Berner Kulturagenda 2008 N°26
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
40 26. Juni bis 2. Juli <strong>2008</strong> /// Ein unabhängiges Engagement des Vereins <strong>Berner</strong> <strong>Kulturagenda</strong> /// www.kulturagenda.be /// 12<br />
Rachel Kolly d’Alba: «Klassische Musik muss cooler werden.»<br />
Wenn der Fussball Pause macht – die 26<br />
Jahre junge Geigerin Rachel Kolly d’Alba<br />
aus Lausanne spielt mit der Orchestergesellschaft<br />
Zürich in der <strong>Berner</strong> Petruskirche<br />
ein hochkarätiges Programm. Der<br />
dritte Satz von Max Bruchs Violinkonzert<br />
Nr. 1 wird oft als «Finale» bezeichnet – er<br />
ist für Klassikfreunde ebenso spannend<br />
wie für Fussballfans das Endspiel der<br />
Fussball-EM am Sonntag.<br />
B. Boots<br />
«Das Lampenfieber kommt eine Stunde vor dem Konzert»<br />
Sieben Jugendliche proben den Ernstfall:<br />
Der Gig im Bierhübeli beim Schülerband-<br />
Festival «So wi die Grosse». Ein Besuch im<br />
Luftschutzkeller unter dem Muristalden-<br />
Schulhaus weckt alte Erinnerungen.<br />
Eine Treppe runter, einen Gang entlang,<br />
noch eine Treppe runter, dann stehen<br />
wir vor der Panzertür, darauf ein Zettel:<br />
«Band». Wir sind da. Zwei Augen spähen<br />
aus dem Luftschutzkeller, drehen<br />
sich ab und Sängerin Belinda eilt zurück<br />
zur Band, die bereitsteht für den Probeauftritt,<br />
exklusiv für uns.<br />
One, two, one, two, three, four, dann gehts<br />
los. Beim ersten Song stellt uns Sänger<br />
Tobias gleich einmal die jungen Musikerinnen<br />
und Musiker vor. An den Gitarren:<br />
noch ein Tobias sowie David, am<br />
Keyboard Meryl, am Schlagzeug Christoph,<br />
am Bass Adrian und am Mikrofon<br />
Belinda. Und der genannte Name ist auch<br />
gleich der Aufruf zum kurzen Solo. Die<br />
15- bis 16-Jährigen zupfen ihre Gitarren,<br />
hacken in die Tasten und schlagen die<br />
Trommeln, sie dehnen die Stimmbänder<br />
und sind dabei konzentriert bei der Sache.<br />
Sie wissen: Es dauert nur noch eine<br />
Woche bis zum Auftritt, dann müssen die<br />
Songs bedingungslos rocken.<br />
Neben Belinda wirken die Songs harmlos<br />
Belinda könnte als Black-Metal-Sängerin<br />
durchgehen. Mit ihren Netzstrümpfen,<br />
den Netzhandschuhen, dem Jupe und<br />
dem Oberteil, ganz in Schwarz, wirken<br />
die Rocksongs der Band – «Behind Blue<br />
Eyes» von Limp Bizkit oder «Snow» von<br />
den Red Hot Chilli Peppers – irgendwie<br />
harmlos. Doch da lässt sich nichts machen:<br />
«Ich laufe immer so rum», sagt<br />
Frau Kolly, Sie sind erst Mitte zwanzig, feiern<br />
aber bereits grosse Erfolge als Solistin und<br />
haben ihre musikalische Laufbahn entsprechend<br />
früh begonnen. Stammen Sie aus einer<br />
Musikerfamilie?<br />
Meine Eltern lieben die klassische Musik.<br />
Meine beiden älteren Schwestern<br />
haben sich für das Klavier entschieden,<br />
aber ich wollte schon mit zwei Jahren<br />
Geige spielen. Als ich dann fünf wurde,<br />
bekam ich endlich meine erste Violine.<br />
Von diesem Tag gibt es eine Tonbandaufnahme,<br />
die mein Vater, der beim Radio<br />
arbeitete, gemacht hat. Er fragte mich:<br />
«Nun, Rachel, du hast heute deine<br />
Geige bekommen – freust du dich, darauf<br />
zu spielen?» Und meine Antwort,<br />
mit Kleinmädchenstimme, war: «Oh ja,<br />
ich habe mein ganzes Leben davon geträumt.»<br />
Also haben Ihre Eltern Sie durchaus<br />
nicht in eine Musikkarriere geschubst?<br />
Überhaupt nicht, aber sie haben<br />
mich stets unterstützt bei<br />
meinen Wünschen. Und die<br />
waren stark: Ich habe meine<br />
Geige leidenschaftlich<br />
geliebt, fand sie wunderschön<br />
und hab sie sogar<br />
mit ins Bett genommen.<br />
Als Kind war das<br />
Geigeüben für mich<br />
auch nicht Arbeit,<br />
sondern das waren<br />
vergnügliche Freizeitstunden.<br />
Erst<br />
meine Lehrer haben<br />
meine Eltern<br />
ein bisschen angetrieben,<br />
als sie<br />
ihnen sagten,<br />
dass sie meine<br />
Begabung<br />
besonders fördern<br />
sollten.<br />
Ziemlich abgebrüht sind die Neuntklässler vom Muristalden am Werk. Die richtige Pose ist schon die halbe Miete.<br />
Belinda. Dann spielen sie «Jailhouse<br />
Rock» von Elvis Presley. Der Song sitzt<br />
nicht schlecht.<br />
Dieser muffige Keller, das durchgesessene<br />
Sofa, die glänzenden Augen: Hier ist<br />
das Flashback unvermeidlich. Die Erinnerungen<br />
katapultieren mich zurück in<br />
die 90er-Jahre und in den viel zu kleinen,<br />
stickigen Keller, wo wir trashige,<br />
dafür laute Musik machen. Punkmusik.<br />
Der wöchentliche Gang mit Freunden<br />
in den Proberaum war unverzichtbar,<br />
Sie spielen eine italienische Geige aus dem<br />
Jahr 1750 ...<br />
... genau, eine Emiliani. Allerdings<br />
nicht mehr lange, denn ich bekomme<br />
von einer Stiftung eine Stradivari zur<br />
Verfügung gestellt. Ich darf das Instrument<br />
sogar auswählen. Das ist schon ein<br />
grossartiges Gefühl, die Erfüllung eines<br />
Kindertraumes!<br />
Sie haben Ihr Hobby zum Beruf gemacht. Das<br />
ist nicht ganz ungefährlich. Hatten Sie nie das<br />
Gefühl einen Teil Ihrer Jugend verpasst zu<br />
haben?<br />
Ich erinnere mich an die Jugendzeit<br />
als eine Phase enormen Vergnügens.<br />
Nachdem ich mit 15 die obligatorische<br />
Schule verlassen durfte, die für mich<br />
immer eine Pflichtübung gewesen war,<br />
stürzte ich mich in das Musikstudium<br />
und war begeistert von den Theoriekursen<br />
am Konservatorium – und es gefiel<br />
mir, mit Erwachsenen zusammen zu<br />
sein und als Erwachsene zu gelten. Mit<br />
12, 13 habe ich erste Preise gewonnen,<br />
was mich sehr motiviert hat, die Musik<br />
zu meinem Beruf zu machen. Natürlich<br />
habe ich diese Entscheidung sehr früh<br />
getroffen – aber da ich mit 14 bereits das<br />
Lehrdiplom in der Tasche hatte, konnte<br />
ich ja schlimmstenfalls immer noch unterrichten,<br />
wenn es mit der Musikkarriere<br />
nicht klappen sollte.<br />
Sie spielen ein Konzert zur Fussballpause. Wie<br />
sehr ähneln sich die Karriere eines Spitzensportlers<br />
und einer Spitzenmusikerin?<br />
Was uns auf jeden Fall verbindet, ist die<br />
tägliche Disziplin. Entweder man arbeitet<br />
jeden Tag – Sonntag inbegriffen –,<br />
oder man schafft es nicht. In der Musik<br />
wie im Sport muss man sehr viel trainieren.<br />
Und es gibt ein ganzes Team um<br />
uns herum, das unsere Arbeit ermöglicht.<br />
Sowohl im Sport als auch in der<br />
Musik ist man wohl ziemlich auf sich<br />
selbst gestellt.<br />
denn der Antrieb waren ein paar Konzerte,<br />
Ansehen auf dem Schulhof und die<br />
grossen Augen der schönsten Mädchen<br />
der Schule. Das waren Zeiten.<br />
Abgeklärt das Konzert vor Augen<br />
Nach 20 Minuten ist die Show vorbei.<br />
Die sieben Jugendlichen setzen sich auf<br />
die Sofas ums Tischchen herum und<br />
reissen mich aus meinen Tagträumen.<br />
Auf den grossen Auftritt im Bierhübeli<br />
angesprochen, bleiben sie ganz schön<br />
Und wenn man mit 25 Jahren nicht an der<br />
Spitze ist, dann ist die grosse Karriere<br />
gelaufen ...<br />
Das stimmt, ist aber in der klassischen<br />
Musik eine eher neue Erscheinung. Vor<br />
40, 50 Jahren haben die grossen Musiker<br />
erst mit vielleicht 40 Karriere gemacht –<br />
denken wir etwa an David Oistrach, den<br />
grossen Violinisten des 20. Jahrhunderts.<br />
Das Starsystem, wie wir es heute<br />
kennen, gab es damals nicht. Lange Zeit<br />
zählte in der klassischen Musik die Reife<br />
des Künstlers.<br />
Sie sind verheiratet und haben eine kleine<br />
Tochter. Hat sie schon Interesse an einem<br />
Instrument geäussert?<br />
Nein, noch nicht, meine Tochter ist erst<br />
zwei Jahre alt. Ich denke, wenn sie mich<br />
voller Enthusiasmus mit meinem Instrument<br />
sieht, versteht sie, wie viel Vergnügen<br />
Musik bereiten kann. Oft tanzt<br />
sie, wenn ich spiele. Und stets will sie an<br />
den Saiten der Geige zupfen.<br />
Sie sind Mitglied des Ensembles Paul Klee, das<br />
sich oft mit zeitgenössischer Musik befasst.<br />
Was ist Ihnen in der klassischen Musik am<br />
nächsten?<br />
Am meisten liebe ich die Musik vom Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts, die Romantiker<br />
der letzten Stunde wie Ravel und Debussy,<br />
die impressionistische Musik mit<br />
ihren Farben. Die zeitgenössische Musik<br />
dagegen schätze ich vor allem, weil sie<br />
mir die Möglichkeit zu Begegnungen mit<br />
den Komponisten gibt. Ich erfahre gern<br />
mehr über ihre Vision der Kunst, ihre<br />
Ansichten über das Leben und die Welt.<br />
Christoph Hoigné<br />
cool: «Nein, jetzt haben wir noch nicht<br />
Schiss», sagt Sänger Tobias. «Das Lampenfieber<br />
kommt eine Stunde vor dem<br />
Konzert», ergänzt Adrian abgeklärt. Die<br />
meisten von ihnen haben noch kaum<br />
Erfahrung mit Auftritten, deshalb bleibt<br />
man realistisch: «Wir freuen uns aufs<br />
Konzert, aber gewinnen muss nicht unbedingt<br />
sein», hält Tobias den Ball tief.<br />
Die Kür zur Band des Jahres ist ein basisdemokratischer<br />
Akt: Das Publikum<br />
wählt seine Lieblingsband.<br />
In der Petruskirche spielen sie das Violinkonzert<br />
Nr. 1 von Max Bruch (1838–1920), ein für<br />
die Solistin sehr anspruchsvolles Werk.<br />
Ich wurde dafür angefragt, weil ich dieses<br />
Konzert schon in den Fingern habe.<br />
Max Bruch ist ein Komponist, der nicht<br />
besonders häufig gespielt wird, mit Ausnahme<br />
dieses Violinkonzerts. Ein romantisches<br />
Werk, das ich sehr liebe; es<br />
ist hervorragend komponiert, sehr transparent<br />
und ausbalanciert. Ein Konzert,<br />
bei dem die Sologeige nicht gegen das<br />
Orchester ankämpfen muss. Insbesondere<br />
der dritte Satz ist sehr dicht, voller<br />
Feuer, geradezu vulkanisch.<br />
Welches Feuer brennt in Ihnen, welche<br />
Wünsche und Pläne haben Sie für die Zukunft?<br />
Ich habe mehrere Projekte für CD-Aufnahmen,<br />
vier davon mit einem Orchester.<br />
Ausserdem habe ich mich mit neuen<br />
Partnern für Kammermusik zusammengetan.<br />
Und ich wirke als künstlerische<br />
Leiterin des Festivals Rivera zwischen<br />
Montreux und Vevey.<br />
Studien besagen, dass das Publikum für<br />
klassische Musik in den nächsten Jahren um<br />
30 Prozent zurückgehen wird, der CD-Mark ist<br />
im freien Fall. Macht Ihnen dies Angst?<br />
Angst nicht, aber es macht mich etwas<br />
traurig. Ich finde es sehr schade, dass<br />
nicht mehr getan wird, um die Kinder<br />
und Jugendlichen an klassische Musik<br />
heranzuführen. Das Erste, was man<br />
beim Sparen an den Schulen fallen lässt,<br />
ist die Kultur.<br />
Als Musikerin habe ich eine Leidenschaft,<br />
die ich gerne mit anderen teile.<br />
Klassische Musik kann uns enorm viel<br />
geben: grosse Gefühle wie Trauer, Begeisterung,<br />
aber auch Denkanstösse,<br />
oder Energie für zwei Wochen. Ich bin<br />
überzeugt, dass es einen Modernisierungsschub<br />
braucht, um sie als Teil unseres<br />
Lebens zu erhalten – klassische<br />
Musik muss cooler werden.<br />
<br />
Christoph Hoigné<br />
\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\<br />
Orchestergesellschaft Zürich.<br />
Konzerte zur Fussballpause<br />
Petruskirche, Bern. Sa., 28.6., 20 Uhr<br />
www.rachelkolly.com<br />
www.ogz.ch<br />
Support der ehemaligen WG-Gspändli<br />
Musiklehrerin Regula Neuhaus leitet die<br />
Schülerband, die aber am Konzert auf<br />
sich selbst gestellt sein wird. Denn Regula<br />
Neuhaus organisiert den Anlass. Musikerkollegen<br />
helfen mit, ehemalige WG-<br />
Mitbewohner unterstützen sie und auch<br />
Saalverleiher und Equipmentvermieter<br />
zeigen sich grosszügig. Ohne diesen<br />
Support wäre es gar nicht erst möglich,<br />
dieses Festival durchzuführen. Regula<br />
Neuhaus selbst hat viele Stunden in den<br />
Anlass gesteckt, mit Überzeugung: «Ich<br />
mache das gerne und mit Leidenschaft,<br />
weil ich weiss, dass den Jugendlichen<br />
das Mitspielen in einer Band gut tut.»<br />
Bei ihrer aus verschiedenen Klassen<br />
zusammengewürfelten Band merkt sie,<br />
wie die Schüler aufeinander zugehen<br />
und Freude daran haben, zusammen etwas<br />
zu erarbeiten.<br />
Das Festival geht nun bereits in die<br />
17. Runde. 14 Bands der sechsten bis<br />
neunten Klassen messen sich in 15- bis<br />
20-minütigen Sets. Seit acht Jahren ist<br />
Regula Neuhaus nun für den Anlass<br />
verantwortlich und ihre anhaltende Begeisterung,<br />
damit sinnvolle Jugendarbeit<br />
zu leisten, steht ihr ins Gesicht geschrieben.<br />
Letztes Jahr sahnte der Muristalden ab,<br />
der jeweils die Neuntklässler an den<br />
Wettbewerb schickt. Ob unsere sieben<br />
jungen Musiker wohl den Titel für ihr<br />
Schulhaus verteidigen können?<br />
Michael Feller<br />
<br />
\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\<br />
«So wi di Grosse». Bierhübeli, Bern<br />
Sa., 28.6., 15.30 bis 22 Uhr<br />
www.bierhuebeli.ch