November / Dezember 2013 - Schwäbisches Tagblatt
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die kleine <strong>November</strong> / <strong>Dezember</strong> <strong>2013</strong> 7<br />
Warum die Gegenwart immer schneller vergeht<br />
Psychologen erforschen die Wahrnehmung der Zeit mit Experimenten und der Analyse von Sprachen<br />
Schon wieder geht ein<br />
Jahr zu Ende: Je älter<br />
der Mensch wird, desto<br />
schneller vergeht die<br />
Zeit. Dieses Gefühl haben<br />
aber nicht nur<br />
Rentner.<br />
Wissenschaftliche Studien<br />
belegen, dass sogar<br />
schon Teenager meinen,<br />
ihre Uhren seien in früheren<br />
Jahren langsamer gelaufen.<br />
„Eine Hypothese<br />
begründet dieses subjektive<br />
Zeitempfinden damit,<br />
dass menschliche Zeitwahrnehmung<br />
wesentlich<br />
durch Stress beeinflusst<br />
wird“, erklärt Rolf Ulrich.<br />
„Je höher der Stress, unter<br />
dem wir stehen, desto kürzer<br />
erscheint uns die<br />
Zeit“, stellt der Professor<br />
für Allgemeine Psychologie<br />
und Methodenlehre an<br />
der Universität Tübingen<br />
fest. „Da wir den Stress<br />
aber gerne vergessen,<br />
kommt uns die Vergangenheit<br />
länger vor als die<br />
Gegenwart.“<br />
Keine Zeit ohne<br />
Raum<br />
Mit seiner Arbeitsgruppe<br />
analysiert Ulrich die Mechanismen<br />
der Zeitwahrnehmung<br />
sowie die Beziehung<br />
von Zeit- und<br />
Sprachverarbeitung. Und<br />
im Rahmen eines von der<br />
EU finanzierten Forschungsprojektes<br />
arbeitet<br />
er zusammen mit Naturwissenschaftlern,<br />
Medizinern,<br />
Linguisten und Philosophen<br />
an dem Thema.<br />
Da der Mensch über kein<br />
Sinnesorgan verfügt, mit<br />
dem er die Zeit direkt<br />
wahrnehmen kann, muss<br />
er sich dieses Phänomen<br />
indirekt erschließen.<br />
„Und das geschieht über<br />
die räumliche Wahrnehmung“,<br />
betont Ulrich.<br />
Eine Erkenntnis, die sich<br />
mit Beispielen aus der<br />
Alltagsprache zigfach belegen<br />
lässt: Weihnachten<br />
steht vor der Tür, der<br />
Sommerurlaub liegt hinter<br />
uns und der Chef hat die<br />
Sitzung zwei Tage nach<br />
vorne verschoben.<br />
Hinten ist in China<br />
oben<br />
„Alle Sprachen der Welt<br />
verwenden räumliche Begriffe,<br />
um zeitliche Sachverhalte<br />
auszudrücken“,<br />
weiß Ulrich. „Und Kleinkinder<br />
müssen erst räumliche<br />
Vorstellungen entwickeln,<br />
bevor sie Aussagen<br />
verstehen können, die zwischen<br />
Vergangenheit, Gegenwart<br />
und Zukunft differenzieren.“<br />
Wie wir die Zeit auf Achsen<br />
verorten, die von links<br />
nach rechts und von hinten<br />
nach vorne verlaufen, untersuchen<br />
Psychologen<br />
auch im Labor: In einem<br />
ersten Durchgang sollen<br />
die Versuchspersonen beispielsweise<br />
auf die Zeitangabe<br />
„Zukunft“ mit dem<br />
Wort „vorne“ und auf die<br />
„Vergangenheit“ mit „hinten“<br />
reagieren. Im zweiten<br />
Der Tübinger Psychologe Rolf Ulrich untersucht den Zusammenhang<br />
von Uhren und Kulturen.<br />
Bilder: Zibulla<br />
Durchgang liegt dann die<br />
Zukunft „hinten“ und die<br />
Vergangenheit ist „vorne“.<br />
Ulrich: „Ein Vergleich der<br />
Reaktionszeiten zeigt, dass<br />
sich die Probanden mit<br />
dem zweiten Durchgang<br />
erheblich schwerer tun.“<br />
Chinesen hätten wahrscheinlich<br />
mit beiden<br />
Durchläufen ziemliche<br />
Probleme. „Denn im Mandarin<br />
ist die Vergangenheit<br />
oben und die Zukunft unten“,<br />
sagt Ulrich. „Unsere<br />
Wahrnehmung der Zeit<br />
wird eben auch von kulturellen<br />
Faktoren beeinflusst.“<br />
Die experimentelle Erforschung<br />
der Zeitwahrnehmung<br />
geht in Tübingen<br />
bis auf Karl von<br />
Vierordt zurück, der<br />
1868 seine Studie über<br />
den Zeitsinn veröffentlichte.<br />
„Sein Gesetz, wonach<br />
der Mensch bei der<br />
Wahrnehmung von Zeit<br />
zur Bildung von Mittelwerten<br />
tendiert und deshalb<br />
kurze Zeiträume<br />
überschätzt und lange<br />
Zeiträume unterschätzt<br />
ist inzwischen durch viele<br />
Untersuchungen bestätigt<br />
worden“, stellt Ulrich<br />
fest.<br />
Stefan Zibulla