blutrinnsal steckten. Die junge Frau mit den<br />

177


kastanienbraunen Locken drehte sich zu der Krankenschwester<br />

namens Amy R. Smith um. Nancys Augen waren aufgerissen,<br />

als sie Amy sah und die Krankenschwester griff sofort nach<br />

dem Pieper, den man den sämtlichen Personal in der<br />

geschlossenen Abteilung gegeben hatte, um im Ernstfall<br />

schnell einen Arzt oder den Sicherheitsdienst zu rufen.<br />

„Sicherheitsdienst“, rief Amy und wollte den Pieper<br />

verwenden, als Nancys Hand nach vorne schnellte und ihr das<br />

Gerät aus den Fingern schlug. Nicht, dass Nancy die junge<br />

Krankenschwester verletzten wollte, aber sie konnte es nicht<br />

zulassen, jetzt aufgehalten zu werden. Sie hatte Candyman ein<br />

Versprechen gegeben und nichts und niemand auf der Welt<br />

würde sie beide jetzt noch von einander trennen können.<br />

Amy schrie auf, als ihre Hand gegen die Kante des Schranks<br />

prallte und Nancy wollte sie umstoßen. Doch bevor Nancy die<br />

Krankenschwester zu Fall bringen konnte, hatte Amy ihr<br />

Gleichgewicht wieder gefunden und sie stieß Nancy von sich<br />

weg. Taumelnd fiel Nancy nach hinten und sie stieß dabei mit<br />

dem Ellenbogen heftig gegen die Tischkante. Ein heftiger<br />

Schmerz zuckte durch ihren kompletten Unterarm, von der<br />

Armbeuge bis zu den Fingerspitzen und sie stöhnte auf.<br />

Währenddessen raste Amys Herz wie verrückt, den ihr war<br />

klar, dass sie sich in einer ausweglosen Situation befand: Sie<br />

war hier allein mit einer Wahnsinnigen, die scheinbar soeben<br />

Dr. Wyzer mit bloßen Händen umgebracht hatte, nur weil er<br />

den Fehler gemacht hatte, die Gefahr, die von der jungen<br />

Mörderin ausging, zu unterschätzen. Wenn der<br />

Sicherheitsdienst nicht kam, könnte das für Amy schlecht<br />

ausgehen. Sie hatte keine andere Wahl und als Amy sah, wie<br />

Nancy sich gerade wieder aufrichten wollte, stürzte sie sich auf<br />

die junge Frau mit dem blutverschmiertem Krankenhaushemd<br />

178


und versuchte, sie am Boden fest zu halten. Stöhnend<br />

versuchte, Nancy sich zu befreien, doch Amy schaffte es, ihre<br />

beiden Handgelenke zu ergreifen und am Boden zu fixieren.<br />

„Lass mich los!“, protestierte Nancy energisch, als sich die<br />

Krankenschwester über sie kniete und sie festhielt. Gleich<br />

würde der Sicherheitsdienst vorbeikommen, schoss es Nancy<br />

durch den Kopf und dann wäre es vorbei. Sie müsste sich<br />

beeilen und schnell hier raus kommen, sonst würde sie nie mit<br />

Candyman zusammen kommen können. Angestrengt versuchte<br />

Nancy, den eisernen Griff um ihre schmerzenden Handgelenke<br />

zu lösen. Dann stieß sie mit ihrem rechten Knie nach oben,<br />

sodass sie die auf ihr kniende Amy im Rücken traf. Ein<br />

undeutlicher Schrei kam über Amys Lippen und Nancy<br />

versuchte, sich aufzubäumen. Sie schaffte es, ein Handgelenk<br />

frei zu bekommen, doch die Pflegerin hielt sie weiterhin am<br />

Fußboden fest. Mit einem Arm versuchte Amy, Nancy wieder<br />

zu Boden zu drücken und als ihr Unterarm über Nancys<br />

Gesicht streifte, musste sie vor Schmerz laut aufschreien.<br />

Nancy hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als ihr mit<br />

voller Kraft in den Arm zu beißen und als sich ihre Zähne in<br />

Amys Unterarm gruben, ließ Amy von ihr ab. Schnell sprang<br />

Nancy auf die Füße und als Amy trotz ihres schmerzenden<br />

Arms sie am Fußknöchel packte, drehte sich Nancy um und<br />

stieß Amy von sich weg. Die Krankenschwester verlor das<br />

Gleichgewicht und erschreckt sah Nancy, wie der Kopf ihrer<br />

Gegnerin auf der harten Schreibtischkante aufschlug. Amy<br />

stöhnte und sank regungslos zu Boden. Nancy erschrak bei<br />

dem Anblick, denn sie hatte das nie gewollt. <strong>Das</strong> war ein<br />

Unfall gewesen... Mehr nicht, ein Unfall....<br />

„Nein“, sagte eine dünne Stimme in Nancys Kopf, die sie<br />

überhaupt nicht hören wollte. „<strong>Das</strong> war ein Beweis dafür, dass<br />

du zu allem fähig bist, nur um zu Candyman zu kommen...“<br />

179


Polternde Schritte kamen den Gang herunter und Nancy schlug<br />

schnell die Tür des Zimmers zu, um zu verhindern, dass der<br />

Sicherheitsdienst herein kam. In Panik sah sie sich im Zimmer<br />

um und es gab nichts, was ihr helfen könnte. <strong>Das</strong> einzige, was<br />

es hier gab waren zwei leblose Körper und Nancy blickte zu<br />

dem gesplitterten Fenster. <strong>Das</strong> war vielleicht ihr einziger<br />

Ausweg, dachte sie und als sie die heftigen Schläge hörte, die<br />

gegen die Tür hämmerten, ging sie langsam rückwärts zum<br />

Fenster. Die bewusstlose Krankenschwester lag immer noch zu<br />

Nancys Füßen und eine Schachtel zerknickter Zigaretten war<br />

ihr aus der Tasche ihrer Uniform gerutscht.<br />

„Sicherheitsdienst“, brüllte draußen eine raue Männerstimme<br />

und jemand schlug mehrere male heftig gegen die Tür.<br />

„Machen Sie auf oder wir kommen zu Ihnen rein! Sofort!“<br />

Jetzt war sie geliefert, dachte Nancy. Sie hatte keinen anderen<br />

Ausweg und deshalb kletterte sie unsicher aufs Fensterbrett.<br />

<strong>Das</strong> Türblatt bog sich krachend und es würde sich nur noch um<br />

eine sehr kurze Zeit handeln, bis die Männer vom<br />

Sicherheitsdienst drinnen sein würden. Ein Riss zog sich quer<br />

oberhalb des Türschlosses durch die massive Holzplatte und<br />

Nancy wusste, dass dort am Schloss die verwundbarste Stelle<br />

der Tür war. Sie würde nicht mehr lange standhalten und<br />

Nancy blickte vorsichtig nach unten. Noch nie war Nancy<br />

jemals jemand gewesen, der gerne irgendwo hochgeklettert war<br />

und große Höhen machten ihr oft Angst. Früher hatte sie im<br />

Freibad oft behauptet, dass sie nicht vom Sprungturm springen<br />

würde, da sie Angst hatte, dass ihr Bikinioberteil beim<br />

Eintauchen verloren gehen könnte, sondern weil sie<br />

Höhenangst hatte. Und als sich Nancy langsam auf die Kante<br />

des Fensterbrett schob und nach unten blickte, wurde sie<br />

wieder einmal mit dieser Angst konfrontiert. Ein flaues Gefühl<br />

180


eitete sich in ihrer Magengegend aus, als sie die vielen Meter<br />

nach unten blickte und ihr wurde klar, dass sie dort nie im<br />

Leben herunter springen konnte. Langsam setzte sie auf der<br />

schmalen Kante, die die komplette Fassade entlang ging, einen<br />

Fuß auf den anderen und der steinerne Vorsprung war nur gute<br />

fünfzehn Zentimeter breit. <strong>Das</strong> hieß für Nancy, dass ihre Zehen<br />

sogar dann noch über die Kante standen, wenn sie ihre Füße<br />

quer nahm und langsam die Wand entlang schlich. Drinnen<br />

konnte sie hören, wie die Tür aufgetreten wurde und mit<br />

polternden Schritten stürmten die Männer den Raum. Schreie<br />

ertönten von drinnen und scheinbar waren die Männer sichtlich<br />

erschreckt über den Fund von Dr. Wyzers blutüberströmter<br />

Leiche.<br />

„Holt einen Arzt!“, befahl einer. „Ich glaube, das Mädchen ist<br />

nur bewusstlos! Einer soll ihr helfen!“<br />

Vorsichtig setzte Nancy einen Fuß vor den anderen und<br />

während sie sich Zentimeter weise den schmalen Vorsprung<br />

entlang kämpfte, presste sie sich so mit dem Rücken zur Wand,<br />

dass sie mit ihrem Hintern gegen das Fensterbrett des nächsten<br />

Zimmers stieß. Beinahe wäre sie abgestürzt, aber es gelang<br />

Nancy immer wieder, das Gleichgewicht zu halten und<br />

während sie immer weiter wie eine Katze den Vorsprung<br />

entlang kletterte, fühlte es sich für sie fast so an, als ob<br />

Candyman immer bei ihr wäre und sie stützen würde. Trotz<br />

ihrer aufkeimenden Höhenangst schaffte es Nancy, immer<br />

weiter und glücklicherweise hatte sie bis jetzt noch niemand<br />

entdeckt. Nur noch einige Meter, dann hätte sie die Regenrinne<br />

erreicht, die sie auf das kleine Vordach des Geräteschuppens<br />

führte, der dem hauseigenen Gärtner gehörte, der sich um die<br />

hohen Akazienbäume und die Rosen auf der Einfahrt<br />

kümmerte. Nancy spürte einen kalten Windhauch und erreichte<br />

181


dann mit Mühe die Regenrinne, an der sie sich mit beiden<br />

Händen festklammerte. <strong>Das</strong> kalte Metall fühlte sich in dem<br />

Moment tröstlich zwischen Nancys Fingern an und sie begann<br />

vorsichtig an dem Rohr herab zu klettern und das ohne nach<br />

unten zu sehen. Ihre Hände rutschten langsam das lange<br />

Metallrohr herab und während sie sich mit ihren Füßen an der<br />

Wand abstütze, konnte sie die rauen Kanten der Rinne spühren,<br />

die ihr über die Handballen schnitten. Als sie ungefähr einen<br />

Meter über dem Dach des Schuppens angekommen war, hielt<br />

Nancy den Atem an und ließ dann los. Unsanft kam sie auf<br />

dem Dach auf und sie spührte, wie ein stechender Schmerz<br />

ihren Unterschenkel hinaufschoss. Beim Aufprall hatte sie sich<br />

den linken Fuß geprellt und dennoch war sie dankbar, dass sie<br />

es so weit unbeschadet überstanden hatte. Wenn sie oben von<br />

dem schmalen Vorsprung gestürzt wäre, dann hätte sie sich<br />

wahrscheinlich schwer verletzt. Doch sie wusste nicht, wem sie<br />

dankte... Dankte sie gerade Candyman dafür, dass er sie sicher<br />

nach unten geführt hatte?<br />

Unter dem Schuppen sah Nancy nichts weiter, als Gras und sie<br />

kletterte vorsichtig nach unten. Als ihre weißen Turnschuhe auf<br />

dem feuchten Grasboden aufkamen, wusste sie, dass sie es fast<br />

geschafft hatte. Nur noch einige Meter trennten Nancy vor der<br />

Freiheit und auch wenn sie aufgeregte Rufe vom Haus aus<br />

hören konnte, wusste sie, dass sie jetzt gerettet war. Die<br />

Sicherheitsleute waren nie im Leben schnell genug, um sie jetzt<br />

noch einzuholen und auch wenn Nancy draußen Sirenen hörte,<br />

war sie zuversichtlich. Denn als sie durch die große<br />

Grünanlage blickte, der die großen Akazienbäume Schatten<br />

spendeten, sah sie, dass die Polizisten, die gerufen worden<br />

waren, nur den Vordereingang und die Ausfahrt blockierten. Es<br />

war ein leichtes, jetzt nur noch durch den Hintereingang der<br />

Lieferanten zu entkommen, dachte Nancy und sie rannte<br />

182


schnell den Weg, der mit Kies ausgelegt war, hinab.<br />

„Danke, Candyman“, flüsterte sie und kletterte geschickt über<br />

die niedrige Schranke, die die Lieferantenzufahrt blockierte.<br />

Sie war frei...<br />

Und Candyman wartete bereits auf sie....<br />

27.Kapitel<br />

Kein zurück mehr<br />

Hastig strich sie sich eine Haarsträhne ihres kastanienbraunen<br />

Haars aus der Stirn und sie lief durch den Regen über den<br />

nassen Asphalt. Ihre hellen Schuhe klopften über den nassen<br />

Boden und Regentropfen durchnässten Nancys Jeans. Der<br />

feuchte Duft von nassem Asphalt und Regen stieg der jungen<br />

Frau in die Nase und als sie die Haupteingangstür zu dem<br />

großen Wohnblock erreicht hatte, atmete sie erleichtert auf. Sie<br />

hatte es bis zu sich nach Hause geschafft und niemand hatte sie<br />

gesehen. Sie war ihnen allen entkommen. Den allen, die sie<br />

und Candyman auseinander bringen wollten, den allen, die<br />

dachten, Nancy sei einfach nur verrückt geworden und die sich<br />

schon immer nur einen Dreck um sie geschert hatten. Schnell<br />

eilte Nancy die Treppen hoch und sie gab Acht, dass niemand<br />

sie sah. Auch wenn sie die Anonymität in diesem Haus immer<br />

ein wenig geängstigt hatte, wusste sie, dass es sich schnell<br />

herumgesprochen haben musste, dass sie verhaftet worden war<br />

und sie konnte jetzt wirklich keinen Ärger mehr gebrauchen.<br />

183


Jeder Ärger, den sie jetzt haben würde, würde sie direkt zur<br />

Polizei und direkt ins Gefängnis, oder noch schlimmer ins<br />

Irrenhaus bringen, da man sie schließlich wegen mehrfachen<br />

Mordes suchte. Und dann würde es schwierig werden, zu<br />

Candyman zu kommen. Doch auch dann würde sie einen Weg<br />

finden. Endlich kam Nancy auf ihrer Etage an und sie sah, dass<br />

das Zimmer ihrer verstorbenen Freundin Linda, mit<br />

Polizeiabsperrband verschlossen war und scheinbar war dort<br />

alles von der Spurensicherung auf den Kopf gestellt worden.<br />

Als Nancy ihr Zimmer öffnete, musste sie feststellen, dass auch<br />

ihre Wohnung durchsucht worden war. Überall hatte man die<br />

Schränke und Schubladen aufgezogen und kleine Täfelchen,<br />

die die Beweise, die man gefunden hatte, katalogisierten,<br />

standen überall auf dem Boden. Nancy sah, dass all ihre<br />

Sachen durchwühlt worden waren und in ihrem Kleiderschrank<br />

waren alle Fächer leer geräumt worden. Kleidungsstücke lagen<br />

auf dem Fußboden und es war ein beunruhigendes Gefühl, dass<br />

Nancy wusste, dass die Spurensicherung sogar ihre<br />

Unterwäsche durchsucht hatte. Aber all das war jetzt egal:<br />

Nancy war dem Candyman so nah, wie nie zuvor und er<br />

erwartete sie voller Sehnsucht...<br />

Rasch zog sie die schmutzigen Kleider voller Blut aus und als<br />

sie unter der Dusche stand und all den Schmutz von sich ab<br />

wusch, sah sie, dass sie sich beim Klettern an dem schmalen<br />

Vorsprung sie Ellenbogen an der Ziegelmauer abgeschürft<br />

haben musste. Trotzdem genoss sie, wie das Wasser über sie<br />

hin abregnete und als sie vor dem Spiegel stand und ihre Haare<br />

bürstete, wusste sie, dass Candyman sie beobachtete. Er<br />

wartete genauso ungeduldig darauf, sie wiederzusehen, wie<br />

Nancy selber. Langsam und ordentlich bürstete sich Nancy<br />

durch ihr langes, kastanienbraunes Haar und sie wollte sicher<br />

184


gehen, dass sie heute schön aussah. Schließlich war dies der<br />

Tag, an dem sie endlich mit Candyman vereint sein würde und<br />

das war ein sehr besonderer Anlass.<br />

Später betrachtete sie ihre Haare schließlich im Spiegel, ihre<br />

lockigen Haare glänzten im Licht und fielen ihr sauber und<br />

ordentlich in den Nacken. Auf der rechten Seite fiel ihr Haar<br />

ihr über die Schulter und bedeckte ihre rechte Brust. Zufrieden<br />

betrachtete Nancy sich im Spiegel und sie war sich sicher, dass<br />

sie Candyman, der ihr zusah, gefiel.<br />

Nachdem sie das Bad verließ, ging sie zu ihrem Kleiderschrank<br />

und suchte in den zerwühlten Kleidern, die die<br />

Spurensicherung hinterlassen hatte, nach ihren besten<br />

Abziehsachen. Sie zog eine hübsche hellblaue Bluse hervor,<br />

dazu die passende tiefblaue Jacke und den ebenso blauen Rock.<br />

Sie nahm die Kleider über den rechten Arm und zog dann eine<br />

durchsichtige Feinstrumpfhose unter dem Berg hervor. Auch<br />

die Feinstrumpfhose nahm sie auf den Arm und bückte sich<br />

dann zum Schuhfach des Schranks, wo sie ein teures Paar<br />

eleganter schwarzer Schuhe mit hohen Absätzen hervor<br />

beförderte. Diese Kleidungsstücke hatten sie fiel Geld gekostet<br />

und Nancy hatte sie immer nur getragen, wenn sie mit einem<br />

der Männer, die sie für den richtigen gehalten hatte,<br />

ausgegangen war. Dennoch hatten viele dieser Männer<br />

bewiesen, dass sie alles andere als die richtigen für Nancy<br />

gewesen waren und mehr als nur einer von ihnen hatte ihr sehr<br />

weh getan.<br />

Während Nancy wie im Traum durch ihre völlig verwüstete<br />

Wohnung glitt, sagte sie sich selbst, dass es dieses Mal anders<br />

sein würde. Dieses Mal würde sie nicht enttäuscht werden,<br />

sondern dieses eine Mal würde sie zum ersten mal wirklich<br />

glücklich werden. Sie zog sich an und nachdem sie sich vor<br />

dem Spiegel geschminkt hatte und die goldene Kette, in deren<br />

185


Mitte ein kleiner durchsichtiger Stein glänzte und die ihr<br />

einmal ihr letzter Exfreund geschenkt hatte, der Mann, von<br />

dem sie auch lange Zeit gedacht hatte, dass er der richtige sei,<br />

bis er sie schließlich doch verlassen hatte, um ihren Hals gelegt<br />

hatte, bewunderte sie sich selbst im Spiegel. Sie war<br />

wunderschön und Nancy wusste, dass sie Candyman gefallen<br />

würde... Gedankenverlorenen öffnete sie ihre rot geschminkten<br />

Lippen und küsste den kühlen Spiegel, der in der<br />

Badezimmerwand eingelassen worden war und sie flüsterte<br />

leise: „Bald bin ich bei dir...“<br />

Als an diesem Abend die Sonne unterging, verließ Nancy ihr<br />

Apartment und sie drehte sich ein letztes Mal zu dem großen<br />

Kastenbau um, in dem sie die letzten zwei Jahre einsam und<br />

beinahe völlig allein gelebt hatte. Sie würde nie wieder zurück<br />

kommen, das stand für sie fest; Nancy würde für immer bei<br />

Candyman bleiben. Er war der einzige, für den ihr Leben, dass<br />

sich in den letzten Wochen völlig überraschend in einen<br />

Alptraum verwandelt hatte, in den sie mit hinein gezerrt<br />

worden war, überhaupt noch einen Sinn zu haben schien und es<br />

gab nichts, was sie noch hier behalten könnte. Langsam ging<br />

sie die vom Regen noch feuchten Straßen entlang und während<br />

ihre hohen Absätze klapperten, verfielen ihre Gedanken wieder<br />

dem Candyman. Sie hatte den gesamten Rest des Tages damit<br />

verbracht, sich nachdem sie sich angezogen und hübsch<br />

gemacht hatte, auf ihrem früheren Bett zu liegen und an<br />

Candyman zu denken. Candyman, schien die Stimme in ihrem<br />

Kopf immer wieder zu flüstern, die sie nun schon seit den<br />

letzten Wochen begleitete. Candyman...<br />

Nancy wusste, wo er auf sie warten würde. Zielstrebig ging sie<br />

durch die Straßen und ihr Weg würde sie schon bald zum<br />

186


Flussufer führen. Er würde tief unten unter den Straßen, auf<br />

denen die unzähligen Leute umher wuselten und ihre eigenen<br />

Leben, in denen kein Platz für Nancy gewesen war, führten, auf<br />

sie warten und Nancy war sich sicher: Dieses Mal würde die<br />

kleine Tür, die sie und Candyman voneinander trennte, nicht<br />

mehr verschlossen sein.<br />

28.Kapitel<br />

Auf ewig vereint...<br />

Ohne Orientierung ließ sich Nancy durch die Straßen führen<br />

und sie wusste, dass ihr einige Leute hinterher blickten. Viele<br />

Männer, denen sie auf dem Weg begegnete, sahen ihr wegen<br />

ihrer außerordentlichen Schönheit hinterher, derer sie sich<br />

vorher selbst noch nicht einmal bewusst war. Aber die Blicke,<br />

die ihr hinterher geworfen wurden, kümmerten Nancy nicht<br />

einmal, da sie wusste, dass ihre ganze Schönheit und sie selbst<br />

für Candyman bestimmt war, für niemanden sonst. Für<br />

niemanden auf dieser Welt....<br />

187


Als sie wie in einem Traum über das Flussbett stieg, bemerkte<br />

sie die Unebenheit des Bodens gar nicht, die sie eigentlich mit<br />

ihren hochhackigen Schuhen behindern müssten. Langsam<br />

steuerte sie auf das Loch im Boden zu, dass sich unterhalb des<br />

Brückenpfeilers im Boden auftat und ohne die geringste<br />

Anstrengung gelang es ihr das schwere Eisengitter anzuheben,<br />

mit dem man die alte Kanalisation wieder zugedeckt hatte. In<br />

den Tiefen verhallte das Echo, als sie die Eisenleiter hinab stieg<br />

und ihr Herz pochte vor Aufregung. Bald würde sie bei ihm<br />

sein, sagte sie. Bei Candyman. Die Stimme in ihrem Kopf<br />

flüsterte seinen Namen wieder und es war beinahe so, als<br />

könnte Nancy der Stimme durch die Tunnels folgen. <strong>Das</strong><br />

Flüstern führte sie den dunklen Schlund der Kanalisation<br />

hinein und auch wenn es immer dunkler um Nancy herum<br />

wurde, schien ein übernatürliches Leuchten ihr zu folgen,<br />

welches ihr den Weg leuchtete. An den Wänden sah Nancy<br />

wieder die Inschriften, die Candyman hinterlassen hatte und sie<br />

folgte den Tunneln genau wie beim ersten mal immer tiefer<br />

hinein. Sie achtete gar nicht auf den Weg, sondern Nancy ließ<br />

sich einfach von <strong>Candymans</strong> Flüstern führen.<br />

„Nancy“, sagte die Stimme mit beruhigendem und gleichzeitig<br />

warmen und kalten Tonfall. „Du wirst bald bei mir sein.<br />

Komm, mein Mädchen!“<br />

Als würde er ihre Hand halten und sie durch das finstere<br />

Labyrinth führen, zeigte <strong>Candymans</strong> Flüstern Nancy den Weg<br />

und immer wieder sah sie, dass Bienen die Wand des Kanals<br />

hoch krabbelten. Einige Bienen fielen wie ein sanfter Regen<br />

auf sie herab und liefen an ihren Schultern herab. Nancy spürte,<br />

wie ihre kleinen, dünnen Beine über ihre Schenkel liefen und<br />

sie kitzelten. Sie war fast da...<br />

Platschend verhallten ihre zarten Schritte in der Tiefe, während<br />

188


Nancy ohne Angst immer weiter in die Dunkelheit ging.<br />

(Candyman...) Sie hatte schon lange ihr Zeitgefühl verloren<br />

und sie konnte nicht sagen, wie lange sie nun schon mit vor Erwartung<br />

pochendem Herzen durch die langen Gänge von<br />

<strong>Candymans</strong> unterirdischem Reich wanderte. Nach einer halben<br />

Ewigkeit, die Nancy aber wie ein Traum vorkam, den sie im<br />

Schlaf hatte, duckte sich die junge Frau unter dem schmalen<br />

Durchgang herunter und sie gelangte in die Kammer aus ihren<br />

Träumen, in der sie bereits einmal gewesen war und auf die<br />

abgeschlossene Tür gestoßen war. Der Raum sah noch immer<br />

unverändert aus, doch dieses mal war es anders für Nancy in<br />

mitten der feuchten Wände zu stehen und das tropfende Wasser<br />

in ihren Ohren zu hören. Die modrige Luft und der Gestank<br />

waren ihr egal, sie bemerkte ihn gar nicht und alles hier unten<br />

erschien ihr irgendwie vertraut. Hier unten in den dunklen<br />

Kanälen von <strong>Candymans</strong> Reich fühlte sie sich zuhause und<br />

geborgen, als würde es hier unten jemanden geben, der auf sie<br />

aufpasste. Schon seit sie durch das dunkle Loch am Flussufer<br />

nach unten gestiegen war, um Candyman zu finden, hatte es<br />

sich angefühlt, als würden all die vielen Sorgen und Ängste,<br />

die Nancy ihr ganzes Leben lang gehabt hatte, immer weiter<br />

von ihr abfallen, je weiter sie in die dunklen Tunnels hinab<br />

stieg.<br />

Vorsichtig bückte sich Nancy in der Mitte des Raums und hob<br />

das kleine, goldene Päckchen auf, das auf dem schmutzigen<br />

Fußboden gelegt war. Es war wieder eines der<br />

Süßigkeitenpäckchen, die sie bereits einmal hier unten entdeckt<br />

hatte und vorsichtig wickelte Nancy das golden glänzende<br />

Papier mit der Schrift: Süßigkeiten für die Süßen“ auf, die ihr<br />

Candyman überall hinterlassen hatte. Als sie dieses Mal wieder<br />

einen klebrigen Karamellriegel in der Hand hielt, brach sie den<br />

189


Riegel in zwei Hälften und eine bereits verrostete, aber immer<br />

noch tödliche scharfe Rasierklinge, die ungefähr sechs<br />

Zentimeter lang war, fiel ihr in die Hände. Dieses Mal war<br />

Nancy weder erschreckt, noch angewidert: Candyman zeigte<br />

ihr seine Zuneigung durch dieses Geschenk. <strong>Das</strong> war seine Art,<br />

ihr seine unsterbliche Liebe zu gestehen, die Nancy mit vollem<br />

Herzen erwiderte. Sie schloss die Augen und ließ die<br />

Rasierklinge, die in ihren Händen lag, in ihren Schoß sinken.<br />

„Candyman“, flüsterte sie leise. „Bald bin ich bei dir...!“<br />

Als Nancy auf die bemalte Wand zuging, erkannte sie, wer der<br />

schreiende Mann war, den jemand an die Wand gemalt hatte:<br />

Es war Candyman, es zeigte, wie er gestorben ist und sein<br />

Schrei war ein Schrei vor Scherz und vor Wut über all die<br />

Ungerechtigkeiten, die ihm zu Zeiten seines Lebens<br />

widerfahren waren. Mit immer schneller pochendem Herzen<br />

näherte sich Nancy der Tür, der kleinen Tür, die sie und<br />

Candyman voneinander trennte, die Tür, die Nancy von dem<br />

<strong>Verbotene</strong>n trennte, dass sie von ganzem Herzen begehrte.<br />

Zitternd streckte Nancy die Finger nach der Türklinke aus und<br />

ihr Mund war vor Aufregung und Erwartung ganz trocken.<br />

Langsam schlossen sich ihre Finger mit den rot lackierten<br />

Fingernägeln um die kalte Klinke und Nancy drückte sie fest<br />

nach unten. Sie hörte, wie das Schloss sich entriegelte und<br />

dann öffnete sich die Tür: Es öffnete sich die Pforte zum dem<br />

<strong>Verbotene</strong>m, das Nancy erwartete....<br />

Lange Zeit herrschte Stille, bis Nancy endlich den Mut fand<br />

einzutreten, sie sprang wieder in die dunklen Tiefen, doch<br />

dieses Mal hatte sie keine Angst mehr, die Kontrolle zu<br />

190


verlieren, denn Candyman war da, der sie immer festhalten<br />

würde.<br />

„Du bist gekommen, Nancy!“, flüsterte Candyman in der<br />

Dunkelheit und als Nancy sich ihm näherte, schien sich alles<br />

aufzuhellen. <strong>Das</strong> Licht, auf das sie gewartet hatte und welches<br />

ihr in der Dunkelheit sehen half, welches sie durch die dunklen<br />

Tunnel geführt hatte und ohne welches sie sich hoffnungslos<br />

(im Wahnsinn) verirrt hätte, ging von Candyman aus und<br />

Nancy fiel vor ihm auf die Knie. Endlich war sie bei ihm und<br />

der große, dunkle Mann ihrer Träume kam auf sie zu. Erst<br />

schwebte er über dem grob gekachelten Boden der geräumigen<br />

Kammer, deren volle Größe Nancy überhaupt nicht ausmachen<br />

konnte und setzte dann seine Füße auf dem Boden. Langsam<br />

und majestätisch schritt Candyman auf Nancy zu, seinen<br />

langen Mantel hinter sich herziehend und die Hakenhand<br />

versteckend. Nancy spürte, wie ihr Puls raste und ihr Herz ihr<br />

bis zum Halse schlug. Er war endlich da; Sie hatte Candyman<br />

gefunden....<br />

„Nancy“, sagte Candyman mit seiner ruhigen und umarmenden<br />

Stimme. „Ich habe so lange auf dich gewartet.... So lange, wie<br />

du es dir nicht einmal vorstellen kannst, habe ich hier unten in<br />

meinem Reich gewartet und auf den Tag gehofft, an dem du<br />

durch die Tür steigst, die uns beide, unsere beiden Welten<br />

voneinander trennt!“ Nancy sah, wie Bienen über seine breiten<br />

Schultern krabbelten und sie streckte die Hände nach ihm aus.<br />

Candyman ergriff ihre Hände mit seinen und Nancy spürte, wie<br />

sich ihre linke Hand um seine Stahlklaue schloss, die so kalt<br />

und unbarmherzig zwischen ihren warmen Fingern lag,<br />

während seine andere Hand ihre Hand sanft und zärtlich<br />

umfasst hielt. „Danke, dass du mich zu dir geholt hast“, sagte<br />

Nancy und ihre Lippen bewegten sich wie von selbst und ohne,<br />

191


dass sie nachdenken konnte. Überwältigt von Gefühlen und<br />

Vorfreude, was sie mit Candyman erwartetet, ließ sich Nancy<br />

nach vorne sinken und als Candyman sie sanft mit beiden<br />

Armen auffing, wusste sie, dass sie dort angekommen war, wo<br />

sie schon immer hingehört hatte....<br />

Ohne Mühe hob Candyman Nancy nach oben und hielt sie in<br />

seinen starken Armen fest. Er trug sie die lange Kammer<br />

entlang und Nancy ließ sich voller Erleichterung und freudiger<br />

Erregung in seinen Armen zurück sinken. Sie sah, wie er sie<br />

mit seinen aufmerksamen dunklen Augen betrachtete, die<br />

tiefgründig in sie hineinzublicken schienen und helles Feuer<br />

schien die lange Kammer zu beleuchten, deren Wände allesamt<br />

mit in der Zeit verblichenen Gemälden und Bemalungen<br />

bedeckt waren. Wärme umfasste Nancy und während<br />

Candyman sie trug, kam in Nancy erneut das Gefühl der<br />

Ohnmacht hoch. Sie hatte keine Kontrolle darüber, was<br />

geschehen würde, aber sie hatte das gute Gefühl der<br />

Gewissheit, dass sie jemand festhielt. Candyman würde immer<br />

auf sie Acht geben und Nancy würde immer sicher in seinen<br />

Armen liegen... Nie würde ihr jemals wieder jemand weh tun<br />

können!<br />

Auf den Wänden spielten sich Geschichten ab, erkannte Nancy<br />

und sie sah, dass auf dem Bild der junge Daniel Robitaille<br />

dargestellt war. Ein junger, gutaussehender dunkelhäutiger<br />

Mann von kräftiger Statur und man konnte in seinen Augen<br />

seine Gutmütigkeit und sein großes Herz erkennen.<br />

„Bist das du“, fragte Nancy den Candyman und sie kam sich<br />

gerade so vor, wie eine frisch verheiratete Frau, die von ihrem<br />

Bräutigam die Treppe zu einem Kreuzfahrtschiff hoch trug,<br />

welches das verliebte Paar in den Hochzeitsurlaub bringen<br />

192


würde. Freudige Erwartung kam in Nancy hoch und Candyman<br />

flüsterte: „Stell keine Fragen, Nancy, du wirst alles selber<br />

erfahren werden...“<br />

Auf den darauf folgenden Bildern sah Nancy die gesamte<br />

Geschichte und den Leidensweg des jungen Daniel Robitailles<br />

verblichen an der Wand, als hätte irgendjemand die Geschichte<br />

für Nancy festhalten wollen, sodass sie sich immer daran<br />

erinnern könnte! Ein schreckliches Bild das den gewaltsamen<br />

Tod von Daniel zeigte, beendete die lange Bildreihe und Nancy<br />

betrachtete das schmerzverzerrte Gesicht des jungen Mannes<br />

mitleidig. Dann sah sie Candyman an, der beruhigend<br />

zurückblickte und über dessen Gesicht Bienen liefen.<br />

„Wir sind angekommen!“, verkündete Candyman und ließ<br />

Nancy sanft herunter. „Du bist nun am Ziel angekommen,<br />

Nancy. Nie wieder wirst du dir irgendwelche Sorgen machen...<br />

Du bist jetzt bei mir und ich werde immer für dich sorgen!“<br />

Zärtlich ergriff der dunkle Mann ihre Schulter und als Nancy<br />

die Wand ansah, vor der die beiden standen, sah sie das letzte<br />

Bild, welches der Bildserie ein abschließendes Ende gab und<br />

Nancy sehr berührte. Es zeigte die beiden Liebenden<br />

schließlich doch noch im Tod vereint. Daniel und Helen, die<br />

sich in den Armen hielten und deren Geschichte immer noch<br />

andauert. Daniel und Helen, die beiden Liebenden, denen man<br />

ihr Glück zu Zeiten ihres Lebens verwehrt hat und die doch<br />

einen Weg gefunden hatten, schließlich am Ende doch noch<br />

zusammen vereint zu sein.<br />

Daniel und Helen...<br />

Helen und Daniel....<br />

Nancy und Candyman....<br />

193


„Es warst immer du, Nancy... Du warst es schon immer“,<br />

flüsterte Candyman leise und ergriff ihre beiden Hände. Nancy<br />

sah ihn mit Tränen in den Augen an, die ihre Pupillen glänzen<br />

ließen. Dann ergriff sie auch seine Hände und sie verstand es<br />

endlich... Candyman und sie waren schon seit so langer Zeit für<br />

einander bestimmt...<br />

„Gib dich dem <strong>Verbotene</strong>n hin“, sagte Candyman und Nancy<br />

trat näher an ihn heran. „Lass alles fallen, was dich zurückhält.<br />

Lass dein altes Leben hinter dir und erfahre, was das<br />

<strong>Verbotene</strong>n für Verlockungen für dich bereit hält!“ Als er seine<br />

Worte zu ende gesprochen hatte, lehnte sich Nancy in seinen<br />

Armen zurück und öffnete ihren Mund leicht. Voller<br />

Leidenschaft griff sie nach seinem Kopf und zog ihn zu sich<br />

nach unten. Ihre Lippen trafen sich und Nancy schloss ihre<br />

Augen. Voller Entzückung ließ sie sich fallen und Candyman<br />

hielt sie mit beiden Armen fest. Seine Hände fühlten sich auf<br />

ihrem Rücken wunderbar an und Nancy spürte, wie ihre Lippen<br />

prickelten. Ihre Zungen berührten sich leidenschaftlich und<br />

Nancy bemerkte, wie sich der Träger ihres Kleides löste und<br />

ihre Schulter hinab rutschte.<br />

<strong>Candymans</strong> Hand fuhr ihren nackten Arm herauf und als sich<br />

ihre Lippen wieder voneinander lösten, sah Nancy Candyman<br />

an und lächelte. Er hatte auf sie gewartete und sie auf ihn...<br />

Jetzt hatten sie sich gefunden...<br />

Bienen krabbelten über <strong>Candymans</strong> Schulter und als er seinen<br />

Mund öffnete, sah Nancy, wie sich die Bienen in seinem Mund<br />

tummelten. Seine Zunge war von Bienen übersät und während<br />

Nancy langsam aus ihrem rechten Schuh schlüpfte und den<br />

zweiten Träger ihres Kleides langsam fallen ließ, küsste sie<br />

Candyman erneut. Sie schloss ihre Lieder und sank langsam in<br />

<strong>Candymans</strong> Armen zusammen, während sie den Druck seiner<br />

194


Schultern an ihren Brüsten fühlte. Er war sanft und gutmütig,<br />

dachte Nancy voller Leidenschaft und Candyman spürte einen<br />

Puls an seiner Brust flattern, während sich das Mädchen<br />

beinahe schon auf ihn stürzte. Nancy schmeckte Bienen, die ihr<br />

in den Mund krochen und die Bienen des <strong>Candymans</strong> fielen auf<br />

ihre Brust herab. Die Insekten krochen durch ihre Nasenlöcher<br />

und über ihren Rücken und während sie Candyman küsste,<br />

spürte sie immer mehr Bienen, die ihr in den Mund krochen.<br />

Genüsslich ließ sie sich in seinen Armen fallen und gab sich<br />

voller Hingabe dem <strong>Verbotene</strong>n hin....<br />

Niemals würde sie wieder zurückkehren wollen....<br />

195


29.Kapitel<br />

Epilog<br />

Seit es Winter geworden war und der Schnee die Straßen von<br />

Chicago bedeckte, fühlte sich Natalie Cunningham draußen<br />

nicht mehr sonderlich wohl. Sie war ein Mensch, der den<br />

Winter hasste und deshalb war sie auch froh, dass sie nicht<br />

draußen in der Kälte sitzen musste, in ihrer kleinen Wohnung<br />

in einem der Plattenbauten, welche sie mit ihrer Freundin<br />

Debbie teilte. Auch wenn die Wohnung nicht sonderlich groß<br />

war, waren die beiden Frauen zufrieden damit und zu<br />

mindestens war es hier drinnen wärmer, als draußen, wo die<br />

kalte Luft sogar mitten in der Stadt die Fensterscheiben klirren<br />

ließ. Doch an diesem Abend war Debbie sehr geknickt und es<br />

lag an Natalie, sie wieder aufzumuntern. Debbie war eine<br />

hübsche, unscheinbare junge Frau, die im dritten Semester<br />

Psychologie studierte und Natalie wusste, dass sie sich oft<br />

einsam fühlte. Und noch zusätzlich dazu schien Debbies neuer<br />

Freund, den sie erst seit kurzer Zeit kannte, sich nicht mehr für<br />

sie zu interessieren. Er hatte sich schon seit Tagen nicht mehr<br />

bei Debbie gemeldet und sie wusste nicht, was sie denn jetzt<br />

machen sollte.<br />

„Ich weiß nicht, warum er sich nicht mehr bei mir meldet,<br />

Nat“, klagte Debbie und Natalie tat ihre Freundin ziemlich<br />

Leid, da sie selber wusste, wie entwürdigend und frustrierend<br />

es für die junge Frau sein musste, immer und immer wieder an<br />

die falschen Männer zu geraten.<br />

„Will er mich nicht mehr sehen, oder was? Vielleicht hab ich ja<br />

was falsches gemacht und vielleicht ist es ja auch meine<br />

Schuld, aber....“<br />

196


Jetzt reichte es Natalie und sie sagte mit beruhigender Stimme:<br />

„Hör mir mal zu, Debbie. Es ist ganz sicher nicht deine Schuld,<br />

dass der Kerl weg ist und weißt du, was ich glaube? Ich glaube,<br />

dass der Kerl einfach nur ein Arsch ist, der sich einen Dreck<br />

um die Gefühle anderer Leute schert.“ Beinahe hätte sie gesagt:<br />

„Der sich einen Dreck um dich schert“, aber das hätte es nun<br />

wirklich nicht besser gemacht. Natalie kannte solche Typen wie<br />

Debbies neuen „Freund“ und deshalb wollte sie nicht, dass sich<br />

Debbie wegen so einem Arsch ihr ganzes Leben kaputt machte.<br />

„Ich sage dir, es ist am Besten, wenn du ihn einfach vergisst<br />

und dir jemand neues suchst! Die Welt ist voll mit anderen<br />

Typen, von denen ziemlich sicher die meisten besser sind, als<br />

dieser eine Scheißkerl!“<br />

Eine Träne lief Debbie die Wange herunter und sie wollte es<br />

nicht wahrhaben, dass sie schon wieder von irgendwem<br />

betrogen und allein gelassen worden war. Warum tat immer ihr<br />

so viele Leute weh?<br />

Natalie legte der jungen Frau eine Hand um die Schulter und<br />

strich ihre dunklen Haare beiseite. „Hey, Debbie... Der Kerl ist<br />

es doch gar nicht wert, wegen ihm zu heulen. Wirklich nicht,<br />

du solltest froh sein, dass du ihn los bist!“<br />

„Vielleicht hast du Recht“, sagte Debbie mit matter Stimme.<br />

„Vielleicht hast du wirklich Recht...“<br />

Sie erhob sich vom Sofa und sagte leise: „Kannst du mich<br />

vielleicht kurz entschuldigen, Natalie. Ich glaube, ich muss mal<br />

kurz allein sein...“<br />

Wenig später stand Debbie mit geröteten Augen vor dem<br />

Spiegel über dem Waschbeckenspiegel und ihr wurde klar, dass<br />

Nat recht hatte. Der Kerl war es nicht wert, aber dennoch tat es<br />

ihr im Herzen weh, dass er sie einfach so weggeworfen hatte.<br />

197


Sie zitterte kurz und vergoss ein paar weitere Tränen, die im<br />

Waschbecken landeten. <strong>Das</strong> war nicht fair, das war einfach<br />

nicht fair! Dann ließ sie Wasser ein und spritzte sich ein wenig<br />

von dem kalten Wasser in ihr vom Weinen gerötetes Gesicht.<br />

<strong>Das</strong> tat gut und Debbie blickte wieder in den Spiegel. Sie hatte<br />

genug davon, dass sie alle immer nur herum schubsten und<br />

niemand sie auf dieser Welt richtig ernst nahm. Warum musste<br />

es denn immer sie sein, die an die falschen Männer gerät und<br />

die immer bloß vom Pech verfolgt schien?<br />

Langsam und ohne wirklich nachzudenken flüsterte sie vor sich<br />

hin: „Candyman...“<br />

Sie erinnerte sich an die alte Geschichte und es schien ihr<br />

gerade jetzt ein tröstliches Gefühl, dass es angeblich jemanden<br />

gäbe, der immer bei ihr ist und immer über sie wacht....<br />

„Candyman“, sagte sie noch einmal leise und dann sagte sie<br />

mit einem kleinen Schmunzeln. „Caandyman!“ Der Gedanke<br />

an die alte Geschichte vom Candyman lenkte sie ab und<br />

spendete ihr in dem Moment der Verunsicherung und der<br />

Frustration Trost. „Candyman“, wiederholte sie ein weiteres<br />

Mal, bis Debbie dann beide Hände an die kalte Spiegelscheibe<br />

legte und zögerlich flüsterte. „Candyman...“<br />

Erst geschah nichts, doch als dann das Licht ausging, zuckte<br />

Debbie erschrocken zusammen. Was war denn jetzt los? Ein<br />

kaltes Hauchen berührte ihren Nacken und sie drehte sich<br />

ängstlich um. „Was?“, fuhr es ihr über die Lippen und sie<br />

musste erst daran denken, dass es ein Scherz sei. Vielleicht<br />

hatte Natalie mitgehört und dachte es wäre lustig, ihrer<br />

Freundin einen kleinen Schrecken einzujagen...<br />

Doch dann sah Debbie, wie Candyman aus dem Schatten kam<br />

und mit ihm folgte ihm eine blasse Frau, die beide Debbie<br />

anstarrten. Candyman trug einen langen schwarzen Mantel und<br />

198


anstatt der rechten Hand hatte der dunkelhäutige Mann einen<br />

glänzenden Fleischerhaken, der in seinem Armstumpf steckte.<br />

Seine Augen leuchteten dunkel und Bienen krochen wie<br />

Blutegel über seine Haut. Debbie erstarrte vor Schreck und sah<br />

dann, wie die junge Frau mit der blassen Haut dem dunklen<br />

Mann folgte. Sie trug ein verblichenes blaues Kleid, dass an<br />

ihrem Körper herunterhing und einer der Träger rutschte ihre<br />

Schulte herab, ebenso wie bei Candyman krabbelten Bienen<br />

über ihr Gesicht und über blasse Haut. <strong>Das</strong> einzige, dass an ihr<br />

glänzte waren ihre prächtigen kastanienbraunen Haare. Nancy,<br />

dieser Name schoss durch Debbies Kopf und sie wusste nicht,<br />

warum. Starr vor Schreck wollte sie vor den beiden Dämonen<br />

zurückweichen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Mit dem<br />

Rücken an die kalten Fliesen gepresst, sah die junge Frau nur<br />

noch, wie Candyman seine Hakenhand hob und wie die<br />

glänzende Stahlklaue auf sie zukam.<br />

Besorgt rüttelte Natanlie an der Tür zum Badezimmer, da sie<br />

den Schrei gehört hatte und sie wusste, dass das nichts gutes<br />

bedeuten konnte. Hoffentlich war Debbie nichts passiert,<br />

dachte sie voller Panik und kämpfte mit dem Türschloss.<br />

Endlich sprang die Tür auf und Nat betrat das dunkle<br />

Badezimmer. Erst konnte Natalie nichts erkennen und als die<br />

den Lichtschalter anschaltete und das ganze Blut sah, begann<br />

sie zu schreien....<br />

Ende<br />

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