13.10.2014 Aufrufe

Wirtschaftswoche Ausgabe vom 13.10.2014 (Vorschau)

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

42<br />

<strong>13.10.2014</strong>|Deutschland €5,00<br />

4 2<br />

4 1 98065 805008<br />

Der „Islamische Staat“ bedroht die Weltwirtschaft<br />

Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Einblick<br />

Geschäftsberichte, Markenkommunikation und<br />

Terror als Produkt. Der „Islamische Staat“ agiert wie<br />

ein globaler Konzern. Von Miriam Meckel<br />

Kriegsökonomie<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Die Geschäfte der radikalen Terrororganisation<br />

„Islamischer<br />

Staat“ („IS“) laufen blendend.<br />

Das klingt schrecklich, ist aber<br />

wahr. Der Kampf um Kobane in Nordsyrien<br />

ist nur eine weitere martialische<br />

Transaktion. Sie ist ausgerichtet auf eine<br />

geopolitische Übernahme – so steigert der<br />

„IS“ seinen Macht- und Marktanteil gegenüber<br />

der internationalen Anti-Terror-<br />

Allianz. Mit bedrückender strategischer<br />

und operativer Präzision arbeiten sich die<br />

Dschihadisten im Mittleren Osten vor. Der<br />

„IS“ ist der reichste und bestorganisierte<br />

Terrorkonzern der Welt. Sein Produkt ist<br />

der Terror, seine Währung die Angst.<br />

Seit 2011 wurde konsequente Arbeit geleistet.<br />

Der „IS“ agiert nicht nur auf<br />

schreckliche Weise kompromisslos. Er legt<br />

über sein Vorgehen in Geschäftsberichten<br />

(„al-Naba“, die Nachricht) Rechenschaft ab<br />

– in Optik und Anmutung ausgerichtet an<br />

Konzernen der Weltwirtschaft und angereichert<br />

mit professionellen Infografiken.<br />

Ihre KPIs (Key Performance Indicators)<br />

heißen: Mordanschläge, Sprengstoffattacken,<br />

Enthauptungen.<br />

Das Institute for the Study of War in Washington<br />

hat die Berichte systematisch<br />

ausgewertet. Allein für das Jahr 2013 verzeichnet<br />

das Portfolio der Terroristen 1083<br />

Morde, 607 Granatenangriffe, 4465 Sprengstoffanschläge.<br />

Der Bericht liefert die Zahlen<br />

nach Bedarf auch noch differenzierter,<br />

auf einzelne Regionen der umkämpften<br />

Gebiete heruntergebrochen.<br />

Die Geschäfte des „Islamischen Staats“<br />

laufen auch finanziell blendend. Um die<br />

425 Millionen Dollar soll die Terrormiliz allein<br />

durch die Plünderung der Zentralbank<br />

von Mossul erbeutet haben. Laufende Einnahmen<br />

stammen aus Schutzsteuern der<br />

Bevölkerung und dem Schwarzhandel mit<br />

Öl aus Quellen in den kontrollierten Gebieten.<br />

Für uns alle ist der Preis hoch: Menschen<br />

werden zu Hunderten brutal abgeschlachtet.<br />

Eine Milliarde Dollar hat der<br />

Kampf gegen den „IS“ die USA bereits gekostet.<br />

Es wird noch viel teurer werden –<br />

Kosten der Konjunktureinbrüche, Destabilisierung<br />

und des Vertrauensverlusts. In einer<br />

Ökonomie der Aufmerksamkeit ist<br />

Angst für Terroristen die härteste Währung.<br />

Uneinigkeit und Partialinteressen bei<br />

den Stakeholdern im arabischen Raum<br />

treiben die Preise hoch. Saudi-Arabien unterstützt<br />

offiziell die US-geführte Allianz im<br />

Kampf gegen den „IS“. Doch auf versteckten<br />

Wegen fließt das Geld von Großfinanziers<br />

im Land in die Kassen der Terroristen.<br />

Die Türkei dagegen, Nato-Partner, wir erinnern<br />

uns dunkel, hat für ihre Panzer an der<br />

Grenze zu Syrien Dauerparkplätze eingerichtet.<br />

Da stehen sie nun rum. Präsident<br />

Erdogan will vor allem eines nicht:die Kurden<br />

in Syrien unterstützen – und liefert ein<br />

Beispiel für politischen „moral hazard“. Die<br />

Türkei will den Nato-Bündnisfall provozieren,<br />

um dann <strong>vom</strong> politischen „Bail-out“<br />

zu profitieren. Diese Uneinigkeit der Staaten<br />

in der Region lässt sich durch den „IS“<br />

wunderbar hedgen: als Absicherung seiner<br />

Strategie geopolitischer und ideologischer<br />

Anteilsübernahme.<br />

TERRORBRANDING IM INTERNET<br />

Alles, was der „Islamische Staat“ tut, ist<br />

durch eine professionelle Kommunikation<br />

des Grauens unterlegt. Videos von Enthauptungen<br />

und Autobombenexplosionen<br />

sind überall im Internet zu finden und verbreiten<br />

sich viral. Im Umgang mit Twitter<br />

und YouTube schlägt der „IS“ manchen US-<br />

Großkonzern. Eine eigene App („Die Morgendämmerung<br />

der Freudenbotschaft“),<br />

die das Telefon der Nutzer hackt und<br />

„IS“-Botschaften am laufenden Bit sendet,<br />

wurde durch Google gestoppt. Aber: Ein<br />

Twitter-Konto wird abgeschaltet, zehn<br />

neue entstehen. Das Internet ist eine große<br />

Marketingplattform – auch für Terroristen.<br />

Die Terrormiliz hat eine starke Marke.<br />

Sie lässt sich auch für die Rekrutierung von<br />

Nachwuchskämpfern effizient nutzen:<br />

„Employer Branding“ für potenzielle<br />

Selbstmordattentäter und Söldner des<br />

grausamen Tötens. Wie weit die Zuversicht<br />

in ein gelungenes Leben und eine hoffnungsvolle<br />

Zukunft bei denen heruntergewirtschaftet<br />

sein muss, die sich davon<br />

blenden lassen, will man sich kaum vorstellen.<br />

n<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 3<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Überblick<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

6 Seitenblick Hopfen mit Bonbonnote<br />

8 Sportwetten: Staatsvertrag auf der Kippe<br />

9 Bang & Olufsen: Trendwende | Amazon:<br />

Deutsches Rechenzentrum öffnet<br />

10 Interview: Finanzwissenschaftler Markus<br />

Kerber attackiert die EZB | Babynahrung:<br />

Streit um Versorgungslage<br />

12 Nobelpreis: Geschäft für Leica und Zeiss |<br />

Hochtief: Krankheit vorgeschoben | Drei<br />

Fragen zum Kauf von Gruner + Jahr<br />

14 Bahn: Konkurrenz aus England | Audi:<br />

Luxus-Carsharing für Schweden | Draghi:<br />

Deutsche Englischverweigerer bremsen<br />

16 Chefsessel | Start-up UniCoach<br />

18 Chefbüro E.On-Chef Johannes Teyssen<br />

Titel Die Angst rückt näher<br />

So brutal die islamistischen Milizen<br />

im Irak und in Syrien auch wüten – der<br />

Westen wähnt sie weit weg. Doch die<br />

Folgen des Kriegs bekommt die ganze<br />

Welt zu spüren. Europas Sicherheit ist<br />

in Gefahr, neue Risiken bedrohen die<br />

Weltwirtschaft. Seite 20<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

20 Terror Der „Islamische Staat“ bedroht die<br />

Weltwirtschaft | Interview: Alois Stutzer erklärt,<br />

warum Angst mehr schadet als nutzt |<br />

Forum: Volkhard Windfuhr über Versäumnisse<br />

des Westens | Die Bundeswehr könnte<br />

durchaus mehr leisten<br />

32 Streitgespräch Unternehmer Fabian Heilemann<br />

und SPD-Hoffnungsträger Jan Stöß<br />

debattieren die Chancen der IT-Szene Berlin<br />

36 Transparenz Hamburgs Verwaltung stellt<br />

ihre Daten ins Netz. Nicht alle finden das toll<br />

38 Ukraine OSZE-Beobachter leben gefährlich<br />

39 Global Briefing | Berlin intern<br />

Der Volkswirt<br />

40 Kommentar<br />

41 Deutschland-Konjunktur<br />

42 Nachgefragt: Leon Louw Der Aktivist<br />

bricht eine Lanze für die Ungleichheit<br />

44 Denkfabrik Ökonom Holger Schmieding<br />

nimmt Europas Zentralbank in Schutz<br />

Unternehmen&Märkte<br />

46 Fiat Konzernchef Sergio Marchionne baut<br />

das Turiner Traditionsunternehmen um<br />

52 Interview: Keith Block Der Präsident von<br />

Salesforce sagt SAP den Kampf an<br />

54 Banken Faule Schiffskredite in Milliardenhöhe<br />

bedrohen deutsche Institute<br />

58 Allianz Wie Oliver Bäte, der designierte<br />

Vorstandschef, tickt<br />

60 Interview: Ulrich Spiesshofer Der Chef<br />

des Anlagenbauers ABB gesteht Fehler ein<br />

62 Tengelmann Der Verkauf der Supermärkte<br />

ist noch längst nicht über die Bühne<br />

64 Segafredo Espresso-König Massimo Zanetti<br />

ist anders als die meisten seiner Kaste<br />

68 Spezial Mittelstand Kleinere Unternehmen<br />

zeigen, wie sie sich gegen Konzerne behaupten<br />

| Alnatura | Germania | Tobit | Eugen<br />

Trauth & Söhne | Abeking & Rasmussen<br />

84 Serie: Fit for Future (IV) Wie Mittelständler<br />

Probleme bei Firmenübernahmen<br />

in Osteuropa und Asien überwinden<br />

Turiner Träumereien<br />

Mit dem Börsengang inszeniert Konzernchef Sergio Marchionne<br />

für den italienischen Autobauer Fiat ein Finale im Stil einer ernsten<br />

Oper – voller Emotionen, Hoffnungen und Versprechen. Seite 46<br />

TITELILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />

4 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Nr. 42, <strong>13.10.2014</strong><br />

Technik&Wissen<br />

86 Fotografie Mit lichtstarken und kompakten<br />

High-End-Geräten reagiert die Kameraindustrie<br />

auf den Boom der Smartphones<br />

91 Computer Daddeln am PC wird Profisport<br />

93 Valley Talk<br />

Deutschlands<br />

Geheimwaffe<br />

Ausländer bestaunen<br />

deutsche Mittelständler<br />

wie Alnatura-Chef Götz<br />

Rehn. Mit Flexibilität,<br />

Kundennähe und Innovationen<br />

gelingt es den<br />

Familienunternehmen,<br />

Konzernen zu trotzen<br />

und Weltmarktführer zu<br />

werden. Seite 68<br />

Wohin mit dem Geld?<br />

Wie Sie jetzt 15 000 oder 50 000 Euro in Aktien, Anleihen und Gold<br />

anlegen. Die Strategie ist erprobt, wer langen Atem bewahrt, muss<br />

weder Nullzins noch Aktiencrash fürchten. Seite 100<br />

Management&Erfolg<br />

94 Industrie 4.0 Die Digitalisierung verändert<br />

die Produktion, aber auch Jobprofile<br />

98 Planspiele In virtuellen Szenarien lernen<br />

Jungmanager, Unternehmen zu führen |<br />

Management Cup: Spielen Sie Chef!<br />

Geld&Börse<br />

100 Geldanlage Aktien, Anleihen, Gold: Richtig<br />

investieren in Zeiten der Zins-Dürre<br />

108 Erbschaften Wie geprellte Erben Konten<br />

von Verstorbenen aufspüren<br />

110 Interview: Bill Gross Der Guru über die<br />

Märkte und seinen Abgang bei Pimco<br />

112 Steuern und Recht Bahnstreik und Pendler<br />

| Was Vermieter kassieren dürfen | Erbschaft |<br />

Zusatzleistungen <strong>vom</strong> Chef | Ärger im Büro<br />

114 Geldwoche Kommentar: Anleihe-Desaster |<br />

Trend der Woche: Börsen drehen ab | Dax-<br />

Aktien: Lufthansa | Hitliste: Schwellenländer<br />

| Aktie: Deutsche Bank | Anleihe: VW in<br />

Pfund Sterling | Investmentfonds: Manager<br />

Michael Muders zu gefloppten Internet-<br />

Börsengängen | Chartsignal: ifo-Index<br />

drückt den Dax | Relative Stärke: Südzucker<br />

ILLUSTRATION: EDWIN FOTHERINGHAM; FOTOS: LAIF/OLIVER RUETHER, CORBIS IMAGES/OCEAN/CHRIS TOBIN<br />

Edle Blickfänger<br />

Getrieben durch die Konkurrenz der Smartphones, besinnt<br />

sich die Fotobranche auf ihre Innovationskraft – und erfindet<br />

eine neue Kameragattung. Die hat es in sich. Seite 86<br />

Perspektiven&Debatte<br />

122 Bonds Shakespeares „Kaufmann von<br />

Venedig“ lehrt viel über Schuldenwirtschaft<br />

126 Kost-Bar<br />

Rubriken<br />

3 Einblick, 128 Leserforum,<br />

129 Firmenindex | Impressum, 130 Ausblick<br />

n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />

weltweit auf iPad oder iPhone:<br />

Diesmal mit unserem neuen<br />

Video-Streitformat „Schlag auf<br />

Schlag“, einem virtuellen<br />

Rundgang durch das<br />

Turiner Auto-Museum<br />

und einem 360-Grad-<br />

Blick durchs Chefbüro.<br />

wiwo.de/apps<br />

n Nordkorea Autor und Nordkorea-<br />

Kenner Rüdiger Frank spricht im<br />

Interview über das verschwiegene<br />

kommunistische Land und Diktator<br />

Kim Jong-un. wiwo.de/nordkorea<br />

facebook.com/<br />

wirtschaftswoche<br />

twitter.com/<br />

wiwo<br />

plus.google.com/<br />

+wirtschaftswoche<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 5<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Seitenblick<br />

BIERMARKT<br />

Edler Hopfen<br />

Nach schweren Jahren erleben die deutschen Hopfenbauern eine Trendwende. Denn die<br />

kleinen Brauer der boomenden Craft-Biere benötigen riesige Mengen teurer Spezialsorten.<br />

Reiche Ernte Hopfenbauer<br />

Peter Bentele (Mitte) bei<br />

Tettnang im Hinterland<br />

des Bodensees<br />

6 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


35 000 Tonnen<br />

wurden jetzt in Deutschland geerntet, das ist etwa ein<br />

Drittel der weltweiten Produktion. Der Großteil davon<br />

wird in der bayrischen Hallertau zwischen Landshut<br />

und Ingolstadt angebaut. In den vergangenen<br />

Jahren gingen die Anbauflächen zurück. Doch 2014<br />

gab es wieder einen Anstieg, für Experten eine<br />

Trendwende. Ein Grund: die wachsende Nachfrage<br />

nach Spezialhopfen für Craft-Bier.<br />

Hopfen<br />

1 Prozent der weltweiten Bierproduktion erzeugen<br />

die kleinen, unabhängigen Brauer allein in<br />

den USA, wo der Trend zum Craft-Bier entstanden ist.<br />

Dabei verbrauchen sie jedoch zehn Prozent der weltweiten<br />

Hopfenernte, da die Spezialbiere wie India<br />

Pale Ale oft viel bitterer sind. Zudem nutzen die kleineren<br />

Brauer besondere Hopfensorten. Das „Gewürz<br />

des Bieres“ verleiht diesem so besondere Noten.<br />

5 der 17 deutschen Sorten kamen in den vergangenen<br />

zwei Jahren neu auf den Markt, darunter Polaris „mit<br />

der Note eines Gletschereisbonbons“.<br />

30 Euro kostet ein Kilo der Sorte Centennial.<br />

Für normale Sorten bekommen die Hopfenbauern<br />

im Schnitt fünf Euro. Der Anteil der Aromahopfen<br />

macht inzwischen in Deutschland 55 Prozent aus.<br />

„Trotzdem sind die sogenannten feinen Aromahopfen<br />

der Ernte 2014 schon weitestgehend ausverkauft“,<br />

sagt Thomas Raiser, Verkaufsleiter des weltgrößten<br />

Hopfenhändlers Joh. Barth & Sohn aus Nürnberg.<br />

oliver.voss@wiwo.de, thorsten firlus<br />

Besondere Hopfensorten und ihre Aromen<br />

Aurora<br />

Menthol,<br />

Zitrus,<br />

Holz und<br />

Kräuter<br />

Cascade<br />

Litschi,<br />

Zitrus,<br />

Sahne,<br />

Kräuter und<br />

rote Beeren<br />

Centennial<br />

Harz, Holz<br />

und<br />

rote Beeren<br />

Citra<br />

Grüne<br />

Früchte,<br />

rote Beeren,<br />

Limette,<br />

Mango,<br />

florale Noten<br />

Hallertau<br />

Blanc<br />

Menthol,<br />

grüne Früchte,<br />

fruchtigblumig,<br />

Zitronengras<br />

FOTO: LAIF/BERND JONKMANNS<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 7<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

Kein großer Wurf<br />

Hessens Ministerpräsident<br />

Bouffier<br />

SPORTWETTEN<br />

Neues Spiel, neues Glück<br />

Der Staatsvertrag steht auf der Kippe. Nun<br />

sollen die Ministerpräsidenten wieder<br />

ran, fordert der hessische Regierungschef.<br />

Am Donnerstag sind sie gefordert.<br />

Der Glücksspielstaatsvertrag, der auch das Betreiben<br />

von Sportwetten regelt, kommt erneut auf den<br />

Prüfstand. Auf Wunsch des hessischen Ministerpräsidenten<br />

Volker Bouffier beraten er und seine<br />

Kollegen auf ihrer Jahreskonferenz am Donnerstag<br />

in Potsdam, wie es mit der verkorksten Regulierung<br />

der Sportwetten weitergehen soll. Die Regierung in<br />

Wiesbaden steht in der Öffentlichkeit am Pranger,<br />

weil die Zulassung von Sportwetten an allen Ecken<br />

hakt. Dabei führt Hessen nur im Auftrag aus, was alle<br />

16 Bundesländer gemeinsam im Staatsvertrag<br />

beschlossen haben.<br />

Nachdem bei der Vergabe der vorgesehenen 20<br />

Konzessionen viele Bewerber leer ausgegangen<br />

waren, hatten diese vor Gericht zunächst in einer<br />

Eilentscheidung durchgesetzt, dass das Lizenzverfahren<br />

vorläufig ausgesetzt wird. Träten die Zulassungen<br />

sofort in Kraft, könnten sich die glücklichen<br />

ausgewählten Anbieter „angesichts des stark umkämpften,<br />

lukrativen Markts für Sportwetten“ erhebliche<br />

Vorteile sichern, urteilte der Hessische<br />

Verwaltungsgerichtshof Dienstag vergangener Woche.<br />

Die Richter wiesen damit eine Beschwerde des<br />

hessischen Innenministeriums gegen den Stopp<br />

zurück. Sollten die Richter in weiteren Verfahren<br />

verfügen, dass gar der Ausgang des Hauptsacheverfahrens<br />

abgewartet werden müsse, träten die Konzessionen<br />

jahrelang nicht in Kraft.<br />

Zudem hatte das Verwaltungsgericht Wiesbaden<br />

bereits im August festgestellt, dass das Gremium<br />

zur Vergabe der Konzessionen gar nicht befugt sei.<br />

Im sogenannten „Glücksspielkollegium“ entscheiden<br />

die zuständigen Referenten der Länder, teilweise<br />

mit Mehrheit. Hierdurch werde eine „dritte Ebene“<br />

jenseits von Bund und Ländern geschaffen, die<br />

es nicht geben dürfe, hatte der Leipziger Staatsrechtler<br />

Christoph Degenhart in einem Gutachten<br />

begründet. Es halte die darin „aufgezeigten Bedenken<br />

hinsichtlich der Legitimation des Glücksspielkollegiums<br />

für durchgreifend“, so das Gericht.<br />

Hessen hat nun die 15 anderen Bundesländer<br />

wissen lassen, dass es im vertraulichen Kamingespräch<br />

der Ministerpräsidenten am Donnerstag<br />

seinen schon früher einmal vorgebrachten Vorschlag<br />

wiederholen will, die Zahl der Konzessionen<br />

deutlich zu erhöhen. Die Mehrheit der Länder sieht<br />

das skeptisch, weil das Ziel des Staatsvertrages ja<br />

gerade eine Begrenzung des Angebots sei. Sie<br />

wollen zumindest abwarten, ob die Gerichte die<br />

Konzessionen bis zum Ende der Hauptverfahren<br />

aussetzen. In diesem Fall müsse man in der Tat entscheiden,<br />

ob die gesamte Konstruktion erneuert<br />

werden muss.<br />

henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />

Der Staat gewinnt<br />

Einnahmen der Länder<br />

aus der Rennwett- und<br />

Lotteriesteuer<br />

(in Millionen Euro)<br />

2012 2013 1. Hj. 2014<br />

Rennwett- und Lotteriesteuer<br />

865,2<br />

1432,0<br />

1635,3<br />

darunter: Sportwettsteuer<br />

84*<br />

188,7<br />

106<br />

* die Sportwettsteuer wird ab<br />

1. Juli 2012 erhoben; Quelle: BMF<br />

FOTO: LAIF/GABY GERSTER<br />

8 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


BANG & OLUFSEN<br />

Mehr Läden geplant<br />

Bang & Olufsen-Chef Tue<br />

Mantoni will die Sanierung des<br />

dänischen Unternehmens beschleunigen.<br />

Im Zuge der Finanzkrise<br />

konnte der Konzern<br />

seine Luxusfernseher und Edel-<br />

Soundsysteme nur noch<br />

schleppend absetzen. Nun<br />

scheint das Schlimmste überstanden<br />

zu sein. Im Ende Mai<br />

abgelaufenen Geschäftsjahr<br />

stieg der Umsatz leicht auf rund<br />

385 Millionen Euro. Erstmals erwirtschaftete<br />

Bang & Olufsen<br />

wieder einen kleinen Vorsteuergewinn<br />

von 400 000 Euro. „Zwar<br />

wird es von Quartal zu Quartal<br />

Völlig neuer Sound<br />

Bang & Olufsen-Chef Mantoni<br />

weiterhin Schwankungen geben“,<br />

sagt Mantoni, „aber ich<br />

gehe für die nächsten drei Jahre<br />

von einem jährlichen Wachstum<br />

von zehn Prozent aus.“<br />

In Europa wächst das Unternehmen<br />

derzeit um 20 Prozent<br />

jährlich, vor allem in Deutschland<br />

und Großbritannien. Mit<br />

einem Umsatzanteil von zehn<br />

Prozent ist Deutschland aktuell<br />

der wichtigste Markt.<br />

In China allerdings verdoppelt<br />

der Konzern jedes Jahr seinen<br />

Umsatz. Noch vor drei Jahren<br />

erzielte er dort drei Prozent<br />

des Gesamtumsatzes, heute<br />

sind es zehn Prozent. „In drei<br />

Jahren rechne ich mit 20 Prozent“,<br />

sagt Mantoni.<br />

Als er vor dreieinhalb Jahren<br />

den Chefposten übernahm,<br />

schloss er 150 der damals 800<br />

Läden. „Wir konzentrieren uns<br />

nur noch auf Top-Lagen“, sagt<br />

der Däne. Auch will Bang &<br />

Olufsen mehr Geschäfte in Eigenregie<br />

betreiben statt als<br />

Franchise. In China kaufte<br />

Mantoni den lokalen Franchisepartner.<br />

Rund 40 Läden unterhält<br />

das Unternehmen dort.<br />

Insgesamt will es in den kommenden<br />

Monaten 60 neue<br />

Shops eröffnen, vor allem in<br />

Deutschland, Großbritannien –<br />

und natürlich in China.<br />

matthias.kamp@wiwo.de | München<br />

Aufgeschnappt<br />

AfD im Goldrausch Vom Euro<br />

hält die AfD nicht viel, nun bietet<br />

sie ihren Anhängern eine Alternative<br />

an: Goldmünzen und<br />

Goldbarren aus dem eigenen<br />

Online-Goldshop. Der verlangt<br />

bis zu acht Prozent mehr als andere<br />

Anbieter. So will die Partei<br />

bis Jahresende zwei Millionen<br />

Euro verdienen. Sonst verlöre<br />

sie einen Teil der staatlichen<br />

Zuschüsse. Deren Höhe richtet<br />

sich nach Wahlerfolg und eigenen<br />

Einnahmen. Und die Zuschüsse<br />

will sich die AfD nicht<br />

entgehen lassen – auch wenn<br />

sie in Euro ausgezahlt werden.<br />

Goldene Reserve 121 Gramm<br />

Gold besitzt jeder erwachsene<br />

Deutsche im Durchschnitt, vier<br />

Gramm mehr als vor zwei Jahren,<br />

so eine Studie des Heraeus-<br />

Konzerns. Insgesamt stieg der<br />

private Goldbestand – inklusive<br />

Schmuck – seit 2012 um knapp<br />

200 Tonnen auf 8200 Tonnen.<br />

AMAZON<br />

Premiere in<br />

Deutschland<br />

Der amerikanische Internet-<br />

Riese Amazon eröffnet voraussichtlich<br />

am 23. Oktober sein<br />

erstes deutsches Rechenzentrum,<br />

in dem andere Unternehmen<br />

ihre Daten speichern<br />

können. Mit seiner Tochter<br />

Amazon Web Services (AWS)<br />

ist der Konzern der weltweit<br />

größte Anbieter von Cloud<br />

Computing. Seit der Datenklauaffäre<br />

des amerikanischen<br />

Geheimdienstes NSA beharren<br />

viele europäische Cloud-Computing-Kunden<br />

darauf, dass<br />

ihre Daten nicht auf Speichern<br />

in den USA abgelegt werden.<br />

Auch der US-Konzern Oracle<br />

kündigte jüngst an, dass er in<br />

Deutschland bis zum Jahresende<br />

zwei Rechenzentren ans<br />

Netz bringen will.<br />

Die Amazon-Tochter AWS<br />

betreibt in Europa bisher nur einen<br />

Cloud-Serverpark – in Irland.<br />

Zum Start des deutschen<br />

Rechenzentrums will sogar<br />

AWS-Chef Andy Jassy nach<br />

Deutschland kommen, wie es<br />

in unternehmensnahen Kreisen<br />

hieß. Erste Indizien für den<br />

Start eines deutschen Rechenzentrums<br />

von AWS waren vor<br />

drei Monaten aufgetaucht<br />

(WirtschaftsWoche 29/2014).<br />

thomas.stoelzel@wiwo.de<br />

Fleißige Beamte Wie viele Überstunden deutsche Arbeitnehmer pro Monat leisten<br />

14:36<br />

bezahlte Überstunden<br />

unbezahlte Überstunden<br />

9:36<br />

7:00<br />

7:18<br />

5:00<br />

4:24 4:18<br />

0:12 0:30<br />

0:54<br />

1:18 1:24 1:30 1:24 1:36<br />

0:30<br />

3:36<br />

2:18<br />

0:12 0:24<br />

FOTOS: PR, FOTOLIA<br />

Vorarbeiter<br />

Gelernte<br />

Arbeiter,<br />

Facharbeiter<br />

Quelle: IAB, September 2014<br />

Meister,<br />

Polier<br />

Angestellte,<br />

einfache Arbeit<br />

Beamte im<br />

gehobenen<br />

Dienst<br />

Angestellte,<br />

qualifizierte<br />

Arbeit<br />

Industrieund<br />

Werkmeister<br />

Leitende<br />

hoch qualifizierte<br />

Angestellte<br />

Beamte im<br />

höheren<br />

Dienst<br />

Angestellte<br />

Führungskräfte<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 9<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

BABYNAHRUNG<br />

Streit um<br />

Versorgung<br />

Produktion erhöht<br />

Unternehmer<br />

Hipp<br />

Als der US-Lebensmittelriese<br />

Heinz kürzlich Babynahrung<br />

in China wegen zu hoher Bleikonzentration<br />

aus den Läden<br />

nahm, schreckten auch deutsche<br />

Mütter auf. Denn während<br />

des letzten Skandals in China<br />

um verseuchte Babymilch im<br />

Jahr 2013 leerten sich auch hierzulande<br />

die Regale, die hiesigen<br />

Produkte wurde in die Volksrepublik<br />

verkauft. Selbst nach einem<br />

Jahr ist keine Entspannung<br />

in Sicht. „Die Gesamtnachfrage<br />

nach Milchnahrung kann nach<br />

wie vor nicht voll gedeckt werden“,<br />

sagt Christoph Werner,<br />

bei der Drogeriekette dm Geschäftsführer<br />

für Beschaffung.<br />

Um Hamsterkäufen vorzubeugen,<br />

ist die Abgabe vieler Produkte<br />

immer noch beschränkt.<br />

Auch Konkurrent<br />

Rossmann<br />

verkauft<br />

von vielen<br />

Produkten<br />

maximal<br />

drei Stück.<br />

Laut Rossmann<br />

„bestehen<br />

derzeit<br />

bei<br />

Hipp-Produkten<br />

Lieferengpässe“.<br />

Der größte deutsche<br />

Produzent von Babynahrung<br />

widerspricht. „Die Regale sind<br />

national gut gefüllt, und sowohl<br />

wir als auch der Handel haben<br />

auch wieder ausreichend Bestände“,<br />

heißt es aus dem Hause<br />

von Claus Hipp. Die Produktion<br />

wurde deutlich erhöht.<br />

Auch Konkurrent Milupa hat<br />

die Produktion verdoppelt und<br />

spricht von einer Entspannung.<br />

Dies zeigten auch die Nachfragen<br />

besorgter Mütter: „Statt<br />

3000 Anrufen pro Woche bekommen<br />

wir jetzt nur noch 30.“<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

INTERVIEW Markus C. Kerber<br />

»Die EZB verfälscht<br />

den Wettbewerb«<br />

Der Berliner Finanzwissenschaftler klagt gegen<br />

die Europäische Zentralbank. Er befürchtet, dass<br />

sie diktatorische Züge entwickelt.<br />

Herr Kerber, der Europäische<br />

Gerichtshof (EuGH) verhandelt<br />

am Dienstag darüber, ob die<br />

Europäische Zentralbank (EZB)<br />

ihre Kompetenzen überschreitet,<br />

wenn sie Anleihen kriselnder<br />

Euro-Staaten aufkauft. Das<br />

2012 von der EZB angekündigte<br />

OMT-Programm erlaubt ihr<br />

dies. Warum haben Sie dagegen<br />

geklagt?<br />

Allein die Ankündigung, im<br />

Notfall Staatsanleihen zu kaufen,<br />

verfälschte den Wettbewerb<br />

auf dem Markt für Staatsschulden<br />

in der Euro-Zone. Die<br />

Renditen für kurzfristige Staatsanleihen<br />

von Deutschland und<br />

Frankreich etwa kennen keine<br />

nennenswerten Unterschiede –<br />

obwohl die Länder in dramatisch<br />

unterschiedlicher Verfassung<br />

sind. Zudem vernichtet<br />

die Nullzinspolitik der EZB das<br />

Vermögen deutscher Sparer<br />

und schmälert die Refinanzierungsmöglichkeiten<br />

des Bundes.<br />

Das muss aufhören.<br />

Der EuGH hat zuletzt immer<br />

proeuropäisch entschieden, etwa<br />

beim Euro-Rettungsschirm<br />

ESM.<br />

Dass der ESM durchgewinkt<br />

wurde, ist hanebüchen und<br />

könnte ein böses Omen für die<br />

anstehende Verhandlung sein.<br />

Der EuGH ist in den letzten Jahren<br />

zu einem politischen Organ<br />

geworden, das sich als Integrationsmotor<br />

versteht. Dennoch:<br />

Wir werden bestens vorbereitet<br />

in die mündliche Verhandlung<br />

gehen, um das Gericht von unserer<br />

Argumentation zu überzeugen.<br />

Was ist Ihr Kernargument?<br />

Die EZB überschreitet ihr Mandat.<br />

Sie betreibt monetäre<br />

Staatsfinanzierung. Das ist ihr<br />

DER WIDERSPENSTIGE<br />

Kerber, 58, ist Jurist und Professor<br />

für öffentliche Finanzwirtschaft<br />

und Wirtschaftspolitik<br />

an der Technischen Universität<br />

Berlin.<br />

nach Artikel 123 des Vertrags<br />

über die Arbeitsweise der Europäischen<br />

Union verboten und<br />

passiert dennoch. Ganz einfach:<br />

Der ESM kann auf dem<br />

Primärmarkt Anleihen der Krisenländer<br />

bis zu 80 Prozent der<br />

Emission zeichnen und diese<br />

anschließend auf dem Sekundärmarkt<br />

an die<br />

EZB verkaufen. So<br />

fließt frisches Geld<br />

der EZB über den<br />

ESM in die Staatshaushalte<br />

der Krisenländer.<br />

Die Fürsprecher<br />

des OMT-Programms sagen, es<br />

sei keine Staatsfinanzierung,<br />

weil sich die Krisenländer nicht<br />

darauf verlassen könnten, dass<br />

die EZB ihre Anleihen aufkauft.<br />

Das ist für mich nicht stichhaltig.<br />

Die EZB argumentiert, das<br />

Kaufprogramm sei durch die<br />

MEHR ZUM THEMA<br />

Weitere Fragen und<br />

Antworten zum Kurs<br />

der Europäischen Zentralbank<br />

auf wiwo.de/<br />

kerber und in der App<br />

Fokussierung auf Anleihen der<br />

Krisenländer mit einer Laufzeit<br />

von bis zu drei Jahren auf rund<br />

524 Milliarden Euro beschränkt.<br />

Doch das ist lediglich eine unverbindliche<br />

Angabe der EZB.<br />

Die Notenbank will die Refinanzierungskosten<br />

für die Länder<br />

erträglich halten. Das gelingt<br />

nur, wenn sie bei entsprechend<br />

hohen Renditeforderungen der<br />

Investoren eingreift. Und zwar<br />

immer und immer wieder.<br />

Sie können mit Ihrer Klage<br />

doppelt verlieren. Die Richter<br />

könnten nicht nur das OMT-<br />

Programm durchwinken.<br />

Das Urteil könnte dann auch<br />

ein Freifahrtschein für künftige<br />

EZB-Entscheidungen<br />

bedeuten.<br />

Die europäischen Institutionen<br />

– die EZB, aber auch die Europäische<br />

Kommission und das<br />

Europäische Parlament – wollen<br />

ein Urteil, das die Zentralbank<br />

zur weiteren Selbstermächtigung<br />

ermutigt. Auch<br />

perspektivisch. Das Parlament<br />

geht so weit, dass es – stark vereinfacht<br />

– sagt: Die EZB ist unabhängig<br />

und muss daher frei<br />

von Rechtsbindungen sein. Die<br />

EZB könnte demnach schalten<br />

und walten, wie sie will. Ihre<br />

Allmacht hätte diktatorische<br />

Züge.<br />

Was, wenn der EuGH das OMT-<br />

Programm billigt. Ist die<br />

Schlacht dann geschlagen?<br />

Das Verfahren vor dem EuGH<br />

ist mitnichten das Ende der Debatte.<br />

Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat bei seiner Entscheidung<br />

im Februar<br />

bereits angedeutet,<br />

dass es Zweifel hat,<br />

ob Anleihenkäufe<br />

durch die EZB nicht<br />

außerhalb des geldpolitischen<br />

Mandats<br />

stattfinden –<br />

und angekündigt, eventuell erneut<br />

einzugreifen. Die Karlsruher<br />

Richter könnten erkennen,<br />

dass das OMT-Urteil des EuGH<br />

in flagranti europäisches Recht<br />

verletzt und damit für Karlsruhe<br />

unverbindlich wird.<br />

tim.rahmann@wiwo.de<br />

FOTO: WENN.COM/SIPA<br />

10 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

CHEMIE-NOBELPREIS<br />

Schub für Leica und Zeiss<br />

Mikroskope für 600 000 Euro Nobelpreisträger Hell<br />

Das Fax, immer wieder das Fax-<br />

Gerät:Wenn Manager oder Politiker<br />

in ihren Sonntagsreden<br />

über den Innovationsstandort<br />

meckern, kommt irgendwann<br />

dieses Beispiel. In Deutschland<br />

erfunden, vermarktet von den<br />

Japanern. Soll heißen, wir Deutsche<br />

haben tolle Ideen, das Geschäft<br />

machen andere.<br />

Es wird Zeit, von diesem lieb<br />

gewonnenen Vorurteil Abschied<br />

zu nehmen. Spätestens<br />

mit dem Chemie-Nobelpreis,<br />

der – Ironie des Schicksals – am<br />

vergangenen Mittwoch an einen<br />

Physiker ging: den deutschen<br />

Stefan Hell, Direktor<br />

HOCHTIEF<br />

Misstrauen gegen Madrid<br />

Zum überraschenden Rücktritt<br />

von Hochtief-Aufsichtsratschef<br />

Thomas Eichelmann sickern<br />

nun Details durch. Nicht aus gesundheitlichen<br />

Gründen habe<br />

er aufgegeben, so ein Eichelmann-Intimus:<br />

„Eichelmann<br />

trägt nicht mehr mit, dass die<br />

Hochtief-Sparten in Europa,<br />

Australien und den USA inzwischen<br />

alle von Madrid aus geführt<br />

werden“ – also von der<br />

Zentrale des Hochtief-Großaktionärs<br />

ACS, der den größten<br />

deutschen Baukonzern 2011<br />

feindlich übernommen hat.<br />

am Max-Planck-Institut für Biophysikalische<br />

Chemie in Göttingen.<br />

Die exklusiven Rechte<br />

an seiner Erfindung und an der<br />

des ebenfalls ausgezeichneten<br />

US-Amerikaners Eric Betzig haben<br />

sich bereits sehr früh die<br />

deutschen Traditionsunternehmen<br />

Leica Microsystems und<br />

Carl Zeiss gesichert. Sie haben<br />

es geschafft, beide Entdeckungen<br />

erfolgreich zu vermarkten.<br />

„Heute prügeln sich Leica<br />

und Zeiss“, so ein Brancheninsider,<br />

„auch dank der beiden um<br />

die Marktführerschaft“ in dem<br />

rund eine halbe Milliarde Euro<br />

schweren Geschäft mit der optischen<br />

Hochleistungs-Mikroskopie.<br />

Sie ist eine Schlüsseltechnik<br />

für Mediziner, mit der sie<br />

das Innere lebender Zellen untersuchen<br />

können. Die Rivalen<br />

aus Japan wie Nikon und Olympus<br />

haben das Nachsehen.<br />

Hells Verbindung zu Leica<br />

reicht weit zurück. Während<br />

seiner Diplomarbeit forschte er<br />

1987 bei der Firma Heidelberg<br />

Instruments Mikrotechnik, deren<br />

Mikroskopie-Geschäft später<br />

in Leica aufging. Seitdem<br />

hält er Kontakt zu dem Unternehmen,<br />

das bereits zwei seiner<br />

Erfindungen zur Marktreife gebracht<br />

hat.<br />

Die WirtschaftsWoche hat<br />

Leica und Stefan Hell deshalb<br />

schon 2006 mit dem Innovationspreis<br />

der deutschen Wirtschaft<br />

ausgezeichnet.<br />

„Die Entscheidung, die Exklusivrechte<br />

an Hells Entdeckung<br />

zu erwerben, war damals<br />

sehr risikoreich“, sagt Bernd<br />

Sägmüller, bei Leica für das Geschäftsfeld<br />

Konfokalmikroskopie<br />

verantwortlicher Direktor.<br />

Es hat sich gelohnt, seit 2008<br />

haben Universitäten und Forschungsinstitute<br />

mehr als 150<br />

der Geräte erworben, die immerhin<br />

im Schnitt knapp<br />

600 000 Euro kosten. „Die Produktion<br />

läuft auf Hochtouren“,<br />

sagt Sägmüller.<br />

Auch die Zeiss-Manager waren<br />

mutig. Denn ihr Partner<br />

Betzig hat sein Mikroskop quasi<br />

in der heimischen Garage erfunden.<br />

Heute verkaufen die<br />

Oberkochener einige Dutzend<br />

pro Jahr.<br />

lothar.kuhn@wiwo.de<br />

Auch Eichelmanns quasi<br />

letzte Amtshandlung kann als<br />

Misstrauensvotum gegenüber<br />

Hochtief-Vorstandschef Marcelino<br />

Fernández verstanden werden.<br />

Der Spanier musste sich<br />

im Aufsichtsrat im September<br />

zu Zweifeln an der Bewertung<br />

von Hochtief-Offshore-Projekten<br />

äußern, die die Wirtschafts-<br />

Woche enthüllt hatte.<br />

harald.schumacher@wiwo.de<br />

DREI FRAGEN...<br />

...zum Kauf von Gruner +<br />

Jahr durch Bertelsmann<br />

Frank<br />

Donowitz<br />

46, Konzernbetriebsrat<br />

von<br />

Gruner + Jahr<br />

in Hamburg<br />

n Was ändert sich, wenn<br />

Bertelsmann ab 1. November<br />

Alleineigentümer des<br />

Verlags Gruner + Jahr mit<br />

Magazinen wie „Stern“ und<br />

„Brigitte“ ist und die Familie<br />

Jahr ihre 15,1 Prozent abgibt?<br />

Neu ist die Klarheit darüber,<br />

wer das Sagen hat. Das Hinund<br />

Herschieben von Verantwortlichkeiten<br />

bei zwei Eignern<br />

ist passé. Den Alleineigentümer<br />

können und werden<br />

wir nun an seinem Bekenntnis<br />

zu Journalismus und Investitionsbereitschaft<br />

messen.<br />

n Sind jetzt mehr als die<br />

rund 400 Arbeitsplätze gefährdet,<br />

die ohnehin schon<br />

auf der Streichliste stehen?<br />

Der Vorstand von Gruner +<br />

Jahr verneint das. Ein zusätzliches<br />

Sparprogramm aus Gütersloh<br />

hätte extreme Risiken.<br />

Schon heute ist hier kein<br />

Kuschelrock: Wir haben bislang<br />

gerade mal erreicht, dass<br />

nicht innerhalb der Elternzeit<br />

gekündigt wird und dass Altersteilzeitverträge<br />

nicht rückabgewickelt<br />

werden.<br />

n Was würde der frühere<br />

Bertelsmann-Patriarch<br />

Reinhard Mohn zur Führung<br />

von Gruner + Jahr sagen, die<br />

schon die Standorte Köln<br />

und München abgewickelt<br />

hat?<br />

Nach allem was ich von ihm<br />

gelesen habe, hätte er kein<br />

Verständnis für die Strategien<br />

der Konzernchefs in Gütersloh<br />

und Hamburg gehabt, die nun<br />

derart geballte Maßnahmen<br />

zur Folge haben.<br />

harald.schumacher@wiwo.de<br />

FOTOS: LAIF/STEFAN THOMAS KROEGER, G+J<br />

12 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

BAHN<br />

Konkurrenz<br />

aus England<br />

In Großbritannien ist Go Ahead<br />

der größte Bahnbetreiber. Zudem<br />

lenkt das börsennotierte<br />

Unternehmen die roten Doppeldeckerbusse<br />

durch London.<br />

In Deutschland will es jetzt den<br />

Nahverkehr auf der Schiene<br />

aufrollen. „Wir werden uns an<br />

einer kleinen Anzahl von<br />

Ausschreibungen beteiligen“,<br />

kündigt Deutschland-Chef<br />

Richard Stuart an. In zwei<br />

Verfahren habe das Unternehmen<br />

schon Gebote eingereicht.<br />

Wo, will Stuart nicht sagen. Experten<br />

gehen von mindestens<br />

einer Ausschreibung in Niedersachsen<br />

aus.<br />

Für die etablierten Anbieter<br />

im Nahverkehr wie die Deutsche<br />

Bahn, Veolia Verkehr und<br />

Abellio wird der Markt nun enger.<br />

Go Ahead arbeitet profitabel,<br />

setzte zuletzt 3,4 Milliarden<br />

Euro um.<br />

In Berlin unterhält es bereits<br />

ein Büro. „Wir fokussieren uns<br />

derzeit auf den Schienenpersonennahverkehr“,<br />

sagt Stuart,<br />

„aber wir werden auch andere<br />

Märkte wie den städtischen<br />

Busverkehr im Auge behalten.“<br />

christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />

CARSHARING<br />

Audi testet in<br />

Stockholm<br />

Audi-Vertriebsvorstand Luca<br />

de Meo test in Stockholm erstmals<br />

das Carsharing-Konzept<br />

des Autokonzerns. Es firmiert<br />

als Audi Unite, jeweils maximal<br />

fünf Personen teilen sich für ein<br />

Jahr oder zwei Jahre ein<br />

Auto – das Angebot<br />

reicht <strong>vom</strong> Kleinwagen<br />

A1 bis zum<br />

Wenn Teilen Luxus<br />

wird Audi-Modell R8<br />

TOP-TERMINE VOM 13.10. BIS 19.10.<br />

13.10. Wirtschaftsnobelpreis Die Königlich-Schwedische<br />

Wissenschaftsakademie gibt am Montag<br />

bekannt, wer den diesjährigen Nobelpreis für<br />

Wirtschaftswissenschaft erhält. Einziger deutscher<br />

Preisträger war Reinhard Selten 1994.<br />

Tourismus Auf dem Tourismusgipfel in Berlin berät<br />

die Branche über Folgen der Sharing Economy.<br />

Was Uber für Taxis, ist AirBnB für Hotels: Das Unternehmen<br />

vermittelt Privatzimmer an Reisende.<br />

14.10. EZB Der Europäische Gerichtshof<br />

verhandelt am Dienstag über<br />

eine Klage gegen die Europäische<br />

Zentralbank (EZB). Die Richter<br />

sollen klären, ob das EZB-Programm<br />

für den Ankauf von Anleihen<br />

notleidender Euro-Länder rechtens ist.<br />

Porsche Das Landgericht Hannover befasst sich<br />

mit der Klage gegen die Porsche-Holding. Anleger<br />

fordern rund zwei Milliarden Euro Schadensersatz.<br />

Sie werfen dem Autobauer mangelnde Informationen<br />

im Übernahmekampf mit VW 2008 vor.<br />

15.10. EZB Der Rat der Europäischen Zentralbank trifft<br />

sich am Mittwoch turnusmäßig in Frankfurt.<br />

Konjunktur Das Statistische Bundesamt nennt<br />

Details zur Entwicklung der Preise im September.<br />

Zwangsumtausch Der Europäische Gerichtshof<br />

verhandelt über den Zwangsumtausch griechischer<br />

Staatsanleihen. Private Anleger fordern von<br />

Griechenland Schadensersatz.<br />

18.10. SPD Die Berliner Sozialdemokraten zählen am<br />

Samstag das Mitgliedervotum zur Nachfolge des<br />

Berliner Regierungschefs Klaus Wowereit aus.<br />

Sportcoupé R8. Per App kann<br />

jeder Reservierungswünsche<br />

äußern sowie sehen, wo das<br />

Auto steht und wie viel Benzin<br />

noch im Tank ist.<br />

Das Premium-Sharing kostet<br />

monatlich pro Person je nach<br />

Modell zwischen 1439 und 8849<br />

schwedischen Kronen (160 und<br />

970 Euro). Die Rate enthält auch<br />

monatliche Reinigung und Reifenwechsel.<br />

Wann das Konzept<br />

nach Deutschland kommt und<br />

was es hier kosten wird, steht<br />

noch nicht fest. Stockholm habe<br />

Audi wegen seines guten Abschneidens<br />

bei Innovationsrankings<br />

und eines hohen Anteils<br />

weltoffener Menschen ausgewählt,<br />

erklärt der Autokonzern.<br />

Ein weiterer Grund dürfte sein,<br />

dass die Konkurrenz in der<br />

schwedischen Hauptstadt<br />

gering ist:Weder die<br />

Mercedes-Tochter<br />

Car2Go noch die BMW-<br />

Sixt-Kooperation Drive-<br />

Now sind vor Ort.<br />

rebecca.eisert@wiwo.de<br />

EZB<br />

Sänk ju for<br />

tränsleting<br />

Die Europäische Zentralbank<br />

(EZB) hat ihren Sitz zwar in<br />

Frankfurt am Main, aber offizielle<br />

Amtssprache ist Englisch.<br />

Viele deutsche Banken pochen<br />

aber auf einen Übersetzer,<br />

wenn sie mit den Notenbankern<br />

über die Bankenaufsicht<br />

sprechen. Die EZB hatte die<br />

Dolmetscher auch zugesagt.<br />

Doch nun ist der Sprachendienst<br />

der EZB völlig überfordert,<br />

mit so viel Bedarf der<br />

Da fehlen manchem die Worte<br />

EZB-Präsident Draghi<br />

Deutschen an Englisch-Nachhilfe<br />

hatte er nicht gerechnet.<br />

Außer der Deutschen Bank<br />

nutzen fast alle deutschen Institute<br />

das Übersetzungsangebot<br />

und ringen sich dann ein „Sänk<br />

ju for tränsleting“ ab. Die spanischen<br />

oder italienischen Finanzhäuser<br />

kommen dagegen<br />

ohne Übersetzer klar.<br />

Die Deutschen werden damit<br />

zum Problem für EZB-Präsident<br />

Mario Draghi, denn die<br />

Englisch-Verweigerer verzögern<br />

den gesamten Prozess: Die<br />

EZB führt derzeit einen Bilanzcheck<br />

bei den Banken auf Risiken<br />

durch und unterzieht die<br />

größten europäischen Institute<br />

einem Stresstest. Die Ergebnisse<br />

sollen am letzten Oktober-<br />

Wochenende veröffentlicht<br />

werden.<br />

In Finanzkreisen wird nun<br />

schon darüber spekuliert, dass<br />

das Datum möglicherweise<br />

nicht zu halten sei.<br />

angela.hennersdorf@wiwo.de | Frankfurt<br />

FOTOS: CORBIS IMAGES, PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR<br />

14 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft<br />

CHEFSESSEL<br />

START-UP<br />

JUNG VON MATT<br />

Thomas Strerath, 48, geht<br />

einen Schritt, „den man<br />

sich gar nicht hätte ausdenken<br />

können“, so ein Insider<br />

der Werbebranche. Der<br />

Deutschland-Chef der Werbeagentur<br />

Ogilvy & Mather<br />

wechselt zum Konkurrenten<br />

Jung von Matt. Seit 2005 arbeitet<br />

Strerath bei Ogilvy, seit<br />

2009 leitet er den deutschen<br />

Ableger, der zum börsennotierten<br />

britischen Agenturkonzern<br />

WPP gehört. Bei<br />

Jung von Matt, einer inhabergeführten<br />

Agentur, wird<br />

der hoch angesehene Werber<br />

Vorstand und Teilhaber.<br />

Sein Vertrag mit Ogilvy läuft<br />

Ende August 2015 aus. Wer<br />

ihm dort nachfolgt, ist noch<br />

nicht bekannt.<br />

BAYER<br />

Otmar Wiestler, 57, Chef<br />

des Deutschen Krebsforschungszentrums,<br />

zieht in<br />

den Aufsichtsrat des Bayer-<br />

Konzerns ein. Dort löst der Mediziner<br />

den früheren Siemens-<br />

Chef Klaus Kleinfeld ab, der<br />

sein Mandat zum 30. September<br />

niedergelegt hat, um sich<br />

auf seine Posten in den USA zu<br />

konzentrieren, wo er den Technologiekonzern<br />

Alcoa leitet.<br />

Der Wechsel passt zum kürzlich<br />

verkündeten Strategiewechsel:<br />

Bayer will sich in den<br />

nächsten 12 bis 18 Monaten<br />

<strong>vom</strong> Industriegeschäft mit Chemikalien<br />

und Kunststoffen<br />

trennen und sich fortan vor allem<br />

auf die Gesundheitssparte<br />

konzentrieren.<br />

ADIDAS<br />

Karen Parkin, 49, steigt am<br />

1. November zur Personalchefin<br />

des Sportartikelherstellers<br />

auf. Sie folgt auf Matthias Malessa,<br />

54, der sich im Juli verabschiedet<br />

hat. 1997 kam die<br />

Britin als Vertriebsdirektorin<br />

zur britischen Adidas-Tochter,<br />

zuletzt verantwortete sie die<br />

weltweiten Lieferbeziehungen<br />

des Konzerns. Diese Aufgabe<br />

übernimmt IT-Chef Jan<br />

Brecht, 42, zusätzlich.<br />

AMD<br />

Lisa Su, 44, bisher für das operative<br />

Geschäft des amerikanischen<br />

Chipherstellers zuständig,<br />

übernimmt sofort den<br />

Chefposten dort. Der Wechsel<br />

kommt so plötzlich, dass AMD<br />

mit dem bisherigen Chef Rory<br />

Read, 52, noch gar nicht die Details<br />

über dessen Ausscheiden<br />

verhandelt konnte.<br />

APPLE<br />

53 Prozent<br />

der Besitzer mobiler Apple-Geräte haben das neue Betriebssystems<br />

iOS8 auch vier Wochen nach dessen Einführung noch nicht<br />

installiert. Anders 2013, als iOS7 herauskam. Damals waren es<br />

nur 30 Prozent, die das System in den ersten Wochen nicht geladen<br />

hatten. Grund sind jetzt Probleme mit der neuen Software.<br />

UNICOACH<br />

Quora für Studenten<br />

Als Benjamin Bauer (Mitte) vor zwei Jahren noch an der Universität<br />

Erlangen-Nürnberg studierte, nervte ihn das umständliche<br />

Erstellen eines Stundenplans. Mit seinen Kommilitonen Andreas<br />

Wünsche (links) und Jan Hohner (rechts) entwickelte er daher<br />

ein eigenes Programm. „Nach vier Tagen nutzten es 1000 Studenten“,<br />

sagt Bauer. Inzwischen erstellen 60 Prozent der Nürnberger<br />

Studenten ihren Stundenplan mit dem Tool.<br />

Nun haben die drei ihr Angebot erweitert und wollen mit ihrem<br />

Start-up UniCoach zum zentralen Informationsportal für Studenten<br />

werden. Zum jetzt beginnenden Wintersemester starten sie<br />

damit für die 25 größten deutschen Hochschulen. „Bislang organisieren<br />

die Studenten sich in Facebook-Gruppen und Foren“, sagt<br />

Bauer. Analog zu bekannten Frage-Antwort-Portalen wie Quora<br />

oder Gute-Frage sollen bei UniCoach Professoren und Prüfungsämter<br />

den Studenten helfen.<br />

Geld verdienen die Gründer bisher durch Werbung, künftig<br />

wollen sie sich als Dienstleister für Hochschulsoftware finanzieren.<br />

„Um Lehrpläne zu erstellen, werden Word-Dokumente mit<br />

400 Seiten von Lehrstuhl<br />

zu Lehrstuhl geschickt“,<br />

Fakten zum Start<br />

Team derzeit 7 Mitarbeiter<br />

Angebot das Stundenplan-Tool<br />

enthält die Daten von 300 000<br />

Vorlesungen<br />

Kunden bisher 5000 Nutzer<br />

sagt Unternehmensgründer<br />

Bauer. Er will helfen,<br />

diese Prozesse zu digitalisieren.<br />

Den ersten Auftrag<br />

hat er schon von der<br />

Nürnberger Universität<br />

erhalten.<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

FOTOS: PR (3)<br />

16 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />

Johannes Teyssen<br />

Vorstandsvorsitzender des Energiekonzerns E.On<br />

Der lang gestreckte Tisch aus<br />

massivem Kirschholz beherrscht<br />

fast das gesamte Arbeitszimmer<br />

in der Düsseldorfer<br />

Konzernzentrale. „Wo vorn und<br />

hinten ist, kann ich selbst bestimmen“,<br />

sagt Johannes Teyssen,<br />

54, und setzt sich ans obere<br />

Ende des Unikats. Dort entgeht<br />

dem Chef des größten deutschen<br />

Energiekonzerns E.On<br />

nichts. Teyssen sieht, wer durch<br />

die Bürotür kommt und kann in<br />

ruhigeren Minuten auch mal einen<br />

Blick hinunter auf den nahen<br />

Rhein werfen. Seit Mai 2010<br />

steht der promovierte Jurist und<br />

Volkswirt an der Spitze des Unternehmens,<br />

das 2000 aus der<br />

Fusion der beiden Mischkonzerne<br />

Veba und Viag entstand.<br />

122,5 Milliarden Euro<br />

360 Grad<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle ein interaktives<br />

360°-Bild<br />

setzte der Strom- und<br />

Gaslieferant im vergangenen<br />

Jahr um,<br />

mehr als 62000 Beschäftigte<br />

arbeiten<br />

derzeit für ihn. Teyssen<br />

selbst bezeichnet<br />

sich als „hausgemacht“.<br />

1986 fing er bei der ehemaligen<br />

Versorgungstochter<br />

PreussenElektra in Hannover<br />

an, die später zu E.On kam. Im<br />

Konzern durchlief er eine „klassische<br />

Kaminkarriere“. Bodenständig<br />

ist er geblieben. „Wer<br />

mit mir spricht, soll auf Augenhöhe<br />

sitzen“, sagt er. Sein 35<br />

Quadratmeter großes Büro passt<br />

zu dieser selbst auferlegten Zurückhaltung:<br />

keine<br />

Statussymbole, nicht<br />

einmal ein Wimpel<br />

seines Lieblingsvereins<br />

Bayern München<br />

ist zu entdecken.<br />

Stattdessen hängen<br />

an den weißen Wänden<br />

zwei Bilder: ein<br />

Original des deutschen Malers<br />

und Bildhauers Horst Antes und<br />

ein surrealistisches Werk des<br />

amerikanischen Künstlers Robert<br />

Motherwell mit dem Titel<br />

„Black Mozart“. Dass Teyssen ein<br />

Faible für moderne Kunst hat,<br />

zeigen die akkurat ausgerichteten<br />

Kunst-und Fotobände auf<br />

dem Sideboard in seinem Chefzimmer.<br />

Auch die Familie ist<br />

präsent. Mehrere Fotos seiner<br />

Frau zusammen mit ihren vier<br />

Kindern hat der E.On-Manager<br />

um seinen Monitor gruppiert.<br />

„Meine Familie bekommt von<br />

mir immer Streicheleinheiten“,<br />

sagt Teyssen, lacht und zeigt auf<br />

sein Mauspad mit Familienfoto.<br />

ulrich.groothuis@wiwo.de<br />

FOTO: STEFAN KRÖGER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

18 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Kampf dem Kalifat<br />

TERRORISMUS | So brutal die islamistischen Milizen im Irak und in Syrien auch wüten –<br />

der Westen wähnt sie weit weg. Doch die Folgen des Kriegs bekommt die ganze Welt zu<br />

spüren. Europas Sicherheit ist in Gefahr, neue Risiken bedrohen die Weltwirtschaft.<br />

Zynisch wirkt Wirtschaft, wenn<br />

sie selbst übelste Grausamkeiten<br />

in diesen kriegerischen Zeiten<br />

kalt zu lassen scheint. Seit<br />

vier Monaten morden und<br />

brandschatzen sich radikale Islamisten<br />

durch den Irak und Syrien – ohne dass der<br />

Ölpreis panisch Kapriolen dreht. Im Norden<br />

Syriens trennen köpfende Killer des<br />

sogenannten „Islamischen Staats“ („IS“)<br />

keine drei Kilometer von türkischem Boden<br />

– wirtschaftlich ist dort aber bislang alles<br />

noch im Lot. Im Dunkelreich der Illegalität<br />

gelingt es der Terror-Miliz sogar, das<br />

im Nordirak erbeutete Öl zu Geld zu machen,<br />

um damit und mit Spendengeldern<br />

aus aller Welt weiter Waffen zu kaufen.<br />

Zwar geraten islamistische Fanatiker<br />

und Kurden – wie Mitte vergangener Woche<br />

– auch in deutschen Städten aneinander,<br />

doch noch wähnen wir unsere Wirtschaft<br />

nicht in Gefahr. Ein Trugschluss!<br />

Denn der Terror in Nahost gefährdet die<br />

Sicherheit auch in Europa und stellt die<br />

Nato vor eine schwere Probe. Die Kosten<br />

werden in die Milliarden gehen – auch für<br />

Deutschland. Und neben dem Staat werden<br />

auch die Unternehmen zahlen.<br />

Das Gefährliche und Neue an dieser<br />

Krise ist ihre Grenzenlosigkeit, sagt Josef<br />

Janning <strong>vom</strong> European Council on Foreign<br />

Relations in Berlin. Da sich Staaten<br />

wie Syrien und der Irak als funktionsunfähig<br />

erweisen, werden „nationale Identitäten<br />

von religiösen Ideologien zerstört“.<br />

In Ländern mit gesellschaftlichen Konflikten<br />

fängt der radikale Islamismus jene<br />

auf, die sich in nationalen Grenzen nicht<br />

(mehr) aufgehoben fühlen. Dem „IS“-<br />

Vorbild folgend, könnten Grenzen auch in<br />

Libyen und Myanmar, Indonesien oder<br />

Pakistan infrage gestellt werden, fürchtet<br />

FOTO: LAIF/POLARIS/PUBLIC DOMAIN<br />

20 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Knapp<br />

1 Mrd.<br />

Dollar<br />

hat die USA<br />

der Kampf<br />

gegen den<br />

Terror bislang<br />

gekostet<br />

Janning: „So geraten weltweit politische<br />

Ordnungen in Gefahr, auf denen unsere<br />

Sicherheitsarchitektur ruht.“<br />

Kein Wunder, dass sich der stoischen<br />

Ruhe an den Märkten zum Trotz nun<br />

Ökonomen um die Weltwirtschaft sorgen:<br />

Vergangene Woche senkte der Internationale<br />

Währungsfonds (IWF) seine Prognose<br />

für das Wachstum des globalen Bruttoinlandsprodukts<br />

für 2014 auf 3,3 Prozent<br />

– im April ging der IWF noch von 3,7 Prozent<br />

aus. Krisen wie die in Nahost könnten<br />

weit über die Region hinaus Schaden<br />

anrichten.<br />

Die Politik ist alarmiert. Behörden richten<br />

sich auf Attacken in Deutschland ein,<br />

immerhin nutzen Terrorzellen das liberal-naive<br />

Deutschland mit Erfolg als Versteck.<br />

Schon mehren sich Stimmen, wie<br />

die Bundeswehr um- und aufgerüstet<br />

werden sollte, damit sie in Kampfeinsätzen<br />

eine größere Hilfe sein kann (siehe<br />

Seite 30). Bereits heute kostet die Flucht<br />

von Millionen viele Staaten Milliarden,<br />

auch Deutschland wird die <strong>Ausgabe</strong>n für<br />

humanitäre Hilfe weiter aufstocken müssen.<br />

Jene für den Wiederaufbau werden<br />

später, aber mit Wucht folgen.<br />

Deutsche Unternehmen müssen auf<br />

Großaufträge im arabischen Raum verzichten,<br />

wenn wegen des Terrors Kraftwerke<br />

oder Wasserwege vorerst nicht gebaut<br />

werden. Mit der Türkei droht ein<br />

wichtiger Wirtschaftspartner an der fast<br />

gelöst geglaubten Kurdenfrage zu zerbrechen.<br />

Flughäfen müssen in die Sicherheit<br />

investieren, Reedereien Schifffahrtsrouten<br />

umplanen. Dabei hat der neue Kampf<br />

gegen den Terror erst begonnen – und ein<br />

Ende ist noch lange nicht Sicht. Welche<br />

Folgen sich bereits jetzt absehen lassen,<br />

lesen Sie auf den nächsten Seiten. »<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 21<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Schätzungen<br />

nach kämpfen<br />

30000<br />

Mann für die<br />

radikalen<br />

„IS“-Milizen<br />

Militäreinsatz<br />

BIS ZU 22 MILLIARDEN DOLLAR<br />

WERDEN DIE USA IN DEN KAMPF<br />

GEGEN DIE „IS“-MILIZEN STECKEN.<br />

Mit viel Knall und Rauch hatte sich die erste<br />

Milliarde Dollar bis Anfang Oktober in<br />

Luft aufgelöst:Der Einsatz gegen den „Islamischen<br />

Staat“ („IS“) in Syrien und im Irak<br />

kostete die USA bis Ende September zwischen<br />

780 und 930 Millionen Dollar,<br />

schätzt der Washingtoner Thinktank Center<br />

for Strategic and Budgetary Assessments<br />

(CSBA). Für die Berechnung der<br />

künftigen Kosten haben die Militärexperten<br />

drei Szenarien entwickelt: Entweder<br />

die USA beschränken sich auf begrenzte<br />

Luftschläge, es kommt zu intensiven Luftangriffen<br />

– oder sie setzen im „worst case“<br />

Bodentruppen ein.<br />

Im ersten Fall geht das CSBA von 90 Luftangriffen<br />

pro Tag aus, was, auf den Monat<br />

gerechnet, mit 200 bis 320 Millionen Dollar<br />

zu Buche schlüge. Im zweiten Szenario<br />

würde es etwa 120 Einsätze täglich geben,<br />

flankiert von 5000 Soldaten. Dann kämen<br />

Kosten von 350 bis 570 Millionen Dollar im<br />

Monat auf die USA zu. Die Entsendung von<br />

etwa 25 000 Mann am Boden würde die<br />

monatliche Rechnung auf bis zu 1,8 Milliarden<br />

Dollar steigen lassen. Während jeder<br />

Soldat in Nahost jährlich gut eine Million<br />

Dollar kostet, fallen Materialkosten bei<br />

Lufteinsätzen weniger ins Gewicht. Ein Raketenangriff<br />

kostet 1,5 Millionen Dollar, ein<br />

Kampfjet fliegt für 20 000 Dollar die Stunde.<br />

Aufs Jahr gerechnet, werde der Krieg gegen<br />

den „IS“ also zwischen 2,4 und 22 Milliarden<br />

Dollar kosten, schätzt CSBA-Budgetexperte<br />

Todd Harrison. Ein solcher Betrag<br />

ist für die Amerikaner nicht ungewöhnlich.<br />

Der „War on Terror“, den die<br />

USA nach den Anschlägen <strong>vom</strong> 11. September<br />

2001 begannen, verschlang nach<br />

vorsichtigen Schätzungen 4375 Milliarden<br />

Dollar, pro Bürger also knapp 14 000 Dollar.<br />

Zu diesem Ergebnis kommt das Eisenhower<br />

Research Project der Brown University<br />

im US-Bundesstaat Rhode Island.<br />

„Winzig“ empfindet die Kosten im<br />

„IS“-Krieg der Budgetexperte Harrison –<br />

sofern man sie mit dem Etat des US-Verteidigungsministeriums<br />

(550 Milliarden Dollar)<br />

vergleicht oder an den jährlichen <strong>Ausgabe</strong>n<br />

im Irak (bis zu 164 Milliarden Dollar)<br />

und Afghanistan (bis zu 122 Milliarden<br />

Dollar) misst. Sollte die US-Regierung allerdings<br />

einen jahrelangen Anti-Terror-Krieg<br />

führen, um auch den letzten Terroristen<br />

„bis an die Pforten der Hölle zu jagen“ (US-<br />

Vizepräsident Joe Biden), würde die Rechnung<br />

von maximal 22 Milliarden Dollar<br />

weit überzogen. Über dieses Risiko spricht<br />

derzeit in Washington niemand.<br />

Energiemärkte<br />

ES IST PARADOX: TROTZ DES KRIEGS<br />

IN NAHOST IST DER ÖLPREIS SEIT<br />

JUNI UM 24 DOLLAR GESUNKEN.<br />

Natürlich machen sich Erdölverbraucher<br />

und -händler Gedanken über Terror und<br />

Krieg im Nahen Osten. Die Region hat einen<br />

Anteil von 32 Prozent an der Weltproduktion<br />

und verfügt über 48 Prozent der<br />

gesicherten und wirtschaftlich nutzbaren<br />

Erdölvorkommen. So ließe sich leicht erklären,<br />

dass der Rohölpreis am Handelsplatz<br />

London, bei Jahresanfang 2014 und<br />

noch Monate danach stabil um die 110<br />

Dollar, im Juni auf 115 Dollar hochschnellte,<br />

als die „IS“-Krieger die irakische Großstadt<br />

Mossul einnahmen, die größte Raffinerie<br />

des Landes belagerten und auf die<br />

Hauptstadt Bagdad marschierten.<br />

Seither ist die Terrortruppe nicht schwächer<br />

geworden, der Ölpreis in London aber<br />

22 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


40000<br />

Barrel Erdöl<br />

werden jeden<br />

Tag aus dem<br />

„IS“-Gebiet in<br />

die Türkei<br />

geschmuggelt<br />

FOTOS: REUTERS/STRINGER, VISUM/PANOS PICTURES/DAVID ROSE<br />

stetig gefallen, inzwischen auf etwa 91 Dollar.<br />

Das liegt an den weltweit eher schlechten<br />

Konjunkturaussichten, aber auch an<br />

der Hoffnung, die „IS“-Krieger würden den<br />

Vormarsch in Richtung der großen Ölfelder<br />

im Südirak niemals schaffen. „Über 90<br />

Prozent unseres Ölexports stammt doch<br />

aus dem Süden und wird im Hafen Basra<br />

verschifft“, betont der neue irakische Erdölminister<br />

Adil Abd al-Mahdi, „da muss sich<br />

niemand Sorgen machen.“ Den Ausfall der<br />

Ölproduktion im irakischen Norden kann<br />

der Weltmarkt leicht verkraften. Denn<br />

weltweit geht die Erdölnachfrage derzeit<br />

zurück. Großkunden wie die USA machen<br />

sich durch Fracking und andere neue<br />

Techniken zunehmend unabhängig von<br />

Ölscheichs, Mullahs und Gotteskriegern.<br />

„Solange die Opec keinerlei Anstalten<br />

macht, das Angebot zu reduzieren, dürften<br />

die Preise unter Druck bleiben“, sagt der<br />

Energieexperte Eugen Weinberg von der<br />

Commerzbank in Frankfurt. Eine solche<br />

Politik der großen arabischen Produzenten<br />

ist unwahrscheinlich. Ostasiatische Kunden<br />

der Saudis berichten von Preisnachlässen<br />

für langfristige Kontrakte: Das Königreich<br />

will seinen Marktanteil halten –<br />

und die hohen Einnahmen aus dem Ölgeschäft.<br />

Die sind bitter nötig, wenn das Land<br />

ernsthaft in den Kampf gegen die „IS“-<br />

Terroristen einsteigen will. Ideologisch ist<br />

die saudische Gesellschaft für die Propaganda<br />

des Kalifatstaats extrem anfällig. Um<br />

dagegenzuhalten, braucht die Herrscherfamilie<br />

Geld für sozialpolitische Wohltaten.<br />

Investitionsklima<br />

DEUTSCHE ANLAGENBAUER HABEN<br />

2013 IN NAHOST ANLAGEN FÜR 2<br />

MILLIARDEN EURO VERKAUFT.<br />

Es sind eben nicht nur Syrien und der Irak,<br />

die der Kalifatstaat mit seinen Horden bedroht.<br />

Keine Gesellschaft der Region ist erhaben<br />

über die radikalen Ideologien. Die<br />

potenzielle Instabilität durch den Terror in<br />

der Nachbarschaft belastet das Investitionsklima<br />

in Nahost insgesamt. 2013 gingen<br />

von dort Aufträge für Großanlagen wie<br />

Chemie- oder Kraftwerke in Höhe von zwei<br />

Milliarden Euro ein. So konnten die deutschen<br />

Hersteller ihr Minus im Asien-Geschäft<br />

teils kompensieren, wo Chinesen inzwischen<br />

lieber bei Chinesen bestellen.<br />

Doch jetzt lähmt der Terror das Geschäft.<br />

Etwa im Libanon, wo vergangene Woche<br />

die Islamisten erstmals angriffen. Kämpfe<br />

zwischen Schiiten und Sunniten könnten<br />

das kleine Land schnell ins Chaos stürzen.<br />

Der Aufschwung der vergangenen zwei<br />

Jahrzehnte wäre abrupt beendet. Dabei ist<br />

der Libanon mit seinen Finanzbeziehungen<br />

zu den reichen Golfstaaten ein wichtiges<br />

Steinchen im Mosaik der Wirtschaftsordnung<br />

in Nahost. So wichtig der Libanon<br />

für die Wirtschaft ist, so entscheidend ist<br />

Jordanien für die geopolitische Stabilität:<br />

Das Land ist ein hochgerüsteter Puffer zwischen<br />

Israel und dem Irak, zwischen Saudi-Arabien<br />

und Syrien. Jordaniens prowestlicher<br />

und ziemlich autoritärer König<br />

regiert gut ausgebildete, aber oft arbeitslose<br />

Untertanen, die gemäßigt islamistische<br />

Parteien wählen – noch.<br />

All das mag die Weltwirtschaft ertragen,<br />

solange das große Saudi-Arabien nicht attackiert<br />

wird. Aber wie sicher ist das? Kritiker<br />

meinen, die so befremdliche Ideologie<br />

der „IS“-Terroristen sei die logische Konsequenz<br />

aus den Lehren der in Saudi-Arabien<br />

staatlich verordneten Spielart des Islam.<br />

Und fände darum auch Anhänger unter<br />

saudischen Untertanen, die <strong>vom</strong> Ölreichtum<br />

persönlich nicht profitiert haben.<br />

Erst recht in Jordanien. Und im Libanon.<br />

Und so weiter.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 23<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Finanzplatz<br />

Beirut: Das<br />

Zentrum für<br />

wachsende<br />

Geschäfte mit<br />

der Region ist<br />

in Gefahr<br />

Luftverkehr<br />

LUFTSICHERHEIT IN DEUTSCHLAND<br />

KOSTET HEUTE 450 MILLIONEN EU-<br />

RO PRO JAHR. AIRLINES FÜRCHTEN<br />

SCHÄRFERE KONTROLLEN.<br />

Vielleicht kommt der Terror schon bald in<br />

Deutschland an. Vor allem der zivile Luftverkehr<br />

unterliege „gegenüber anderen<br />

Verkehrsträgern einer besonderen Gefährdung<br />

durch den internationalen Terrorismus“,<br />

heißt es im Bundesinnenministerium.<br />

Deutschland werde <strong>vom</strong> „IS“ „bislang<br />

nicht öffentlich als Ziel propagiert“. Da die<br />

Bundesrepublik aber Teil der Anti-Terror-<br />

Koalition ist, heißt es im Ministerium,<br />

„können deutsche Einrichtungen ins Zielspektrum<br />

geraten“.<br />

Im Falle der Eskalation würden Sicherheitsmaßnahmen<br />

auch an den Flughäfen<br />

deutlich verschärft werden müssen. Vorgaben<br />

wie etwa das Flüssigkeiten-Verbot an<br />

Bord verlängern im besten Fall den Sicherheitscheck.<br />

Andere kosten richtig Geld. So<br />

müssen EU-Flughäfen seit einigen Jahren<br />

vermeiden, dass ankommende Passagiere<br />

aus Nicht-Schengen-Staaten auf abfliegende<br />

Reisende treffen. Baumaßnahmen haben<br />

allein den Frankfurter Flughafen einen<br />

dreistelligen Millionenbetrag gekostet.<br />

Sollte der „IS“ mit Anschlägen auf die<br />

Luftverkehrswirtschaft drohen, wären<br />

wohl zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen<br />

nötig. Zum Beispiel könnte die Sensibilität<br />

der Torsonden erhöht, die Kontrolle per<br />

Hand für jeden Fluggast vorgeschrieben<br />

oder sogar Handgepäck generell verboten<br />

werden. „Die Kontrollen sind beliebig erweiterbar“,<br />

sagt ein Kenner der Flughafensicherheit.<br />

Zusätzliches Personal wäre erforderlich,<br />

die Preise würden steigen.<br />

Schon heute tragen alle Fluggäste mit einer<br />

Luftsicherheitsgebühr von bis zu zehn Euro<br />

zu den 450 Millionen Euro Sicherheitskosten<br />

bei – dieser Posten könnte künftig<br />

deutlich höher ausfallen.<br />

Deutsche Airlines beobachten die Entwicklungen<br />

in Nahost aufmerksam. Zumal<br />

der „IS“-Terror sie zwingen könnte, riskante<br />

Lufträume zu umfliegen. So fliegt die<br />

Lufthansa seit einem Jahr nicht mehr über<br />

syrisches Gebiet. Auch den Südirak meiden<br />

die Kraniche seit August dieses Jahres.<br />

Die Lufthansa-Flüge würden dadurch aber<br />

nur wenige Minuten länger dauern, Mehrkosten<br />

seien „vernachlässigbar“, heißt es im<br />

Konzern. Wenn ganz Vorderasien umflogen<br />

werden müsste, würde das aber teurer<br />

werden.<br />

Flüchtlinge<br />

FÜR JEDEN DER 30 000 FLÜCHTLIN-<br />

GE GIBT DER DEUTSCHE STAAT PRO<br />

JAHR RUND 11 600 EURO AUS.<br />

Seit Sommer vergangenen Jahres sind fast<br />

30 000 syrische Flüchtlinge nach Deutschland<br />

gekommen. Mit mehr als 3000 Asylsuchenden<br />

pro Monat stellen die Syrer die<br />

größte Flüchtlingsgruppe, aber der Zustrom<br />

an Flüchtlingen aus dem Irak<br />

schwillt ebenfalls an: Allein im Juli waren<br />

es mehr als 1600. Für die Flüchtlinge zu<br />

sorgen gilt als humanitäre Selbstverständlichkeit<br />

– aber die kostet Geld. Die Kosten<br />

zu beziffern ist allerdings schwierig, da sie<br />

zwischen Bund, Ländern und Gemeinden<br />

aufgeteilt werden. Das größte Los zahlen<br />

Kommunen, die für Unterbringung, Verpflegung<br />

und medizinische Versorgung zuständig<br />

sind. Eine Abfrage bei den Ländern<br />

zeigt: Niedersachsen (5932 Euro jährlich<br />

pro Flüchtling), Rheinland-Pfalz (6042 Euro)<br />

und Sachsen (6000 Euro) zahlen niedrige<br />

Pauschalen, Brandenburg ist mit 9100<br />

Euro pro Flüchtling am spendabelsten.<br />

Es ist jedoch schwer abschätzbar, welcher<br />

Anteil der tatsächlichen Kosten von<br />

diesen Pauschalen gedeckt wird. Denn von<br />

Bund und Ländern bekommen die Kom-»<br />

24 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


INTERVIEW Alois Stutzer<br />

»Angst kostet Freiheit«<br />

Der Wirtschaftsprofessor von der Universität Basel erklärt, warum wir<br />

auf Terrorismus übertrieben reagieren – und wie er uns beeinflusst.<br />

FOTOS: LAIF/POLARIS/MARO KOURI, PR<br />

Herr Stutzer, laut einer aktuellen Umfrage<br />

haben 63 Prozent der Deutschen<br />

Angst vor terroristischen Anschlägen.<br />

Überrascht Sie diese hohe Quote?<br />

Nein. Wir wissen aus der Forschung,<br />

dass Menschen seltene jedoch momentan<br />

präsente Ereignisse, wie einen Terroranschlag,<br />

systematisch überschätzen.<br />

Selbst wenn ich auf dem Bürgersteig gehe,<br />

ist die Wahrscheinlichkeit, von einem<br />

Auto angefahren zu werden, höher,<br />

als einem Anschlag zum Opfer zu fallen.<br />

Warum haben wir dann so viel mehr<br />

Angst vor Terroristen als vor Autos?<br />

Neue Risiken erhalten in den Medien eine<br />

viel höhere Aufmerksamkeit. Als vor<br />

einigen Wochen der Verdacht auf eine<br />

Terrorzelle in der Schweiz publik wurde,<br />

gab es in unseren Nachrichten eine Vielzahl<br />

von Beiträgen dazu. Die Berichterstattung<br />

verzerrt die Wahrnehmung.<br />

Es sind aber nicht nur die traditionellen<br />

Medien, die berichten. Die Terroristen<br />

selbst verbreiten ihre Videos über soziale<br />

Kanäle. Macht das die Bedrohung für<br />

uns unmittelbarer?<br />

Das gehört zur Strategie der Dschihadisten.<br />

Ein normaler Mensch kann diese<br />

Grausamkeit überhaupt nicht begreifen,<br />

bekommt sie aber dennoch in Bild und<br />

Ton präsentiert. Das überfordert uns. Die<br />

Medien sollten darüber nachdenken,<br />

solche Gräueltaten nicht mehr zu zeigen.<br />

Damit würden sie weniger Angst verbreiten<br />

und den Islamisten einen Hebel –<br />

auch bei der Rekrutierung – entziehen.<br />

Im Internet wären die Bilder dennoch<br />

auffindbar.<br />

Dort muss man sie aber aktiv suchen.<br />

Aber klar, eine koordinierte Selbstzensur<br />

ist in Zeiten der sozialen Medien kaum<br />

möglich.<br />

DER PSYCHOLOGE<br />

Stutzer, 42, lehrt<br />

Wirtschaft an der<br />

Universität Basel und<br />

erforscht das Zusammenspiel<br />

von Ökonomie<br />

und Psychologie.<br />

Hat die diffuse Furcht vor Terror auch<br />

Auswirkungen auf unser Handeln?<br />

Sicher. Nach dem 11. September 2001 etwa<br />

haben viele US-Amerikaner auf Flüge<br />

verzichtet und sind auch weite Strecken<br />

mit dem Auto gefahren. Mit fatalen Folgen:<br />

Viele sind bei Unfällen gestorben,<br />

weil sie total übermüdet gefahren sind.<br />

Haben die Deutschen auch schon solche<br />

vermeintlichen Sicherheitsstrategien<br />

gegen den „IS“-Terror entwickelt?<br />

Ja, aber in kleinerem Ausmaß. Touristen<br />

suchen sich etwa andere Reiseziele. Diese<br />

Reaktion kennen wir schon länger:<br />

Wenn beispielsweise die ETA in Spanien<br />

angekündigt hatte, an der Costa Brava<br />

Touristen ins Visier zu nehmen, sind die<br />

Buchungen runtergegangen. Vielleicht<br />

halten sich die Deutschen unterbewusst<br />

auch schon seltener an öffentlichen Plätzen<br />

auf. Aber für weitere Gegenstrategien<br />

ist die Gefahr hierzulande zu diffus.<br />

Folgen gibt es dennoch, wenn sich die<br />

Bevölkerung vor Terrorismus ängstigt?<br />

Natürlich. Zum Beispiel wächst derzeit<br />

die Skepsis gegenüber dem Islam. Das<br />

könnte den Zusammenhalt unserer Gesellschaft<br />

belasten. Und auch das Spannungsfeld<br />

zwischen Sicherheit und Freiheit<br />

droht sich erneut zu verschieben,<br />

weil Staaten ihre Bürger beschützen wollen<br />

– neue Kameras an öffentlichen Plätzen,<br />

verschärfte Kontrollen im Internet.<br />

Hier kostet Angst nicht nur Geld, sondern<br />

auch Freiheit. Wichtig wäre, dass<br />

solche Maßnahmen mit einem Ablaufdatum<br />

versehen werden, sodass sie<br />

automatisch wieder außer Kraft treten.<br />

Welche konkrete Auswirkung auf unser<br />

ökonomisches Handeln hat Angst?<br />

Die Forschung zeigt, dass Menschen, die<br />

nicht direkt bedroht sind – also wie die<br />

Deutschen –, in solchen Situationen<br />

eher sparen. Sie wollen sich absichern,<br />

weil turbulente Zeiten bevorstehen.<br />

Menschen aus den Krisengebieten reagieren<br />

anders. Sie konsumieren stärker,<br />

denn wer baut schon ein Haus, wenn es<br />

morgen vielleicht zerstört wird. n<br />

kristin.schmidt@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 25<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Libanon und<br />

die Türkei<br />

nehmen je<br />

1 Mio.<br />

Flüchtlinge<br />

vor der Terrormiliz<br />

in Schutz<br />

»<br />

munen Zuschüsse. Aufschlussreich sind<br />

daher die Werte aus Schleswig-Holstein, einem<br />

Land, das bislang noch recht gut mit<br />

den Flüchtlingsströmen klarkommt. Hier<br />

bekommen die Städte 70 Prozent der Kosten<br />

erstattet, zuletzt waren es 8126 Euro pro<br />

Flüchtling. Das bedeutet: Die Unterbringung<br />

eines Flüchtlings kostet insgesamt gut<br />

11 600 Euro im Jahr, das kann als Anhaltspunkt<br />

für einen Bundesdurchschnitt gelten.<br />

Aber die Kapazitäten sind schon an<br />

den Grenzen: Die Stadt Düsseldorf mietet<br />

Hotelzimmer an, da keine Quartiere mehr<br />

frei sind. Das kostet sie mehr als 1000 Euro<br />

im Monat, allein für die Unterbringung. Einige<br />

Bundesländer haben bereits angekündigt,<br />

ihre Pauschalen deutlich zu erhöhen.<br />

Humanitäre Hilfe<br />

SYRIENS NACHBARN VERKRAFTEN<br />

DIE FLÜCHTLINGE NICHT. NUN HILFT<br />

BERLIN MIT 145 MILLIONEN EURO.<br />

Geradezu knausrig sind die Deutschen bei<br />

der Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien<br />

und dem Irak – zumal, wenn man die Migrationspolitik<br />

der armen Anrainerländer<br />

Jordanien und Libanon als Maßstab ansetzt.<br />

Letzteres hat bis dato Flüchtlinge im<br />

Umfang eines Viertels seiner Bevölkerung<br />

aufgenommen. Das wäre, als wenn die<br />

Deutschen 20 Millionen Flüchtlinge aufnehmen<br />

müssten. Dabei kann sich weder<br />

Jordanien noch der Libanon eine solche<br />

Großzügigkeit leisten. Den Libanon besuchte<br />

kürzlich der Bundestagsabgeordnete<br />

Omid Nouripour (Grüne). „Viele Syrer<br />

leben dort auf Müllhalden, es gibt oft kein<br />

fließendes Wasser und keinen Strom“, sagt<br />

er. In vielen Schulklassen gebe es inzwischen<br />

mehr syrische als libanesische Kinder,<br />

was soziale Spannungen anheize. Der<br />

Haushaltsausschuss bewilligte vergangene<br />

Woche zusätzliche 145 Millionen Euro für<br />

humanitäre Hilfe in der Region. Das reicht<br />

nicht, sagt Nouripour – er verlangt 400 Millionen<br />

Euro an Nothilfe für das laufende<br />

Jahr. Das sei der Bedarf, den die Vereinten<br />

Nationen ermittelt hätten.<br />

Auf längere Sicht werden die Kosten jene<br />

der schnellen Hilfe weit übersteigen: Große<br />

Teile der Infrastruktur in Syrien und im<br />

Irak sind zerstört, die Länder mit „IS“-Präsenz<br />

sind wirtschaftlich nicht funktionsfähig.<br />

Der Irak etwa mag viel Öl haben – doch<br />

soziale Konflikte in der Gesellschaft lassen<br />

sich nicht lösen, wenn es wegen Korruption<br />

ungleich verteilt wird. Es wird Aufgabe<br />

des Westens sein, solche Länder zum<br />

Funktionieren zu bringen: Korruptionsbekämpfung,<br />

gute Regierungsführung, Entwicklung<br />

des ländlichen Raums – Entwicklungshelfer<br />

werden sich in zahlreicher werdenden<br />

„failed states“ austoben können.<br />

Aufrüstung<br />

EIN KILOMETER GRENZE KOSTET<br />

SAUDI-ARABIEN 800 000 EURO. AUCH<br />

DIE TÜRKEI WIRD INVESTIEREN.<br />

Militärische Kosten für Deutschland halten<br />

sich in Grenzen. Berlin liefert Waffen im<br />

Wert von rund 70 Millionen Euro an kurdische<br />

Peschmerga – Kosten für Transport<br />

und Schulung kommen hinzu. Die Bundeswehr<br />

könnte den Kurden auch ein Ausbildungszentrum<br />

bauen, schlug Bundesverteidigungsministerin<br />

Ursula von der<br />

Leyen (CDU) vor. Zudem sind 270 deutsche<br />

Soldaten in der Türkei im Einsatz, um<br />

mit Patriot-Raketenabwehrsystemen die<br />

Grenze zu schützen. Offiziell ist das ein<br />

Bündnis-Einsatz, keiner gegen Terror, wie<br />

ein Sprecher betont. Die Kosten der Operation<br />

ließen sich noch nicht beziffern.<br />

Derweil steigt der politische Druck, dass<br />

sich die Deutschen auch am Luftkrieg be-<br />

26 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTO: VISUM/PANOS PICTURES/BRIAN SOKOL<br />

iPad<br />

In unserer App-<br />

<strong>Ausgabe</strong> finden<br />

Sie eine Zeitleiste<br />

über die Entwicklung<br />

des „IS“<br />

teiligen. Das wäre für die Politik das Höchste,<br />

was dem pazifistischen deutschen Michel<br />

zu vermitteln wäre (siehe Seite 30).<br />

Hinter den Kulissen ist zudem eine Diskussion<br />

über die Strategie der Bundeswehr im<br />

Gange: Was kann, will oder soll die Bundeswehr<br />

in der sicherheitspolitischen Allianz<br />

des Westens tun? Geht es künftig wieder<br />

um Landesverteidigung, oder soll die<br />

Armee auch anderswo kämpfen können?<br />

Braucht sie Transportkapazitäten, moderne<br />

Aufklärungssysteme oder beides?<br />

In jedem Fall wird der Wehretat steigen,<br />

sagt Roderich Kiesewetter. Der Oberst a. D.<br />

und CDU-Bundestagsabgeordnete rechnet<br />

ab 2016 mit einem schrittweisen Anstieg<br />

des Verteidigungshaushalts von 33 auf bis<br />

zu 40 Milliarden Euro. Das sei notwendig,<br />

auch um Investitionsprojekte abschließen<br />

zu können. Zudem herrsche in der Armee<br />

Personalbedarf, der mit einer Marketing-<br />

Offensive behoben werden<br />

müsse. „Auf keinen<br />

Fall sollten wir die Wehrpflicht<br />

wieder einführen“,<br />

sagt Kiesewetter. Er<br />

schlägt vor, Männern und<br />

Frauen nach der Schule<br />

einen Freiwilligendienst<br />

bei Armee, Feuerwehr<br />

oder im sozialen Bereich<br />

anzubieten – und ihnen diese Zeit auf die<br />

Lebensarbeitszeit zu reduzieren.<br />

Horrende Kosten trägt der Steuerzahler,<br />

auch manch ein Unternehmen. Dennoch<br />

gibt es Profiteure des Terrors, etwa den<br />

Münchner Rüstungshersteller Cassidian.<br />

Die Tochter der europäischen Airbus-<br />

Group bastelt Drohnen und Lenkflugkörper<br />

und liefert Systeme zur Grenzsicherung,<br />

etwa an Saudi-Arabien: Die 1500 Kilometer<br />

lange Nordgrenze des Landes hat<br />

einen Auftragswert von 1,2 Milliarden Euro.<br />

Ein Kilometer Grenze kostet demnach<br />

800 000 Euro. Wobei die Saudis das Luxus-<br />

Paket bestellt haben, das über Stacheldraht<br />

und Kamera hinaus auch den Datenabgleich<br />

per Satellit einschließt.<br />

Auch die Türkei verlangt nach einer sicheren<br />

Grenze, später wohl auch der Irak<br />

und Syrien. Für deutsche Rüstungshersteller<br />

öffnet sich trotz anhaltendem Beschuss<br />

zu Hause ein immer größerer Markt in Nahost,<br />

von wo der Terror die Welt bedroht. So<br />

zynisch kann eben Wirtschaft sein. n<br />

florian.willershausen@wiwo.de | Berlin;<br />

konrad fischer, hansjakob ginsburg, christian schlesiger,<br />

cordula tutt, martin seiwert | New York<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 28 »<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 27<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Weg mit den Tabus<br />

FORUM | Die brutale Machtausdehnung des „Islamischen Staats“ verändert schlagartig die soziopolitische<br />

Landkarte in Nahost. Es ist an der Zeit, die grundlegenden Probleme der Region anzugehen: Ein eigener<br />

Kurdenstaat muss her – und der Islam muss sich kulturell verändern. Von Volkhard Windfuhr<br />

Nicht das Auf und Ab des revolutionären<br />

Aufbegehrens in den<br />

arabischen Kernländern verursachte<br />

den Aufstieg der islamistischen<br />

Mordbuben des „IS“. Im Irak<br />

und in Syrien waren es die konfessionsgebundenen<br />

Privatarmeen schiitischer<br />

und sunnitischer Politiker, die<br />

nach der amerikanischen Irak-Invasion<br />

2003 die Nation spalteten. Der erste<br />

Identitätsbezug war fortan die Glaubensrichtung,<br />

nicht der Staat. Die<br />

neuen Streitkräfte sind konfessionell<br />

und tribalistisch zusammengesetzt<br />

und kaum einsatzfähig. Hinzu kommen<br />

ethnische Zentrifugalkräfte. Die<br />

Turkmenen fühlten sich allein gelassen,<br />

während die Kurden ein de facto<br />

selbstständiges Staatswesen im Nordirak aufbauten, mit eigenem<br />

Verwaltungsapparat, Parlament und eigener Armee. Christen und<br />

Angehörige anderer vorislamischer Glaubensgemeinschaften, wie<br />

Mandäer und Jesiden, wurden zum Freiwild der Milizen. Angriffe<br />

auf ihre Kirchen und Wohngebiete ließen sie in den kurdischen<br />

Norden des Irak abwandern, wo eine strikte Trennung von Staat<br />

und Religion herrscht. Die religiöse Aufwiegelung im Raum Bagdad<br />

und im Süden führte bald zu täglichen Zusammenstößen schießbereiter<br />

Milizen. Fanatische schiitische Kampfgruppen liegen bis<br />

heute im Dauerkonflikt mit sunnitischen Glaubenskriegern. Wirtschaft<br />

und Handel im Land stagnieren trotz des Erdöls. Die Kämpfer<br />

des „Islamischen Staates“ haben das entstehende Vakuum genutzt<br />

und über ein Drittel des Staates unter ihre Kontrolle gebracht.<br />

Auch in Syrien sind die Opfer der Kalifat-Terroristen Christen,<br />

übertrittsunwillige Jesiden und Liberale. Doch es trifft ebenfalls<br />

die syrischen Kurden, die in ihren Städten und Dörfern keinerlei<br />

religiöse Indoktrinierung zulassen. Hunderttausende von ihnen<br />

flüchteten bereits in die Türkei. Doch Ankara hilft den Kurden nur<br />

ungern. Denn die verlangen von der Regierung kulturelle und<br />

sprachliche Autonomie. Der Zorn über die lasche türkische Haltung<br />

im Konflikt mit dem „Islamischen Staat“ führt zu gewalttätigen<br />

Protesten und droht in bürgerkriegsähnliche Zustände auszuarten.<br />

Doch hier könnte der Westen helfen.<br />

Das türkische Tabu, den Kurden echte Autonomie zu gewähren,<br />

darf nicht länger einer friedlichen Vernunftlösung im Weg stehen.<br />

Im auseinanderfallenden Ex-Jugoslawien hatten die USA und die<br />

Nato die widerspenstigen Serben mit Waffengewalt gezwungen,<br />

die Kosovaren und die Bosnier in die Unabhängigkeit zu entlassen.<br />

„Wir haben das Recht auf einen eigenen Staat ebenso wie die Israelis<br />

und die Palästinenser“, erklärte mir Masuud Barzani, Präsident<br />

der autonomen Kurdenregion im Nordirak schon 2003. Der<br />

Windfuhr, 77, begann seine journalistische Laufbahn<br />

1958 in Kairo als Rundfunkredakteur, unter anderem<br />

für die Deutsche Welle. Von 1974 bis 2013 arbeitete er<br />

in Beirut und Kairo als Nahost-Korrespondent für das<br />

Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.<br />

armenische Patriarch Karekin II. erinnert<br />

gar an das Versprechen von US-<br />

Präsident Woodrow Wilson aus dem<br />

Jahr 1921, Kurden und Armeniern die<br />

Unabhängigkeit zu verschaffen.<br />

Das aber setzt voraus, dass auch<br />

Syrien die dort ansässigen Kurden<br />

zunächst nach dem Muster des Nordirak<br />

in die Autonomie entlässt. Moskau<br />

bemüht sich bereits seit vier<br />

Monaten, das Baath-Regime in Damaskus<br />

von der Notwendigkeit zu<br />

überzeugen, „seinen“ Kurden eine<br />

eigene Selbstverwaltungsregion zu<br />

überlassen, um diese später mit dem<br />

kurdischen Nordirak zu einem Staat<br />

zu verschmelzen. Die Chancen für ein<br />

Gelingen sind gut. In der Türkei könnten<br />

einige Gebiete in Südostanatolien, etwa die zu über 90 Prozent<br />

von Kurden bewohnte Provinz Hakkârî, problemlos den Kurden<br />

überlassen werden. Das zu erreichen wäre eine wichtige Aufgabe<br />

der westlichen Diplomatie, weil damit ein Fehler vergangener<br />

Jahrzehnte korrigiert würde. Im Dienste des Friedens.<br />

ZWEITER TABUBRUCH NÖTIG<br />

Der Kampf gegen die „IS“-Banden und Hintermänner erfordert<br />

aber auch einen Tabubruch in den islamischen Ländern selbst.<br />

Der Islam, wie er heute den Heranwachsenden vermittelt wird,<br />

muss reformiert werden. Die Texte des Koran und der Aussprüche<br />

des Propheten bedürfen keiner Überarbeitung, aber einer zeitgemäßen<br />

Interpretation. „Wir Moslems brauchen einen islamischen<br />

Martin Luther“, forderte der zukunftsorientierte Ex-Scheich der<br />

einflussreichen Kairoer Al-Azhar-Universität, Scheich Mohammad<br />

Hassan Tantawi, schon vor 15 Jahren. „Wir müssen den Koran<br />

wieder neu lesen. Vor 120 Jahren war das Koranverständnis gegenwartsbezogener<br />

als heute.“ Der Westen kann dabei hilfreich sein,<br />

wenn er Aufklärung und sachlichen Dialog liefert, ohne faule<br />

Kompromisse mit den menschenverachtenden Predigern des kulturellen<br />

Zusammenpralls einzugehen.<br />

Das islamistische Experiment der Moslembruderschaft in Ägypten<br />

ist gescheitert. Doch die arabischen Revolutionäre haben weiterhin<br />

eine Chance und Aufgabe: Echte Demokratie, Menschwürde<br />

und der Kampf gegen die Pervertierung weltweit gültiger Werte<br />

fallen in ihren Aufgabenbereich. Der Wahlspruch der demokratieunfähigen<br />

Islamisten „Al Islam din wa-daula“ („Der Islam ist<br />

Staat und Religion“) darf nicht mehr in Hirne und Herzen geimpft<br />

werden.<br />

n<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 30 »<br />

FOTO: SCOTT NELSON<br />

28 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Bedingt abhebbereit Tornado-Kampfjet<br />

der Bundeswehr<br />

Da geht noch was<br />

BUNDESWEHR | Die Luftwaffe könnte in der Allianz<br />

gegen den islamistischen Terror eine Rolle spielen –<br />

wenn sie denn dürfte.<br />

Militärisch gesehen ist die internationale<br />

Koalition gegen die „IS“-Milizen<br />

eine Koalition der Luftstreitkräfte.<br />

Angeführt von den USA, haben mehrere<br />

westliche Staaten Jagdbomber, Aufklärungsflugzeuge<br />

und Tanker in die Region<br />

verlegt: Der Kampf gegen die Dschihadisten<br />

wird aus der Luft geführt – am Boden<br />

sollen die irakische Armee und vor allem<br />

die Kurden sowohl im Irak als auch in Syrien<br />

die Gotteskrieger zurückdrängen.<br />

An Luftschlägen könnte sich auch die<br />

Bundeswehr beteiligen, wenn es politisch<br />

gewünscht wäre – denn auch Deutschland<br />

betrachtet sich als Teil der Anti-„IS“-Koalition,<br />

die die USA im September auf dem<br />

Nato-Gipfel in Wales ins Leben gerufen haben.<br />

Die deutschen Streitkräfte wären<br />

dann mit Einheiten beteiligt, die in den<br />

Einsätzen der vergangenen Jahre kaum gefordert<br />

waren: Im Kampf setzte die Luftwaffe<br />

ihre Tornado-Kampfjets zuletzt 1999<br />

in den Nato-Angriffen auf Serbien ein.<br />

Über Afghanistan wurden die Tornados<br />

ausschließlich für die Aufklärung genutzt.<br />

Nach dem Muster der anderen beteiligten<br />

Länder – neben den USA sind das<br />

Frankreich, Großbritannien, die Niederlande,<br />

Belgien und Dänemark sowie mehrere<br />

arabische Staaten und Australien – kämen<br />

für Angriffe am Boden nur diese jahrzehntealten<br />

Maschinen infrage, obwohl<br />

diese nicht über Panzerabwehr-Lenkraketen<br />

verfügen. Die neueren Eurofighter-<br />

Kampfjets, ursprünglich als Abfangjäger<br />

vorgesehen, werden noch auf die Möglichkeiten<br />

des Luftangriffs vorbereitet.<br />

Deutschland spart<br />

Rüstungsausgaben ausgewählter Länder<br />

(2013, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts)<br />

9,0<br />

5,6<br />

5,0<br />

4,2<br />

3,8<br />

3,8<br />

2,3<br />

2,3<br />

2,2<br />

2,1<br />

1,6<br />

1,3<br />

1,0<br />

Israel<br />

Saudi-Arabien<br />

Vereinigte Arabische Emirate*<br />

Russland<br />

Bahrain<br />

USA<br />

Großbritannien<br />

Türkei<br />

Frankreich<br />

China<br />

Italien<br />

Deutschland<br />

Japan<br />

* 2012, Quelle: Weltbank<br />

Das Taktische Luftwaffengeschwader 33<br />

in Büchel in Rheinland-Pfalz ist die Heimatbasis<br />

der Tornado-Jagdbomber, mehrere<br />

Maschinen könnten rasch in die Region<br />

verlegt werden. Allerdings sind diese<br />

Jagdbomber für die Art des Luftkrieges, wie<br />

sie derzeit im Irak und in Syrien gefordert<br />

ist, nur bedingt geeignet. Die Luftwaffen-<br />

Tornados können ihre Ziele mit lasergelenkten<br />

Präzisionsbomben angreifen –<br />

doch für Angriffe auf bewegliche Ziele wie<br />

Fahrzeugkonvois sind solche Bomben wenig<br />

sinnvoll. Angriffe auf Ölfelder aber<br />

könnten die Deutschen starten – die USA<br />

und arabische Kampfjets hatten diese und<br />

auch Raffinerien gezielt angegriffen, um eine<br />

Einkommensquelle der „IS“ in den von<br />

ihr kontrollierten Gebieten zu zerstören.<br />

Eine Einsatzbasis für die deutschen Tornados<br />

wäre zu finden, selbst wenn der<br />

Nato-Partner Türkei keinen Flugplatz zur<br />

Verfügung stellen will. Die Briten starten<br />

ihre Tornado-Flüge auf einer eigenen Basis<br />

in Zypern, die möglicherweise auch<br />

Platz für die Luftwaffe hätte. Wenn nicht,<br />

käme der Flugplatz Decimomannu auf<br />

Sardinien infrage. Für den Einsatz über<br />

dem Irak und vielleicht auch Syrien müssten<br />

die Tornados allerdings in der Luft betankt<br />

werden.<br />

Wie alle Kampfjets der beteiligten Nationen<br />

hätten aber auch die deutschen ein<br />

Problem: Die Ziele im selbst ernannten „Islamischen<br />

Staat“ mit seiner wenig staatlichen<br />

Infrastruktur müssen erst einmal erkannt<br />

und geortet werden. Den USA, erst<br />

recht den anderen Staaten, fällt es aber<br />

schwer, mit ihrer Luftaufklärung die wirklich<br />

wichtigen Ziele auszumachen – vor allem,<br />

wenn es darauf ankommt, Opfer unter<br />

der Zivilbevölkerung zu vermeiden.<br />

BOOTS ON THE GROUND<br />

Ohne die berühmten „Boots on the<br />

ground“, die Soldaten im Kampfgebiet, können<br />

die Flugzeuge nur eingeschränkt operieren:<br />

Spezialkräfte am Boden könnten die<br />

Jets per Funk an ein erkanntes Ziel lotsen<br />

und außerdem mit Lasergeräten diese Ziele<br />

so markieren, dass die lasergesteuerten<br />

Bomben exakt treffen. Angeblich sollen sowohl<br />

die USA als auch die Briten solche<br />

Spezialkräfte im<br />

Irak im Einsatz haben,<br />

bestätigt wurde<br />

das bisher nicht.<br />

online<br />

Der Autor schreibt<br />

einen viel beachteten<br />

Blog unter<br />

augengeradeaus.net<br />

Rein militärisch<br />

gesehen, wäre auch<br />

die Bundeswehr in<br />

der Lage, mit Spezialkräften<br />

solche Aktionen<br />

durchzuführen.<br />

Doch das wäre ein noch viel weiter gehender<br />

Schritt als eine Beteiligung an einem<br />

Luftkrieg – und deshalb noch unwahrscheinlicher.<br />

Denn mit Bodentruppen,<br />

und dazu müsste auch der Einsatz von<br />

Spezialkräften gezählt werden, will offiziell<br />

kein westliches Land in diesen Konflikt<br />

eingreifen. Zu groß ist die Furcht, damit in<br />

eine neue, nicht mehr kontrollierbare Auseinandersetzung<br />

hineinzugeraten. n<br />

thomas wiegold | politik@wiwo.de<br />

FOTO: CARO/SCHULZ<br />

30 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

ENTSCHEIDER...<br />

Stöß, 41, könnte Nachfolger<br />

des Berliner Bürgermeisters<br />

Klaus Wowereit werden. Der<br />

SPD-Landeschef – von Beruf<br />

Richter – muss sich noch<br />

gegen weitere SPD-Kandidaten<br />

durchsetzen: Fraktionschef<br />

Raed Saleh und Senator<br />

Michael Müller. Sein Motto:<br />

„Arm ist nicht sexy!“<br />

...GEGEN MACHER<br />

Heilemann, 32, ist Investor<br />

und Gründer. Seine erste<br />

Internet-Firma Dailydeal<br />

verkaufte er gemeinsam mit<br />

seinem Bruder 2011 an<br />

Google – für 114 Millionen<br />

Dollar. Ihre Holding Heilemann<br />

Ventures ist derzeit an<br />

zehn deutschen Start-ups<br />

beteiligt.<br />

»Werden Sie ein Digital-Chef!«<br />

STREITGESPRÄCH | Jan Stöß und Fabian Heilemann Der eine will Berlins neuer Bürgermeister werden,<br />

der andere die Stadt zur Start-up-Weltmetropole machen. Aber wie? Eine Diskussion über das Vorbild<br />

Silicon Valley, die Gründerangst deutscher Ingenieure und Verlockungen des ganz großen Geldes.<br />

FOTO:<br />

32 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Herr Stöß, Herr Heilemann, gerade sind<br />

die Berliner Start-up-Stars, Zalando und<br />

Rocket, an die Börse gegangen. Wer von<br />

Ihnen beiden hat Aktien gekauft?<br />

Stöß:(lacht) Da fangen Sie mal an!<br />

Heilemann: Man könnte aus Lokalpatriotismus<br />

einsteigen. Aber ich bin vor allem<br />

im Nasdaq investiert und werde vorerst dabei<br />

bleiben. Das upside-Potenzial der beiden<br />

Aktien ist angesichts der Lage des Gesamtmarktes<br />

relativ gering, das downside<br />

hingegen erheblich. Also: nein.<br />

Stöß: Ich kenne politisch nur upside-<br />

Potenzial. Und im Ernst: Ich besitze gar<br />

kein Aktienportfolio und werde jetzt auch<br />

nicht damit anfangen. Aber die beiden<br />

Börsengänge sind für Berlin eine Zäsur, ein<br />

gewaltiger Schritt nach vorne, weil die Aufmerksamkeit<br />

so groß ist – weltweit.<br />

Herr Stöß, wenn Sie Internet-Firmen besuchen:<br />

Was überrascht Sie da am meisten?<br />

Stöß: Das Großartige sind die vielen Menschen<br />

aus allen Ländern, die dort arbeiten.<br />

Wo in Deutschland findet man das? Die<br />

richtigen Fachleute zu finden ist für Startups<br />

in Berlin offenbar kein Problem. Die<br />

Marke Berlin ist unser unique selling point.<br />

Und so muss es auch bleiben.<br />

Heilemann: Wahrscheinlich gibt es keine<br />

europäische Stadt, die da mithalten kann.<br />

London, wenn überhaupt. Aber dort ist das<br />

Leben eben absurd teurer. Diese Kombination<br />

aus Internationalität und geringen Lebenshaltungskosten<br />

ist genau der breeding<br />

ground, auf dem die Szene in den letzten<br />

fünf Jahren gewachsen ist.<br />

Stöß: Ich habe allerdings den Ehrgeiz, dass<br />

sich daran ein bisschen was ändert. Denn<br />

billiges Leben hieß bisher auch zu häufig,<br />

dass die Löhne und Gehälter niedrig sind.<br />

Berlin wächst zwar stark, auch wirtschaftlich,<br />

aber vor allem pro Kopf ist das Einkommen<br />

noch zu gering. Hier müssen wir<br />

ran. Wir wollen nicht auf ewig der größte<br />

Nehmer im Finanzausgleich bleiben.<br />

Sie können allerdings schlecht selbst die<br />

Gehaltsverhandlungen übernehmen...<br />

Stöß: Keine Sorge. Was ich möchte, ist eine<br />

Debatte, was gute Arbeit im digitalen<br />

Zeitalter bedeutet. Gerade in Start-ups<br />

gelten meist keinerlei Tarifverträge, die<br />

Grenzen zwischen angestellt und selbstständig<br />

verwischen. Ordentliche Löhne<br />

gehören definitiv zu guter Arbeit, wie ich<br />

sie verstehe.<br />

Heilemann: Es stimmt, unsere Branche ist<br />

weitgehend tarif- und gewerkschaftsfrei.<br />

Aber: Bei uns verfängt keine Mindestlohnforderung,<br />

nicht in unserer Unternehmensgruppe<br />

und auch bei anderen nicht.<br />

Bei uns steht immer eine zwei vor dem<br />

vierstelligen Monatsgehalt.<br />

Einen Betriebsrat...<br />

Heilemann: ...haben wir nicht. Hat aber<br />

auch wenig Sinn: Wir sind nur wettbewerbsfähig,<br />

wenn wir flexibel und extrem schnell<br />

reagieren können. Es ist so schon schwierig<br />

genug, zu überleben. Stellen Sie sich Finanzierungsrunden<br />

in unserer Branche wie eine<br />

Pyramide vor: extrem steil. Da schaffen<br />

es nicht alle nach oben. Betriebliche Mitbestimmung<br />

kann da für geringeres Tempo<br />

sorgen. Im Übrigen: Wir arbeiten so intensiv<br />

und offen mit unseren Mitarbeitern, dass<br />

wir hier auch ohne Betriebsrat sehr gut Interessen<br />

zum Ausgleich bringen können.<br />

Stöß: Einspruch!<br />

Heilemann: Bei uns herrscht eben nicht<br />

wie in vielen alten Industrien ein hierarchisches<br />

Verhältnis, das ausgeglichen werden<br />

müsste. In unserem Gebäude hier arbeiten<br />

zahlreiche junge Unternehmen.<br />

Wer auf uns keine Lust mehr haben sollte,<br />

geht nur eine Hausnummer weiter, viel-<br />

»Geld geben ist<br />

doch keine<br />

Staatsaufgabe!«<br />

Jan Stöß<br />

leicht nur eine Etage. Das Ringen um gute<br />

Programmierer oder Online-Marketingprofis<br />

ist echt kein Spaß.<br />

Stöß: Ich bleibe trotzdem beim Einspruch.<br />

Betriebliche Mitbestimmung muss auch in<br />

Ihrer Branche zur Regel werden. Solange<br />

es aufwärts geht, spielt die Organisation<br />

der Arbeitnehmer oft keine Rolle, aber<br />

wenn es schwierig wird, sieht das schnell<br />

anders aus. Wenn jemand gekündigt wird,<br />

gibt es eben doch wieder eine Hierarchie.<br />

Vizekanzler Sigmar Gabriel will den „Silicon-Valley-Kapitalismus<br />

zähmen“. Können<br />

Sie das verstehen, Herr Heilemann?<br />

Heilemann: Ich kann mir zumindest vorstellen,<br />

was er meint. Etwas wie Google,<br />

Amazon und Facebook hat es in der Wirtschaftsgeschichte<br />

noch nicht geben. Selbst<br />

Rockefeller und Ford haben nie die ganze<br />

Welt derart dominiert. Das muss man ohne<br />

Verklärung analysieren, aber bitte auch ohne<br />

Verdammung. In erster Linie sind das<br />

extrem erfolgreiche Unternehmen, weil sie<br />

Dienste anbieten, die Milliarden von Menschen<br />

nutzen wollen.<br />

Stöß: Aber die problematischen Fragen<br />

sind doch unübersehbar: Google hat rund<br />

95 Prozent Marktanteil. Es ist nicht nur eine<br />

Suchmaschine, sondern auch Wettbewerber<br />

vieler Dienste, die darauf angewiesen<br />

sind, dass sie per Google-Suche gefunden<br />

werden. Hier hat ein privates Unternehmen<br />

faktisch ein Monopol, und die Spielregeln<br />

sind nicht klar. Deshalb hat Gabriel<br />

recht, wenn er diese Fragen aufwirft.<br />

Was überwiegt denn: Die Probleme? Oder<br />

der Optimismus, der Gründergeist?<br />

Stöß: Aus Berliner Sicht überwiegt der Optimismus.<br />

Für Berlin ist das Internet eine<br />

Erfolgsgeschichte, die wir fortsetzen wollen.<br />

Alles, was der Start-up-Szene hier in<br />

der Stadt hilft zu bleiben, zu wachsen und<br />

neue Jobs zu schaffen, sollten wir tun. Aber<br />

wir verschließen nicht die Augen vor den<br />

Risiken, die wir politisch angehen müssen.<br />

Herr Heilemann, Sie haben in Stanford<br />

promoviert, für Google gearbeitet. Was<br />

haben Sie da gelernt?<br />

Heilemann: Nationale Lösungen sind<br />

schwieriger als früher. Datenschutz, Monopole,<br />

auch Besteuerung, all das müssen wir<br />

in globaler Perspektive denken. Es hat<br />

Gründe, warum die großen Venture-Capital-Deals<br />

nicht in Deutschland gemacht<br />

werden, sondern über Luxemburg, London<br />

oder Delaware laufen. Das regulatorische<br />

Korsett und die Anlage-Richtlinien für<br />

institutionelle Anleger hierzulande schrecken<br />

ab. Deswegen fehlt uns bis heute eine<br />

florierende Wagniskapitalbranche.<br />

Was soll Politik da tun? Und was lassen?<br />

Heilemann: Ganz ehrlich: Am Anfang ist<br />

Politik ein irrelevanter Faktor. Bürokratie<br />

und rechtlicher Rahmen bestimmen vielleicht<br />

über zwei bis drei Prozent meines Erfolgs.<br />

Mindestens 95 Prozent gründen dagegen<br />

auf unsere Technologie, dem Marketing<br />

und dem Vertrieb, also der operativen<br />

execution der Geschäftsidee.<br />

Stöß: Seien wir realistisch: Die Leute gründen<br />

nicht in Berlin, weil wir die weltweit<br />

schnellste Verwaltung haben, sondern weil<br />

die Stadt eben so großartig ist, weltläufig,<br />

wild und aufregend. Wir müssen also alles<br />

tun, damit dieser Geist erhalten bleibt.<br />

Heilemann: Da bin ich ganz bei Ihnen.<br />

Stöß: Dann dürfen wir gesellschaftliche<br />

Freiräume nicht zerstören, müssen freie Flächen<br />

erhalten, Zufall geschehen lassen. Und<br />

trotzdem gute Politik machen: Räume und<br />

Grundstücke sollte die Stadt auch für diejenigen<br />

reservieren, die zwar nicht am meisten<br />

zahlen, aber das kreativste Konzept haben.<br />

Wir sollten dafür sorgen, dass in unseren<br />

Behörden Englisch gesprochen wird.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 33<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Und wir brauchen endlich eine funktionierende<br />

one-stop agency für Gründer.<br />

Den Berlin-Hype in allen Ehren, aber im<br />

Silicon Valley wird 25-mal mehr Geld investiert<br />

als hier. Wie soll sich das ändern?<br />

Heilemann: Wenn wir in Berlin Firmen<br />

aufbauen wollen, die ernsthaft in der Weltliga<br />

mitspielen können, brauchen wir<br />

zweierlei: Talente und Kapital. Beim Geld<br />

hat sich einiges zum Guten getan, gerade<br />

wenn es um die Startphase geht. Unser<br />

Problem ist der Schritt danach, das Wachstum.<br />

Eine halbe oder Dreiviertelmillion<br />

einzusammeln, ist nicht das Thema. Aber<br />

bei zwei bis drei Millionen wird es eng.<br />

Das müssen Sie erklären.<br />

Heilemann: Institutionelle Venture-Capital-player,<br />

die das Vermögen von Investoren<br />

verwalten, finden in Deutschland derzeit<br />

keine guten steuerlichen und rechtlichen<br />

Rahmenbedingungen. Wie werden<br />

die Erträge der Venture-Fonds selbst und<br />

die Gewinnbeteiligungen der Fonds-Manager<br />

besteuert? Das sind standortpolitisch<br />

gesehen sehr kritische Fragen. Das<br />

Gros des US-Venture-Capital kommt doch<br />

von Versicherern, Pensionsfonds und Banken,<br />

weil sie Anlage-Richtlinien haben, die<br />

ihnen zu einem gewissen Prozentsatz auch<br />

die Investition in alternative Asset-Klassen<br />

ermöglichen. In Deutschland ist das anders.<br />

Und das ist ein strukturelles Problem<br />

für unser digitales Ökosystem.<br />

Stöß: Langsam, Berlin muss selbst investieren.<br />

Dafür benötigen wir ebenfalls Geld.<br />

Deshalb können wir Ihnen und anderen<br />

bei Steuererleichterungen nicht allzu weit<br />

entgegenkommen. Ich setze eher auf Ausrufezeichen<br />

wie Rocket. Geld geben ist ja<br />

keine Staatsaufgabe.<br />

Heilemann: Da sind wir uns einig.<br />

Stöß: Danke. Sie sind doch ein gutes Beispiel<br />

für die Kraft von Traditionen: Ein junger<br />

Mann, der eine Vision hat, die er trotz<br />

aller Hürden durchzieht. 1847 hat nicht<br />

weit von hier ein Mann namens Werner<br />

von Siemens eine Telegrafen-Werkstatt<br />

aufgebaut. Gründen liegt einfach in der<br />

DNA dieser Stadt.<br />

Damit sind wir bei Talenten: Was fehlt der<br />

Humboldt-Universität, was Stanford hat?<br />

Heilemann: Da herrscht ein riesiger kultureller<br />

Unterschied. Die Helden dort heißen<br />

Mark Zuckerberg, Steve Jobs oder Larry<br />

Page. Das sind die Sterne am Firmament<br />

von Nordkalifornien. Jeder will der nächste<br />

sein, der da oben funkelt.<br />

Hier arbeiten die Leute lieber beim Staat.<br />

Heilemann: Nicht nur. Wir wollten mal mit<br />

der RWTH Aachen ein Projekt aufbauen.<br />

»In der Politik<br />

würde ich<br />

wahnsinnig«<br />

Fabian Heilemann<br />

Das scheiterte, weil deutsche Ingenieure –<br />

brillante Leute – eben nicht das Risiko der<br />

Selbstständigkeit lieben, sondern Siemens,<br />

Porsche oder Bosch.<br />

Und das heißt?<br />

Heilemann: In Deutschland gründen immer<br />

noch überwiegend BWLer. Schauen<br />

Sie sich die wichtigsten Köpfe des vergangenen<br />

Jahrzehnts doch mal an, da finden<br />

Sie immer wieder eine Uni in der Vita: die<br />

Business School WHU in Vallendar. Im Valley<br />

ist es genau andersrum: Da sind die<br />

Programmierer und Tech-Nerds die Stars.<br />

Manager kauft man sich eben ein, weil<br />

man sie braucht.<br />

Stöß: Sehen wir das doch positiv. Wir bieten<br />

andere Chancen. Hier können motivierte<br />

Leute in kleinen Unternehmen Großes<br />

bewegen. Das Leben ist noch günstig,<br />

es gibt keine Studiengebühren. Dabei soll<br />

es auch bleiben. Ich würde mir nur noch<br />

mehr Berliner Absolventen wünschen, die<br />

ihren ersten Job nicht woanders suchen.<br />

Häufig erlebt man unter Netzprofis Belustigung<br />

über digitale Analphabeten in der<br />

Politik. Empfinden Sie beide das auch so?<br />

Heilemann: Ich will Ihrer Analyse nicht<br />

widersprechen, aber ich persönlich sehe<br />

das anders. Ich habe selber in meiner Jugend<br />

Politik gemacht und habe Freunde,<br />

die heute Landtags- oder Bundestagsabgeordnete<br />

sind. Um Deutschland als Digital-<br />

»Gründen liegt<br />

einfach in der<br />

DNA der Stadt«<br />

Jan Stöß<br />

Standort zu stärken, investiere ich Zeit, in<br />

der ich Politikern meine Ansichten vermittele.<br />

Nur für mich selber wäre Politik<br />

nichts. Ständig Kompromisse schließen,<br />

diskutieren, kaum Ergebnisse – ich würde<br />

wahnsinnig werden.<br />

Stöß: Manchmal gibt es diese Verachtung,<br />

ja. Dagegen hilft nur miteinander sprechen.<br />

Der Graben darf nicht weiter aufreißen.<br />

Wenn wir für die Internet-Szene gute<br />

Politik machen sollen, dann brauchen wir<br />

ernsthaften Input.<br />

Ist hier unter Wowereit genug passiert?<br />

Stöß:Lassen Sie uns über die Zukunft sprechen<br />

und nicht über die Vergangenheit.<br />

Wenn ich Regierender Bürgermeister werde,<br />

dann wird die Internet-Wirtschaft einer<br />

meiner Schwerpunkte. Ich will einen nachhaltigen<br />

Aufschwung.<br />

Gutes Stichwort: Nicht alle Gründer legen<br />

auf ein nachhaltiges Geschäftsmodell<br />

Wert. Die suchen lieber den schnellen<br />

Exit, um mit ein paar Millionen aus dem<br />

Firmenverkauf das Leben zu genießen.<br />

Heilemann: Das sehe ich komplett anders.<br />

Mehr als 300 Millionen Euro fließen durchschnittlich<br />

jedes Jahr nach Berlin in Startups.<br />

Damit werden Unternehmenswerte<br />

geschaffen, die beim Zwei- bis Dreifachen<br />

der Investitionssumme liegen. Hier wird<br />

unterm Strich definitiv kein Geld vernichtet.<br />

Ich wehre mich auch gegen dieses Zerrbild<br />

von Gründern, die zu schnell zu reich<br />

geworden sind. Die große Mehrzahl gibt<br />

weiter Gas. Ich persönlich sitze nach wie<br />

vor jeden Morgen um neun am Ikea-<br />

Schreibtisch und arbeite oft bis in die<br />

Nacht, investiere und gründe neue Unternehmen.<br />

Mit all den Rückschlägen und<br />

Frustrationen, die das manchmal mit sich<br />

bringt. Das müsste ich nicht. Ich könnte<br />

auch auf Sylt oder an der Côte d’Azur rumhängen.<br />

Tue ich aber nicht.<br />

Herr Heilemann ist durch den Verkauf seiner<br />

Firma zum Millionär geworden. Ist das<br />

eigentlich eine Geschichte, die Ihr sozialdemokratisches<br />

Herz erwärmt, Herr Stöß?<br />

Stöß: (lacht) Wenn er jetzt noch einen Betriebsrat<br />

bekommt, dann ja!<br />

Heilemann: Wenn ich Ihnen im Gegenzug<br />

auch noch einen Rat geben darf: Herr Wowereit<br />

hat uns mit einem Ohr zugehört,<br />

aber mit mehr auch nicht. Wenn Sie sein<br />

Nachfolger werden, dann machen Sie die<br />

Internet-Wirtschaft wirklich zu Ihrem dominierenden<br />

Thema. Reden Sie nicht nur<br />

darüber. Werden Sie der Digital-Regierungschef<br />

Deutschlands! Nur so kann Berlin<br />

sich sanieren.<br />

n<br />

max.haerder@wiwo.de | Berlin<br />

FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

34 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Behördenstriptease<br />

DATENSCHUTZ | Als erstes Bundesland verpflichtet Hamburg<br />

seine Behörden, alle Dokumente offenzulegen. Datenschützer<br />

feiern das Transparenzgesetz und fordern die Ausweitung.<br />

Doch der Praxistest zeigt: Sorge ist angebracht.<br />

Schatz in der Hand Der Hamburger Piraten-Politiker Burkhard Masseida<br />

Als einer der Ersten wird Christoph<br />

von Rauchhaupt durchleuchtet. Insgesamt<br />

43 925 Euro und 48 Cent hat<br />

der Hamburger Arzt von der städtischen<br />

Denkmalbehörde seit 2012 erhalten, um<br />

eine historische Immobilie zu Wohnzwecken<br />

umzubauen und zu sanieren. Zu viel?<br />

Völlig in Ordnung? Darüber können sich<br />

ab sofort seine Nachbarn oder Patienten<br />

den Kopf zerbrechen. Denn seit dem 6. Oktober<br />

ist diese Information öffentlich.<br />

Seit einer Woche gilt in Hamburg das<br />

Transparenzgesetz. Alle Behördendokumente,<br />

deren Nutzung nicht auf den<br />

Dienstgebrauch beschränkt wird, müssen<br />

nun online veröffentlicht werden. Maschinenlesbar<br />

und mit Suchfunktion. Unternehmen,<br />

die Aufgaben der Daseinsvorsorge<br />

übernehmen, sind ebenfalls betroffen.<br />

Das Denkmalschutzamt hat den Anfang<br />

gemacht: Am Montagmorgen stellten die<br />

Beamten eine Liste aller Zuwendungsempfänger<br />

der vergangenen zwei Jahre online.<br />

Seitdem folgten über 100 weitere Dokumente,<br />

gut 26 000 waren zuvor bereits zu<br />

Testzwecken veröffentlicht worden. Das<br />

Gesetz ist ein absolutes Novum. In der Slowakei,<br />

wo die Idee ihren Ursprung hat, ist<br />

nur ein kleiner Teil aller behördlichen Dokumente<br />

betroffen. Datenschützer sind begeistert,<br />

fordern eine flächendeckende<br />

Einführung. In mehreren Bundesländern<br />

sind Gesetze nach Hamburger Vorbild geplant.<br />

Dabei ist schon nach einer Woche<br />

absehbar, dass der Hamburger Feldversuch<br />

mittelfristig vor allem eines offenbaren<br />

wird: die Risiken, die im Transparenzjubel<br />

untergehen.<br />

Burkhard Masseida wird einer der regelmäßigen<br />

Gäste auf der Plattform sein. „Ich<br />

interessiere mich vor allem für die Daten<br />

über die Arbeit der Hamburger Polizei“,<br />

sagt Masseida. Der 40-Jährige arbeitet als<br />

Türsteher, im kommenden Jahr soll er nebenbei<br />

die Hamburger Piratenpartei als<br />

Spitzenkandidat in die Bürgerschaftswahl<br />

führen. Er ist einer der Erfinder des Gesetzes,<br />

im Herbst 2011 hat Masseida selbst<br />

mehr als 1500 Unterschriften gesammelt,<br />

um aus der Idee ein Bürgerbegehren zu<br />

machen. Am Anfang hatte er die Initiative<br />

„Mehr Demokratie“ an seiner Seite, später<br />

kamen Transparency und der Chaos Computer<br />

Club hinzu. Um die Überparteilichkeit<br />

zu ermöglichen, zogen sich die Piraten<br />

dann aus der Projektspitze zurück. Das<br />

Thema Transparenz hat seine Partei groß<br />

gemacht.<br />

NUR EIN WERKZEUG<br />

Jetzt ist das Gesetz da und die Partei längst<br />

nicht mehr groß. Masseida ist dennoch begeistert:<br />

„Das Portal wird einen Paradigmenwechsel<br />

einläuten“, sagt er. „Die Behörden<br />

werden merken, dass Offenheit ihnen<br />

nicht schadet.“ Zumindest Renate Mitterhuber<br />

hat er schon überzeugt. Die stellvertretende<br />

Leiterin der IT-Abteilung der<br />

Hamburger Finanzbehörde hat die Umsetzung<br />

des Gesetzes koordiniert. „Von immer<br />

mehr Kollegen bekomme ich positive<br />

Rückmeldungen, denn auch wir erhalten<br />

durch das Portal einen neuen Überblick<br />

über unsere eigenen Aktivitäten.“<br />

So bunt wie das Behördenleben ist der<br />

erste Eindruck von der Plattform. Nach<br />

dem Denkmalschutzamt hat die Behörde<br />

für Stadtentwicklung die „Kooperationsvereinbarung<br />

mit der Vattenfall-Gruppe“<br />

ins Netz gestellt, wenig später das Personalamt<br />

die „Dienstvereinbarung über verlängerte<br />

Mittagspausen“. Da ist zu lesen,<br />

dass die Mitarbeiter ihre Pause von den regulären<br />

30 Minuten auf bis zu zwei Stunden<br />

ausweiten dürfen, wenn sie es anderswo<br />

durch die Mehrarbeit reinholen. Wenig<br />

später folgt die „Anstaltsverfügung“ der Sozialtherapeutischen<br />

Anstalt Hamburg über<br />

die Einrichtung von „DVD-Gruppen“. Insassen<br />

und Sicherheitsverwahrte dürfen<br />

demnach DVDs anschauen – aber nur gemeinsam.<br />

Und: „In der Regel sind Filme<br />

mit einer FSK-Zulassung ,ab 18 Jahren‘<br />

nicht geeignet.“ Und solche Sachen sollen<br />

die Hamburger jetzt täglich zum Morgenkaffee<br />

studieren?<br />

FOTO: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

36 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Die Transparenz<br />

ist da, doch die<br />

Partei ist weg, die<br />

das Thema erfand<br />

„Wir haben da ein Werkzeug geschaffen,<br />

mit dem jeder arbeiten kann, wenn es nötig<br />

ist“, erklärt Masseida. „Wenn Sie eine<br />

Kettensäge kaufen, laufen Sie ja auch nicht<br />

gleich in den Wald und machen alle Bäume<br />

platt.“ Schon recht, und dennoch zeigen<br />

gerade diese banalen Beispiele, dass<br />

die allumfassende Transparenz etwas<br />

Grundsätzliches verändern könnte im Umgang<br />

zwischen Bürgern und Staat. Vertrauen<br />

in die Arbeit der Behörden wird durch<br />

die Illusion umfassender Kontrolle ersetzt.<br />

Die Kontrolle des Staats durch seine<br />

Bürger ist ein hehres Ziel, für das es bereits<br />

einige Instrumente gibt. Das Informationsfreiheitsgesetz<br />

garantiert, dass auf<br />

konkrete Anfragen ziemlich umfassende<br />

Antworten folgen müssen. „Wir müssen<br />

wegkommen von dieser Rolle als Bittsteller,<br />

wo der Bürger im Prinzip als Querulant<br />

gesehen wird“, sagt Masseida. Bisher<br />

musste der Bürger sich rechtfertigen, warum<br />

er etwas wissen will. Ab jetzt soll der<br />

Staat begründen, wenn er Dinge nicht verraten<br />

will.<br />

Das ist mit dem Gesetz zweifellos gelungen.<br />

Doch vor lauter Begeisterung über die<br />

Vorzüge der Offenheit wurde wohl vergessen,<br />

dass diese auch jemanden bloßstellen<br />

kann: den Menschen dahinter. „Wenn ich<br />

eine Ausschreibung der Stadt gewinne,<br />

kann ab sofort jeder Konkurrent sehen,<br />

mit welchen Preisen ich kalkuliere“, sagt<br />

Tobias Bergmann, Geschäftsführer des<br />

Hamburger Beratungsunternehmens<br />

nordlicht consultants. Zwar gilt das Transparenzgesetz<br />

für alle Aufträge in gleicher<br />

Weise, aber eben nur innerhalb Hamburgs.<br />

„Ein Unternehmer aus Bayern kann<br />

seine Kalkulation darauf abstimmen, ohne<br />

dass ich Ähnliches über seine Angebote<br />

wüsste“, sagt Bergmann. Zwar dürfen Unternehmen<br />

der Verwaltung vorschlagen,<br />

was in einem Vertrag geschwärzt werden<br />

soll, die Entscheidung aber verbleibt bei<br />

den Beamten. So erfährt man auf dem<br />

Transparenzportal, dass das Ingenieurbüro<br />

WKC Hamburg für die „Instandsetzungsplanung<br />

für die 85 Meter lange<br />

Kaimauer am Lotsekai“ insgesamt 130 827<br />

Euro erhalten hat. Wäre es ein Wunder,<br />

wenn bei der nächsten Kaimauer einer<br />

129 000 Euro bietet?<br />

Selbst wenn es nicht zu solchen direkten<br />

Folgen kommt, ändern wird sich der Geist,<br />

der durch die Behördenflure weht. Am<br />

Dienstag folgte das Dokument „Hausordnung<br />

der Behörde für Justiz und Gleichstellung“.<br />

Punkt 11.3.2: „Das Abstellen von<br />

Fahrrädern in Büros oder auf Verkehrsflächen<br />

innerhalb des Dienstgebäudes ist untersagt.“<br />

Oder 11.4: „In die Papierkörbe<br />

sind nur Papierabfälle zu entsorgen.“ Geht<br />

jetzt ein Bürger hin und schwärzt einen<br />

Mitarbeiter wegen solcher Verstöße an,<br />

wenn der sein Begehren ablehnt? Wer zur<br />

Blockwartmentalität neigt, dem eröffnen<br />

sich ganz neue Betätigungsfelder.<br />

Bis auf Weiteres scheint der Hamburger<br />

im Allgemeinen noch recht harmlose Ziele<br />

zu verfolgen: Der meistgesuchte Begriff in<br />

den ersten Tagen lautete „Baumkataster“. n<br />

konrad.fischer@wiwo.de<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Politik&Weltwirtschaft<br />

Fürsorge Fehlanzeige<br />

UKRAINE | Das Auswärtige Amt stellt Mitarbeiter an, die im OSZE-<br />

Auftrag den Krieg beobachten – für viel Geld und wenig Sicherheit.<br />

der Bund jener strengen Fürsorgepflichten,<br />

denen private Arbeitgeber über das Arbeitsrecht<br />

unterliegen. Anders als Soldaten<br />

fehle OSZE-Beobachtern jegliche soziale<br />

Absicherung. „Das mag formal legal sein,<br />

legitim ist es nicht“, so Abeln.<br />

Rechtswissenschaftler Holger Berens<br />

warnt, vertraglich sei „in keiner Weise geregelt,<br />

wer für Fürsorgepflichten am Einsatzort<br />

verantwortlich ist“, so der Experte für Mitarbeiterentsendung,<br />

der an der Rheinischen<br />

Fachhochschule in Köln lehrt. Bei Verletzung<br />

dieser Pflichten könne „Schadensersatz<br />

und unter Umständen Schmerzensgeld<br />

verlangt werden“. Die OSZE verweist auf Anfrage<br />

an das Auswärtige Amt. Dort verweist<br />

man auf das Gesetz aus dem Jahre 2009, das<br />

„zahlreiche Fürsorgeleistungen“ vorsehe.<br />

Jeder, den Deutschland auf die Mission in<br />

der Ukraine schicke, mache dies „freiwillig<br />

und in voller Kenntnis der Lage vor Ort“.<br />

Als neulich die Neuen kamen, blickten<br />

sie zum Einstand in Gewehrläufe<br />

prorussischer Separatisten. In Kiew<br />

müssen sie das Navi falsch eingenordet haben<br />

– jedenfalls führte der Weg die Beobachter<br />

nicht ins Camp der Organisation für<br />

Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa<br />

(OSZE), sondern direkt an die Front. Rings<br />

um den Geländewagen knallten Schüsse,<br />

irgendwo detonierten Granaten. Schließlich<br />

stoppten bewaffnete Rebellen die vier<br />

Zivilisten am Checkpoint – mitten in der<br />

Nacht, und keiner sprach Russisch.<br />

Diese Neulinge hatten Glück: An jenem<br />

Abend konnten sie heimkehren, niemand<br />

wurde entführt. Noch mehr Fortune hatten<br />

Kollegen einige Tage später, als ukrainische<br />

Soldaten OSZE-Jeeps unter Beschuss nahmen.<br />

Nur die Panzerung rettete fünf Mann<br />

das Leben. Nein, gefahrlos ist die „Special<br />

Monitoring“-Mission in der Ukraine nicht.<br />

„Ständig passiert etwas“, sagt ein Teilnehmer.<br />

„Es ist ein Wunder, dass es bisher weder<br />

Tote noch Verletzte gab.“<br />

Sofern es dazu kommt, wäre es ihr Pech.<br />

Die Bundesregierung und andere EU-Länder<br />

bestücken OSZE-Missionen mit Personal,<br />

das an Kurzzeitverträge ohne jegliche<br />

Fürsorgeverpflichtung und mit minimalen<br />

Sozialleistungen geknebelt ist. Das Auswärtige<br />

Amt zahlt Beobachtern kein Gehalt,<br />

sondern eine Aufwandsentschädigung,<br />

die OSZE überweist Verpflegungspauschalen.<br />

So kommt ein deutscher Be-<br />

Unter Beschuss Zivile Beobachter der OSZE<br />

befinden sich plötzlich mitten im Krieg<br />

obachter auf 7000 Euro brutto – ein hübsches<br />

Salär für Uni-Absolventen. Doch Risiken<br />

in Krisenregionen tragen die Beobachter:<br />

Sie verpflichten sich laut einem der<br />

WirtschaftsWoche vorliegenden Vertrag,<br />

„eine Krankenversicherung abzuschließen,<br />

die die besonderen Risiken des Einsatzes<br />

abdeckt“. Auf Anfrage teilt die OSZE<br />

mit, man habe Verträge mit Versicherern<br />

und vermittle psychologische Beratung.<br />

Arbeitsrechtler haben da ihre Zweifel. In<br />

der Praxis schließe jeder Versicherer Risiken<br />

in Kriegsgebieten von Leistungen aus,<br />

sagt Christoph Abeln, Chef einer gleichnamigen<br />

Berliner Kanzlei. Es sei „gesetzlich<br />

fixierter Widersinn“, was der Bund per Gesetz<br />

zur „Regelung von Sekundierungen im<br />

Rahmen von Einsätzen der zivilen Krisenprävention“<br />

nicht nur für OSZE-Missionen<br />

festschreibt: Ausgerechnet gegenüber Mitarbeitern<br />

in Krisengebieten entzieht sich<br />

250 Kräfte<br />

der OSZE sind in der<br />

Ukraine im Einsatz<br />

MITTEN IM KRIEG<br />

Im Moment setzt die OSZE in der Ukraine<br />

250 Kräfte ein – darunter 17 Deutsche. Für<br />

250 weitere läuft eine Ausschreibung, die<br />

Neuen sollen Erfahrung bei der Überwachung<br />

von Waffenstillständen mitbringen.<br />

Viele Freiwillige sind in umkämpften Ostgebieten<br />

der Ukraine unterwegs, sprechen<br />

mit Soldaten und Rebellen, befragen Anwohner.<br />

Einer von ihnen ist Bruno Brückmann;<br />

seinen wahren Namen will er nicht<br />

gedruckt sehen. „Mit friedlichem Beobachten<br />

hat diese Mission nichts zu tun“, sagt er.<br />

„Wir stecken mitten in einem Krieg mit<br />

Mörsern und Granaten.“ Nie habe er einen<br />

Einsatz erlebt, der „so dilettantisch vorbereitet<br />

und begleitet wurde wie dieser“, sagt<br />

er in Richtung der OSZE-Führung in Wien.<br />

Dort heißt es, der Einsatz „ist und bleibt eine<br />

zivile Mission“. Die Sicherheitslage werde<br />

ständig überprüft, es gebe „angemessene<br />

Maßnahmen zur Risikominimierung“.<br />

Friedrich Haas kennt die Ukraine. Er ist<br />

Chef der Bielefelder Sicherheitsberatung<br />

AKE, war in Beobachtermissionen tätig<br />

und begleitet nun Fernsehteams in den Osten<br />

des Landes. „Vielen Beobachtern fehlt<br />

die Erfahrung, sie unterschätzen leicht die<br />

Gefahr.“ Wer bei früheren Einsätzen dabei<br />

gewesen sei, habe sich auf Armeen verlassen<br />

können: Wer sich im Kosovo in ein Minenfeld<br />

verirre, den hole die Truppe ab. In<br />

der Ukraine nicht: „Da werden Sie nicht<br />

einmal bei einem Beinbruch versorgt.“ Bei<br />

der OSZE heißt es, man baue mit der Vergrößerung<br />

der Mission eine medizinische<br />

Versorgung vor Ort auf. Das tut auch not. n<br />

florian.willershausen@wiwo.de | Berlin, thomas kuhn<br />

FOTO: CORBIS IMAGES/ITAR TASS/SAZONCHIK KONSTANTIN<br />

38 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTOS: SAMMY HART, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, BERLINPRESSPHOTO/HENNING SCHACHT<br />

PARIS | Die Regierung<br />

spart an der<br />

Kinderprämie –<br />

Eltern schlagen<br />

Alarm. Von Karin<br />

Finkenzeller<br />

Kindersegen<br />

auf der Kippe<br />

Frankreich, du hast es<br />

besser. Zumindest was<br />

die Geburtenrate angeht,<br />

schien das bisher zu stimmen.<br />

Mit 1,99 Kindern<br />

pro Frau liegt Frankreich<br />

weit vor Deutschland und gilt als leuchtendes<br />

Vorbild, was die Vereinbarung von<br />

Beruf und Familie angeht. Da wird zwar<br />

ausgeblendet, dass auch die Nachbarn<br />

ein Krippenplatzproblem haben und Kinder<br />

in ihren Horten häufig kein Fleckchen<br />

Grün sehen. Aber es ist schon richtig: Die<br />

Drei-Kind-Familie ist in Frankreich nicht<br />

ungewöhnlich. Doch jetzt fürchten die<br />

Nachbarn um ihre hohe Geburtenrate.<br />

Weil die Kassen leer sind, will die Regierung<br />

die Prämie ab dem zweiten Kind<br />

von derzeit 923 Euro um zwei Drittel senken<br />

– zumindest bei Familien, die sich<br />

das leisten können. Zudem soll die Erziehungszeit<br />

von derzeit drei Jahren auf 18<br />

Monate reduziert werden, wenn nur ein<br />

Elternteil die Auszeit nimmt. Offiziell soll<br />

dies Väter dazu animieren, sich ebenfalls<br />

ausgiebig mit dem Nachwuchs zu beschäftigen.<br />

Insgeheim aber hofft die<br />

Regierung darauf, dass dies nicht klappt<br />

und sie 300 bis 400 Millionen Euro pro<br />

Jahr einsparen kann. Schon empören<br />

sich Experten und Vorsitzende von Elternvereinigungen.<br />

Französische Paare könnten,<br />

so die einhellige Befürchtung, es<br />

sich künftig dreimal überlegen, Kinder zu<br />

kriegen oder den Zeitpunkt dafür weit<br />

nach hinten verschieben.<br />

Charles de Gaulle würde sich im Grab<br />

umdrehen. Der erste Präsident nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg hatte die Geburtenförderprogramme<br />

doch eingeführt, damit<br />

viele, viele Franzosen nie wieder von den<br />

Deutschen überrannt würden.<br />

Karin Finkenzeller ist Frankreich-<br />

Korrespondentin der WirtschaftsWoche.<br />

BERLIN INTERN | Nicht Politik verdirbt den Charakter,<br />

sondern Charaktere verderben die Politik. Beim<br />

Journalismus ist es nicht anders. Von Henning Krumrey<br />

Kohle mit Kohl<br />

Der politische Kampf war sein<br />

Lebenselixier, nichts Menschliches<br />

war ihm hier fremd, etliche<br />

Intrigen hat er erlitten, mindestens<br />

genauso viele angezettelt. Auf seine<br />

alten Tage wird Helmut Kohl aber noch<br />

Hauptperson eines Eifersuchtsdramas.<br />

Als enttäuschter Liebhaber drängt der<br />

Journalist Heribert Schwan ins Rampenlicht,<br />

den Kohl als Geistschreiber für seine<br />

Memoiren angeheuert hatte. Zwischen<br />

2001 und 2002 trafen sich der abgewählte<br />

Geht doch Kanzlerin Merkel hat die Gabel<br />

– anders als Kohl damals klagte – im Griff<br />

Bundeskanzler und der auserwählte Autor<br />

zu 105 Sitzungen, meist im Hobbykeller<br />

des berühmten Oggersheimer Bungalows.<br />

Schwan zeichnete die Gespräche auf<br />

Tonkassetten auf. Danach ging’s an die<br />

Produktion der ersten drei Bände; ab 2004<br />

verzichtete Schwan auf Hausbesuche, um<br />

Kohls neuer Partnerin Maike Richter aus<br />

dem Weg zu gehen. 2009 erhielt er Hausverbot,<br />

just als er mit der ersten Hälfte des<br />

vierten Bandes aufwarten wollte.<br />

Wut und Rache müssen Schwan treiben,<br />

wenn er die bösesten Kommentare und klaren<br />

Einordnungen des Einheitskanzlers veröffentlicht<br />

– ohne Absprache. Gleichwohl<br />

sieht sich Schwan berechtigt, die besonders<br />

klingenden Sprüche in ebensolche Münze<br />

umzuwandeln. „Ich bin der, der das Vermächtnis<br />

verwalten kann, so habe ich mich<br />

empfunden.“ Diese Rolle beansprucht inzwischen<br />

freilich auch Maike Kohl-Richter.<br />

Schwans Partner in der Aufbereitung und<br />

Vermarktung der Kohl’schen Tiraden ist der<br />

Autor und Filmemacher Tilman Jens. Ihm<br />

gelingt das Kunststück, bereits zum dritten<br />

Mal mit dem (Ab-)Leben eines Menschen<br />

ein Geschäft zu machen. Als „Stern“-Reporter<br />

war er nach dem Tod des Schriftstellers<br />

Uwe Johnson in dessen Haus in England<br />

eingedrungen, um Material zu sammeln.<br />

Nach der illegalen Recherche endete seine<br />

Karriere bei der Illustrierten. Zwischen 2008<br />

und 2010 konnte er aus der Alzheimer-<br />

Erkrankung seines Vaters, des Germanisten,<br />

Moralphilosophen und -apostels Walter<br />

Jens, Aufsehen und Kapital schlagen. Und<br />

nun also Kohls „Vermächtnis“. Gemein haben<br />

alle drei Objekte von Jens’ Neugier, dass<br />

sie sich nicht mehr selbst wehren können.<br />

Kein Zweifel: Kohl wird all die süffigen<br />

Beschimpfungen so gesagt haben. Sie decken<br />

sich mit vielen, die er bei vertraulichen<br />

Gesprächen im Büro, am Vorabend von<br />

Parteitagen, in kleiner Runde oder bei arrangierten<br />

Abendessen in der pfälzischen<br />

Heimat mit Wonne unter die Journalisten<br />

brachte. Kein Geheimnis beispielsweise ist,<br />

dass der frühere Fraktionsvorsitzende<br />

Friedrich Merz sich <strong>vom</strong> CDU-Patriarchen<br />

wie ein dummer Junge behandelt fühlte<br />

und sich Kohls gönnerhaft-herablassendes<br />

DuSie („Merz, gib mal ...“) verbat. Ihn beschimpft<br />

der Senior als „politisches Kleinkind“.<br />

Den späteren Minister- und Bundespräsidenten<br />

Christian Wulff hatte er vor<br />

dessen Aufstieg so oft und vernehmbar als<br />

Niete charakterisiert, dass Wulff sich am<br />

Abend seines niedersächsischen Wahlsieges<br />

im Frühjahr 2003 kurz nach 18 Uhr bei<br />

Kohl telefonisch mit den Worten meldete:<br />

„Hier spricht der Loser aus Hannover.“<br />

Als wollte er die Brisanz seines Vertrauensbruchs<br />

herunterspielen, sagt Schwan:<br />

„Wer Kohl ein bisschen kennt, für den bietet<br />

das Buch nichts Neues.“ Da hat er recht.<br />

Schwan behauptet, Kohl würde ihm auf<br />

die Schulter klopfen und ausrufen: „Volksschriftsteller,<br />

Gratulation!“ Doch wer Kohl<br />

kennt, der ahnt, dass er Schwans Verhalten<br />

zwar eindeutig, aber anders werten würde.<br />

Er würde einfach den einen Vokal in dessen<br />

Namen durch zwei andere ersetzen.<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 39<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

KOMMENTAR | In ihrem Herbstgutachten bestätigen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute<br />

den Abwärtstrend der deutschen Wirtschaft. Zugleich warnen<br />

sie davor, die geldpolitischen Schleusen weiter zu öffnen und breit angelegte<br />

öffentliche Investitionsprogramme aufzulegen. Von Malte Fischer<br />

Ende der Kuschel-Konjunktur<br />

War es nicht ein tolles<br />

Gefühl, als uns<br />

vor wenigen Monaten<br />

noch fast<br />

täglich Nachrichten von einer<br />

kräftig wachsenden Wirtschaft,<br />

neuen Beschäftigungsrekorden<br />

und steigenden Einkommen<br />

das Gefühl vermittelten: Es<br />

geht uns gut – und morgen<br />

wird es uns noch besser gehen?<br />

Während um uns herum<br />

in Europa Krise angesagt war,<br />

wähnten wir uns in Deutschland<br />

auf einer Insel der Wirtschafts-Glückseligen.<br />

Die Krise<br />

nahmen wir allenfalls televisionär<br />

wahr oder – mit einem<br />

Schuss Ferienlaune gepaart –<br />

als Urlauber am Mittelmeer.<br />

SCHLUSS MIT LUSTIG<br />

Doch jetzt ist es mit der bundesdeutschen<br />

Kuschel-Konjunktur<br />

vorbei. Im Tagesrhythmus prasseln<br />

Horrormeldungen aus der<br />

Wirtschaft auf uns nieder. Im<br />

August brachen die Aufträge in<br />

der Industrie ein, die Produktion<br />

sank, und auch im Export – der<br />

Paradedisziplin der deutschen<br />

Wirtschaft – ging es steil bergab.<br />

Daran mag die ungewöhnliche<br />

Lage der Sommerferien eine<br />

Teilschuld tragen. Doch auch<br />

der mittelfristige Trend der Konjunktur<br />

zeigt nach unten. Das<br />

bestätigten in der vergangenen<br />

Woche die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute<br />

in ihrem<br />

Herbstgutachten. Darin<br />

prognostizieren sie für dieses<br />

Jahr nur noch ein Wachstum<br />

des realen Bruttoinlandsprodukts<br />

(BIP) von 1,3 Prozent, im<br />

nächsten Jahr dürfte die Rate<br />

auf 1,2 Prozent sinken. Ausschlaggebend<br />

für das unsanfte<br />

Bremsmanöver ist die erlahmende<br />

Weltwirtschaft. In den<br />

Ländern der Euro-Zone, die den<br />

wichtigsten Absatzmarkt für die<br />

deutschen Unternehmen bilden,<br />

stagniert die Wirtschaft; in den<br />

Schwellenländern hat sie erheblich<br />

an Dynamik eingebüßt. Nur in<br />

den USA und in Großbritannien<br />

dreht sich der Konjunkturmotor –<br />

künstlich angekurbelt durch<br />

Niedrigzinsen – etwas schneller.<br />

Die trüben Absatzaussichten und<br />

die internationalen Konflikte<br />

(Ukraine, Irak) liegen wie Mehltau<br />

auf den Investitionsplanungen der<br />

Unternehmen. „Kaum etwas<br />

spricht dafür, dass sich die Investitionszurückhaltung<br />

bald legen<br />

wird“, schreiben die Institute in<br />

Weniger Wachstum, mehr Arbeitslose<br />

Bruttoinlandsprodukt und Arbeitslose in Deutschland<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

ihrem Gutachten. Die Folgen werden<br />

auch auf dem Arbeitsmarkt<br />

zu spüren sein. Die Institutsökonomen<br />

rechnen für nächstes Jahr<br />

mit einem Anstieg der Arbeitslosenzahl<br />

um 56 000 (siehe Grafik).<br />

KEIN AKTIONISMUS<br />

Angesichts der konjunkturellen<br />

Tristesse kann es nicht verwundern,<br />

dass in den Büros der Europäischen<br />

Zentralbank (EZB) und<br />

der Berliner Ministerien die<br />

Alarmglocken läuten. Während<br />

man in Frankfurt erwägt, die Geldschleusen<br />

noch weiter zu öffnen,<br />

Bruttoinlandsprodukt 1 Arbeitslose 2<br />

2010 2011 2012 2013 2014 3 2015 3<br />

1 Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent; 2 in Millionen; 3 Prognose;<br />

Quelle: Gemeinschaftsdiagnose<br />

3,3<br />

3,1<br />

2,9<br />

2,7<br />

2,5<br />

terkarieren die Bestrebungen der<br />

Bankenunion, Eigentümer und<br />

Gläubiger der Banken im Krisenfall<br />

die Verluste tragen zu lassen.<br />

Zudem reizten die Käufe die Banken<br />

zu noch riskanteren Finanzgeschäften<br />

an. Zu den an den Finanzmärkten<br />

heiß diskutierten<br />

Käufen von Staatsanleihen durch<br />

die EZB schweigen die Institute<br />

jedoch. Dieses Instrument stünde<br />

„derzeit aus politischen Gründen<br />

nicht zur Verfügung“, heißt es im<br />

Gutachten. Diese Einschätzung ist<br />

naiv. Die Erfahrung hat gezeigt,<br />

dass sich die EZB über alle politi-<br />

sinniert man in Berlin über punktuelle<br />

Entlastungen für die Wirtschaft.<br />

Zu Recht warnen die Institute<br />

daher davor, in der Geld- und<br />

Finanzpolitik nun in blindem Aktionismus<br />

zu verfallen. Ausgesprochen<br />

kritisch gehen sie mit der<br />

Geldpolitik der EZB ins Gericht.<br />

Sie habe ihre Möglichkeiten zur<br />

Stimulierung der Konjunktur ausgeschöpft.<br />

Weiter gehende Maßnahmen<br />

richteten mehr Schaden<br />

an, als sie Nutzen stiften. Die von<br />

der EZB angekündigten Käufe von<br />

forderungsbesicherten Wertpapieren<br />

stellen nach Ansicht der Institute<br />

eine „Altlastenbereinigung<br />

der Bankbilanzen“ dar und konschen<br />

Einwände hinwegsetzt<br />

und selbstermächtigend ihren<br />

geldpolitischen Handlungsspielraum<br />

über die gültigen Rechtsnormen<br />

hinweg ausweitet, wenn<br />

ihr dies opportun erscheint. Hier<br />

hätte man sich ein kritisches<br />

Wort der Institute gewünscht.<br />

Blieb dies aus, weil es keinen<br />

Konsens in der Sache gab?<br />

FEHLENDER MUT<br />

Den Finanzpolitikern empfehlen<br />

die Institute, auf groß angelegte<br />

Konjunkturprogramme zu verzichten,<br />

wie sie von Politikern<br />

aus Frankreich, Italien und den<br />

USA immer wieder gefordert<br />

werden. Stattdessen sollte die<br />

Regierung die sich abzeichnenden<br />

Budgetüberschüsse nutzen,<br />

um die Steuerbelastung etwa<br />

durch den Abbau der kalten<br />

Progression zu reduzieren. Auf<br />

der <strong>Ausgabe</strong>nseite sollte die Regierung<br />

mehr Geld für die Bildung<br />

und die punktuelle Verbesserung<br />

der öffentlichen<br />

Infrastruktur ausgeben. Statt<br />

derartiger etatistischer Reflexe<br />

hätten die Institute sich allerdings<br />

besser Gedanken darüber<br />

machen sollen, wie man diese<br />

für das Wachstum der Wirtschaft<br />

wichtigen Bereiche stärker<br />

für private Investoren öffnet.<br />

Immerhin haben die Institute<br />

erkannt, dass eine wachstumsfördernde<br />

Finanzpolitik nicht<br />

zuvorderst im Geldausgeben<br />

besteht. Daher fordern sie mehr<br />

Deregulierung und Entbürokratisierung.<br />

Zudem kritisieren<br />

sie den Mindestlohn, der faktisch<br />

ein Arbeitsverbot für<br />

gering Qualifizierte darstellt.<br />

Doch für die Forderung, auf<br />

dessen Einführung ganz zu<br />

verzichten, fehlte den Instituten<br />

leider der Mut.<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

40 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />

Der Aufschwung kommt<br />

erst im nächsten Jahr<br />

Kaum ist die Produktion in der<br />

deutschen Industrie gesunken,<br />

da grassiert auch schon wieder<br />

das hässliche R-Wort: Rezession.<br />

Die deutsche Wirtschaft, so<br />

unken Analysten, könnte im<br />

dritten Quartal erneut geschrumpft<br />

sein. Nach dem Minus<br />

von 0,2 Prozent im zweiten<br />

Quartal wäre es der zweite<br />

Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts<br />

(BIP) in Folge.<br />

Damit wäre die Definition einer<br />

Rezession erfüllt. Auch für das<br />

Jahresschlussquartal deutet<br />

sich kein Ende des Abwärtstrends<br />

an. Wichtige Frühindikatoren<br />

wie der ifo-Geschäftsklimaindex<br />

und die Einkaufsmanagerindizes<br />

befinden sich<br />

auf Talfahrt, die Bestelleingänge<br />

bei den Unternehmen sinken.<br />

Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer,<br />

dass die konjunkturelle<br />

Durststrecke<br />

nächstes Jahr zu Ende geht. Er<br />

kommt <strong>vom</strong> Earlybird, dem<br />

Frühindikator, den die Commerzbank<br />

monatlich exklusiv<br />

für die WirtschaftsWoche berechnet.<br />

Anders als andere<br />

Frühwarnsignale beruht der<br />

Earlybird außer auf Stimmungsumfragen<br />

auch auf der<br />

Messung des monetären und<br />

des außenwirtschaftlichen Umfelds<br />

der deutschen Wirtschaft.<br />

Gegenüber dem ifo-Geschäftsklima<br />

weist er daher einen Vorlauf<br />

von etwa einem Jahr auf.<br />

Im September setzte der Earlybird<br />

mit einem Plus auf 0,49<br />

Punkte seinen Aufwärtstrend<br />

fort, den er Anfang 2014 begonnen<br />

hatte. Ausschlaggebend dafür<br />

war die Abwertung des Euro.<br />

Gegenüber den wichtigsten<br />

Handelspartnerwährungen verlor<br />

die Gemeinschaftswährung<br />

im Vorjahresvergleich real ein<br />

Prozent an Wert. Dagegen hat<br />

sich das weltwirtschaftliche<br />

Umfeld, das ebenfalls in den<br />

Earlybird eingeht, eingetrübt.<br />

Das gilt vor allem für die<br />

Schwellenländer. Die Ökonomen<br />

der Commerzbank rechnen<br />

daher für dieses und das<br />

nächste Jahr nur mit einem<br />

Wirtschaftswachstum von je 1,3<br />

Prozent.<br />

Der Earlybird macht Hoffnung<br />

Bruttoinlandsprodukt und Earlybird-Konjunkturbarometer<br />

1,00<br />

0,75<br />

0,50<br />

0,25<br />

0<br />

–0,25<br />

–0,50<br />

–0,75<br />

–1,00<br />

Earlybird 2<br />

malte.fischer@wiwo.de<br />

Bruttoinlandsprodukt<br />

1<br />

1993 1996 1999 2002 2005 2008 2011 2014<br />

1<br />

zum Vorquartal (in Prozent); 2 gewichtete Summe aus kurzfristigem realem Zins, effektivem<br />

realem Außenwert des Euro und Einkaufsmanagerindizes; Quelle: Commerzbank<br />

4,0<br />

3,0<br />

2,0<br />

1,0<br />

0<br />

–1,0<br />

–2,0<br />

–3,0<br />

–4,0<br />

Produktion<br />

bricht ein<br />

Die aktuelle Konjunkturschwäche<br />

trifft den Kern der deutschen<br />

Wirtschaft. Im verarbeitenden<br />

Gewerbe brach die<br />

Produktion im August um 4,8<br />

Prozent ein. Im Durchschnitt<br />

der Monate Juli/August lag sie<br />

um 0,5 Prozent unter dem<br />

Schnitt des zweiten Quartals.<br />

Auch im Baugewerbe ging der<br />

Output zurück (minus 2,0 Prozent).<br />

Dagegen steigerte die<br />

Energiewirtschaft ihre Erzeugung<br />

leicht um 0,3 Prozent. Das<br />

Minus im gesamten produzierenden<br />

Gewerbe betrug somit<br />

4,0 Prozent. Zwar drückte die<br />

späte Lage der Sommerferien<br />

die wirtschaftliche Aktivität im<br />

Bundesgebiet im August nach<br />

unten. Auch die Auftragseingänge<br />

der Industrie sanken, das<br />

Minus belief sich auf 5,7 Prozent.<br />

Doch mittlerweile zeigt<br />

auch der Trend von Aufträgen<br />

und Produktion nach unten.<br />

Keine guten Aussichten also.<br />

Volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnung<br />

Real. Bruttoinlandsprodukt<br />

Privater Konsum<br />

Staatskonsum<br />

Ausrüstungsinvestitionen<br />

Bauinvestitionen<br />

Sonstige Anlagen<br />

Ausfuhren<br />

Einfuhren<br />

Arbeitsmarkt,<br />

Produktion und Preise<br />

Industrieproduktion 1<br />

Auftragseingänge 1<br />

Einzelhandelsumsatz 1<br />

Exporte 2<br />

ifo-Geschäftsklimaindex<br />

Einkaufsmanagerindex<br />

GfK-Konsumklimaindex<br />

Verbraucherpreise 3<br />

Erzeugerpreise 3<br />

Importpreise 3<br />

Arbeitslosenzahl 4<br />

Offene Stellen 4<br />

Beschäftigte 4, 5<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

0,4<br />

0,8<br />

1,0<br />

–4,0<br />

–1,4<br />

3,4<br />

3,2<br />

1,4<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

–0,9<br />

–4,2<br />

0,1<br />

3,3<br />

105,0<br />

46,7<br />

5,9<br />

2,0<br />

1,6<br />

2,1<br />

2896<br />

478<br />

29355<br />

0,1<br />

0,9<br />

0,4<br />

–2,4<br />

–0,2<br />

3,0<br />

0,9<br />

1,5<br />

–0,2<br />

2,5<br />

0,2<br />

–0,2<br />

106,9<br />

50,6<br />

6,5<br />

1,5<br />

–0,1<br />

–2,5<br />

2950<br />

458<br />

29722<br />

II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />

Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />

0,8<br />

0,6<br />

0,0<br />

2,3<br />

3,0<br />

0,0<br />

1,4<br />

1,3<br />

Juni<br />

2014<br />

0,4<br />

–2,5<br />

1,1<br />

1,0<br />

109,7<br />

52,0<br />

8,6<br />

1,0<br />

–0,8<br />

–1,2<br />

2913<br />

482<br />

30233<br />

1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />

Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />

alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />

0,3<br />

0,7<br />

0,6<br />

–0,5<br />

1,8<br />

0,2<br />

0,7<br />

1,7<br />

Juli<br />

2014<br />

1,6<br />

4,9<br />

–1,1<br />

4,8<br />

108,0<br />

52,4<br />

8,9<br />

0,8<br />

–0,8<br />

–1,7<br />

2902<br />

484<br />

30263<br />

0,5<br />

–0,8<br />

–0,1<br />

2,1<br />

0,7<br />

0,2<br />

1,7<br />

0,7<br />

Aug.<br />

2014<br />

–4,0<br />

–5,7<br />

2,6<br />

–5,8<br />

106,3<br />

51,4<br />

8,9<br />

0,8<br />

–0,8<br />

–1,9<br />

2905<br />

494<br />

–<br />

0,7<br />

0,8<br />

0,4<br />

2,1<br />

4,1<br />

1,2<br />

0,0<br />

0,5<br />

Sept.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

104,7<br />

49,9<br />

8,6<br />

0,8<br />

–<br />

–<br />

2918<br />

500<br />

–<br />

–0,2<br />

0,1<br />

0,1<br />

–0,4<br />

–4,2<br />

0,1<br />

0,9<br />

1,6<br />

Okt.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

8,3<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

Letztes Quartal<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

0,8<br />

1,0<br />

1,0<br />

2,1<br />

0,7<br />

1,6<br />

2,5<br />

4,1<br />

Letzter Monat<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

–5,9<br />

–4,2<br />

0,1<br />

–1,0<br />

–3,1<br />

–2,3<br />

16,9<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–1,6<br />

9,7<br />

1,8<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 41<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

NACHGEFRAGT Leon Louw<br />

»Ammenmärchen der Linken«<br />

Wir sollten die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen feiern, statt sie zu beklagen,<br />

sagt der <strong>vom</strong> Marxisten zum Libertären gewandelte frühere Anti-Apartheid-Aktivist.<br />

Herr Louw, das in diesen<br />

Tagen in deutscher Sprache<br />

erschienene Buch des französischen<br />

Ökonomen Thomas<br />

Piketty „Das Kapital im 21.<br />

Jahrhundert“ hat weltweit eine<br />

Diskussion um die Einkommens-<br />

und Vermögensverteilung<br />

ausgelöst. Wie groß ist<br />

die Lücke zwischen Arm und<br />

Reich wirklich?<br />

In den vergangenen 25 Jahren<br />

sind dank des kräftigen Wirtschaftswachstums<br />

weltweit<br />

rund zwei Milliarden Menschen<br />

der Armut entronnen.<br />

Da die Einkommen in unterschiedlichem<br />

Maße gestiegen<br />

sind, ist die Verteilung ungleicher<br />

geworden. Das sollten wir<br />

aber nicht beklagen, sondern<br />

feiern. Denn die Ungleichheit<br />

spiegelt den Erfolg bei der Armutsbekämpfung<br />

wider. Ökonomen<br />

wie Thomas Piketty,<br />

die die Ungleichheit beklagen,<br />

blenden das aus. Statt sich Gedanken<br />

darüber zu machen,<br />

wie diejenigen, die noch immer<br />

arm sind, ihre Einkommen<br />

verbessern können, trachtet<br />

Piketty mit seinen Umverteilungsforderungen<br />

den Reichen<br />

nach deren Vermögen.<br />

Wäre es nicht besser, die Einkommen<br />

stiegen gleichmäßig?<br />

Warum? Die Menschen sind<br />

mit unterschiedlichen Fähigkeiten<br />

ausgestattet. Einige arbeiten<br />

und sparen mehr als andere,<br />

einige bauen Kapital auf<br />

und werden Unternehmer, andere<br />

wiederum werden Angestellte.<br />

In einer freien Gesellschaft<br />

entwickeln sich die<br />

Einkommen und Vermögen<br />

der Menschen unterschiedlich,<br />

weil sie unterschiedliche Begabungen<br />

haben. Wer das bekämpft,<br />

hindert die Menschen<br />

DER KÄMPFER<br />

Louw, 66, leitet die Free Market<br />

Foundation, eine der einflussreichsten<br />

Denkfabriken Afrikas.<br />

Louw, <strong>vom</strong> Marxisten zum Libertären<br />

gewandelt, hat als Anwalt<br />

aufseiten des ANC gegen die<br />

Apartheid gekämpft und wurde<br />

zwei Mal für den Friedensnobelpreis<br />

nominiert.<br />

daran, ihren Status quo entsprechend<br />

ihren Fähigkeiten<br />

zu verbessern.<br />

Was sind die entscheidenden<br />

Faktoren, um die Armut zu<br />

überwinden?<br />

Die Erfahrung zeigt:Der beste<br />

Weg aus der Armut sind marktwirtschaftliche<br />

Reformen wie<br />

Deregulierung, Privatisierung<br />

und die Freigabe von Preisen.<br />

Beispiele dafür sind die Reformen<br />

in Indien nach 1993, die<br />

Sonderwirtschaftszonen in<br />

China und die Privatisierungspolitik<br />

in Afrika. Ginge es Verteilungsökonomen<br />

wie Piketty<br />

darum, den Armen zu helfen,<br />

müssten sie mehr Marktwirtschaft<br />

statt mehr Umverteilung<br />

fordern.<br />

Piketty fürchtet, die Ungleichheit<br />

könne die Gesellschaft<br />

auseinanderreißen...<br />

...wofür es keine Belege gibt.<br />

Der Ökonom Thomas Sowell<br />

hat gezeigt, dass Gesellschaften<br />

mit großer Ungleichheit<br />

weniger von sozialen Spannungen<br />

und Gewalttaten betroffen<br />

sind als Gesellschaften,<br />

in denen die Einkommen näher<br />

beieinander liegen. Ein<br />

Beispiel ist die Entwicklung in<br />

Südafrika. Die Einkommen der<br />

Schwarzen und der Weißen haben<br />

sich seit dem Ende der<br />

Apartheid zunehmend angeglichen.<br />

Gleichzeitig haben die<br />

sozialen Spannungen im gesamten<br />

Land zugenommen. Jeder<br />

weiß aus eigenen Erfahrungen:<br />

Die Missgunst ist unter<br />

ähnlich entlohnten Kollegen<br />

meist größer als gegenüber<br />

dem besser bezahlten Vorgesetzten.<br />

Die Vorstellung der<br />

politischen Linken, die Armen<br />

trachteten den Begüterten<br />

nach deren Reichtum, ist ein<br />

Ammenmärchen, eine Neuauflage<br />

der längst widerlegten<br />

Klassenkampftheorie des<br />

Marxismus. Die Realität sieht<br />

anders aus. Die Menschen<br />

sind stolz darauf, wenn sie bei<br />

erfolgreichen Unternehmen<br />

arbeiten, auch wenn sie nur<br />

einen Bruchteil dessen verdie-<br />

»Die Armen<br />

entscheiden mit<br />

ihren Käufen,<br />

wer reich wird«<br />

nen, was der Unternehmensinhaber<br />

erhält.<br />

Heißt das, wir sollten uns über<br />

Einkommensungleichheit<br />

keine Gedanken machen?<br />

Grundsätzlich sollten wir Einkommensungleichheiten<br />

ebenso akzeptieren wie die<br />

Tatsache, dass einige Menschen<br />

blonde, andere hingegen<br />

schwarze Haare haben.<br />

Allerdings gibt es Ungleichheit,<br />

die auf Betrug, Diebstahl und<br />

Vetternwirtschaft beruht. Sie<br />

ist nicht akzeptabel, denn der<br />

Reichtum der einen geht hier<br />

zulasten des Eigentums der<br />

anderen. Die meisten Reichen<br />

aber sind reich, weil sie Produkte<br />

und Dienstleistungen<br />

anbieten, mit denen sie ihre ärmeren<br />

Mitmenschen glücklich<br />

machen. In einer Marktwirtschaft<br />

entscheiden die Armen<br />

mit ihren Käufen darüber, wer<br />

reich wird.<br />

Muss der Staat nicht für mehr<br />

Chancengleichheit sorgen?<br />

Studien zeigen, dass die Lebenschancen<br />

der Menschen in<br />

erster Linie von ihren Genen<br />

bestimmt werden. Diese lassen<br />

sich ebenso wie andere wichtige<br />

Einflussgrößen, etwa die Familie<br />

und die Sozialstruktur,<br />

in die die Menschen hineingeboren<br />

werden, von staatlicher<br />

Seite nicht ändern, es sei denn,<br />

man will einen totalitären<br />

Staat. Die Politiker sollten daher<br />

aufhören, Sozialingenieure<br />

zu spielen und die Menschen<br />

zu manipulieren, als seien sie<br />

Figuren auf einem Schachbrett.<br />

In einer freien Gesellschaft gibt<br />

es nur eine Form der Gleichheit,<br />

für die der Staat sorgen<br />

muss: die Gleichheit vor dem<br />

Gesetz.<br />

malte.fischer@wiwo.de<br />

FOTO: FINANCIAL MAIL/ARNOLD PRONTO<br />

42 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Der Volkswirt<br />

DENKFABRIK | Die Kritik an den Anleihenkäufen der Europäischen Zentralbank ist<br />

unberechtigt. Die Ausfallrisiken der Papiere sind geringer als befürchtet. Zudem<br />

steigern die Zinseinnahmen daraus den Gewinn der Zentralbank. Davon profitieren<br />

auch die deutschen Steuerzahler. Von Holger Schmieding<br />

Das Märchen von der Schrottbank<br />

Oh, Kassandra. Im<br />

deutschen Elfenbeinturm<br />

hättest du dich<br />

wohlgefühlt. Dort<br />

reißt der Strom der Schauergeschichten<br />

nicht ab. Im Jahr<br />

2005 machte die düstere<br />

These die Runde, Deutschland<br />

würde zu einer Basar-Ökonomie<br />

verkommen. Stattdessen<br />

begann bei uns damals dank<br />

der Reformen des Jahres 2004<br />

eine industrielle Renaissance,<br />

um die uns die Welt bis heute<br />

beneidet. Und trotz schriller<br />

Warnungen deutscher Ökonomen<br />

der letzten fünf Jahre,<br />

dass die Politik der Europäischen<br />

Zentralbank (EZB) unweigerlich<br />

zu Inflation führen<br />

müsse, ist der Auftrieb der<br />

Verbraucherpreise heute so<br />

verhalten wie selten zuvor.<br />

ANFÄNGERFEHLER<br />

Jetzt hat sich auch Hans-Werner<br />

Sinn, Chef des ifo Instituts,<br />

dem Chor der Kritiker angeschlossen,<br />

die die EZB als „Bad<br />

Bank“ verunglimpfen (WirtschaftsWoche<br />

40/2014). Durch<br />

die avisierten Käufe fragwürdiger<br />

Anleihen würde sie Banken<br />

deren Bilanzschrott abnehmen<br />

und den Steuerzahlern unverantwortliche<br />

Risiken aufbürden.<br />

Genauso wie einst die Fehlprognose,<br />

die EZB führe uns in die<br />

Inflation, beruht die „Bad<br />

Bank“-Anklage auf einem volkswirtschaftlichen<br />

Anfängerfehler.<br />

Denn Einkommen und Wohlstand,<br />

Arbeitsplätze und<br />

Risiken sind keine fest vorgegebenen<br />

Größen, die nur umverteilt<br />

werden können, sei es zwischen<br />

Arm oder Reich oder<br />

zwischen Geschäfts- und Notenbanken.<br />

Nein, diese Größen<br />

werden entscheidend durch die<br />

Wirtschaftspolitik gestaltet. Eine<br />

falsche Geldpolitik erhöht die Risiken,<br />

eine angemessene Geldpolitik<br />

mindert die Risiken.<br />

Rezessionen sind teuer. Gemessen<br />

am Anstieg unserer Staatsschulden,<br />

hat die Mega-Rezession<br />

nach der Lehman-Pleite im Herbst<br />

2008 die deutschen Steuerzahler<br />

über 250 Milliarden Euro gekostet.<br />

Im Sommer 2012 stand Deutschland<br />

erneut am Rande einer Rezession.<br />

Erst mit seiner Ansage,<br />

der grassierenden Spekulation auf<br />

einen Zerfall des Euro notfalls<br />

energisch entgegenzutreten, hat<br />

EZB-Präsident Mario Draghi die<br />

Panik gestoppt. Er hat uns damit<br />

Rezessionskosten von mehreren<br />

»Die Geldpolitik<br />

der EZB ist angemessen,<br />

sie<br />

schmälert das<br />

Risiko einer<br />

Rezession«<br />

Milliarden Euro erspart. Seit Mai<br />

haben der russische Feldzug gegen<br />

die Ukraine und andere geopolitische<br />

Risiken die deutsche<br />

Konjunktur erneut aus dem Tritt<br />

gebracht. Der jüngste Einbruch<br />

der ifo-Geschäftserwartungen<br />

zeigt, dass eine Rezession nicht<br />

mehr auszuschließen ist. Die EZB<br />

hat die Aufgabe, den Preisauftrieb<br />

bei knapp zwei Prozent pro Jahr zu<br />

halten. Mit nur noch 0,3 Prozent<br />

verfehlt sie dieses Ziel derzeit erheblich.<br />

Die aktuelle Schwäche<br />

gerade auch der deutschen Konjunktur<br />

spricht gegen ein spürbares<br />

Anziehen der Euro-Inflation in<br />

den kommenden Jahren. Das ein-<br />

deutige Mandat der EZB verpflichtet<br />

sie zum Gegensteuern. Da sie<br />

die Leitzinsen nicht mehr senken<br />

kann und den Spielraum für konventionelle<br />

Refinanzierungsangebote<br />

bereits ausgereizt hat, ist der<br />

Ankauf von Anleihen der nächste<br />

naheliegende Schritt. Die EZB wird<br />

Zinstitel in Form von Pfandbriefen<br />

und verbrieften Kreditbündeln<br />

kaufen. Sie tut dies im Tausch gegen<br />

Zentralbankgeld, das sie nahezu<br />

kostenlos schöpfen kann. Die<br />

zusätzlichen Zinseinnahmen erhöhen<br />

ihren Gewinn. Diesen Zusatzgewinn<br />

reicht sie anteilig an den<br />

deutschen Steuerzahler weiter,<br />

der über die Bundesbank zu 27<br />

Prozent Eigentümer der EZB ist.<br />

Natürlich könnten dem Zusatzgewinn<br />

auch Verluste gegenüberstehen,<br />

wenn die gekauften Titel<br />

ausfallen. Aber wie groß ist dieses<br />

Risiko? Die Ausfallrate für die Gesamtheit<br />

der Papiere, die die EZB<br />

kaufen will, lag von Mitte 2007<br />

bis Herbst 2013 bei 1,5 Prozent.<br />

Trotz der Weltfinanzkrise und der<br />

Euro-Krise, die in diese Zeit fielen,<br />

war die Ausfallrate sehr gering.<br />

Denn die europäischen Papiere<br />

sind von anderer Qualität als<br />

amerikanische ABS-Anleihen einschließlich<br />

der berüchtigten „Subprime-Papiere“,<br />

deren Ausfallrate<br />

in jener Zeit bei 18,4 Prozent lag.<br />

Die EZB will sich bei ihren Käufen<br />

auf die hochwertigen Segmente<br />

des Marktes konzentrieren. Für<br />

diese Segmente lagen die Ausfallraten<br />

selbst in der Finanzund<br />

Euro-Krise vielfach nur bei<br />

0,1 Prozent oder darunter. Die<br />

Wahrscheinlichkeit ist gering,<br />

dass Einzelverluste der EZB aus<br />

solchen Papieren ihre zusätzlichen<br />

Zinsgewinne aufzehren.<br />

RISKANTES NICHTSTUN<br />

Noch wichtiger aber ist, dass<br />

die EZB mit einer angemessenen<br />

Geldpolitik das Risiko<br />

einer Rezession schmälert.<br />

Damit verringert sie die Ausfallgefahr<br />

für Wertpapiere innerhalb<br />

und außerhalb ihrer<br />

Bilanz. In einem banalen Sinn<br />

haben die Kritiker natürlich<br />

recht: Menschliches Handeln<br />

birgt immer Chancen und Risiken.<br />

Aber Nichtstun wäre weit<br />

riskanter. Eine Zentralbank,<br />

die keine Geldpolitik betriebe,<br />

könnte mit einer Minibilanz<br />

weder einen Gewinn machen<br />

noch ein Risiko eingehen. Aber<br />

der Schaden, den sie durch<br />

den Verzicht auf Geldpolitik<br />

anrichtete, wäre katastrophal.<br />

Die Welle von Insolvenzen,<br />

Arbeitsplatzverlusten sowie<br />

Steuer- und Kreditausfällen<br />

würde nahezu alle Bürger teuer<br />

zu stehen kommen. Nur<br />

auf hypothetische Risiken zu<br />

schauen greift zu kurz. Die Notenbank<br />

muss eine angemessene<br />

Geldpolitik betreiben.<br />

Indem sie dies tut, mindert sie<br />

die Risiken für alle Beteiligten,<br />

auch für die deutschen Steuerzahler.<br />

Schmieding ist Chefvolkswirt<br />

der Berenberg Bank in London.<br />

Zuvor hat er unter anderem für<br />

Merrill Lynch gearbeitet.<br />

FOTOS: PR, WESTEND61/MARTIN MOXTER<br />

44 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Finale furioso<br />

FIAT | Vorstandschef Sergio Marchionne verwandelt den traditionsreichen Autobauer<br />

aus Turin in den Wurmfortsatz einer seelenlosen italo-amerikanischen Holding.<br />

Die einstige Ikone lebt künftig von putzigen Winzlingen aus heimischer Produktion und<br />

US-Importen mit Fiat-Aufkleber – und von der vagen Hoffnung, mit Alfa Romeo und<br />

Maserati vielleicht einmal zu VW oder BMW aufzuschließen.<br />

Der 13. Oktober soll in die Geschichte<br />

der Autoindustrie<br />

eingehen. An diesem Montag<br />

wird der Konzern Fiat Chrysler<br />

Automobiles an der Wall<br />

Street in New York gelistet. Das Datum ist<br />

mit Bedacht gewählt. Denn am zweiten<br />

Montag des Monats feiern Amerikaner ihre<br />

Entdeckung 1492 durch den gebürtigen<br />

Italiener Christoph Kolumbus, dessen<br />

Landsmann Amerigo Vespucci dem Kontinent<br />

später sogar noch seinen Namen gab.<br />

Entsprechend groß ist das Pathos, mit<br />

dem Konzernchef Sergio Marchionne auf<br />

beide Seiten des Atlantiks blickt und<br />

spricht. „Für uns wird der Columbus Day<br />

der Beginn einer neuen Welt, einer neuen<br />

Ära sein.“<br />

Eine neue Ära, eine neue Welt – daran<br />

schmiedet der 62-jährige Italo-Kanadier<br />

seit 2009, als er an der Spitze von Fiat 20<br />

Prozent des damals insolventen US-Autobauers<br />

Chrysler erwarb. Der Coup war nur<br />

ein erster Schritt. Anfang dieses Jahres sicherte<br />

sich Marchionne für 3,2 Milliarden<br />

Euro die restlichen Anteile des drittgrößten<br />

US-Autobauers, die bis dahin die nordamerikanische<br />

Autogewerkschaft UAW indirekt<br />

gehalten hatte. Auf diese Weise entstand<br />

das Gebilde Fiat Chrysler Automobiles,<br />

kurz: FCA, das nun an der Wall Street<br />

notiert.<br />

Auf dem Papier schickt Marchionne in<br />

New York einen Autoriesen aufs Parkett:<br />

Mit 4,4 Millionen verkauften Fahrzeugen<br />

und 300 000 Mitarbeitern steht das italienisch-amerikanische<br />

Paar auf Position sieben<br />

der größten Autohersteller der Welt.<br />

Gleichwohl ist der Wall-Street-Neuling mit<br />

einer Marktkapitalisierung von rund 9,3<br />

Milliarden Euro zum Börsenauftritt in der<br />

Branche ein Zwerg. Daimler etwa kommt<br />

auf 64 Milliarden und BMW auf 54 Milliarden.<br />

Einzig gegenüber dem französischen<br />

Wettbewerber PSA Peugeot-Citroën kann<br />

Marchionne Staat machen. Der angeschlagene<br />

Konzern ist mit 8,1 Milliarden Euro<br />

noch weniger wert.<br />

Die Anleger hat Marchionne auf Superlative<br />

eingestimmt:Sieben Millionen Autos<br />

der Marken Fiat, Alfa Romeo, Chrysler,<br />

Dodge, Ram, Jeep, Maserati und Ferrari<br />

will er bis 2018 verkaufen, 40 Prozent mehr<br />

als heute. Zudem soll FCA <strong>vom</strong> Massenzum<br />

Premiumanbieter aufsteigen. Die Arbeitsteilung<br />

steht fest:Ferrari, Maserati, Alfa<br />

Romeo und Jeep sorgen für Wachstum<br />

und Rendite, Chrysler, Ram und Dodge für<br />

das nötige Volumen und Fiats Miniflitzer<br />

für eine gute CO 2 -Bilanz.<br />

Für den Anfangsechziger wird die endgültige<br />

Verschmelzung von Fiat und Chrysler<br />

der letzte Akt seiner Karriere in dem<br />

Doppelkonzern. Denn Ende 2018 will er,<br />

wie er am vergangenen Dienstag verlauten<br />

ließ, das Unternehmen verlassen und etwas<br />

Neues anfangen. Für Fiat inszeniert<br />

Marchionne damit ein Finale furioso einer<br />

ebenso wechselvollen wie tragischen Geschichte.<br />

Ein Stoff, wie gemacht für eine<br />

italienische Oper – mit dem Triumphalismus<br />

in Giuseppe Verdis Nabucco und der<br />

schonungslosen Vorhaltung in Wolfgang<br />

Amadeus Mozarts Don Giovanni. Ein Stoff<br />

voller Emotionen, großer Hoffnungen und<br />

gebrochener Versprechen.<br />

Fiats Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft<br />

– als Opera seria, eine ernste Oper,<br />

mit Ouverture, drei Akten und am Ende einer<br />

melodramatischen Erlösung.<br />

Die Ouverture<br />

Marchionne steht auf einem Säulensockel<br />

mit der Inschrift „Fabrica Italia“,<br />

zu Deutsch: Fabrik Italien. Er trägt wie<br />

üblich einen schlammbraunen Pullover,<br />

darunter ein weißes Polo-Shirt. Ein<br />

goldener Lorbeerkranz bedeckt seinen<br />

Kopf. Marchionne gestikuliert wild.<br />

Links vor ihm steht eine Gruppe Arbeiter<br />

in Fiat-Werkskleidung. Sie schwenken rote<br />

Fahnen und Transparente mit politischen<br />

Kampfparolen aus den Sechzigerjahren<br />

des 20. Jahrhunderts wie „Avanti<br />

popolo“ (Vorwärts, das Volk) und „Lotta<br />

continua“ (der Kampf geht weiter).<br />

Rechts vor Marchionne streichelt ein<br />

Arbeiter einen Fiat 500, daneben pinselt<br />

ein anderer Arbeiter das Fiat-Logo auf<br />

die Motorhaube eines Dodge Journey. Auf<br />

einem Stuhl vor Marchionne sitzt Volkswagen-Chef<br />

Martin Winterkorn im<br />

dunkelblauen Zweireiher und blickt mit<br />

skeptischer Miene ins Publikum, umgeben<br />

von mehreren Herren in dunklen Businessanzügen,<br />

die dem Publikum den Rücken<br />

zuwenden. Das Orchester spielt auf.<br />

<br />

Marchionne ist in Hochstimmung. Er greift<br />

zu der Leier, die er mit sich trägt, und richtet<br />

sich an die Arbeiter: Seht, ich bringe<br />

euch gute Nachricht. Hoch lebe Fiat, hoch<br />

die Fabrik Italien, zu der ich euer Heimatland<br />

mache.<br />

Die Arbeiter drehen sich zu Marchionne,<br />

der euphorisch fortfährt:Chrysler war pleite<br />

2009, da sind wir eingestiegen. Seit<br />

»<br />

»»<br />

ILLUSTRATION: EDWIN FOTHERINGHAM<br />

46 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 47<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

Kurzem haben wir die Mehrheit. Wir<br />

machen was draus. Wir werden ein Riese,<br />

wir werden global. Unser Sitz ist London,<br />

um Steuern zu spar’n. Unser Motor heißt<br />

Chrysler, dort drüben, über dem Teich. Unser<br />

Herz aber, ganz klar, bleibt hier in Italien.<br />

Heut ist der Tag an der Börse, ihr werdet<br />

sehen. Viva Fiat, Fabrica Italia!<br />

Doch noch bevor Marchionne von der<br />

Leier lässt, geht sein Gesang unter im Chor<br />

der Arbeiter. Mit anklagender Stimme<br />

wenden sie sich an Marchionne: Zu oft, zu<br />

viel hast du uns versprochen. Fabrica Italia<br />

– pah! Alles nur Phrasen, gebrochenes<br />

Wort. Wo sind die 20 Milliarden, die du uns<br />

verheißen? Kurzarbeit in Pomigliano, kein<br />

Licht in Mirafiori, 5400 Kollegen seit drei<br />

Jahren in Angst.<br />

Marchionne verzieht keine<br />

Miene. Als der Chor der Arbeiter<br />

endet, will er etwas erwidern.<br />

Doch die Herren in den dunklen<br />

Businessanzügen kommen ihm<br />

zuvor und schmettern ihm in<br />

hartem Sprechgesang entgegen:<br />

Einst war Fiat Mirafiori Europas<br />

Musik<br />

In unserer App-<br />

<strong>Ausgabe</strong> hören<br />

Sie hier die<br />

passenden Opern<br />

zum Text<br />

größte Autofabrik, heut schafft sie mit<br />

Glück nur halb so viel, wie sie könnt: lächerliche<br />

390 000 Fiat im Jahr.<br />

Da reißt Marchionne der Geduldsfaden.<br />

Er zeigt auf den grauhaarigen Herrn vor<br />

ihm am Rande der Bühne: Seht ihn euch<br />

an, das ist der Feind: Martin Winterkorn,<br />

Chef von VW! Ein Blutbad bringt sein Wirken,<br />

Rabatte auf alles. Das zerstört unsere<br />

Margen, den Gewinn obendrein. Will uns<br />

womöglich auch Alfa Romeo nehmen.<br />

Für kurze Zeit gelingt es Marchionne,<br />

Gehör bei den Arbeitern zu finden: Versprech<br />

euch fünf Milliarden für Alfa Romeo.<br />

Glaubt mir, 2018 ist es so weit. Neben<br />

jedem BMW wird bald ein neuer Alfa erstrahl’n.<br />

Damit überrollen wir sie alle, ob<br />

Audi, Mercedes, VW und BMW.<br />

Der Umsatz wird hoch geh’n, ich<br />

führe Ferrari, persönlich und sicher<br />

zum ganz großen Sieg.<br />

Doch Marchionnes Stimme<br />

geht unter in den Anklagen der<br />

Herren in den Businessanzügen<br />

und dem Chor der Arbeiter, die<br />

schimpfend die Bühne verlassen.<br />

»»<br />

Erster Akt<br />

Die Auslese<br />

Links auf der Bühne befindet sich ein<br />

Schrottplatz mit einem Kran, in dessen<br />

Zangen ein Lancia Delta hängt, ein<br />

Fahrzeug jener Fiat-Tochter, deren Modelle<br />

Marchionne künftig nicht mehr europaweit,<br />

sondern nur noch in Italien<br />

verkaufen will. Daneben stehen zwei<br />

Arbeiter mit großen Vorschlaghämmern<br />

und zertrümmern einen Fiat Punto. Auf<br />

einer Kanzel am rechten Rand der Bühne<br />

steht Marchionne im schlammbraunen<br />

Pullover mit Lorbeerkranz und kontrolliert<br />

die Arbeiter. Hinter dem Vorhang<br />

und noch nicht zu sehen steht ein<br />

großgewachsener, glatzköpfiger Herr mit<br />

schwarzgerahmter kantiger Designerbrille<br />

und betrachtet die Szene.<br />

<br />

Marchionne lehnt sich über den Rand der<br />

Kanzel und gibt mit den Händen Anweisungen.<br />

Die Arbeiter halten inne und<br />

ILLUSTRATION: EDWIN FOTHERINGHAM<br />

48 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


schauen angstvoll zu ihm auf. Marchionne<br />

blickt in die einzelnen Gesichter und wendet<br />

sich fast flehentlich an die Arbeiter:<br />

Lasst das Weinen, lasst das Klagen! Wir<br />

bauen nur noch, was der Käufer bezahlt.<br />

Schluss mit dem Lancia, den uns außer<br />

hier keiner mehr abnimmt. Schluss mit<br />

dem Punto ab kommendem Jahr. Höret<br />

mir zu, wir zahlen nur drauf. Jeder Fiat kostet<br />

uns Geld: 224 Euro im Schnitt im vergangenen<br />

Jahr. Lasst es euch sagen, wie<br />

mies es hier läuft. 2,2 Cent blieb’n zuletzt<br />

übrig <strong>vom</strong> Euro Umsatz. Das, im Konzern,<br />

ist zu wenig, klar.<br />

Die Arbeiter haken sich unter und wiederholen<br />

im Chor: Wir haben verstanden,<br />

wie mies es hier läuft. Also Schluss mit dem<br />

Lancia. Schluss auch mit dem Punto im<br />

kommenden Jahr. Nur noch Cinquecento,<br />

Panda und Ypsilon – nichts anderes mehr.<br />

Marchionne blickt zufrieden, die Arbeiter<br />

gehen zurück an ihren Platz und hantieren<br />

mit Akkuschrauber, Zange und Werkzeugschlüssel.<br />

Da tritt der Herr mit der schwarzgerahmten<br />

Designerbrille hinter dem Vorhang<br />

hervor und wendet sich an das Publikum.<br />

Werte Gesellschaft, gestatten Tumminelli.<br />

Freunde nennen mich Paolo, bin<br />

Italiener, einer von hier. Die Menschen, die<br />

mich kennen, die schätzen mich sehr. Früher,<br />

vor Jahren, hab ich hier gebrütet, für<br />

Alfa, im Stilzentrum, gleich um die Ecke,<br />

nicht weit weg von hier. Heut bin ich Professor<br />

für Design in Germania, an einer<br />

Hochschule in Colonia, nicht weit weg<br />

<strong>vom</strong> Rhein, und berate Unternehmen zu<br />

Marken und Design.<br />

Werte Gesellschaft, lasst uns nicht vergessen:<br />

Fiat war das industrielle Herz Italiens,<br />

Italien war Fiat. Drei von fünf Autos<br />

im Lande, die kamen von hier. Heute ist’s<br />

anders, ganz traurig zu sagen. Nicht einmal<br />

mehr jeder Dritte fährt mehr Fiat. Vorbei<br />

sind die goldenen Zeiten. Die Marke ist<br />

heut eine Molekularversion ihrer selbst.<br />

Auf den Kern reduziert, den kleinsten Nenner<br />

gebracht, molekularer bald noch als<br />

heute, ohne Punto und Lancia. Doch mutig<br />

war der Schritt, einer musste ihn wagen.<br />

Italien, es ehrt und fürchtet Marchionne,<br />

als Retter von Fiat und harten Patron.<br />

»»<br />

Zweiter Akt<br />

Das Geheimlabor<br />

Auf der Bühne steht ein Schild mit der<br />

Aufschrift „Da Giorgio“, zu Deutsch: bei<br />

Giorgio: So heißt das vertrauliche Projekt,<br />

in dem Marchionne neue Modelle<br />

entwickeln lässt. Im Hintergrund stehen<br />

in weißen Tüchern verhüllte Autos. Auf<br />

einem Werktisch liegt ein Automotor, an<br />

dem ein Mann in weißem Kittel arbeitet.<br />

Daneben steht Marchionne, wieder im<br />

braunen Pullover, diesmal aber mit<br />

dunkler Sonnenbrille. Das Orchester<br />

spielt das Lied der Gefangenen aus<br />

Nabucco, der Chor hinter der Bühne<br />

singt: „Flieg, Gedanke, auf goldenen<br />

Schwingen, flieg, umschwebe die Hügel,<br />

die Höhen, wo die Linden, die fächelnden<br />

Lüfte süß und weich in sich tragen der<br />

Heimaterde Duft.“<br />

<br />

Von links und von rechts nähern sich Frauen<br />

und Männer in weißen Kitteln,<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 49<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

schwarzen Hüten mit tiefen Krempen<br />

und dunklen Sonnenbrillen. Jeder tippt einen<br />

Code in ein Gerät vor der Tür, die sich<br />

sodann öffnet. Der Raum füllt sich. Marchionne<br />

richtet sich an die Eingetroffenen.<br />

Wir planen Rekorde, Autos viel leichter,<br />

auf ganz neuer Plattform, für Alfa Romeo.<br />

Dazu neue Motoren, mit Ferrari und Maserati.<br />

Besseres auf der Welt habt ihr bestimmt<br />

nicht gesehen. 600 Leute, all’samt<br />

Ingenieure, hab’n wir hier, all’samt von Fiat<br />

und Maserati, von Ferrari sowieso. Schon<br />

bald sind wir fertig, im Juni nächsten Jahres.<br />

Dann wird er da stehen, der neue Alfa,<br />

elegant wie einst Giulietta, sportlich wie<br />

unser 4C-Coupé. Acht neue Modelle in vier<br />

Jahren, mehr Premium geht nicht, wir beweisen<br />

es hier.<br />

Die Mitarbeiter lauschen, Marchionne<br />

fährt fort: Statt 74 000 Alfas heute werden<br />

es 400 000 sein. Dazu 1,9 Millionen Jeeps<br />

aus Melfi, das Werk dort wird gefüllt dadurch.<br />

Und auch Mirafiori wird aufleben,<br />

mit Coupés und SUVs. Und Ferrari, oh<br />

glaubt mir, wird doppelt gut geh’n. Hoch lebe<br />

Fiat, hoch Autofabrica in unserem Land.<br />

»»<br />

DRITTER AKT<br />

Die Entzauberung<br />

Auf der Bühne steht ein Tisch mit den<br />

Männern in Businessanzügen, die ins<br />

Publikum blicken. Sie sind langjährige<br />

Kenner der Automobilbranche: der<br />

Amerikaner John Murphy, der jährlich in<br />

seiner Studie „Car Wars“ den US-Automarkt<br />

analysiert; der Italiener Maurizio<br />

Landini, Chef der linken italienischen<br />

Metallgewerkschaft Fiom; Stefan Bratzel,<br />

Professor für Automobilwirtschaft und<br />

Leiter des Center of Automotive Management<br />

an der Fachhochschule der Wirtschaft<br />

in Bergisch Gladbach bei Köln;<br />

Jochen Siebert von der Unternehmensberatung<br />

JSC Automotive in Shanghai;<br />

Clemens Wasner von der auf Automotive<br />

spezialisierten Unternehmensberatung<br />

EFS in Wien; Design-Professor Tumminelli.<br />

Vor dem Tribunal sitzt Marchionne,<br />

den Rücken zum Publikum.<br />

<br />

Einer der Herren in den Businessanzügen<br />

schaltet einen Projektor an, der eine Liste<br />

von Vorwürfen an die Adresse Marchionnes<br />

an die Wand wirft. Dies ist der Katalog,<br />

beginnt der Herr im Businessanzug an<br />

Marchionne gewandt. Betrachten Sie ihn,<br />

und lesen Sie ihn mit uns.<br />

Als Erster erhebt sich Auto-Professor<br />

Bratzel und beginnt: Fiat hat ein Qualitätsproblem,<br />

2013 bei Rückrufen auf dem zweitschlechtesten<br />

Platz weltweit; bei Antrieben<br />

weit abgeschlagen, obwohl sich die Zukunft<br />

im Autobau hier entscheid’t; nur 1000 Patente<br />

2013, gegenüber 3000 bei Ford und<br />

6000 bei General Motors. Und Alfa Platz 33<br />

im Ranking der Besten, weit abgeschlagen<br />

von Premium à la Mercedes, Audi, BMW.<br />

Sodann wechseln sich die anderen am<br />

Tisch der Reihe mit der Kritik ab. ESF-Berater<br />

Wasner betont: Ohne einzigartige Technologie<br />

keine Chance zum Aufstieg, die Japaner<br />

haben’s versucht, es aber nie richtig<br />

geschafft! Designer Tumminelli wirft ein:<br />

Mit schickem Design allein seid ihr mit Alfa<br />

Romeo zur Exoten-Nummer verdammt.<br />

Gewerkschafter Landini sagt skeptisch: Wir<br />

ILLUSTRATION: EDWIN FOTHERINGHAM<br />

50 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


wollen wissen, woher das Geld für die Pläne<br />

stammt; nie haben wir konkrete Pläne<br />

für Investitionen in die Fabriken gesehen.<br />

Die Herren in den Businessanzügen am<br />

Tisch werden immer angriffslustiger. Berater<br />

Siebert aus Shanghai hält Marchionne<br />

vor: In China kennt niemand Alfa. Woher<br />

soll da der Erfolg kommen? 30 000 verkaufte<br />

Alfa bis 2018, wenn’s gut geht und ihr<br />

Glück habt, das Höchste der Gefühl’. Und<br />

der Amerikaner Murphy blafft Marchionne<br />

an: Eure Wachstumsprognosen sind nichts<br />

als Luftschlösser, bald ist die Luft raus!<br />

Da fährt Marchionne von seinem Stuhl<br />

auf, dreht sich zum Publikum und schreit<br />

außer sich vor Wut: Wenn ich nicht an die<br />

Ziele glaubte, hätte ich sie nicht gemacht.<br />

In Italien haben wir Dinge getan, die jeder<br />

ökonomischen Vernunft widersprachen –<br />

gezwungen dazu aus Tradition, verhaftet,<br />

es den Gewerkschaften recht zu tun. Wir<br />

müssen uns von Zwängen befreien, die der<br />

Marktwirtschaft nur überflüssige Bremsen<br />

Auf Traumfahrt<br />

Wie sich Fiat-Chrysler in den kommenden<br />

fünf Jahren entwickeln soll (produzierte<br />

Autos in Millionen Stück)<br />

0,8<br />

0,7<br />

0,02<br />

2013<br />

4,4<br />

0,9<br />

1,5<br />

0,1<br />

0,4<br />

Jährliche Wachstumsraten<br />

Fiat, Abarth +5 %<br />

Alfa Romeo +40 %<br />

Chrysler +15 %<br />

Fiat Professional, RAM<br />

Quelle: Unternehmensangaben<br />

+6 %<br />

0,08<br />

0,7<br />

1,9<br />

Jeep<br />

Dodge<br />

2018<br />

7,0<br />

1,9<br />

1,2<br />

+22 %<br />

–3 %<br />

0,4<br />

0,8<br />

Maserati, Ferrari +32 %<br />

Raus aus den Schulden<br />

Wie sich Umsatz, Überschuss und Schulden<br />

bis 2018 entwickeln sollen (in Mrd. Euro)<br />

150<br />

120<br />

90<br />

Umsatz<br />

Nettoverschuldung<br />

Jahresüberschuss<br />

60<br />

0<br />

2013 2014 2016 2018<br />

Quelle: Unternehmensangaben Fiat-Chrysler<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

sind. Meine Strategie war und ist nichts für<br />

Herzkranke, ich bleibe dabei! Seht ihr<br />

nicht, wie Maserati es macht? 16 Prozent<br />

Rendite zu Ende des vergangenen Jahrs.<br />

Alfa Romeo und Jeep werden ebenfalls<br />

zweistellige Margen bringen. Ferrari bietet<br />

uns jede Technologie, gemeinsam mit<br />

Chrysler sind wir so gut wie nie!<br />

Marchionne schleudert den Lorbeer in<br />

eine Ecke und verlässt mit stolzer Haltung<br />

die Bühne.<br />

Die Erlösung<br />

Das Bühnenbild zeigt das Fiat-Werk in<br />

Melfi in der süditalienischen Provinz Basilikata.<br />

Fabrikneue Jeeps der Modellreihe<br />

Renegade und des neuen Fiat 500X reihen<br />

sich aneinander, dazu ein Ferrari-Geländewagen<br />

und ein futuristisch anmutender<br />

Alfa Romeo Crossover. Marchionne steht<br />

mit dem Rücken an einem Fiat 500 und<br />

lächelt. Zwischen den Autos spaziert<br />

Elkan Agnelli, Enkel des Fiat-Gründers<br />

Giovanni Agnelli und Sprecher der Familie,<br />

die heute noch 30 Prozent am Konzern<br />

hält. Süditalienische Sonne taucht die<br />

polierten Karossen in gleißendes Licht. Auf<br />

die Bühne tritt der Chor der Investoren.<br />

Das Orchester intoniert das melodramatische<br />

Vorspiel aus La Traviata.<br />

<br />

Du hast uns die Taschen voll gemacht,<br />

Marchionne! Dafür danken wir sehr. Die<br />

Börse preist dich für deine Vision. Doch<br />

warum nur, warum willst bald geh’n?<br />

Machst dich <strong>vom</strong> Acker, hast selbst gut verdient,<br />

deinen Abschied versüßt. Was soll<br />

mit Fiat-Chrysler gescheh’n?<br />

Agnelli stoppt den Chor der Investoren<br />

und wendet sich an Marchionne: Du hast<br />

deine Schuldigkeit getan, du darfst gehen.<br />

Genug Nachfolger stehen bereit: Rochard<br />

Tobin, Chef unsrer Tochter CNH Industrial;<br />

Alfredo Altavilla, hat Fiat in Europa und<br />

dem Mittleren Osten regiert; auch Jeep-<br />

Chef Mike Manley und Harald Wester, der<br />

Maserati in Germania für uns heute lenkt;<br />

dazu Cledorvino Belini von Fiat in Brasilien.<br />

Gehe nur, geh, arrivederci und ciao!<br />

Marchionne dreht sich dem Publikum<br />

zu, die Hand auf dem Herzen: Ich habe Fiat<br />

einmal gerettet, ein zweites Mal will ich es<br />

nicht. Er nimmt den Lorbeerkranz ab, legt<br />

in auf ein rotes Samtkissen und tritt ab. n<br />

rebecca.eisert@wiwo.de, martin seiwert | New York,<br />

ulrike sauer | Rom, franz rother, reinhold böhmer<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 51<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»Auf der Bugwelle«<br />

INTERVIEW | Keith Block Der Präsident der US-Softwareschmiede<br />

Salesforce will SAP überholen und Primus in der Cloud werden.<br />

Mr. Block, Sie sind gerade unter die zehn<br />

größten Softwarehäuser der Welt vorgestoßen.<br />

Wo wollen Sie hin?<br />

Ganz klar, wir konzentrieren uns ganz darauf,<br />

SAP aus Deutschland zu überholen.<br />

Wieso nicht erst einmal ihren langjährigen<br />

Arbeitgeber und SAP-Rivalen Oracle?<br />

Natürlich wollen wir am Ende alle überholen<br />

und zum größten Softwareunternehmen<br />

der Welt aufsteigen.<br />

(Lacht.) SAP ist derzeit Marktführer<br />

bei Anwendungssoftware für<br />

Unternehmen, also unserem Kernmarkt.<br />

Da ist es doch klar, dass<br />

wir uns konkret SAP vornehmen.<br />

Wie wollen Sie das<br />

schaffen, obwohl SAP<br />

fast fünfmal so viel<br />

Umsatz macht?<br />

Unter anderem mit<br />

internationaler Expansion.<br />

Wir investieren<br />

kräftig in Europa.<br />

Deutschland<br />

ist dabei besonders<br />

wichtig. Wir bauen<br />

unsere Niederlassung<br />

in München aus, haben<br />

gerade ein zusätzliches<br />

Büro in Berlin eröffnet<br />

und stellen Mitarbeiter<br />

ein. Im Geschäftsjahr<br />

2015 wollen<br />

wir in Europa rund 500<br />

neue Stellen schaffen. Wir<br />

erhoffen uns hier viel von unserer Partnerschaft<br />

mit der Deutschen Telekom. Wir<br />

werden die Rechenkapazitäten ihrer IT-<br />

Tochter T-Systems nutzen und über sie unsere<br />

Angebote im deutschsprachigen<br />

Raum vertreiben.<br />

Wer sollte denn statt zu SAP zu einem viel<br />

kleineren US-Anbieter gehen?<br />

Wir denken, dass gerade der deutsche<br />

Mittelstand, der ja besonders<br />

flexibel im weltweiten Wettbewerb<br />

sein muss, ein riesiges Potenzial<br />

für unsere moderne Anwendungssoftware<br />

bietet...<br />

...ein Potenzial, das SAP auch –<br />

lange vergeblich – zu heben<br />

versucht.<br />

Ich sage nicht, dass es leicht<br />

wird. Wir wissen, wie wichtig<br />

es ist, eine lokale Präsenz<br />

zu haben, also wie ein<br />

deutsches Unternehmen<br />

zu agieren. SAP ist ein<br />

großartiges Unternehmen,<br />

fußt aber auf traditioneller<br />

Unternehmenssoftware,<br />

die vor Ort installiert<br />

wird. Der Trend<br />

geht eindeutig zum<br />

Cloud-Computing, also<br />

zur Software aus dem Internet,<br />

die sich schneller<br />

und flexibler an den Kunden<br />

bringen lässt. Wir sind<br />

der Pionier. Das ist unser<br />

Wettbewerbsvorteil.<br />

SAP hat US-Cloud-Anbieter wie zuletzt für<br />

8,3 Milliarden Euro den Reisesoftwareanbieter<br />

Concur gekauft. Glauben Sie<br />

SAP-Chef Bill McDermott nicht, dass er<br />

weltweit die meisten Cloud-Kunden hat?<br />

SAP macht noch immer das Gros des Umsatzes<br />

mit traditioneller Software. Ich<br />

denke, dass die meisten Leute wissen,<br />

dass Salesforce das größte Cloud-Softwareunternehmen<br />

der Welt ist. Das zeigen<br />

die Zahlen des US-Marktforschungsunternehmens<br />

Gartner. Wir treiben die<br />

Bugwelle im Markt. Ein Unternehmen,<br />

das sein Geschäft ausweitet oder neu organisiert,<br />

baut nicht mehr eigene Datencenter<br />

aus, sondern setzt auf die Cloud.<br />

Deshalb wächst Salesforce um mehr als<br />

30 Prozent im Jahr.<br />

Sind nicht nach den Enthüllungen von<br />

Edward Snowden über die Spionagepraktiken<br />

der US-Regierung immer mehr<br />

Unternehmen und Verbraucher gegen die<br />

Auslagerung ihrer Daten in die Cloud?<br />

Damit haben wir nichts zu tun. Ich verstehe<br />

die Reaktionen. Aber wir tun alles, um<br />

das Vertrauen der Kunden sicherzustellen.<br />

Es ist unsere Geschäftsgrundlage.<br />

Wo liegen die Daten der deutschen Salesforce-Kunden?<br />

Nach den Grundsätzen des Safe-Harbor-<br />

Abkommens mit der EU, das das Übertragen<br />

personenbezogener Daten in die USA<br />

regelt, liegen diese Daten in den USA. In<br />

diesem Monat eröffnen wir allerdings unser<br />

erstes europäisches Rechenzentrum in<br />

Großbritannien. Deutsche Kunden können<br />

sich dann auch für die dortige Speicherung<br />

entscheiden. Uns ist wichtig, dass unsere<br />

Kunden entscheiden können. Deshalb<br />

bauen wir gerade in Kooperation mit der<br />

Deutschen Telekom ein Rechenzentrum in<br />

Deutschland auf, das voraussichtlich 2015<br />

in Betrieb geht.<br />

matthias.hohensee@wiwo.de | Silicon Valley<br />

FOTO: JAMIE TAKANAKA FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

DER HIMMELSSTÜRMER<br />

Block, 53, ist seit Juni<br />

2013 Präsident des Cloud-<br />

Softwareanbieters Salesforce<br />

in San Francisco.<br />

Zuvor hatte er zwei Jahre<br />

als Unternehmensberater<br />

und seit 1986 für die<br />

US-Datenbankschmiede<br />

Oracle gearbeitet. Salesforce<br />

gilt als Pionier bei<br />

Computerprogrammen aus<br />

dem Internet und Rivale<br />

von SAP und Oracle.<br />

Verkehrte Welt<br />

Top 10 der Softwareunternehmen nach Umsatz und Wachstum 2013<br />

Umsatz (in Mrd. $)<br />

1.<br />

2.<br />

3.<br />

4.<br />

5.<br />

6.<br />

7.<br />

8.<br />

9.<br />

10.<br />

Microsoft<br />

Oracle<br />

IBM<br />

SAP<br />

Symantec<br />

EMC<br />

HP<br />

VMware<br />

CA Technologies<br />

Salesforce.com<br />

29,6<br />

29,1<br />

18,5<br />

6,4<br />

5,6<br />

4,9<br />

4,8<br />

4,2<br />

3,8<br />

* gegenüber Vorjahr; Quelle: Gartner, März 2014<br />

Wachstum (in Prozent)*<br />

65,7 1. Salesforce.com<br />

33,3<br />

2. VMware 14,1<br />

3. SAP 9,5<br />

4. Microsoft 6,0<br />

5. EMC 4,9<br />

6. Oracla 3,4<br />

7. IBM 1,4<br />

8. Symantec –0,8<br />

9. CA Technologies –2,6<br />

10. HP –2,7<br />

52 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Blut in der Bilanz<br />

BANKEN | Maue Schiffskredite in Milliardenhöhe<br />

schlummern seit Jahren in den Büchern der<br />

Banken. Beim Stresstest der EZB werden sie für<br />

manches deutsche Institut zur Überlebensfrage.<br />

Letzte Geldquelle<br />

Die Verschrottung<br />

von Frachtkähnen<br />

wie hier in Indien<br />

bringt immerhin<br />

zwischen vier und<br />

acht Millionen Euro<br />

Anfang des Jahres war das Wetter in<br />

Australien so schlecht, dass nur wenig<br />

Kohle für den Export verladen<br />

werden konnte. Die Krise in der Ukraine<br />

hat die Seetransporte über die Krim fast<br />

zum Erliegen gebracht. Und China importiert<br />

zwar fleißig, aber doch nicht ganz so<br />

viel Eisenerz und Rohöl wie gedacht.<br />

Es sind schlechte Nachrichten, vor allem<br />

für Oliver Faak. Der leitet bei der Nord/LB<br />

in Hannover das Geschäft mit Schiffsfinanzierungen<br />

und ist Kummer gewöhnt. Seit<br />

gut sechs Jahren steckt die Sparte in der<br />

Krise, etliche Schiffe fahren so wenig ein,<br />

dass ihre Reeder nicht mal die Zinsen für<br />

ihre Kredite zahlen können. Auf absehbare<br />

Zeit dürfte sich das kaum ändern. Bis Ende<br />

2015 rechnet das Institut mit einem schwachen<br />

Markt und auch danach bestenfalls<br />

mit einer leichten Erholung.<br />

Skepsis ist derzeit besonders angebracht.<br />

Über Jahre haben die Banken an den Krediten<br />

festgehalten und auf eine Erholung<br />

des Marktes gesetzt. Die Taktik könnte sich<br />

jetzt rächen. Denn die Europäische Zentralbank<br />

(EZB) schaut sich bei ihrem aktuellen<br />

Stresstest die Schiffsfinanzierungen<br />

besonders kritisch an. Wenn sie am Sonntag,<br />

dem 26. Oktober, die Ergebnisse präsentiert,<br />

drohen einige deutsche Institute<br />

deshalb durchzufallen. Für sie stellt sich<br />

anschließend die Existenzfrage.<br />

BEDROHLICHE DIMENSION<br />

In den vergangenen Monaten haben die<br />

Banken Kredite verkauft und ihre Risikovorsorge<br />

deutlich erhöht. Doch noch immer<br />

sitzen HSH Nordbank, Nord/LB und<br />

Commerzbank auf Finanzierungen von<br />

zusammen fast 50 Milliarden Euro. Wie<br />

dramatisch die Lage ist, zeigt die Selbsteinschätzung<br />

der Commerzbank. Mit 6,4 Milliarden<br />

Euro sind bei ziemlich genau der<br />

Hälfte ihrer Kredite die Schuldner bereits<br />

in Verzug oder kurz davor.<br />

Vor allem bei den beiden norddeutschen<br />

Landesbanken haben die Finanzierungen<br />

im Verhältnis zur Größe der Institute eine<br />

bedrohliche Dimension. Über die sind<br />

deutsche Aufseher schon lange besorgt,<br />

selbst der Internationale Währungsfonds<br />

warnte vor weiteren Abschreibungen.<br />

Die konnten die Banken bisher vermeiden.<br />

Sie bewerten ihre Kredite vor allem<br />

aufgrund von Prognosen über die künftigen<br />

Erträge der Schiffe. Die Daten dafür<br />

stammen von spezialisierten Brokern. Da<br />

in der Schifffahrt alles mit allem zusammenhängt,<br />

sind die Modelle ungemein<br />

komplex, aber letztlich Kaffeesatzleserei.<br />

Jede politische Krise macht sie zunichte.<br />

Die EZB ist denn auch wenig begeistert<br />

von dem Ansatz. Sie schockte die Banken<br />

mit der Idee, Schiffe nach dem aktuellen<br />

Verkaufspreis und nicht nach den vermuteten<br />

Frachterlösen zu bewerten. Tatsächlich<br />

schwanken die Marktpreise der Schiffe<br />

immens. Sie liegen aber deutlich unter den<br />

Modellrechnungen der Banken.<br />

Denn die Branche hat einen beispiellosen<br />

Preisverfall bei Frachtschiffen erlebt.<br />

Weltweit laufen auf den Werften unver-<br />

»<br />

FOTO: LUZPHOTO/FOTOGLORIA<br />

54 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

Dunkle Wolken<br />

HSH-Chef<br />

Constantin von<br />

Oesterreich<br />

muss den Stresstest<br />

der EZB<br />

fürchten<br />

ändert viele neue Exemplare <strong>vom</strong> Stapel,<br />

obwohl die Nachfrage deutlich geringer<br />

ist. Neue Kähne kosten deshalb heute<br />

30 Prozent weniger als vor der Krise.<br />

Technische Umbrüche beim Bau von<br />

Containerschiffen verschärfen den Verfall.<br />

Über Jahrzehnte tuckerten die Frachter<br />

weitgehend unverändert über die Meere,<br />

Spritverbrauch war keine wesentliche Größe.<br />

Das hat sich fundamental geändert.<br />

Um Transportkosten zu senken, sind neue<br />

Schiffe deutlich sparsamer und oft auch<br />

größer. Die Älteren fahren heute langsamer,<br />

als sie könnten, um Sprit zu sparen.<br />

Konkurrenzfähig sind sie dennoch nicht.<br />

Dummerweise haben deutsche Banken<br />

vor allem diese Problemfälle finanziert.<br />

Nach einigem Ringen haben sich EZB<br />

und Banken auf einen Kompromiss geeinigt,<br />

nach dem die EZB einen pauschalen<br />

Abschlag auf die Schiffswerte vornimmt.<br />

Weitere Gespräche zwischen Aufsehern<br />

und Banken liefen in der vergangenen Woche.<br />

Denn auch der veränderte Ansatz der<br />

EZB trifft die Banken empfindlich.<br />

Daran sind sie nicht unschuldig. Denn in<br />

den Jahren vor 2008 glaubten sie an einen<br />

ewig wachsenden Welthandel. Da der vor<br />

allem über Schiffe stattfinden sollte, vergaben<br />

sie nahezu unbegrenzt Kredite und<br />

missachteten sämtliche Vorsichtsregeln.<br />

Zumal es über Jahrzehnte so gut wie keine<br />

Ausfälle gegeben hatte. So verlangten die<br />

Institute oft weniger als 30 Prozent Eigenkapital,<br />

und wenn einem Reeder die Mittel<br />

fehlten, finanzierten sie diese vor. Viel verdienten<br />

sie dabei nicht. Ihre Margen lagen<br />

teilweise unter einem Prozent.<br />

Besonders großzügig zeigte sich die HSH<br />

Nordbank. Die Landesbank plante 2008<br />

den Gang an die Börse und warb für sich<br />

als „weltgrößter Schiffsfinanzierer“. Den Titel<br />

hat sie verteidigt, heute ist er jedoch ein<br />

schwerer Makel. Seit Monaten geistern Untergangsszenarien<br />

durch die Finanzwelt.<br />

Sollte die Bank beim EZB-Test durchfallen,<br />

müssten wohl die Länder Hamburg und<br />

Schleswig-Holstein als Eigentümer mit<br />

Steuergeld einspringen. Da sie die Bank<br />

schon mal gerettet haben, könnte der zuständige<br />

EU-Wettbewerbskommissar in<br />

Brüssel die Abwicklung anordnen.<br />

RADIKAL RAUS<br />

Mit der Holzvertäfelung und den grünen<br />

Ledersesseln wirkt der Konferenzraum im<br />

Erdgeschoss des Instituts am Gerhart-<br />

Hauptmann-Platz unweit der Alster wie eine<br />

schon etwas abgewetzte Kapitänskajüte.<br />

Hier wollen die HSH-Banker Claus Ganter<br />

und Insa Bergmann zeigen, dass ihre<br />

Lage ernst, aber nicht aussichtslos ist. Dass<br />

sie nicht verzweifelt Löcher stopfen, während<br />

ihr Schiff längst sinkt.<br />

Tatsächlich tut die HSH viel, um Kredite<br />

über Wasser zu halten. So unterstützt sie<br />

Zäher Abschied<br />

Schiffsfinanzierungen deutscher Banken<br />

(in Milliarden Euro)<br />

30<br />

HSH Nordbank<br />

25<br />

Commerzbank<br />

20<br />

Nord/LB<br />

15<br />

10<br />

2010 2011<br />

Quelle: Unternehmensangaben<br />

2012 2013 2014<br />

Reeder dabei, ihre Schiffe so zu modernisieren,<br />

dass die mit neuen Modellen mithalten<br />

können. Für eine gewisse Zeit stundet<br />

sie Zahlungen und hilft bei der Suche<br />

nach neuen Investoren. „Wir wollen gemeinsam<br />

mit den Eigentümern erreichen,<br />

dass die Schiffe im laufenden Betrieb genug<br />

Geld für Zinsen und Raten erzielen“,<br />

sagt Banker Ganter.<br />

Konkret heißt das oft: Die Eigner müssen<br />

Kapital nachschießen. Das klappt oft,<br />

wenn es sich um Großunternehmen oder<br />

wohlhabende Reederfamilien handelt.<br />

Kompliziert wird es dagegen, wenn das Kapital<br />

wie oft in Deutschland von privaten<br />

Fondsanlegern kommt. Die sind schon<br />

enttäuscht, dass die versprochenen Renditen<br />

ausgeblieben sind, und wollen erst<br />

recht nichts nachzahlen. Etliche haben gegen<br />

die Banken geklagt.<br />

Seit 2010 hat die HSH ihr Engagement bei<br />

Schiffen um immerhin zehn Milliarden Euro<br />

reduziert. Die meisten Kredite sind planmäßig<br />

zurückgeführt worden. Der Verkauf<br />

an durchaus interessierte Finanzinvestoren<br />

liegt nicht im Fokus der Bank. „Wir wollen<br />

das Erholungspotenzial selbst realisieren“,<br />

sagt Bankerin Bergmann. Zudem muss die<br />

Bank die Garantie der Länder vor unnötigen<br />

Verlusten schützen. Daher sind Verkäufe<br />

zum Sparpreis schwierig.<br />

Wegen der niedrigen Marktpreise hielten<br />

sich die Banken mit Verkäufen lange zurück.<br />

Die Commerzbank geht mittlerweile<br />

anders vor. Mitte 2012 hat sie das Neugeschäft<br />

mit der Finanzierung von Schiffen<br />

eingestellt, seitdem stehen die Zeichen auf<br />

beschleunigter Abwicklung. Kürzlich erst<br />

hat sie neun Containerschiffe an den Finanzinvestor<br />

KKR und die britische Borealis<br />

Maritime verkauft.<br />

Die Frankfurter Bank muss keine Angst<br />

mehr haben, künftige Geschäftspartner zu<br />

verprellen, jede der beiden Landesbanken<br />

schon. So will HSH-Chef Constantin von<br />

Oesterreich in diesem Jahr für 1,4 Milliarden<br />

Euro neue Schiffe finanzieren.<br />

Doch die Lasten der Vergangenheit engen<br />

den Spielraum der Banken ein. Oft<br />

bleibt den Reedern mitunter nur ein Ausweg.<br />

Zwar liegt die mittlere Lebenserwartung<br />

eine Schiffs bei gut 25 Jahren. Doch<br />

inzwischen treten auch viele deutlich jüngere<br />

Kähne die letzte Reise an – zu den Abwrackwerften<br />

an den Stränden Indiens<br />

oder Chinas. Die Rohstoffe, die bei der<br />

Ausweidung anfallen, bringen zwischen<br />

zwei und acht Millionen Euro. Das ist nicht<br />

viel, aber besser als nichts.<br />

n<br />

cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt<br />

FOTO: LAIF/HENNING BODE<br />

56 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märktet | Dossier<br />

Vorbilder<br />

Treue zu Prinzipien<br />

Muhammad Ali? Udo Jürgens?<br />

Helmut Kohl? Derlei<br />

Idole passen nicht zum Chef<br />

der auf Nüchternheit bedachten<br />

Allianz. Selbst der<br />

sonst stets genannte verstorbene<br />

Apple-Chef Steve Jobs<br />

ist da wohl zu flippig. Stattdessen<br />

müssen zwei garantiert<br />

Unverdächtige als berufliche<br />

Vorbilder herhalten.<br />

Zum einen ist das Marvin<br />

Bower, der die Unternehmensberatung<br />

McKinsey<br />

Disziplinierter Denker<br />

McKinsey-Ikone Bower<br />

mehr als 60 Jahre lang prägte<br />

und als ihr eigentlicher<br />

Gründervater gilt. Bower<br />

verordnete ihr noch heute<br />

gültige Standards und Prinzipien<br />

wie Disziplin und<br />

Kundenorientierung. Zweites<br />

Vorbild ist Wolfgang<br />

Schieren, der als Allianz-<br />

Chef die weltweite Expansion<br />

vorantrieb. Gleichzeitig<br />

avancierte er über Konzernbeteiligungen<br />

zum Mittelpunkt<br />

der sogenannten<br />

Deutschland AG. Die wird<br />

Bäte sicher nicht wiederbeleben<br />

und so lange wie Schieren,<br />

der von 1971 bis 1991<br />

an der Spitze stand, wird er<br />

auch nicht bleiben. Es sei<br />

denn, der Aufsichtsrat kippt<br />

die anachronistisch wirkende<br />

Vorstands-Altersgrenze<br />

der Allianz von 60 Jahren.<br />

Gekommen, um zu<br />

bleiben Künftiger<br />

Allianz-Chef Bäte<br />

Sprinter auf der Langstrecke<br />

Allianz | Chefs des Versicherungskonzerns halten sich oft zehn Jahre. Oliver<br />

Bäte hat gute Chancen auf eine erfüllte Amtszeit – wenn er sich bremst.<br />

Opulente Arbeitsplätze mag Oliver Bäte<br />

nicht so. „Manager lieben es, in komfortablen<br />

Büros in der Nähe der Oper zu arbeiten“,<br />

schimpfte der frische Allianz-Vorstand<br />

2009 bei einer Konferenz. Das sei viel zu<br />

teuer und drücke die Produktivität.<br />

Im Mai zieht der 49-Jährige nun in das<br />

beste Büro der größten europäischen Versicherung<br />

mit Sitz am Englischen Garten<br />

in München. Seit Bäte Anfang 2008 von der<br />

Unternehmensberatung McKinsey in den<br />

Allianz-Vorstand wechselte, hat er dort eine<br />

Art Top-Trainee-Programm absolviert. Sein<br />

Förderer und künftiger Vorgänger Michael<br />

Diekmann betraute ihn nacheinander mit<br />

den Ressorts Organisation, Finanzen und<br />

Westeuropa. Dabei ist bei der Allianz eigentlich<br />

Kontinuität angesagt. In ihrer fast<br />

125-jährigen Geschichte gab es erst neun<br />

Chefs. Zu Bätes Start steht der Konzern<br />

stark da, Turbulenzen um die US-Töchter<br />

Pimco und Fireman’s Fund stören, sind<br />

aber beherrschbar. Die strukturellen<br />

Herausforderungen jedoch sind gewaltig.<br />

Niedrigzinsen drücken die Erträge, Geschäft<br />

wandert ins Internet ab. Bäte muss<br />

schnell umbauen, ohne zu viel einzureißen.<br />

cornelius.welp@wiwo.de, matthias kamp<br />

58 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Vorlieben<br />

Ruf der Ferne<br />

In seiner Karriere ist Bäte viel<br />

herumgekommen, als Westeuropa-Chef<br />

der Allianz ständig<br />

in Frankreich und Italien<br />

unterwegs. Seinen Wohnsitz<br />

in Köln hat der Spross des<br />

Nachbarorts Bensberg aber<br />

bis jetzt behalten. Hier hat<br />

er nach einer Lehre bei der<br />

WestLB Betriebswirtschaft<br />

studiert, der Uni ist er als Lehrbeauftragter<br />

verbunden. Als<br />

Allianz-Chef wird der Vater<br />

von drei Kindern mit der Familie<br />

nun aber doch nach<br />

München umziehen. Noch bei<br />

McKinsey war Bäte für eine<br />

Hang zur Heimat<br />

Bäte-Wohnort Köln<br />

Weile in Elternteilzeit, mittlerweile<br />

unternimmt er mit seinem<br />

Anhang gern Fernreisen.<br />

In seiner knappen Freizeit reitet<br />

er und interessiert sich für zeit-<br />

genössische Kunst. Und beim<br />

Fußball steht er auf der Gewinnerseite.<br />

Passend zur Allianz-Arena<br />

ist er Bayern-München-Fan.<br />

Stärken &<br />

Schwächen<br />

Ungestüm nach oben<br />

Mit intellektueller Brillanz<br />

Zusammenhänge blitzschnell<br />

erfassen und vor allen<br />

anderen die richtigen<br />

knallharten Schlüsse ziehen<br />

– schon als Unternehmensberater<br />

war Bäte einer der<br />

Schnellsten unter lauter<br />

ganz Schnellen. Das sah er<br />

auch selbst so und machte<br />

sich damit nicht nur Freunde.<br />

Im hierarchischen Alli-<br />

FOTOS: AGENTUR FOCUS/THOMAS DASHUBER, BILDAGENTUR HUBER, IMAGO (2), GETTY IMAGES/BLOOMBERG, BLOOMBERG<br />

Freunde & Gegner<br />

Wenig verwurzelt<br />

Bäte war der Wunschkandidat<br />

von Allianz-Chef Diekmann,<br />

der ihn persönlich in den Konzern<br />

holte. Außerhalb des Unternehmens<br />

ist der Neue dicke<br />

mit Henkel-Boss Kasper Rorsted<br />

und Tidjane Thiam, dem<br />

Chef des britischen Versicherers<br />

Prudential. Mit beiden<br />

trifft er sich regelmäßig zum<br />

Austausch. Auch E.On-Vormann<br />

Johannes Teyssen und<br />

Jörg Schneider, Finanzvorstand<br />

des Rückversicherers<br />

Munich Re, zählen zu seinem<br />

Sympathischer Konkurrent<br />

Prudential-Chef Thiam<br />

engsten Kreis. Ein offener Widersacher<br />

ist nicht bekannt.<br />

Eine Perspektive muss Bäte<br />

Markus Rieß bieten. Der Chef<br />

des deutschen Versicherungsgeschäfts<br />

galt auch als Kandidat<br />

für den Top-Job, rückt nun<br />

aber nicht mal in den Konzernvorstand<br />

auf. Bäte kommt<br />

gut an bei Analysten und Investoren,<br />

die rund 9000 selbstständigen<br />

Allianz-Vertreter<br />

respektieren ihn aber allenfalls.<br />

Sie hätten sich einen<br />

Chef gewünscht, der tiefere<br />

Wurzeln in der Allianz hat.<br />

Geschlagener Kollege Allianz-<br />

Deutschland-Manager Rieß<br />

Ziele &<br />

Visionen<br />

Digital ist besser<br />

Noch kommen die meisten<br />

Kunden über traditionelle<br />

Vertreter zu ihrer Versicherung,<br />

doch die Bedeutung<br />

des Internets und vor allem<br />

der Online-Vergleichsportale<br />

wächst unaufhaltsam.<br />

Hier hat die Allianz Nachholbedarf.<br />

Aus Bätes Umfeld<br />

stammt das Ziel einer „digitalen<br />

Allianz, die die PS der<br />

Vertreter auf die Straße<br />

bringt“. Die vage Vision soll<br />

das Verbindende zwischen<br />

alter und neuer Versicherungswelt<br />

betonen. Wie die<br />

konkret funktionieren kann,<br />

hat Bäte in Italien vorgemacht.<br />

Dort schließen die<br />

Kunden ihre Policen auch<br />

beim Vertreter digital ab,<br />

dank Baukastensystem geht<br />

das einfach, günstig und vor<br />

allem aus einer Hand. Das in<br />

Italien erfolgreiche Modell<br />

will Bäte so ähnlich auf den<br />

ganzen Konzern ausdehnen.<br />

Wegweiser zur Spitze<br />

Bäte mit Förderer Diekmann<br />

anz-Konzern eckte er mit<br />

seiner ungestümen Art erst<br />

recht an. Wo an sich kommunikative<br />

Zurückhaltung<br />

angesagt ist, äußerte sich Bäte<br />

in rasender Geschwindigkeit<br />

ungewohnt deutlich und<br />

nicht immer schmeichelhaft.<br />

Mittlerweile hat er allerdings<br />

dazugelernt und sich dem<br />

Tempo der anderen angepasst.<br />

Er erklärt Mitarbeitern<br />

mehr und hört ihnen auch<br />

mal zu. Seine fachliche Kompetenz<br />

ist unumstritten,<br />

dank seiner McKinsey-Jahre<br />

in New York und der Leitung<br />

des Allianz-Geschäfts in<br />

Westeuropa kennt er sich international<br />

gut aus. Was ihm<br />

am meisten hilft ist die ehrliche<br />

Begeisterung für das<br />

Produkt Versicherung. „Für<br />

ihn gibt es wirklich nichts<br />

Spannenderes“, sagt ein<br />

Weggefährte verwundert.<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 59<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»Kollektive Naivität«<br />

INTERVIEW | Ulrich Spiesshofer Der deutsche Chef des Schweizer Anlagenbauers<br />

ABB gesteht Fehler im Geschäft mit Windstrom auf hoher See ein<br />

und verteidigt sein umstrittenes Aktienrückkaufprogramm.<br />

DER ERNÜCHTERTE<br />

Spiesshofer, 50, leitet seit September vergangenen<br />

Jahres den ABB-Konzern mit<br />

Hauptsitz in Zürich, der in Deutschland rund<br />

10 000 Mitarbeiter beschäftigt und 2013<br />

gut 32 Milliarden Euro Umsatz machte.<br />

Herr Spiesshofer, sagt Ihnen die<br />

Zahl 21,34 etwas?<br />

(Überlegt lange.) Nein.<br />

Das war der Aktienkurs von ABB<br />

bei Ihrem Amtsantritt als<br />

Vorstandschef am 15. September<br />

2013. Sagt Ihnen die Zahl<br />

21,53 etwas?<br />

Ja, das war unser gestriger Aktienkurs.<br />

In dem Jahr unter Ihrer Führung<br />

stagnierte der Aktienkurs von<br />

ABB, während er bei Ihren<br />

Konkurrenten Siemens um zwölf<br />

und bei General Electric um<br />

neun Prozent zulegte. Was machen<br />

Sie falsch?<br />

Bis Januar ist der Aktienkurs gestiegen,<br />

danach hat er sich korrigiert.<br />

Damals haben wir die großen<br />

Probleme der Sparte Energietechniksysteme<br />

erkannt und<br />

sofort transparent gemacht. Das<br />

war natürlich kein idealer Einstieg<br />

für mich als neuer Vorstandschef.<br />

Da der Großteil unserer<br />

Geschäfte gut läuft, ist der Aktienkurs<br />

dabei nicht völlig in den<br />

Keller gegangen. Wir haben nicht<br />

komplett das Vertrauen der Anleger<br />

verloren, das war mir wichtig.<br />

Aber die Anleger sagen heute:<br />

Wir sind vorsichtig und warten erst mal ab,<br />

ob ABB das wieder hinbekommt. Ich habe<br />

für die Reaktion der Aktionäre Verständnis.<br />

Da muss man auch realistisch und bescheiden<br />

sein.<br />

Warum haben Sie soeben die langfristigen<br />

Ziele für Umsatz und Gewinn kassiert, die<br />

bei Ihrem Amtsantritt galten?<br />

Ich messe Ziele immer am aktuellen Stand<br />

der Dinge, nicht an der Vergangenheit. Die<br />

Weltwirtschaft wächst mit 3,0 bis 3,5 Prozent,<br />

und wir haben momentan massive<br />

Unsicherheiten – ich nenne nur Ebola, die<br />

Auseinandersetzungen im Mittleren Osten,<br />

die noch nicht ausgestandene Finanzkrise<br />

oder den Kampf um die Energiehoheit.<br />

Daran gemessen sind unsere neuen<br />

Ziele noch immer extrem ambitioniert:Wir<br />

wollen schneller wachsen als das Bruttosozialprodukt<br />

und schneller als unsere Märkte.<br />

Wir wollen also Marktanteile gewinnen.<br />

Wie realistisch die Ziele der Vergangenheit<br />

angesichts der jetzigen wirtschaftlichen<br />

und politischen Lage waren, das überlasse<br />

ich Ihrer eigenen Beurteilung.<br />

Wieso kommt Ihre Sparte Energiesysteme<br />

nicht in die Gänge?<br />

In der Sparte sind 80 bis 85 Prozent des Geschäfts<br />

absolut in Ordnung. Aber wir haben<br />

uns auch die Bücher gefüllt mit langfristigen<br />

Aufträgen, die wir nicht<br />

hätten annehmen sollen. Der Bau<br />

einer Offshore-Windkraftanlage<br />

kann bis zu acht Jahre dauern.<br />

Wenn in der Mitte Probleme auftauchen,<br />

kann man nicht einfach<br />

sagen: Ich schreibe das ab und<br />

höre auf. Man muss es durchziehen.<br />

Auch wenn es viel kostet, wir<br />

werden den Kunden zufriedenstellen.<br />

Wie konnte es so weit kommen?<br />

Das ist in der Tat enttäuschend.<br />

Wir haben uns mit dem Plattformbau<br />

eine Bürde auferlegt, die wir<br />

nicht beherrschten. Das Risikomanagement<br />

hat bei der Annahme<br />

der Aufträge nicht angeschlagen.<br />

Wir haben jetzt massive Änderungen<br />

in den Prozessen, im<br />

Geschäftsmodell und bei den Ressourcen<br />

durchgeführt, damit das<br />

nicht mehr passiert. Aber es wird<br />

eine Weile dauern, bis wir diesen<br />

unprofitablen Auftragsbestand<br />

abgearbeitet haben. Die Probleme<br />

gehen wir zielstrebig an, wegzaubern<br />

kann ich sie nicht.<br />

Siemens hat den gleichen Fehler<br />

gemacht. Warum sind bei<br />

Ihnen nicht die Alarmglocken<br />

losgegangen?<br />

In dem Moment, als die Probleme<br />

bei Siemens auftauchten,<br />

sind bei uns die Alarmglocken<br />

durchaus losgegangen. Aber da<br />

war es zu spät. Es war vielleicht<br />

eine kollektive Naivität, mit der<br />

man überhaupt in diese Geschäfte<br />

eingestiegen ist.<br />

Warum haben Sie im Übernahmekampf<br />

um Ihren französischen<br />

Wettbewerber Alstom nicht mitgeboten,<br />

obwohl Sie im vergangenen Jahr<br />

Akquisitionen angekündigt hatten?<br />

Weil Alstom nicht zu uns passt. Wir waren<br />

schon mal im Energieerzeugungsgeschäft,<br />

das haben wir 1999 verkauft – ein großer<br />

Teil von Alstom sind ja ehemalige ABB-Teile.<br />

Dahin wollen wir nicht zurück. Wir haben<br />

uns klar auf Energieübertragung und<br />

-verteilung fokussiert. 80 Prozent des weltweiten<br />

Elektrizitätsmarktes unterliegen<br />

dem Verbot, dass ein Energieerzeuger<br />

auch in der Energieübertragung und -verteilung<br />

tätig ist. Und dieser Trend nimmt<br />

noch zu.<br />

Sie haben die Konzernleitung auf zwölf<br />

Mitglieder erweitert. Nach jedem<br />

Lehrbuch sind das viel zu viele.<br />

FOTO: RENÉ RUIS<br />

60 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Die Lehrbücher haben wir alle gelesen,<br />

aber das sind Lehrbücher, das ist keine Praxis.<br />

Wir haben weiterhin die Gruppenfunktionen<br />

und fünf Divisionsleiter, und in Zukunft<br />

haben wir drei Regionalleiter. Diese<br />

haben – ebenso wie die Länderchefs – die<br />

oberste Aufgabe, sich portfolioübergreifend<br />

um den Kunden zu kümmern. Alles<br />

andere, der Einkauf beispielsweise, geht in<br />

die Sparten. So ist die Konzernleitung sehr<br />

viel näher am Kunden als früher.<br />

ABB hat ein Aktienrückkaufprogramm<br />

über knapp dreieinhalb Milliarden Euro<br />

angekündigt. Fällt Ihnen nichts Besseres<br />

ein, was Sie mit Ihrem Geld machen könnten,<br />

etwa eine Akquisition?<br />

Wir generieren jedes Jahr sehr viel Cash<br />

aus dem laufenden Geschäft. Außerdem<br />

haben wir Randbereiche abgestoßen und<br />

daraus rund eine Milliarde Dollar erlöst.<br />

Aber wir haben auch die bereits erwähnten<br />

Probleme in der Sparte Energiesysteme.<br />

Auch die Integration unserer Großeinkäufe<br />

Thomas & Betts sowie Power One ist noch<br />

nicht vollkommen abgeschlossen. Und wir<br />

machen einen Organisationsumbau. Auf<br />

diese vier Themen zusätzlich noch eine<br />

große Akquisition zu packen wäre mir zu<br />

viel. Jetzt beteiligen wir erst mal die Shareholder<br />

durch das Aktienrückkaufprogramm<br />

an unserem Erfolg. Für Akquisitionen<br />

haben wir noch immer genügend finanziellen<br />

Spielraum. Ab 2015 denken wir<br />

wieder darüber nach.<br />

Ein Viertel der zurückgekauften Aktien<br />

wird an die Mitarbeiter verteilt im Rah-<br />

»Die Probleme gehen<br />

wir zielstrebig<br />

an, wegzaubern<br />

kann ich sie nicht«<br />

men eines Bonusprogramms. Auf der vergangenen<br />

Hauptversammlung haben die<br />

Aktionäre eine Kapitalerhöhung abgelehnt,<br />

die das gleiche Ziel gehabt hätte.<br />

Jetzt führen Sie das Bonusprogramm<br />

durch die Hintertür trotzdem ein.<br />

Den Vorwurf mit der Hintertür weise ich<br />

entschieden zurück. Es geht um die Finanzierung<br />

der seit vielen Jahren bestehenden<br />

Aktienprogramme, das haben wir voll<br />

transparent gemacht. Die Aktionäre wollten<br />

keine Verwässerung ihrer Anteile hinnehmen,<br />

deshalb haben sie die Kapitalerhöhung<br />

abgelehnt.<br />

Halten wir fest: Sie wollten zusätzliche<br />

Boni ausschütten, in Form von Aktien.<br />

Die Aktionäre haben das – ungewöhnlich<br />

genug – abgelehnt. Jetzt besorgen<br />

Sie sich die Aktien an der Börse, um<br />

die Boni dennoch ausschütten zu<br />

können. Sie missachten den Willen der<br />

Aktionäre.<br />

Jetzt dürfen wir zwei Dinge nicht verwechseln:<br />

20 000 unserer Angestellten erhalten<br />

einen Teil ihres Lohnes in Aktien oder investieren<br />

im Rahmen ihres Sparprogrammes<br />

in ABB-Titel. Dafür kaufen wir Aktien.<br />

Das geht bis weit unter die Konzernleitung.<br />

Ich finde es extrem wichtig, dass möglichst<br />

viele Mitarbeiter am Aktienkapital der Firma<br />

beteiligt sind, damit sie ein gemeinsames<br />

Interesse haben an der Weiterentwicklung<br />

der Firma. Die Boni für das Top-Management<br />

machen in diesem Programm<br />

nur einen Bruchteil aus.<br />

Marc Kowalsky | Bilanz<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Fahrt ins Blaue Tengelmann-Chef Haub<br />

droht mit dem Verlust von 16 000 Jobs<br />

Die Schlecker-Keule<br />

TENGELMANN | Der Verkauf der Supermarktsparte wird<br />

zum Duell zwischen Unternehmenschef Karl-Erivan Haub<br />

und Wettbewerbshüter Andreas Mundt.<br />

Umden Widrigkeiten des deutschen<br />

Wettbewerbsrechts zu trotzen,<br />

schwört Karl-Erivan Haub auf ein<br />

einfaches Mittel: rein in die Laufschuhe,<br />

raus in die Natur und los. „Wie oft standen<br />

wir in den Verhandlungen mit dem Kartellamt<br />

in einer Sackgasse“, sinnierte der Tengelmann-Chef<br />

vor einem Jahr in einem Interview<br />

über den Verkauf der Discounttochter<br />

Plus. „Beim Laufen habe ich darüber<br />

nachgedacht:Wie kommen wir da weiter?<br />

Da ist mir im Wald ziemlich häufig etwas<br />

eingefallen.“<br />

Der Tengelmann-Chef wird auch in den<br />

kommenden Monaten wieder reichlich<br />

Zeit an der frischen Luft verbringen müssen.<br />

Er will die Supermarktsparte seines<br />

Konzerns verkaufen. Bis Sommer 2015 soll<br />

der Hamburger Handelsriese Edeka die<br />

451 Kaiser’s-Tengelmann-Märkte übernehmen.<br />

Die Verträge sind unterzeichnet, der<br />

Deal ist eigentlich perfekt – wären da nicht<br />

nicht die Beamten um Bundeskartellamtschef<br />

Andreas Mundt, die bereits Widerstand<br />

signalisiert haben.<br />

Die Konfliktlinien sind klar: Wettbewerb<br />

gegen Marktmacht, Prinzipien contra Arbeitsplätze,<br />

Kartellamtspräsident Mundt<br />

versus Unternehmenspatron Haub. Der Fall<br />

Tengelmann hat das Zeug, zur Machtprobe<br />

zwischen Konzern und Amt zu werden. Ein<br />

Fernduell bahnt sich an, das die Handelszunft<br />

über Monate in Atem halten wird.<br />

ÄRGER MIT ANSAGE<br />

Für seinen Eröffnungszug wählte Haub das<br />

vertraute Terrain der Konzernzentrale in<br />

Mülheim an der Ruhr. In einem holzgetäfelten<br />

Saal aus der Wirtschaftswunder-Ära<br />

erklärte er am Dienstag seine Sicht der<br />

Dinge. Wuchtige Kronleuchter illuminieren<br />

den Raum. An den Wänden prangen<br />

Kupferstiche italienischer Bauten. In einem<br />

Regal im Vorraum reihen sich ein paar<br />

Marktmacht im Blick Behördenchef Mundt<br />

muss Gegenwind der Öffentlichkeit fürchten<br />

ledergebundene Klassiker. „Dramen in<br />

Versen“, steht auf einem Einband. Das<br />

passt zum Mülheimer Trauerspiel.<br />

Vorn im Saal saß Haub im schwarzen<br />

Anzug und fühlte sich nach eigenem Bekunden<br />

„ein bisschen wie bei einer Beerdigung“.<br />

Trotzdem, seine Entscheidung stehe<br />

fest, sagte Haub. 15 Jahre habe der Konzern<br />

die Supermärkte alimentiert. Nun sei<br />

Schluss. Die Läden würden verkauft.<br />

Und das Kartellamt?<br />

Der drahtige 54-Jährige nickt kurz, als<br />

wolle er sich für das Stichwort bedanken,<br />

und antwortet: „Es muss eine Lösung geben.“<br />

Im Zweifel riskiere er auch Ärger mit<br />

dem Bonner Amt.<br />

Der kam prompt. Während Haub in<br />

Mülheim noch Fragen beantwortete, vermeldeten<br />

die Nachrichtenagenturen schon<br />

die erste Reaktion der Behörde. Die Nachfragemacht<br />

des Lebensmitteleinzelhandels<br />

sei bereits heute ein Problem, gab Kartellamtschef<br />

Mundt zu Protokoll. Das Kartellamt<br />

werde den Tengelmann-Verkauf daher<br />

„intensiv prüfen“.<br />

Was nach Amtsroutine klingt, ist in<br />

Wahrheit eine Kampfansage. Nur selten<br />

äußert der Chef einer Bundesbehörde<br />

öffentlich seine Bedenken zu einem Verfahren,<br />

das gerade erst begonnen hat.<br />

Dabei gilt Mundt nicht als Mann, der sich<br />

allzu forsch aus der Deckung wagt. Seit fünf<br />

Jahren residiert der Jurist im Chefbüro eines<br />

strahlend weißen, landschlossartigen Gebäudekomplexes<br />

in Bonn. Ein nobles Umfeld<br />

– das färbt ab. Durchaus eitel genießt<br />

der 54-Jährige die öffentlichen Auftritte und<br />

die Machtfülle seines Amtes. Mundt ist ein<br />

Karrierebeamter, der auch eine große Stadtsparkasse<br />

oder eine Industrie- und Handelskammer<br />

leiten könnte, nicht aber Unternehmer<br />

sein, der auf eigenes Risiko investiert.<br />

Der Mittfünfziger braucht im Gegenteil den<br />

zuverlässigen Handlungsrahmen, um damit<br />

Handlungsspielräumen von Unternehmern<br />

Grenzen zu setzen. Das ist sein Job.<br />

Gleichwohl weiß Mundt, dass er sich –<br />

wie jetzt auch bei Tengelmann – nicht im<br />

politikfreien Raum bewegt. Er habe verstanden,<br />

dass er bei heiklen Themen auch<br />

die Öffentlichkeit auf seine Seite ziehen<br />

muss, sagt ein Berliner Kartellrechtler.<br />

Im Fall Tengelmann gilt das ganz besonders.<br />

Sollten Mundts Beamte den Deal<br />

stoppen, droht Haub unverhohlen mit der<br />

Schlecker-Keule. Die Pleite der Drogeriekette<br />

hatte zum Verlust von 23 000 Jobs ge-<br />

FOTOS: WAZ FOTOPOOL/MATTHIAS GRABEN, COLOURBOX, CARO/ZENSEN<br />

62 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


führt und Zwietracht in<br />

die damalige christlichliberale<br />

Bundesregierung<br />

getragen. „Im<br />

schlimmsten Fall“ werde<br />

er Tengelmann komplett<br />

abwickeln, so<br />

Haub an Mundts Adresse,<br />

16 000 Arbeitsplätze<br />

wären dann in Gefahr,<br />

ohne dass es dadurch<br />

mehr Wettbewerb geben<br />

werde. Denn seine Supermärkte hätten<br />

im Lebensmittelhandel einen Marktanteil<br />

von nur 0,6 Prozent und damit eine<br />

verschwindend geringe Bedeutung.<br />

BESORGNISERREGENDER TREND<br />

Das war nicht immer so. Früher, als der Besprechungssaal<br />

in Mülheim noch Vorstandskasino<br />

hieß, war Tengelmann das<br />

Maß aller Dinge in der Branche. 1971 übernahm<br />

das Unternehmen den Rivalen Kaiser’s<br />

und stieg zum größten Lebensmittelhändler<br />

des Landes auf. Haubs Vater expandierte<br />

in zusätzliche Geschäftsfelder –<br />

und verzettelte sich. Erst als der Senior seine<br />

Söhne ranließ – allen voran Karl-Erivan<br />

1,8<br />

Milliarden<br />

Euro Umsatz<br />

erzielte Kaiser’s<br />

Tengelmann<br />

2013<br />

Haub – stabilisierte sich<br />

die Gruppe.<br />

Der frühere McKinsey-Berater<br />

stutzte das<br />

Konglomerat auf eine<br />

Handvoll Kernbeteiligungen<br />

zurecht. Seither<br />

lautet ein Credo des<br />

Clans, nie zu lange an<br />

Verlustbringern festzuhalten.<br />

Ende 2010 wurde<br />

der amerikanische<br />

Discount-Ableger A&P in die Insolvenz geschickt.<br />

Drei Jahre zuvor hatte Haub den<br />

Billigheimer Plus ausgemustert und an<br />

Edeka verkauft.<br />

Doch kaum hatten die Hamburger den<br />

Zuschlag erhalten, grätschten die Bonner<br />

Kartellwächter dazwischen. Die Behörde<br />

gab den Deal nach monatelangem Gezerre<br />

zwar frei, doch nur unter strikten Auflagen.<br />

Hunderte Plus-Filialen musste Tengelmann<br />

an Edekas Rivalen abtreten.<br />

Noch wichtiger: Das Amt untersagte<br />

auch eine geplante Einkaufskooperation<br />

zwischen Edeka und der Tengelmann-Supermarktsparte.<br />

Nun geht es um deutlich<br />

mehr. Selbst wenn Mundt wollte, könnte er<br />

sich über das damalige Verbot jetzt nicht<br />

einfach hinwegsetzen.<br />

Gerade erst hat sein Haus zudem eine<br />

Branchenanalyse zum Lebensmittelhandel<br />

veröffentlicht. Auf 400 Seiten dröseln<br />

die Kartellwächter die Hackordnung im<br />

Handel auf. Branchenprimus Edeka, Rewe,<br />

die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland<br />

sowie Aldi beherrschen demnach 85 Prozent<br />

des Marktes. Die Entwicklung sei „besorgniserregend“,<br />

konstatiert Mundt.<br />

Dass er dem Deal ohne Auflagen zustimmt,<br />

halten Experten damit für nahezu<br />

ausgeschlossen. Doch auch die Rolle als<br />

Arbeitsplatzvernichter, in die ihn Haub im<br />

Falle eines Verbots drängen wird, dürfte<br />

dem Kartellwächter kaum zusagen. Ein<br />

Kompromiss könnte letztlich ähnlich wie<br />

bei Plus aussehen. Tengelmann müsste einen<br />

Teil der Filialen an Konkurrenten abtreten.<br />

Doch wie ein solcher Zuschnitt der<br />

Standorte ausfallen müsste, ist unklar.<br />

Vielleicht hilft Mundt ja der Haub’sche<br />

Ansatz bei der Lösung des Problems:<br />

Mundt ist zwar kein Läufer, aber begeisterter<br />

Skifahrer. Und klare Bergluft hat schon<br />

immer den Blick geweitet.<br />

n<br />

henryk.hielscher@wiwo.de, harald schumacher<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Signor Segafredo<br />

Hinter Kaffeemultis<br />

wie Nestlé und Kraft<br />

ist der Familienkonzern<br />

weltweit die<br />

Nummer fünf<br />

Der Ketzer aus dem Veneto<br />

SEGAFREDO | Der Eigentümer des italienischen Espressoherstellers, Massimo Zanetti, will an<br />

die Börse. Der Gewinner der Globalisierung tickt anders als die meisten seiner Kaste.<br />

Um die Menschheit auf den italienischen<br />

Kaffeegeschmack zu bringen,<br />

ist Massimo Zanetti kein Weg zu<br />

weit. Er verfrachtet Espresso nach Ulan Bator<br />

in der Mongolei, ins Herz Asiens, um<br />

ihn, wenn es sein muss, bei minus 25 Grad<br />

auszuschenken. Am Ende der Welt, in Ushuaia<br />

im argentinischen Patagonien, der<br />

südlichsten Stadt der Welt, kommt das<br />

schwarze Lebenselexier aus seinen Maschinen.<br />

Und im 30. Stock des Shinjuku<br />

Grand Tower mitten in Tokios Shoppingparadies<br />

Nishi-Shinjuku eröffnete er vor<br />

wenigen Wochen die 327. Filiale seiner<br />

Kette Segafredo Zanetti Espresso Café.<br />

Nun hat sich der Kaffeehersteller aus<br />

dem Hinterland Venedigs zu einem neuen<br />

Ziel aufgemacht – an die Börse. Anfang November<br />

sollen die Aktien seiner Holding<br />

Massimo Zanetti Beverage Group (MZB<br />

Group) aus dem norditalienischen Treviso<br />

in Mailand in den Handel gehen.<br />

Vom Firmensitz bis in die lombardische<br />

Finanzmetropole sind es zwar nur 240 Kilometer.<br />

Vielen italienischen Familienunternehmern<br />

aber ist das eine unüberbrückbare<br />

Entfernung. Für Börsenaspirant Zanetti<br />

gilt das nicht. „Signor Segafredo“, wie<br />

er in Italien genannt wird, tickt anders als<br />

die meisten seiner Kaste.<br />

Der hochgewachsene Veneter verbindet<br />

Bodenständigkeit mit Zukunftsdrang. Mit<br />

weißem Haarschopf und bunter Brille sitzt<br />

er entspannt in einem Clubsessel in seinem<br />

Büro in der Villa Zanetti, in der er vor<br />

66 Jahren als Sohn und Enkel von Kaffeehändlern<br />

zur Welt kamt. Neben dem gediegenen,<br />

lederbezogenen Schreibtisch hängt<br />

ein riesiger Flachbildschirm an der Wand.<br />

»Die Größe von<br />

Starbucks ist<br />

allein eine Frage<br />

des Geldes«<br />

Segafredo-Eigentümer Massimo Zanetti<br />

Vor dem Heiligenbild gegenüber steht das<br />

Modell des Privatjets, mit dem er durch<br />

sein Firmenimperium jettet.<br />

„Kaupé“ taufte der umtriebige Unternehmer<br />

das Flugzeug, was in der Sprache<br />

des südamerikanischen indigenen Mapuche-Volkes<br />

„sich zu Hause fühlen“ bedeutet.<br />

In dem Zimmer, in dem Zanetti geboren<br />

wurde und aufwuchs, speisen heute<br />

die Mitarbeiter der Firmenzentrale. Seine<br />

Mutter war zur Geburt in den abgelegenen<br />

Raum gezogen. „Mein Vater wollte die<br />

Schreie nicht hören“, erzählt er. Vor vier<br />

Jahren kehrte Zanetti an seinen Ursprung<br />

zurück und bezog mit seiner Holding die<br />

frisch restaurierte Villa aus dem 17. Jahrhundert<br />

bei Treviso. Im Seitenflügel, wo er<br />

als Kind im Lager zwischen Kaffeesäcken<br />

spielte, ließ er einen modernen Veranstaltungssaal<br />

einrichten. „Hierhin werde ich<br />

die Analysten einladen“, eröffnete er beim<br />

Einzug in das grauweiß getünchte architektonische<br />

Schmuckstück einem Mitarbeiter.<br />

Der Patrone hielt Wort. Es ist Mitte September.<br />

Zanetti tritt vor die versammelte<br />

FOTO: PR<br />

64 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Schar Aktienprofis und rattert seine Story<br />

herunter: Mit 3,5 Millionen verkauften Kaffeesäcken<br />

pro Jahr ist er die Nummer fünf<br />

weltweit hinter großen Multis wie Nestlé<br />

und Kraft, die den Markt beherrschen; er<br />

besitzt 50 Tochterfirmen mit vielen bekannten<br />

Auslandsmarken, macht eine Milliarde<br />

Euro Jahresumsatz, Tendenz: steigend,<br />

er schafft einen Auslandsanteil von<br />

90 Prozent; und er betreibt eigene Plantagen,<br />

handelt mit den grünen Kaffeebohnen,<br />

röstet sie, stellt Espressomaschinen<br />

her und besitzt Kaffeebars.<br />

ENTTÄUSCHT VON BERLUSCONI<br />

Jenseits der Kaffeewelt lief es für den Erfolgsunternehmer<br />

nicht so glatt. 1994 ließ<br />

er sich von Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi<br />

mitreißen. Zanetti zog im Glauben<br />

an das Versprechen einer liberalen Revolution<br />

für die frisch gegründete Rechtspartei<br />

Forza Italia in den italienischen Senat ein.<br />

Nach zwei Jahren hatte er jedoch genug<br />

<strong>vom</strong> Polit-Gezänk in Rom.<br />

Von den einheimischen Kaffeedynastien<br />

Lavazza und Illy hebt sich Zanetti nicht nur<br />

durch seine internationale Ausrichtung ab.<br />

Er ist, und das in Italien, kein Missionar des<br />

Espressokults. Espresso bleibe eine Nische,<br />

sagt er trocken und spöttelt: „Nur die Italiener<br />

kamen auf diese Idee und haben dazu<br />

auch noch eine Maschine erfunden.“<br />

Kaffee, darauf besteht Zanetti fast ketzerisch,<br />

das sei Filterkaffee. Mit ihm macht er<br />

70 Prozent des Umsatzes. Dabei passt er<br />

sich den jeweiligen lokalen Trinkgewohnheiten<br />

an, indem er Markenhersteller rund<br />

um den Globus übernahm und an 14<br />

Standorten produziert. Auch Barack Obama<br />

ist sein Kunde. Im Weißen Haus wird<br />

die Marke Kauai von den Hawaii-Inseln getrunken,<br />

der Heimat des US-Präsidenten.<br />

Mit dem Premium-Label Kauai übernahm<br />

Zanetti auf Hawaii auch 1500 Hektar<br />

Kaffeeplantagen. In Skandinavien ist er mit<br />

der finnischen Kaffeemarke Meira auf dem<br />

Markt. In die Tassen der niederländischen<br />

Königsfamilie kommt sein Kaffee Tiktak. In<br />

Nossa Senhora da Guia, im Herzen Brasiliens,<br />

gehört Zanetti die nach eigenen Angaben<br />

mit 2000 Hektar größte private Kaffeeplantage<br />

der Welt.<br />

Das lateinamerikanische Land hat für<br />

Zanetti besondere Bedeutung. In seiner<br />

Villa in Treviso liegt der Prachtband „Mein<br />

Paradies – Bilder und Emotionen aus Brasilien“<br />

auf dem Tisch. Er ist Zanettis großer<br />

Leidenschaft gewidmet, der grünen Bohne.<br />

Damit aber erregte er bei den Analysten<br />

Argwohn. Sie drängten ihn erfolgreich,»<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 65<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

Edle Setzlinge Die Segafredo-Top-Kaffeesorte<br />

Kauai wird von US-Präsident Obama getrunken<br />

und wächst in dessen Heimat Hawaii<br />

Von der Bohne bis zur Tasse Auch die<br />

Plantagen auf Hawaii für die Kaffeesorte<br />

Kauai gehören Segafredo<br />

Klasse und Masse Bei den Kaffeetrinkern<br />

steht die Marke Segafredo für Durchschnitt,<br />

Ware aus Hawaii für gehobene Ansprüche<br />

»<br />

die Firmenbeteiligungen in Anbau und<br />

Handel aus seiner Holding auszugliedern.<br />

Dieses Geschäft sei zu sehr den Schwankungen<br />

von Rohstoffpreisen und Devisenkursen<br />

unterworfen. Also bringt Zanetti<br />

nun ein geschrumpftes Unternehmen mit<br />

750 Millionen Euro Umsatz an die Börse.<br />

Die Wachstumsstrategie des umtriebigen<br />

Italieners ist schnell erzählt. Zanetti<br />

setzt darauf, ferne Absatzmärkte von innen<br />

aufzurollen. Dazu steigt er durch Übernahmen<br />

ansässiger Unternehmen in neue<br />

Länder ein und exportiert anschließend<br />

italienische Lebensart in Form von Espresso<br />

Segafredo. In insgesamt 500 Läden weltweit<br />

serviert und verkauft er die Kaffeespezialitäten<br />

inzwischen. „Wir sind sehr flexibel<br />

in der Nutzung der im Konzern vorhandenen<br />

Kompetenzen“, sagt Zanettis Generaldirektor<br />

Pascal Héritier, ein Schweizer.<br />

Barista numero 6<br />

Die zehn größten Kaffeebarbetreiber Europas<br />

Quelle: FoodService<br />

Costa Coffee 1923<br />

McCafé 1856<br />

Starbucks 1698<br />

Tchibo 820<br />

Caffè Nero 618<br />

Segafredo<br />

Shokoladnitsa<br />

Coffeeright<br />

Coffee Republic<br />

Coffee House<br />

Kaffeebars<br />

2013<br />

500<br />

408<br />

252<br />

250<br />

225<br />

GROSSER COUP MIT 25 JAHREN<br />

Beispiel Neuseeland: Im Februar übernahm<br />

Zanetti die Firma EspressoWorkz in<br />

Auckland, die in dem Inselstaat Kaffee und<br />

Kaffeemaschinen vertreibt. Dann schob er<br />

Segafredo ins Sortiment. Im Mai schlug er<br />

in Thailand zu und kaufte den alteingesessenen<br />

Kaffeehersteller und Barausrüster<br />

Boncafé, Marktführer in Südostasien und<br />

den Golfstaaten. Damit stellt Zanetti sich<br />

auf Januar 2016 ein: Dann senkt das neue<br />

Asean-Freihandelsabkommen die Zölle für<br />

Importe aus der Region auf fünf Prozent.<br />

Den Sprung in die Weltliga des Kaffees<br />

hat Zanetti in dritter Familiengeneration<br />

geschafft. 1973, mit 25 Jahren, kaufte er den<br />

Röster Segafredo aus Bologna. Das Traditionsunternehmen<br />

war in Schwierigkeiten,<br />

aber gut etabliert im Geschäft mit der Gastronomie.<br />

Zanetti erkannte, dass das Geheimnis<br />

des Erfolgs weniger in der Kaffeeherstellung<br />

als im Kundenservice liegt. Er<br />

konzentrierte sich auf das Verhältnis zu<br />

den Profis, kümmerte sich um die Betreiber<br />

der Espressobars, kaufte weitere Röstereien<br />

und übernahm den Espressomaschinen-Hersteller<br />

La San Marco im Friaul.<br />

Dann griff Zanetti im Filterkaffee trinkenden<br />

Europa an. In Frankreich legte er<br />

sich den drittgrößten Produzenten Vaudour<br />

Danon zu. Seinem deutschen Geschäftspartner<br />

J.J. Darboven nahm er eine<br />

Rösterei in Salzburg ab. Gleichzeitig baute<br />

er eine Café-Kette auf, um die Marke Segafredo<br />

im Ausland populär zu machen. Der<br />

Startschuss fiel 1985 im französischen Rouen.<br />

Deutschland hat heute 90 Filialen.<br />

In seiner Botschaft an neue Aktionäre<br />

zielt Zanetti vor allem auf die unterentwickelten<br />

Märkte. „In armen Ländern ist der<br />

Kaffeekonsum niedrig. Je stärker sie wachsen<br />

und je reicher sie werden, desto erstrebenswerter<br />

wird das Kaffeetrinken für die<br />

Bürger“, sagt er. Das Vordringen der Kaffeekultur<br />

sorgte im vergangenen Jahrzehnt für<br />

einen Anstieg des globalen Konsums von<br />

90 Millionen auf 142 Millionen Säcke Kaffee.<br />

Die Zukunft des Geschäfts sieht Zanetti<br />

in Teeländern wie Russland, Japan, Indien<br />

und China. Im Internet-Fernsehen im<br />

Reich der Mitte liefen gerade 15 Folgen der<br />

Seifenoper „Funny Coffee“ an, die in einem<br />

Segafredo-Café spielen. Die Schleichwerbung<br />

funktioniert. 41 Millionen Zuschauer<br />

hätten die ersten Episoden gesehen, berichtet<br />

Generaldirektor Héritier.<br />

Zanetti ist Globalisierungsgewinner.<br />

Gleichwohl verpasste er vor gut 25 Jahren<br />

eine große Chance. Damals ließ sich ein<br />

gewisser Howard Schultz von ihm durch<br />

die Segafredo-Rösterei bei Bologna führen.<br />

Den Amerikaner faszinierte die italienische<br />

Barkultur, er kannte auch das Segafredo-Café<br />

in Rouen. Nach seiner Rückkehr<br />

aus Italien gründete er die Kaffeekette Starbucks,<br />

die heute mehr als 20 000 Filialen<br />

hat. Ärgert Zanetti das? „Die Größe ist allein<br />

eine Frage des Geldes“, sagt er. „Starbucks<br />

Erfolg liegt in der Börse begründet.“<br />

Zanetti selbst zieht es an die Börse, um das<br />

Unternehmen fit für die Zukunft zu machen.<br />

Denn der Veneto, Zanettis Heimat,<br />

leidet besonders stark unter verpatzten Generationswechseln<br />

und ruinösen Familienfehden.<br />

„Ich will klare Verhältnisse für<br />

die vierte Generation schaffen.“ Die beiden<br />

Kinder Laura und Matteo sind bereits im<br />

Unternehmen tätig. Zanetti schickt sich an,<br />

35 Prozent der Aktien abzugeben und über<br />

eine Kapitalerhöhung 150 Millionen Euro<br />

in die Konzernkasse zu holen.<br />

Damit schafft er Raum für Wachstumsfantasien.<br />

„Ich schaue nach Afrika“, sagt Zanetti.<br />

Öffneten sich die Länder dort, gebe es<br />

einen ganzen Kontinent zu erobern. n<br />

ulrike sauer | Rom, unternehmen@wiwo.de<br />

FOTOS: PR (3)<br />

66 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Im Schatten der Giganten<br />

ERFOLGSFAKTOREN | Trotz Globalisierung und Kostenvorteilen durch Größe behaupten<br />

sich Mittelständler gegenüber Konzernen. Wie schaffen sie das?<br />

Der Mittelstand ist die „secret<br />

weapon“, die Geheimwaffe<br />

Deutschlands. Zu diesem Befund<br />

kam der US-Journalist<br />

Peter Ross Range, nachdem er<br />

sich wochenlang bei Konzernen, Familienunternehmen<br />

und mittelständischen Betrieben<br />

zwischen Flensburg und dem<br />

Schwarzwald umgesehen hatte. Der Ex-<br />

Korrespondent des „Time Magazine“ wollte<br />

auf seiner Deutschland-Reise ergründen,<br />

warum die deutsche Wirtschaft der<br />

weltweiten Finanzkrise 2008/09 und der<br />

aktuellen Rezession im Euro-Raum trotzte.<br />

Die Antwort des Amerikaners: Es ist „the<br />

German Mittelstand“.<br />

Hinter dem Mythos, den die rund 3,7<br />

Millionen kleinen und mittleren deutschen<br />

Firmen verbreiten, verbirgt sich keine Metaphysik,<br />

sondern ein Bündel betriebswirtschaftlicher<br />

Erfolgsfaktoren. Mittelständische<br />

Unternehmen sind in der Regel flexibler<br />

als Konzerne, weil sie sich schneller neu<br />

organisieren, das Personal besser anpassen<br />

und neue Techniken vielfach auf kurzem<br />

Dienstweg einführen. Denn ihre Entscheidungsstrukturen<br />

sind einfacher und die<br />

Hierarchien flacher. Zudem spielen langfristige<br />

Beziehungen und vielfach informelle<br />

Kontakte zu Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten<br />

oder Banken eine wichtige Rolle.<br />

Daraus hat sich in Deutschland etwas<br />

entwickelt, was wie ein Turbo für die<br />

»<br />

FOTO: LAIF/OLIVER RÜTHER<br />

Spezial | Mittelstand<br />

Zwischen Prinzipien und<br />

Betriebswirtschaft<br />

Alnatura-Chef Rehn<br />

schwört auf die<br />

eigene Firmenkultur<br />

und ständig neue<br />

Produkte<br />

68 Erfolgsfaktoren Was deutsche<br />

Mittelständler so stark macht<br />

70 Alnatura Biodiscount schlägt die<br />

klassischen Ökoläden<br />

72 Germania Fluggesellschaft auf<br />

niedrigem Kostenniveau<br />

76 Tobit Softwareschmiede mit Lust<br />

am schöpferischen Zerstören<br />

78 Eugen Trauth & Söhne<br />

Schokoküsse direkt ab Fabrik<br />

80 Abeking & Rasmussen Schwimmende<br />

Rolls Royce für Betuchte<br />

68 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

»<br />

einzelnen Mitteständler wirkt:sogenannte<br />

Cluster, also Ansammlungen von Firmen,<br />

in denen sich im Umkreis weniger Kilometer<br />

viele erfolgreiche Unternehmen zum gegenseitigen<br />

Nutzen zusammengefunden haben.<br />

Mal sind es Schneidewarenhersteller wie in<br />

der Klingenstadt Solingen bei Düsseldorf,<br />

mal Wälzlagerspezialisten in Schweinfurt in<br />

Unterfranken oder Schließtechnik in Velbert<br />

im Bergischen Land.<br />

BARRIEREN FÜR WETTBEWERBER<br />

Im Extremfall knubbeln sich Weltmarktführer<br />

auf engstem Raum, etwa im Hohenlohischen,<br />

wo der Montagetechnik-<br />

Champion Reinhold Würth residiert, oder<br />

in Ost- und Südwestfalen mit dem Pumpen-<br />

und Ventilhersteller Hora oder dem<br />

rund um den Globus geschätzten Küchenbauer<br />

Siematic. Diese Unternehmen sind<br />

zugleich regional verwurzelt und international<br />

sehr aktiv. Die meisten konzentrieren<br />

sich auf Nischen, haben sich in engem<br />

Kontakt mit ihren Kunden hochgradig<br />

spezialisiert und den Sprung in alle Herren<br />

Länder geschafft. Um sich unersetzlich<br />

zu machen, schicken viele ihre Servicekräfte<br />

gleich mit, um bei Problemen –<br />

ob technischer oder organisatorischer Art<br />

– helfen zu können. Zugleich sind dies<br />

Barrieren für Wettbewerber, die ins gleiche<br />

Geschäft einsteigen wollen.<br />

Auf diese Weise müssen mittelständische<br />

Champions auch nicht zwingend Großunternehmen<br />

fürchten. Wer es geschickt anstellt,<br />

findet ein gedeihliches Leben in Nischen,<br />

die für Konzerne uninteressant sind.<br />

So behauptet sich der Schokoladenhersteller<br />

Halloren aus dem ostdeutschen Halle<br />

erfolgreich gegen Schokoriesen wie Mondelez<br />

(Milka), Storck (Merci) oder Ritter.<br />

Oder die deutsche Minifluggesellschaft<br />

Germania jettet erfolgreich im Windschatten<br />

von Lufthansa und Air Berlin.<br />

Die Geschäftsmodelle überzeugen inzwischen<br />

auch Finanzinvestoren. BWK in<br />

Stuttgart etwa wird zum Januar 2015 <strong>vom</strong><br />

Lebensmittelriesen Nestlé dessen Babykostmarken<br />

Alete und Milasan samt einer<br />

Fabrik übernehmen. Damit treten die<br />

Schwaben gegen den französischen Nahrungsmittelmulti<br />

Danone an, der mit Milupa<br />

und Aptamil auf dem Markt ist, sowie<br />

gegen Drogeriemarktketten wie dm oder<br />

Rossmann, die ihre umsatzstarken Eigenmarken<br />

in die eigenen Regale drücken.<br />

Die WirtschaftsWoche stellt die Erfolgsrezepte<br />

von fünf Mittelständlern aus unterschiedlichen<br />

Branchen vor.<br />

n<br />

mario.brueck@wiwo.de<br />

Grüner Preisbrecher<br />

ALNATURA | Die Biodiscountkette macht mit günstiger gesunder<br />

Ware klassischen Ökoläden das Leben schwer.<br />

Wenn Götz Rehn von seinem Unternehmen<br />

spricht, klingt das, als ginge es um einen<br />

mildtätigen Verein. Lohnkosten bezeichnet<br />

er als Mitarbeitereinkommen,<br />

Fragen nach „seiner“ korrigiert er konsequent<br />

in „unsere“ Firma. Und wirtschaftliches<br />

Handeln ist für ihn ein Akt der Solidarität:<br />

„Man muss erkennen, dass Arbeitsteilung<br />

auch bedeutet, für andere tätig<br />

zu sein. Das ist tatsächlich selbstlos;<br />

dann ist Wirtschaft eigentlich zutiefst altruistisch.“<br />

So abgehoben das Prinzip wirkt, so erfolgreich<br />

ist es bei der Biodiscountkette Alnatura:<br />

mehr als eine halbe Milliarde Euro<br />

Jahresumsatz, Wachstumsraten von zehn<br />

Prozent im Lebensmittelmarkt, zehn neue<br />

Filialen allein 2014, Expansion in die<br />

Schweiz. So liest sich die wirtschaftliche Bilanz<br />

von Alnaturas Selbstlosigkeit. Details<br />

zum Ende September abgelaufenen Geschäftsjahr<br />

nennt Alnatura-Frontmann<br />

Rehn nicht. Nur so viel: „Unsere Marge ist<br />

auskömmlich, das reicht.“<br />

Damit das so bleibt, setzt Alnatura auf einen<br />

Ansatz, der sich sonst eher bei Textilketten<br />

wie Hennes & Mauritz (H&M) oder<br />

Zara besichtigen lässt. Ähnlich wie die Modeunternehmen<br />

ist Alnatura Händler und<br />

Hersteller zugleich. Die Hausmarke Alnatura<br />

gilt als wichtigstes Label in Bioläden.<br />

Bei der Vermarktung seines Vorzeigelabels<br />

geht Alnatura-Gründer und -Chef<br />

Rehn noch weiter. Er verkauft Alnatura-<br />

Produkte nicht nur in eigenen Läden, sondern<br />

auch in denen von Partnern wie der<br />

Drogeriekette dm. Das macht die Marke<br />

bekannter und mindert das Absatzrisiko.<br />

Alnatura beliefert 3600 Verkaufsstellen<br />

in 14 Ländern. Filialgeschäft und Produkthandel<br />

tragen je die Hälfte zum Umsatz<br />

bei. Dieser lag im Geschäftsjahr 2012/13<br />

bei rund 593 Millionen Euro, 15 Prozent<br />

mehr als im Vorjahr. Für das abgeschlossene<br />

Geschäftsjahr geht Rehn erneut von<br />

zweistelligem Wachstum aus.<br />

Gegründet hat er das Unternehmen vor<br />

30 Jahren. „Hätte ich gewusst, wie schwierig<br />

es ist, ein Filialgeschäft aufzubauen,<br />

hätte ich es wohl gelassen“, erzählt Rehn.<br />

Unterstützung kam <strong>vom</strong> damaligen dm-<br />

Chef Götz Werner. „Er sagte ganz klar:<br />

Wenn, dann jetzt“, so Rehn. „Ich war<br />

schließlich schon 35 Jahre alt.“ Werner<br />

zeigte Rehn, worauf es im Filialgeschäft ankommt,<br />

und nahm die Alnatura-Produkte<br />

ins dm-Sortiment auf. Bis heute ist dm<br />

Rehns wichtigster Vertriebspartner. Dane-<br />

FOTO: DDP IMAGES/THOMAS LOHNES<br />

70 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


en werden Alnatura-Produkte auch von<br />

Lokalmatadoren wie der in Osthessen und<br />

Thüringen vertretenen Supermarktkette<br />

Tegut oder von der in Hamburg aktiven<br />

Drogeriekette Budnikowsky verkauft.<br />

„Alnatura kennt die Anforderungen des<br />

Lebensmitteleinzelhandels genau“, sagt<br />

Handelsexperte Thomas Roeb von der<br />

Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und liefert<br />

damit eine Erklärung für den Erfolg.<br />

80 NEUE PRODUKTE PRO JAHR<br />

Ein weiterer Faktor ist die Kundennähe. Direktkontakte<br />

sind für Rehn essenziell. So<br />

veranstaltet er regelmäßige Frage-Antwort-<br />

Runden mit Kunden. Im Gegenzug arbeitet<br />

Alnatura weder mit Marktforschern zusammen,<br />

noch gibt es teure Produkttests.<br />

Rehn: „Manche würden sagen: Wir sind<br />

vollkommen unprofessionell aufgestellt.“<br />

Rehns Konsumentenforschung scheint<br />

aber aufzugehen: Alnatura führt circa 80<br />

neue Produkte pro Jahr ein, davon floppen<br />

nach eigenen Angaben nur zehn Prozent.<br />

Für die Branche ein Spitzenwert. Nach Angaben<br />

des Nürnberger Marktforschers GfK<br />

fallen im Handel mehr als 60 Prozent aller<br />

Produktneueinführungen durch.<br />

ALNATURA<br />

Umsatz: 593 Millionen Euro<br />

Gewinn: Hoher einstelliger Millionenbetrag<br />

(Schätzung)<br />

Beschäftigte: 2200<br />

Erfolgsrezept: Verkauf von ausgewählten<br />

Produkten auch über Wettbewerber<br />

Jeweils neueste verfügbare Daten: hier Stand 2012<br />

Während Wettbewerber auf Zahlen setzten,<br />

bekommt Alnatura laut Rehn durch<br />

direkten Kontakt mit den Konsumenten<br />

ein gutes Gefühl für den Markt. Handelsexperte<br />

Roeb sieht den Erfolg schlicht darin,<br />

dass Alnatura einen kleineren Markt<br />

bedient: „Rewe oder Edeka könnten diesen<br />

Ansatz nicht übernehmen, weil sie eine<br />

größere und differenziertere Kundschaft<br />

haben.“<br />

Allen Aussagen über Kundennähe und<br />

Altruismus zum Trotz:Kleine Bioläden klagen,<br />

sie könnten mit den niedrigen Preisen<br />

von Alnatura nicht mithalten. Zudem<br />

musste sich das Unternehmen vor einigen<br />

Jahren rechtfertigen, warum es teilweise<br />

unter Tariflohn zahlte, etwa in Berlin.<br />

Damals sagte Rehn, er wolle deutschlandweit<br />

die gleiche Bezahlung für gleiche Stellen<br />

– und nicht nach Standort verschiedene<br />

Löhne. Außerdem gebe es für die Belegschaft<br />

zusätzliche kostenlose Leistungen wie<br />

Kunst- und Sportkurse. Die Presse höhnte<br />

daraufhin „Yoga statt Lohn“ oder „Ein Ökokapitalist<br />

sahnt ab“. Der öffentliche Druck<br />

war groß, Alnatura passte die Gehälter an.<br />

In der Zentrale im südhessischen Bickenbach<br />

erinnern hohe Schiefertafeln an<br />

die Grundsätze des Unternehmens: ganzheitlich<br />

denken, kundenorientiert handeln,<br />

selbstverantwortlich sein. „Der Unterschied<br />

von Alnatura liegt in der Haltung<br />

unserer Mitarbeiter: Die haben Interesse<br />

an den Dingen, die wir machen, und wollen<br />

mit der Geschäftsführung zusammenarbeiten“,<br />

so Rehn.<br />

Dies werde vor allem in schwierigen Situationen<br />

deutlich. Kürzlich stellte Alnatura<br />

seine komplette Software um. Rehn:<br />

„Das war eine Riesenleistung. Andere Unternehmen<br />

werden durch so etwas tagelang<br />

stillgelegt.“<br />

»<br />

katharina matheis | unternehmen@wiwo.de<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Unter dem Radar<br />

GERMANIA | Die Fluggesellschaft aus Berlin steuert mit<br />

konkurrenzlos niedrigen Betriebskosten weiter auf Erfolgskurs.<br />

Andreas Wobig orientiert sich mit<br />

Germania an den klassischen Erfolgsrezepten<br />

seiner Branche: Er<br />

sieht sie sich an – und tut meistens das Gegenteil.<br />

Mögen Berater und Chefs führender<br />

Gesellschaften wie Lufthansa den Vorteil<br />

der Größe predigen sowie den Fokus<br />

auf Vielflieger und den Heimatmarkt legen.<br />

Germania aus Berlin meidet Großstädte,<br />

fliegt Urlauber und Geschäftsleute, aber<br />

auch Emigranten aus Osteuropa und dem<br />

Nahen Osten in ihre Heimat. Dabei bedient<br />

sie fast keine Route täglich und hat gleich<br />

zwei Tochterlinien im Ausland, davon als<br />

einzige Linie Europas eine Mehrheitsbeteiligung<br />

in Afrika.<br />

Der Erfolg gibt Wobig Recht. Zwar wollen<br />

sich der 49-Jährige und die Eigentümerfamilie<br />

um die Nachkommen des Gründers<br />

Hinrich Bischoff in bester Mittelständler-<br />

Manier nicht näher zu den Früchten ihres<br />

Tuns äußern. Doch laut der im August veröffentlichten<br />

Bilanz bleiben Germania<br />

2012 im Verbund mit der ebenfalls von Wobig<br />

geleiteten Schwester SAT Fluggesellschaft,<br />

der das Gros der 23 Germania-Jets<br />

gehört, von 260 Millionen Euro Umsatz gut<br />

acht Millionen Gewinn nach Steuern. Das<br />

ist das Dreifache der Lufthansa-Marge.<br />

Das verdankt die mit sechs Millionen<br />

Passagieren nach Lufthansa und Air Berlin<br />

GERMANIA<br />

Umsatz: 230 Millionen Euro/mit<br />

Schwester SAT 260 Millionen Euro<br />

Gewinn: 1 Million Euro/mit Schwester<br />

SAT 8,5 Millionen Euro<br />

Beschäftigte: 850<br />

Erfolgsrezept: Kleine Märkte besetzen<br />

und große Konkurrenten abschrecken<br />

Jeweils neueste verfügbare Daten: hier Stand 2012<br />

drittgrößte deutsche Fluglinie vor allem einer<br />

Stärke: „Sie kann kleine Märkte so<br />

schnell besetzen, dass sie für die Großen<br />

kaum noch attraktiv sind“, heißt es in einer<br />

Analyse des Centre for Aviation, eines auf<br />

die Branche spezialisierten Marktforschers<br />

mit Hauptsitz in Sydney.<br />

Dafür sorgen klassische Mittelstandstugenden,<br />

allen voran die in der extrem<br />

schwankungsanfälligen Fliegerei besonders<br />

wichtige Sparsamkeit. „Germania hat<br />

die wohl niedrigsten Betriebskosten auf<br />

dem Kontinent“, lobt der Hamburger Luftfahrtexperte<br />

Heinrich Großbongardt.<br />

Gründe sind vor allem eine schlanke Verwaltung,<br />

die vergleichsweise bescheidenen<br />

Gehälter und die gute Auslastung der<br />

Flugzeuge.<br />

Knauserigkeit ist das wichtigste Erbe von<br />

Gründer Bischoff. Der 1936 in Erfurt geborene<br />

promovierte Jurist kaufte 1979 die marode<br />

Fluggesellschaft SAT und entdeckte<br />

eine Marktlücke: den Verleih von Flugzeugen<br />

an Fluglinien und andere Unternehmen<br />

mit oder ohne Personal.<br />

Lufthansa-Schreck Germania-Chef<br />

Wobig arbeitet profitabler als der<br />

Marktführer<br />

»<br />

FOTO: MICHAEL HANDELMANN<br />

72 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

»<br />

Dabei ging der wegen seiner Vorliebe für<br />

Pullover und großzügig geschnittene Hosen<br />

anfangs unterschätzte Unternehmer<br />

nicht selten rabiat vor: Wollte ein Großer<br />

wie Lufthansa keine Maschinen abnehmen,<br />

drohte er kurzerhand, ihm auf wichtigen<br />

Strecken Konkurrenz zu machen. „Und<br />

das war mehr als glaubhaft, weil er schon<br />

immer die niedrigsten Kosten hatte, nicht<br />

zuletzt, weil er an sich keine Flugzeugmiete<br />

zahlen musste“, so ein Insider. So brachte<br />

Bischoff seine Flieger nebst Besatzung<br />

auch bei den Konkurrenten Air Berlin, TUI<br />

und Condor unter.<br />

Später reüssierte Germania auch beim<br />

Geschäft mit Flügen für Unternehmen und<br />

Behörden. Als Erstes schnappte sich die Linie<br />

in den Neunzigerjahren den Beamten-<br />

Knausrigkeit<br />

gehört zum<br />

Erbgut der Fluggesellschaft<br />

shuttle, der nach dem Regierungsumzug<br />

von Bonn nach Berlin vor allem Mitarbeiter<br />

des Verteidigungsministeriums hin und<br />

her flog. Später folgte der Werksverkehr<br />

zwischen den beiden großen Fabriken des<br />

Flugzeugherstellers Airbus in Hamburg<br />

und dem südfranzösischen Toulouse.<br />

Weil das Modell nach dem Tod des<br />

Gründers Ende 2005 immer weniger trug,<br />

erfand sich die Linie neu. „Wir können<br />

auch ein paar Dinge, die andere nicht können“,<br />

erzählt Chef Wobig nicht ohne Stolz.<br />

Dazu zählt eine ungewöhnliche Zurückhaltung.<br />

Mögen andere Linien auch ihre<br />

Flotte häufig auf Verdacht aufstocken: „Wir<br />

haben nur so viele Flugzeuge, wie wir das<br />

ganze Jahr über gut und profitabel füllen<br />

können“, sagt der Manager mit markantem<br />

Kinn und Pfadfinder-Haarschnitt.<br />

Zudem streut die Gruppe das Risiko. Neben<br />

der Fliegerei betreibt sie das Wartungsgeschäft,<br />

aber auch Hotels wie das Usedom<br />

Palace an der Ostsee und das Waldhaus<br />

Prieros bei Berlin – ehemals Wohnsitz des<br />

DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck.<br />

Die Vielfalt macht Germania extrem flexibel.<br />

Sollte überraschend ein Reiseveranstalter<br />

ein paar Extraflüge nach Mallorca ordern,<br />

kann sich Wobig – auch dank der Kontakte<br />

der Leasing-Schwester SAT – fast über<br />

Nacht zusätzliche Maschinen besorgen und<br />

diese nahtlos in den Flugplan einfügen. Das<br />

funktioniert nicht zuletzt deshalb, weil Germania<br />

ihre eigenen Jets anders als etwa<br />

Lufthansa und Air Berlin ohne große Besonderheiten<br />

so einrichtet wie das Gros der<br />

im Leihmarkt üblichen Maschinen.<br />

Noch mehr hilft Germania diese Antrittsschnelligkeit,<br />

wenn die Linie künftig<br />

wie geplant vor allem das Geschäft mit Flügen<br />

auf eigene Rechnung ausbaut und dabei<br />

Marktlücken entdeckt. „Und die gibt es<br />

reichlich, wenn man nur genau hinsieht“,<br />

sagt Wobig.<br />

Diese findet er beispielsweise bei Flügen<br />

aus Kleinflughäfen wie Erfurt oder Bremen.<br />

Aus diesen Märkten haben sich Lufthansa<br />

und Air Berlin entweder bei ihrem<br />

Schrumpfkurs zurückgezogen – oder waren<br />

waren nie präsent, wie etwa in Kassel.<br />

Hier finden sich nicht nur kleine Reiseveranstalter<br />

oder Privatkunden, die für einen<br />

bequemen Abflug vor ihrer Haustür gerne<br />

einen Aufpreis zahlen. „Diese Airports sind<br />

dann auch bei Starthilfen wie niedrigeren<br />

Gebühren oder Marketinghilfen so großzügig,<br />

dass für eine Airline mit geringen<br />

Kosten das Risiko gering ist“, weiß der Chef<br />

eines größeren deutschen Airports.<br />

Germania hat auch ein Geschäft aufgebaut,<br />

das sonst fast niemand betreibt: Flüge<br />

für in Europa lebende Emigranten, die<br />

in ihren Heimatländern Geschäfte abwickeln<br />

oder Verwandte und Freunde besuchen<br />

wollen. Im Rahmen dieses „ethnischen<br />

Verkehrs“ steuert Germania aus<br />

mehreren Ländern Europas selten angeflogene<br />

Länder an. Dazu zählen das Kosovo,<br />

Irak, Libanon, der Osten der Türkei sowie –<br />

bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs – Syrien.<br />

„Es ist ein komplexes Geschäft, das für<br />

viele Fluglinien zu aufwendig und am Ende<br />

oft zu klein ist“, sagt Wobig.<br />

MODELL FÜR DEN EXPORT<br />

Für Germania lohnt sich der Aufwand. Die<br />

Berliner verfügen über die nötigen Partner<br />

für den meist abseits in Agenturen oder<br />

über Privatleute laufenden Verkauf der Tickets.<br />

Außerdem haben sie die nötigen<br />

Fachleute im Unternehmen für die in selten<br />

angeflogenen Ländern oft schwierigen<br />

Verhandlungen über die Landerechte.<br />

Inzwischen exportiert Germania ihr Erfolgsmodell.<br />

So fliegt sie für britische Reiseveranstalter<br />

aus Norwich, Manchester<br />

sowie London ans Mittelmeer. „Obwohl<br />

wir Flugbegleiter aus Großbritannien einsetzen,<br />

haben angesichts unseres Namen<br />

anfangs vor allem Weltkriegsveteranen ein<br />

74 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


FOTO: ACTION PRESS/ANDREAS DUNKER<br />

wenig die Nase gerümpft“, erzählt ein Unternehmens-Insider.<br />

„Doch inzwischen<br />

haben wir mit unseren im Vergleich zu anderen<br />

britischen Linien relativ großzügigen<br />

Sitzabständen sogar ein paar Fans gewonnen.“<br />

Von Skandinavien aus bietet Germania<br />

im Rahmen des ethnischen Verkehrs<br />

sogar Verbindungen zu zwei Städten<br />

im Nordirak.<br />

Der bislang größte Sprung war die Gründung<br />

der Fluglinie Gambia Bird im westafrikanischen<br />

Gambia, die vor zwei Jahren<br />

ihren Erstflug hatte. Wobig wundert sich,<br />

dass bislang keine andere europäische Gesellschaft<br />

den Schritt gewagt hat. Zwar ver-<br />

Besondere Klientel Germania fliegt in Europa<br />

lebende Emigranten in deren Heimat<br />

dient die in Banjul ansässige Linie, die zu<br />

30 Prozent afrikanischen Investoren gehört,<br />

noch kein Geld. Aber das soll sich –<br />

nicht zuletzt dank kräftiger Hilfe der deutschen<br />

Partner in Sachen Flugmanagement<br />

– bald ändern. Wobig: „Der Kontinent ist<br />

einer der Wachstumsmärkte der Branche,<br />

und Gambia ist eines der politisch stabilsten<br />

Länder mit einer guten Infrastruktur.“<br />

Aus Wobigs Sicht profitiert Germania<br />

von den Erfahrungen der afrikanischen<br />

Tochter beim Aufbau neuer Strecken, besonders<br />

wenn diese – wie die Routen von<br />

Banjul nach London – über bisher ungewohnt<br />

lange Distanzen gehen.<br />

Der Erfolg hat Wobig zu einem weiteren<br />

Schritt ins Ausland ermuntert. Im Frühjahr<br />

2015 soll eine Schweizer Tochter mit zwei<br />

Maschinen an den Start gehen. Sie soll von<br />

Zürich aus für den Veranstalter Hotelplan<br />

fliegen und Ziele im Kosovo und anderen<br />

südosteuropäischen Staaten anbieten.<br />

Trotz des Erfolgs will Wobig auch künftig<br />

vorsichtig wachsen. „Ich kann mir vorstellen,<br />

unsere Flotte auf 40 Flugzeuge zu erweitern“,<br />

so Wobig. Den Umsatz noch in<br />

diesem Jahrzehnt auf 400 Millionen Euro<br />

pro Jahr zu verdoppeln, sei denkbar.<br />

Eine deutlich sichtbare Nummer drei in<br />

Deutschland werden „ist nicht unser Ziel“,<br />

sagt Wobig. Er verweist darauf, dass der<br />

Höhenflug von Air Berlin endete, als diese<br />

Linie durch die Konkurrenz zu Lufthansa<br />

zwischen Hamburg und Frankfurt zu sichtbar<br />

wurde – und Deutschlands größte<br />

Fluglinie mit Kampfpreisen reagierte.<br />

In diesem Fall befolgt Wobig ausnahmsweise<br />

die Gesetze der Flugbranche.<br />

»<br />

ruediger.kiani-kress@wiwo.de<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Selfmademan Am Ende der Debatte<br />

entscheidet bei Tobit-Vorstandschef Groten<br />

den „jungen Wilden unter 25“, wie er sie<br />

nennt. Wer bei Tobit gearbeitet hat, muss<br />

nicht lange nach einem neuen Job suchen,<br />

der Mittelständler gilt als eines der innovativsten<br />

deutschen IT-Unternehmen.<br />

Groten führt sein Unternehmen wie ein<br />

Start-up, das aber bereits seit 28 Jahren. Er<br />

ist überzeugt: „Sobald man etabliert wird,<br />

hat man verloren!“ Im Alter von zwölf Jahren<br />

begann er, Software für Unternehmen<br />

zu programmieren, 1986 gründete er im Alter<br />

von 18 Jahren Tobit. Kurze Zeit später<br />

brach er die Schullaufbahn ab und widmete<br />

sich ganz dem Unternehmen.<br />

Angefangen hat Tobit mit der Kommunikationssoftware<br />

David für Unternehmen.<br />

Diese bündelt alle Informationsflüsse wie<br />

Fax, E-Mail, SMS, Chatfunktion und Voice-<br />

Mail und packt Inhalte relevanter Internet-<br />

Seiten dazu. Inzwischen baut Tobit auch<br />

Informations-Apps für Unternehmen und<br />

Vereine – von der lokalen Feuerwehr über<br />

die Betreiber von YouTube-Kanälen bis zu<br />

Größen wie dem Fußballbundesligisten<br />

Schalke 04. Rund 200 solcher Miniprogramme<br />

fürs Handy produziert das Unternehmen<br />

jeden Tag. „Bisher haben wir<br />

50 000 Apps erstellt, die insgesamt acht<br />

Millionen Menschen nutzen“, sagt er.<br />

Flexibel und verrückt<br />

TOBIT AG | Das innovative Softwareunternehmen <strong>vom</strong> Niederrhein<br />

setzt auf häufige Wechsel in einer jungen Belegschaft.<br />

Geht es nach Vorstandschef Tobias<br />

Groten, dürften bei Tobit Software in<br />

Ahaus am Niederrhein 75 Prozent<br />

der Mitarbeiter nicht länger als fünf Jahre<br />

bleiben. Wer ein Leben in geregelten Bahnen<br />

will, sollte das Unternehmen nach dieser<br />

Zeit verlassen. Die anderen 25 Prozent,<br />

so die Philospie des Firmenchefs, müssen<br />

möglichst flexibel und verrückt genug sein,<br />

um länger zu bleiben.<br />

„Ständige Zellerneuerung ist das Geheimnis<br />

des Ladens“, sagt Groten, der 89<br />

Prozent der Anteile hält. Der Rest gehört einem<br />

engen Freund sowie Entwicklungschef<br />

Franz-Josef Leuders. Frisches Blut holt<br />

er mit Auszubildenden ins Unternehmen,<br />

UNABHÄNGIGKEIT ÜBER ALLES<br />

Das Geschäft läuft offenbar gut, auch wenn<br />

Groten beteuert, dass es „nie Ziele in Sachen<br />

Umsatz oder Gewinn“ gegeben habe.<br />

2013 habe das Unternehmen rund vier Millionen<br />

Euro Gewinn gemacht und werde<br />

im laufenden Jahr ähnlich abschließen.<br />

2011 setzte Tobit laut Bundesanzeiger<br />

knapp 16 Millionen Euro um und erzielte<br />

einen Nettogewinn von fast zwei Millionen<br />

Euro. Bis Juni 2015 will Groten 100 000<br />

Apps auf den Markt gebracht haben, mit<br />

dann insgesamt 25 Millionen Nutzern.<br />

Der 47-Jährige mit dem zerzausten lockigen<br />

grauen Haar, dem zerknitterten Hemd<br />

über der Jeans und den Turnschuhen<br />

– weiß oder gerne auch in Neon-Orange –<br />

gibt den Nonkonformisten aus dem Bilderbuch.<br />

Knapp 90 Prozent der Aktien hält er<br />

selbst. Kein Kunde kommt auf einen Anteil<br />

von mehr als ein Prozent des Umsatzes.<br />

Das verschafft dem Unternehmer viel Freiheit<br />

bei seinen Entscheidungen. „Unabhängigkeit<br />

steht über allen Dingen“, sagt<br />

Grote, „es ist die Grundlage, um etwas<br />

Neues zu machen.“<br />

FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

76 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


TOBIT<br />

Umsatz: 16 Millionen Euro (2011)<br />

Gewinn: 4 Millionen Euro (2013)<br />

Beschäftigte: 250<br />

Erfolgsrezept: Eine permanente<br />

Frischzellenkur; vieles wird ausprobiert,<br />

vieles aber auch verworfen<br />

Jeweils neueste verfügbare Daten<br />

So kritisiert der Vorstandschef, „wer in<br />

Deutschland eine Idee hat, wird als Allererstes<br />

gefragt: Ist das erlaubt?“. Bei Tobit<br />

frage niemand, was erlaubt sei, und auch<br />

nicht, ob etwas wirtschaftlich sei. Ideen<br />

würden einfach ausprobiert. „Es darf keine<br />

Regeln beim Denken geben“, sagt Grote.<br />

Seine Ideen setzt der IT-Unternehmer im<br />

Entwicklungslabor in Ahaus um. Dort arbeitet<br />

Entwickler Benjamin Gahle. „Tobias<br />

bringt die Idee, wir setzen das um“, sagt der<br />

47-Jährige, der gerade an einem Projekt arbeitet,<br />

bei dem E-Bikes mithilfe des<br />

Smartphones gesteuert werden. Groten<br />

und seine Leute sind zwar „per Du“. Dennoch<br />

„ist der Laden alles andere als demokratisch“,<br />

betont Groten. Einer müsse am<br />

Ende entscheiden.<br />

Dass sich manche Idee als Sackgasse erwies,<br />

stört den Unternehmer nicht. Wenn<br />

etwas nicht funktioniert wie gedacht, dann<br />

stoppt das Enfant terrible die Entwicklung.<br />

Auch Tobit hatte mal eine Nachrichten-<br />

App, noch vor WhatsApp. Dass daraus kein<br />

kommerzieller Erfolg wurde, enttäuscht<br />

Groten nicht: „Man muss sein eigener<br />

Feind und in der Lage sein, auch eigene Sachen<br />

kaputt zu machen.“ Man müsse disruptiv<br />

denken, also in technologischen<br />

Sprüngen.<br />

Grotens unternehmerischer Drang beschränkt<br />

sich nicht auf IT. So hat er den Kinofilm<br />

„Stromberg“ mitfinanziert, ein<br />

Dschungel-Restaurant und einen Nachtclub<br />

eröffnet. Einmal im Jahr veranstaltet<br />

er in Ahaus die Winter-Kirmes Stattalm, die<br />

in sechs Wochen bis zu 200 000 Besucher<br />

anlockt. Seine Partys auf der Computermesse<br />

Cebit in Hannover sind wegen lauter<br />

Musik, Freibier und leicht bekleideten<br />

Tänzerinnen berühmt bis berüchtigt.<br />

Grotens einzige Konstante in seinem Leben<br />

ist die Heimatverbundenheit. In der<br />

30 000-Einwohner-Stadt Ahaus ist er geboren,<br />

hat hier sein Unternehmen und seine<br />

Familie gegründet. Dort will er auch bleiben.<br />

„Ich war noch nie länger als zwei<br />

Wochen aus Ahaus weg“, gesteht er.<br />

In der digitalen Welt gibt sich Groten unangepasst.<br />

So nutzt er Facebook nicht für<br />

die Kontaktpflege oder zum Netzwerken.<br />

Er findet es aber praktisch, sich über dieses<br />

soziale Netzwerk bei vielen Web-Seiten anmelden<br />

zu können, ohne jeweils ein eigenes<br />

Benutzerkonto anlegen zu müssen.<br />

Groten besitzt auch ein Smartphone, ruft<br />

damit aber niemanden an, weil er es als<br />

aufdringlich empfände. Lieber hinterlässt<br />

er eine Textnachricht. Im Sommer hat er es<br />

abgelehnt, sich bei der Ice Bucket Challenge<br />

Wasser mit Eis über den Kopf zu schütten.<br />

Stattdessen spendierte er den Bürgern<br />

von Ahaus 14 000 Kugeln Eis.<br />

Seine Hauptziele habe er schon erreicht,<br />

sagt Groten: „Einen Sohn gezeugt, einen<br />

Baum gepflanzt, ein Haus gebaut.“ Der Rest<br />

sei Bonus, Spaß und Leidenschaft. Tobit zu<br />

verkaufen, komme nicht infrage, Angebote<br />

habe er abgelehnt: „Ich bin keiner für Exits,<br />

eher der nachhaltige, handfeste Typ.“<br />

»<br />

fabian kurmann | unternehmen@wiwo.de<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Mitbringsel aus Amerika Unternehmerin<br />

Trauth erfuhr von der Idee des Fabrikverkaufs<br />

auf einer Rucksacktour durch die USA<br />

Von Mund zu Mund<br />

EUGEN TRAUTH & SÖHNE | Der Pfälzer Schaumkusshersteller überzeugt<br />

Kunden mit Qualität und Direktverkauf in der Fabrik.<br />

Marie-Luise Trauth lehnt an der Verkaufstheke<br />

im Erdgeschoss ihrer<br />

Fabrik und zuckt mit den Achseln.<br />

„Mithalten kann ich mit den Großen nicht“,<br />

sagt die Chefin von Eugen Trauth & Söhne,<br />

„aber das will ich auch nicht.“<br />

Die 62-jährige ist Schaumkusskönigin.<br />

Niemand in ihrer Region im rheinlandpfälzischen<br />

Herxheim bei Landau produziert<br />

und verkauft so viele Schokoküsse wie<br />

Eugen Trauth & Söhne. Der Absatz der luftigen<br />

Süßigkeiten läuft wie geschmiert. Das<br />

Unternehmen sei gesund, der Jahresumsatz<br />

von knapp 619000 Euro im Jahr 2003<br />

auf rund rund 1,1 Millionen Euro 2013 geklettert,<br />

berichtet die Chefin.<br />

Das Königreich der Pfälzerin ist winzig<br />

gegenüber dem Markt, den ihre größten<br />

Konkurrenten Storck und Grabower Süßwaren<br />

mit ihren Marken Dickmann’s und<br />

Topkuss dominieren. Dem Marktforscher<br />

Nielsen zufolge aßen die Deutschen 2013<br />

Schokoküsse im Wert von 87,6 Millionen<br />

Euro. Der Absatz legte zuletzt um 3,7 Prozent<br />

auf 15400 Tonnen zu. Gerade mal 1,2<br />

Prozent davon stammen aus Herxheim.<br />

Dass Trauth sich damit behaupten<br />

kann, liegt am Geschäftsmodell. Sie verkauft<br />

nicht an Händler oder Budenbesitzer,<br />

sondern bietet ihre Schokoküsse im<br />

Direktverkauf an. 200 bis 500 Kunden<br />

kommen täglich vorbei. Dafür musste<br />

Trauth sogar den Parkplatz erweitern.<br />

Manchmal fahren Reisebusse voller<br />

Schaumkussfans vor.<br />

Inhaberin Trauth stammt aus einer Unternehmerfamilie.<br />

Urgroßvater und Vater<br />

waren Bäcker, die den Großhandel mit<br />

Lebkuchengebäck belieferten. In den Siebzigerjahren<br />

wurde der Preiskampf durch<br />

das Vordringen der Supermärkte immer<br />

härter. Als Trauth 1986 die Leitung des Betriebs<br />

übernahm, stellte sie die Firma auf<br />

ein Produkt mit niedrigen Stückzahlen und<br />

hoher Qualität um – auf Schokoküsse.<br />

Wie sie diese verkaufen sollte, lernte die<br />

Einsteigerin auf einer Rucksacktour durch<br />

TRAUTH<br />

Umsatz: 1,1 Millionen Euro<br />

Gewinn: Mehrere Zehntausend Euro<br />

(Schätzung)<br />

Beschäftigte: 13<br />

Erfolgsrezept: Verkauf ausschließlich<br />

in der Fabrik<br />

Jeweils neueste verfügbare Daten: hier Stand 2012<br />

die USA. Dort entdeckte sie Factory Outlets.<br />

Vom Fabrikverkauf „war ich fasziniert.<br />

In Deutschland gab es so etwas nicht. Da<br />

wusste ich, das will ich auch machen.“<br />

Also ließ sie die alte Garage der Fabrik<br />

neu gestalten, eine breite Fensterfront einbauen,<br />

Rohre sichtbar an der Decke anbringen<br />

und moderne Kunst an die Wände<br />

hängen. 1991 eröffnete sie den Fabrikladen.<br />

Leicht sei der Wandel nicht gewesen,<br />

finanziell wie emotional, erzählt die<br />

62-Jährige: „Es war ein schmerzhafter Prozess.“<br />

Zunächst fehlten Aufträge der bisherigen<br />

Großabnehmer. Doch dank Mundpropaganda<br />

finden heute Kunden aus ganz<br />

Süddeutschland den Weg nach Herxheim.<br />

Schnelles Wachstum komme für sie<br />

nicht infrage, sagt Trauth: „Ich möchte lieber<br />

Bestehendes kultivieren.“ Zum Gewinn<br />

will sich die Chefin ebenso wenig äußern<br />

wie die großen Wettbewerber. Lieber zeigt<br />

sie Besuchern ihren Betrieb.<br />

Eine Wendeltreppe führt in die erste Etage.<br />

8000 Schaumküsse pro Stunde spucken<br />

die Maschinen aus, fast fünf Millionen im<br />

Jahr. Neffe Daniel Trauth, von Beruf Lebensmitteltechniker,<br />

überprüft gerade einen<br />

Kühltunnel, in dem sich der flüssige<br />

Schokoüberzug langsam glätten soll. Der<br />

30-jährige Familienspross will den Betrieb<br />

übernehmen, wenn seine Tante in drei Jahren<br />

in den Ruhestand geht. Der Neffe hat<br />

bereits als Jugendlicher mitgearbeitet.<br />

BEIM PREIS KULANT<br />

Unternehmerin Trauth kennt jeden ihrer<br />

13 Mitarbeiter. Eine Arbeiterin steht am<br />

Fließband, packt Schaumküsse in rote<br />

Schachteln und stellt diese in den Lastenaufzug,<br />

der in den Verkaufsraum führt.<br />

Weil die Verpackung nicht die Konkurrenzprodukte<br />

im Regal ausstechen muss, begnügt<br />

sich Trauth mit schlichten roten Kartons<br />

mit weißem Schriftzug. Auf teure Werbung<br />

verzichtet der Kleinbetrieb: „Den<br />

Kunden schmeckt das Produkt so gut, dass<br />

sie es weiterempfehlen.“<br />

Offenbar verfängt auch diese Art der<br />

Mundpropaganda. Im Verkaufsraum stehen<br />

Kartons sortiert nach Schoko, Kokos,<br />

Mokka und Rum. 25 Stück kosten 4,80 Euro.<br />

„Beim Preis sind die Kunden kulant“,<br />

sagt Trauth und schmunzelt: „Doch wehe,<br />

wenn ich an der Rezeptur etwas ändere.“<br />

»<br />

katharina kistler | unternehmen@wiwo.de<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

78 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Steuermann A&R-Chef Schaedla hält<br />

die Werft mit zivilen und militärischen<br />

Aufträgen auf Kurs<br />

Rolls-Royce fürs Meer<br />

ABEKING & RASMUSSEN | Die niedersächsische Werft bedient eine<br />

zahlungskräftige Klientel mit individuell entwickelten Yachten.<br />

Bevor er in See stach, musste der Millionär<br />

aus Amerika aufs platte Land<br />

nach Germany. Dort, in der Wesermarsch<br />

mitten in der niedersächsischen<br />

Provinz, hatte der US-Filmunternehmer<br />

Alexander Dreyfoos seine 41 Meter lange<br />

Motoryacht in Auftrag gegeben: bei Abeking<br />

& Rasmussen (A&R) in Lemwerder.<br />

Mit dem Schiff wollte er sich endlich seinen<br />

Traum erfüllen: eine Reise über die<br />

Weltmeere.<br />

Dass der Amerikaner den Edelkahn im<br />

Wert eines mittleren zweistelligen Millionenbetrags<br />

letztlich bei A&R orderte, lag an<br />

seiner Frau Renate. Denn die wird leicht seekrank.<br />

Um Passagiere wie sie bei Laune zu<br />

halten, haben die Niedersachsen eine Technologie<br />

im Programm, die Yachten bei hohen<br />

Wellen ruhig im Wasser liegen lässt. Das<br />

können sonst nur Arbeitsschiffe, die etwa<br />

Windparks auf hoher See anfahren. „Für einen<br />

stolzen Preis“, sagte Dreyfoos, als er den<br />

Kaufvertrag unterschrieb, „aber die Scheidung<br />

von meiner Frau wäre viel teurer.“<br />

Mit Sonderanfertigungen wie Dreyfoos’<br />

Silver Cloud, die vor sechs Jahren <strong>vom</strong> Stapel<br />

lief, ist es den Niedersachsen gelungen,<br />

aus A&R ein Synonym für mondäne<br />

Superyachten und elegant-schnittige<br />

Schiffe made in Germany zu machen. Das<br />

mittelständische Unternehmen gehört<br />

zum handverlesenen Kreis von Werften<br />

ABEKING<br />

Umsatz: 170 Millionen Euro<br />

Gewinn: 20 Millionen Euro<br />

Beschäftigte: 430<br />

Erfolgsrezept: Technologie aus<br />

anderen Feldern nutzen<br />

Jeweils neueste verfügbare Daten: hier Stand 2012<br />

weltweit, die für gutes Geld eine zahlungskräftige<br />

Klientel mit individuellen hochseetüchtigen<br />

Motor- und Segelyachten<br />

der Spitzenklasse ausstatten.<br />

„Rolls-Royce unter den Schiffen“ nennen<br />

Branchenkenner die noblen Wassergefährte<br />

aus Lemwerder. Neben Yachten<br />

baut die Werft auch Lotsenfähren, Arbeitsschiffe<br />

für Forschungsexpeditionen<br />

und den Offshore-Windparkservice sowie<br />

Minen- und Patrouillenboote für die Bundeswehr.<br />

Schon seit Kaisers Zeiten ist die<br />

Marine Kunde.<br />

„Obwohl das sehr unterschiedliche Felder<br />

sind, gibt es in der Entwicklung immer<br />

wieder Synergieeffekte“, sagt Technikvorstand<br />

Karsten Fach. Soll heißen: Das Unternehmen<br />

kann eine Innovation für ein<br />

bestimmtes Schiff auch in anderen Modellen<br />

einsetzen und damit die Kosten auf<br />

mehrere Exemplare umlegen. Minenräumboote<br />

zum Beispiel müssen besonders<br />

leise sein, weil Sprengladungen auf<br />

akustische Reize reagieren. Mit der Technik<br />

für solche Schiffe rüstet A&R auch geräuscharme<br />

Privatyachten aus.<br />

Der Däne Henry Rasmussen gründete<br />

die Werft 1907 mit seinem damaligen Kompagnon<br />

namens Georg Abeking, der in den<br />

Zwanzigerjahren aus dem Unterneh-<br />

»<br />

FOTO: PR<br />

80 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Mittelstand<br />

Maßarbeit Bootsbauer A&R aus Lemwerder<br />

liefert Spitzentechnik und bietet seinen<br />

Kunden auch weltweiten Notfall-Service<br />

»<br />

men ausstieg. Baute die Werft anfangs<br />

nur kleine Segeljollen, kamen zunehmend<br />

auch größere Schiffe und schließlich Segelyachten<br />

sowie Spezialanfertigungen hinzu,<br />

die den internationalen Ruf des Unternehmens<br />

begründeten.<br />

Den Drang zu ständigen Innovationen<br />

brachte Gründer Rasmussen mit, der seine<br />

Mitarbeiter ständig neue Ideen ausprobieren<br />

ließ. So baute A&R als erste Werft in<br />

den Sechzigerjahren eine vollgeschweißte<br />

Yacht aus Aluminium. Auch die in Seglerkreisen<br />

legendäre Yacht Germania VI aus<br />

dem Jahr 1967 für den letzten familieneigenen<br />

Chef der einstigen deutschen Waffenschmiede<br />

Krupp, Alfried Krupp von<br />

Bohlen und Halbach, stammte von A&R.<br />

Weitere prominente Kunden waren auch<br />

der Multimilliardär Karim Aga Khan sowie<br />

der 2003 verstorbene Fiat-Patriarch Giovanni<br />

Agnelli.<br />

Mehr als 50 Jahre lang war es Rasmussens<br />

Enkel Hermann Schaedla, der für einen<br />

steten Fluss neuer Ideen im Unternehmen<br />

sorgte. Er wuchs in Kalifornien<br />

auf und studierte in Stanford. Nach einem<br />

Besuch bei seinem Großvater blieb er in<br />

Deutschland und absolvierte eine Lehre<br />

zum Bootsbauer. Als Henry Rasmussen<br />

1959 starb, übertrug er den Betrieb seinem<br />

Enkel.<br />

Anders als sein Großvater hatte er zwar<br />

nicht als Unternehmensgründer reüssiert,<br />

Von 170 Millionen<br />

Euro Umsatz bleiben<br />

gut 20 Millionen<br />

Euro Gewinn<br />

sondern kam als Quereinsteiger ins Unternehmen.<br />

Gleichwohl entwickelte Schaedla<br />

den Betrieb geschickt weiter. So brachte er<br />

Ende der Neunzigerjahre das alte,<br />

schon in Vergessenheit geratene<br />

Bootskonzept des „Small Waterplane<br />

Area Twin Hull“ (kurz:<br />

Swath) zur Marktreife.<br />

Schiffe, die einen solchen<br />

„Doppelrumpf mit wenig Angriffsfläche<br />

im Wasser“ besitzen,<br />

liegen vor allem bei stürmischer<br />

Fotos<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n sehen<br />

Sie Luxusyachten<br />

von Abeking &<br />

Rasmussen<br />

See stabiler im Wasser. Das ist etwa für Lotsenschiffe<br />

wichtig – aber auch für Kunden<br />

wie den Filmunternehmer Dreyfoos und<br />

dessen Gattin. A&R gilt in diesem Bereich<br />

als Weltmarktführer.<br />

Für Kontinuität in Lemwerder sorgt die<br />

Konstanz der Familie als Eigentümer. 1987<br />

trat Hermann Schaedlas Sohn Hans in die<br />

Firma ein. Er ist heute Vorstandsvorsitzender<br />

der nicht börsennotierten Aktiengesellschaft.<br />

Um das operative Geschäft kümmern<br />

sich drei Vorstände. „Die Chefs gehen<br />

noch durch die Werkshallen und kennen<br />

den Großteil der langjährigen Mitarbeiter.<br />

Denn wir arbeiten in flachen<br />

Hierarchien“, sagt Technikvorstand<br />

Fach. „Wer eine Idee<br />

hat, stellt sie vor. Und wenn sie<br />

trägt, wird sie umgesetzt.“<br />

Anders als bei einer Konzernwerft<br />

können Kunden individuelle<br />

Änderungswünsche auch direkt<br />

mit der Unternehmensfüh-<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


ung besprechen. A&R bietet nicht nur<br />

Spitzentechnologie, sondern verkauft auch<br />

den Service mit. Hat ein Kunde auf einem<br />

Törn eine Panne, fliegen die Mitarbeiter<br />

des Kundendienstes im Notfall rund um<br />

die Welt, um ihn aus seiner misslichen Lage<br />

zu befreien.<br />

Das zahlt sich für A & R aus. 2012 haben<br />

die 430 Mitarbeiter, von denen 100 Ingenieure<br />

sind, laut Bundesanzeiger bei einem<br />

Umsatz von rund 170 Millionen Euro<br />

gut 20 Millionen Gewinn nach Steuern eingefahren.<br />

Und im Jahr 2013 – die Bilanz erscheint<br />

frühestens zum Jahreswechsel – lief<br />

es ebenso gut.<br />

Während der großen Schiffbaukrise 2008<br />

lag der Umsatz sogar bei 240 Millionen Euro,<br />

aber der Gewinn sackte auf knapp vier<br />

Millionen Euro. Damals gingen reihenweise<br />

Unternehmen der maritimen Industrie<br />

pleite, wie die P+S Werft in Stralsund. Oder<br />

sie mussten wie die Meyer Werft in Papenburg<br />

Spar- und Sanierungsprogramme<br />

auflegen. Zu lange hatten mittlere und größere<br />

Konkurrenten versucht, mit falschen<br />

Produkten wie Containerschiffen oder<br />

Fähren auf dem hart umkämpften Weltmarkt<br />

mitzuhalten.<br />

AUCH DAS MILITÄR BESTELLT<br />

Eine Besonderheit sind bei A&R Kriegsschiffe<br />

– etwa Minensuchboote für die<br />

Bundeswehr und Patroullienboote für die<br />

Türkei, Südafrika und Lettland. Die Bestellungen<br />

der Militärs stabilisieren das Geschäft,<br />

weil diese Aufträge in der Regel<br />

langfristiger vergeben werden als Bestellungen<br />

von zivilen Kunden. „Da es bei öffentlichen<br />

Ausschreibungen zunehmend<br />

auf technische Anforderungen und nicht<br />

mehr allein auf den Preis ankommt, haben<br />

auch Premiumhersteller wie wir eine<br />

Chance“, sagt dazu Technikvorstand Fach.<br />

Derzeit sind allerdings eher die Yachten<br />

die Umsatzbringer. In der Werkshalle stehen<br />

unter den Baunummern 6498 und<br />

6499 zwei riesige Rümpfe, so groß wie<br />

Wohnblöcke. Während Arbeiter die<br />

Schweißnähte mit Spachtelmasse überziehen,<br />

trocknet anderswo der Lack. Bis die<br />

80-Meter-Motoryachten aus den Hallen<br />

bugsiert und auf der Weser zu Wasser gelassen<br />

werden, dauert es noch. Und wem<br />

sie gehören, ist Betriebsgeheimnis. Auftraggeber<br />

schätzen es nicht, wenn zu viel<br />

über ihren schwimmenden Reichtum bekannt<br />

wird. Die Eheleute Dreyfoos, die mit<br />

der Silver Cloud über die Weltmeere fahren,<br />

sind da eine Ausnahme.<br />

n<br />

annkathrin frind | unternehmen@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 83<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Spezial | Stichwort<br />

Heiße Geschäfte<br />

Mittelständler – hier Stahlbearbeitung<br />

bei Wuppermann – erleben im Osten<br />

manche Überraschung<br />

Milka und Gummibärchen<br />

Wie Mittelständler Probleme bei Firmenübernahmen in Osteuropa und Asien überwinden, schildert<br />

der vierte Teil der Serie in Kooperation mit der Unternehmensberatung Deloitte.<br />

Es sollte ein Weg in neue Zeiten sein, in neue<br />

Märkte, kurz: in die Globalisierung. Doch dieser<br />

Weg führte Carl Ludwig Theodor Wuppermann<br />

über altes Kopfsteinpflaster. Klar, die Kapelle<br />

zu seiner Linken und die Weite der Felder zur Rechten<br />

waren malerisch. Aber als sein Auto wie ein Fischerboot<br />

bei Wellengang durch die Landschaft<br />

schaukelte, fragte sich Wuppermann: „Wie in aller<br />

Welt sollen hier unsere Laster mit Tausenden Tonnen<br />

Stahl langfahren?“<br />

Das Ziel des Stahlunternehmers hieß Malomice,<br />

ein verschlafenes polnisches Dörfchen wenige Kilometer<br />

hinter der deutschen Grenze. Losgefahren war<br />

er in Leverkusen, wo die Wuppermann AG ihren Sitz<br />

hat, ein Mittelständler mit 1300 Beschäftigten und einem<br />

Jahresumsatz von mehr als 500 Millionen Euro.<br />

Unternehmer Wuppermann wollte auf den polnischen<br />

Markt, indem er dort ein Werk kaufte, statt wie<br />

zuvor einen eigenen Vertrieb in Rumänien oder eine<br />

eigene Fertigung in Tschechien neu aufzuziehen.<br />

Nach Jahren des Zauderns und Abwartens ist „Outbound-M&A“,<br />

wie Fusionen und Firmenübernahmen<br />

im Ausland auch heißen, im deutschen Mittelstand<br />

wieder in Mode gekommen. Noch bis 2013<br />

ging es abwärts, wie eine Auswertung der „M&A Database“<br />

der Universität St. Gallen zeigt. Doch 2014<br />

haben die Unternehmen die Scheu, die seit der Fi-<br />

SERIE<br />

Mittelstand<br />

Fit for Future<br />

Fusionen & Übernahmen<br />

Der richtige Partner (I)<br />

Finanzinvestoren (II)<br />

Finanzierung (III)<br />

Osteuropa/Asien (IV)<br />

Integration (V)<br />

Interview (VI)<br />

nanzkrise 2008 grassierte, überwunden. Sie wagen<br />

vermehrt wieder den Sprung ins Ausland, etwa nach<br />

Osteuropa und Asien.<br />

„Deutsche Übernahmen haben in China zuletzt<br />

massiv zugenommen“, sagt Mike Braun, China-Experte<br />

des Prüfungs- und Beratungsunternehmens<br />

Deloitte. Aber nicht nur dort, ergänzt Martin Petsch<br />

von der Volks- und Raiffeisenbank-Tochter VR Corporate<br />

Finance, die sich auf Übernahmen und Fusionen<br />

spezialisiert hat: „In Polen ist zurzeit richtig Musik<br />

drin.“<br />

Ein besonders engagierter Vertreter der neuen Ostgänger<br />

ist der Mittelständler Edelmann in Baden-<br />

Württemberg, der mit Verpackungen im vergangenen<br />

Jahr mehr als 220 Millionen Euro Umsatz erzielt hat.<br />

Dierk Schröder, Geschäftsführer und Chef von 2200<br />

Mitarbeitern, brachte es in den vergangenen zehn<br />

Jahren auf rund 30 Unternehmensübernahmen. Er<br />

ging nach China und nach Polen, und immer Knall<br />

auf Fall. Wenn seine Abnehmer ihre Produktion gen<br />

Osten verlagern, ist für Schröder klar: Er muss mitziehen,<br />

sonst kaufen die Unternehmen seine Faltschachteln<br />

bei der Konkurrenz. „Bei uns“, sagt der<br />

Unternehmer, „gehören Unternehmensübernahmen<br />

zur Philosophie.“<br />

Aus Sicht von Markus Reichel liegen die Vorteile<br />

von Übernahmen durch Mittelständler auf der Hand.<br />

FOTOS: PR (2)<br />

84 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Mit Unterstützung von Deloitte*<br />

»Unternehmen<br />

sollten<br />

sich ein<br />

hässliches<br />

Entlein<br />

zum Aufpolieren<br />

suchen«<br />

China-Experte<br />

Mike Braun von Deloitte<br />

Go east<br />

Firmenübernahmen und<br />

-fusionen deutscher<br />

Unternehmen in Osteuropa<br />

und Asien<br />

(2004–2013)<br />

Osteuropa<br />

(ohne Russland)<br />

Asien<br />

(ohne China)<br />

China<br />

Russland<br />

Quelle: Universität<br />

St. Gallen<br />

53<br />

139<br />

122<br />

102<br />

„Mit einer Akquisition kaufen Sie sich einen Markt, eine<br />

Marke, Kunden und Kontakte“, sagt der Vertreter<br />

des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft in<br />

Polen. „Das geht gerade im Ausland viel schneller, als<br />

selbst zu bauen.“<br />

Doch wie auf die Schnelle ein geeignetes Unternehmen<br />

finden? Im Inland ist das kein Problem, da<br />

kennen Unternehmer wie Faltschachtelproduzent<br />

Schröder Wettbewerber, Zulieferer und Abnehmer.<br />

Aber im Ausland?<br />

Schröders Problem ist Brauns Geschäft. Der Deloitte-Berater<br />

vermittelt Firmen Partner wie Ehestifter<br />

Gatten oder Gattinnen. „Mittelständisches Unternehmen<br />

sucht attraktive chinesische Partnerin“, so und<br />

ähnlich lauten die Kontaktanzeigen in seinem Business.<br />

Braun erzählt von Unternehmern, die ihre<br />

Branche bei Alibaba eingeben – und hoffen, dass die<br />

chinesische Online-Handelsplattform ein passendes<br />

Unternehmen auswirft. Andere Mittelständler suchten<br />

das perfekte Unternehmen zum niedrigsten Preis<br />

– als sei China der Wühltisch im globalen Unternehmenskaufhaus.<br />

Braun geht lieber systematisch vor und beginnt mit<br />

der „Primärdatenerhebung“, wie er sagt. Dazu verlässt<br />

er seinen Schreibtisch, spricht mit Außenhandelskammern,<br />

Verbänden, Lieferanten und Kunden.<br />

„Unternehmen sollten keinen eleganten Schwan suchen,<br />

sondern ein hässliches Entlein, das sie aufpolieren<br />

müssen“, rät Braun. Allerdings gehöre dazu<br />

auch der Blick für faule Eier: Hinterzieht das Unternehmen<br />

Steuern? Gehört ihm tatsächlich der gesamte<br />

Grund? Müssen europäische Sicherheitsstandards<br />

erst teuer umgesetzt werden? Solche Probleme seien<br />

in China Alltag, sagt der Experte.<br />

Unternehmen Wuppermann ist vor drei Jahren<br />

fündig geworden und berichtete vergangenes Jahr auf<br />

dem Mittelstandstag der FOM-Hochschule in Essen<br />

<strong>vom</strong> Geschäftsalltag im Osten. Gemein sei Polen und<br />

China das große Wirtschaftswachstum, dozierte der<br />

Mittelständler, aber sonst trenne sie vieles. Während<br />

Polen etwa Rechtssicherheit biete, zuckten Chinesen<br />

da oft nur mit den Achseln.<br />

So schwärmte Wuppermann auf der einen Seite<br />

davon, wie er das polnische Stahlwerk der insolventen<br />

Alpos-Gruppe in Malomice ersteigerte. Das habe<br />

sich gelohnt, weil das polnische Insolvenzrecht in solchen<br />

Fällen jegliche Folgekosten von vornherein ausschließe.<br />

Andererseits musste Wuppermann viele<br />

Fragen beantworten: Was sollte er mit dem Klärwerk<br />

anfangen, das auch zur Stahlfabrik gehörte? Und wie<br />

sollte er in der polnischen Provinz genügend Fachkräfte<br />

finden?<br />

„Wir hatten einfach Glück“, sagt Wuppermann heute.<br />

Aber er hatte auch ein paar gute Ideen: Schon vor<br />

der Auktion fragte er den ehemaligen Werksleiter, ob<br />

dieser nicht Lust habe, das Werk wieder ans Laufen zu<br />

bringen – der Mann hatte. Schon vor der Auktion verhandelte<br />

Wuppermann mit der Gemeinde, ob sie<br />

nicht das Klärwerk für einen symbolischen Zloty kaufen<br />

wolle – sie wollte. Am Ende brachte die Kommune<br />

auf dem Kopfsteinpflaster sogar eine Teerdecke auf.<br />

Längst nicht so glatt ging es 840 Kilometer westlich,<br />

am Edelmann-Firmensitz in Heidenheim an der<br />

Brenz. Firmenchef Schröder verhandelte mit den Managern<br />

des chinesischen Verpackungsherstellers Beijing<br />

Theis Pharmaceutical Packaging and Printing<br />

aus Peking. Einer der neuralgischen Punkte war die<br />

Frage nach dem in China illegalen Dreischichtbetrieb.<br />

Die chinesischen Manager lächelten freundlich,<br />

auch als sie im Laufe der Verhandlungen einräumen<br />

mussten, dass Teile des Grundstücks dem Unternehmen<br />

gar nicht gehörten.<br />

Als Schröder daraufhin einen Preisnachlass raushandeln<br />

wollte, lächelten die Chinesen nicht mehr.<br />

Sechs Stunden musste er neben dem Kaufpreis über<br />

mögliche Abfindungen für die jetzigen Manager streiten<br />

oder darüber, wer künftig welchen Dienstwagen<br />

fahren darf. Am Ende war Schröder zufrieden und<br />

kam zu seinem Werk für Medikamentenschachteln in<br />

China.<br />

Dabei beherzigte der Schwabe offenbar, was Experten<br />

Mittelständlern bei Übernahmen in Ländern wie<br />

China und Polen empfehlen. Sie sollten sich bei Verhandlungen<br />

auf keinen Fall ausschließlich auf den<br />

Preis konzentrieren, sondern ein umfassendes Paket<br />

schnüren. So empfehle es sich, die persönliche Situation<br />

des veräußernden Eigentümers und der Eigentümerfamilie<br />

zu berücksichtigen, meint Deloitte-Berater<br />

Braun: „Das besondere Verständnis der Situation<br />

außerhalb der rein kaufmännischen Denkweise führt<br />

in diesen Ländern oft erst zu einem Zuschlag und darüber<br />

hinaus zu einem angemessenen Kaufpreis.“<br />

Oft fängt die eigentliche Arbeit erst nach der Einigung<br />

an. „Der Vertragsabschluss ist nicht das Ende einer<br />

Übernahme, sondern der Anfang“, sagt Stahlunternehmer<br />

Wuppermann. Denn es gelte, ein fremdes<br />

Unternehmen in die eigenen Strukturen einzupassen,<br />

den Spagat zwischen Hierarchie und Autonomie<br />

der neuen Tochter zu schaffen und die fremde Belegschaft<br />

mitzunehmen. Seine immerhin 70 neuen Mitarbeiter<br />

in Polen etwa sprachen kaum Deutsch.<br />

Östlich der Neiße wollten die Arbeiter nicht verstehen,<br />

wieso sie unter ihrem neuen Eigentümer schneller<br />

arbeiten sollten. „Sozialistische Altlasten“, vermutet<br />

Wuppermann als Ursache: „Das wird sich schon<br />

lösen.“ Er setzt darauf, dass sein neuer Ableger das<br />

Problem lösen wird: „Wir sind eine Unternehmensgruppe<br />

mit vielen kleinen Standorten, mit Zentralismus<br />

haben wir wenig zu tun.“<br />

Verpackungshersteller Schröder hat seine neue Fabrik<br />

in Peking zum „Klein-Heidenheim“ umgestaltet,<br />

wie er sagt. Dazu habe er den Maschinenpark auf Vordermann<br />

gebracht – und die Mitarbeiter mit Gummibärchen<br />

und Milka-Schokolade aufgemuntert. n<br />

victor gojdka | unternehmen@wiwo.de<br />

* Die Inhalte auf diesen Seiten wurden von der<br />

WirtschaftsWoche redaktionell unabhängig erstellt.<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 85<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

Meister des Augenblicks<br />

FOTOGRAFIE | Sie sind schnell, lichtstark und extrem kompakt. Mit einer neuen<br />

Generation von High-End-Kameras gewinnen Nikon, Canon und Co.<br />

neue Käufer – und finden endlich eine Antwort auf den Boom der Smartphones.<br />

Elf Stunden war Bernd Ritschel<br />

Anfang Oktober auf dem Oltroggeweg<br />

überm Tiroler Ötztal unterwegs<br />

– seine Kamera ständig<br />

im Anschlag. Was den Profifotografen<br />

durch die steilen Bergflanken in bis<br />

zu 3000 Meter Höhe trieb, war nicht Lust an<br />

herbstlichen Alpenpanoramen, sondern<br />

der Auftrag eines Kunden: Für den lokalen<br />

Tourismusverband sollte der 50-jährige<br />

Bayer eine Bilderserie übers hochalpine<br />

Bergwandern und Bergsteigen schießen.<br />

„Mit den üblichen Profikameras wäre die<br />

Zwölf-Kilometer-Tour ein echter Kraftakt<br />

geworden“, sagt Ritschel, der statt zur klassischen<br />

Spiegelreflex zur handlichen Fujifilm<br />

X-T1 griff. „Die liefert selbst für Werbeposter<br />

eine vergleichbare Qualität wie eine<br />

Große – und ist nicht mal halb so schwer.“<br />

Klein, aber fein, dieser Trend erfasst<br />

nicht nur Profis. Auch Amateure begeistern<br />

sich für die Kombi aus erstklassiger Bildqualität<br />

und handlichem Kameraformat.<br />

Sie sind der mitunter lausigen Ergebnisse<br />

klassischer Kompakter überdrüssig – und<br />

haben zugleich keine Lust, sich bei kreativen<br />

Fototouren die Schulter an klobigen<br />

Spiegelreflex-Boliden zu verheben.<br />

Deshalb greifen immer mehr Fotofreunde<br />

zu einer neuen Produktgattung, für die<br />

weder Handel noch Hersteller bisher einen<br />

griffigen Namen gefunden haben: Sie sprechen<br />

von Edel-Kompakten, Kreativkameras<br />

oder schlicht von der neuen Ein-Zoll-<br />

Klasse. Sie ist benannt nach ihren Fotosensoren,<br />

die mit meist einem Zoll Diagonale –<br />

gut zweieinhalb Zentimetern – vier- bis<br />

fünfmal größer sind als die bisher üblicherweise<br />

in Kompaktknipsen verbauten Bildchips<br />

(siehe Grafik).<br />

1,2<br />

1,0<br />

0,8<br />

0,6<br />

0,4<br />

0,2<br />

Lieber kleiner<br />

In der Oberklasse wächst die Nachfrage nach<br />

handlichen Kameratypen (in Mio. Stück)<br />

1,2<br />

1,0<br />

0,8<br />

0,6<br />

0,4<br />

0,2<br />

Klasse statt Masse<br />

Die Umsätze mit hochwertigen Kameratypen<br />

steigen (in Mrd. Euro)<br />

0<br />

0<br />

Spiegelreflex, Systemkameras<br />

Systemkameras<br />

2010<br />

Optische Sensibelchen<br />

Größenvergleich aktueller Fotosensoren<br />

(typische Kameraklassen)<br />

Profikameras<br />

Spiegelreflex<br />

Systemkameras<br />

Edel-Kompakte<br />

Kompaktkameras<br />

Top-Smartphones<br />

Spiegelreflex<br />

2011 2012 2013 2014*<br />

Vollformat<br />

Ein Zoll<br />

* Prognose; Quelle: GfK, ProPhoto, eigene Berechnung<br />

Kompaktkameras<br />

2010 2011 2012 2013 2014*<br />

Ob Canon, Nikon oder Sony – fast jeder<br />

wichtige Hersteller startet in diesen Tagen<br />

mit einer entsprechenden Kamera ins umsatzstarke<br />

Weihnachtsquartal. Und fast alle<br />

neuen Modelle vereint – neben den deutlich<br />

empfindlicheren Sensoren und der<br />

kompakten Bauform –, dass sie in der Regel<br />

mit wesentlich lichtstärkeren Objektiven<br />

ausgerüstet sind (siehe Seite 88).<br />

Weil sich zudem von der Blende übers<br />

Scharfstellen bis zur Belichtungszeit sämtliche<br />

Einstellungen auch per Hand steuern<br />

lassen, eröffnen die Kameras alle Möglichkeiten<br />

kreativer Bildgestaltung.<br />

WACHSTUM IN DER NEUEN MITTE<br />

Die neue High-End-Kompaktklasse ist ein<br />

Lichtblick für die von sinkenden Umsatzund<br />

Stückzahlen gebeutelte Fotobranche:<br />

Denn während der Boom der Smartphones<br />

das Geschäft mit traditionellen<br />

Kompaktkameras hat kollabieren lassen<br />

und die Nachfrage nach Spiegelreflexkameras<br />

sinkt, entpuppen sich die Edel-<br />

Kompakten als neuer Wachstumsmarkt.<br />

Trotz ihrer, verglichen mit klassischen<br />

Kompakten, merklich höheren Preise von<br />

500 bis 1000 Euro zieht deren Absatz an<br />

(siehe Grafiken). Und das, obwohl so mancher<br />

Händler fürs gleiche Geld auch respektable<br />

Spiegelreflexmodelle offeriert.<br />

„Die Käufer sind inzwischen offenbar<br />

bereit, auch bei Kompaktkameras für langlebigere<br />

und höherwertige Modelle tiefer<br />

in die Tasche zu greifen“, freut sich Sun<br />

Hong Lim, Kamera-Vertriebschef beim koreanischen<br />

Elektronikriesen Samsung.<br />

„Die Verkaufszahlen der edlen Kompakten<br />

haben im Vergleich zum Vorjahr um rund<br />

die Hälfte zugelegt.“<br />

FOTO: CORBIS IMAGES/OCEAN/CHRIS TOBIN<br />

86 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Edle Blickfänger Immer<br />

mehr Fotofans greifen<br />

unterwegs zu High-End-<br />

Kompaktkameras<br />

Der Trend schlägt sich auch deutlich im<br />

Durchschnittspreis aller verkauften Kameras<br />

nieder. Allein in den vergangenen fünf<br />

Jahren stieg der um rund ein Drittel auf<br />

heute knapp 280 Euro. Dadurch sind die<br />

Folgen des Strukturwandels in der Branche<br />

weniger dramatisch, als es zunächst<br />

scheint: So kauften die Deutschen 2013<br />

zwar gut 13 Prozent weniger Kameras als<br />

im Vorjahr, doch der Branchenumsatz fiel<br />

nur um fünf Prozent.<br />

Weil die Marge der teureren Kameras<br />

meist deutlich größer ist als bei den Billig-<br />

modellen für den Grabbeltisch im Elektronikmarkt,<br />

steigt bei vielen Herstellern sotive<br />

Fotografieren wie etwa das Spiel mit<br />

entdeckt haben und die sich jetzt fürs kreagar<br />

die Profitabilität. „Manchem Manager der Tiefenschärfe begeistern“, sagt Profifotograf<br />

Ritschel.<br />

kommt die Entwicklung also durchaus gelegen“,<br />

sagt Ralf Spoerer, mit Ralfs-Foto- Auch darum kritisiert er scharf, wie die<br />

Bude.de einer der bekanntesten deutschen Produktstrategen der traditionellen Fotoriesen<br />

bisher auf die Handykonkurrenz<br />

Fotoblogger.<br />

Vor allem aber belegt die neue Produktklasse,<br />

dass der Boom der Smartphones er Kompakter im Halbjahrestakt, mit im-<br />

reagierten: „Die Antwort war eine Flut neu-<br />

nicht zwangsläufig das Ende traditionellen mer neuen Pixelrekorden statt einem klaren<br />

Fokus auf die Bildqualität“, moniert Rit-<br />

Kamerabaus bedeuten muss. „In meine<br />

Workshops kommen zunehmend junge schel. Jetzt aber mache sich in der Industrie<br />

endlich die Erkenntnis breit, dass Leute, die übers Handy ihre Liebe zum Bild »<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 87<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

»<br />

sich Fotoapparate nur durch Qualität<br />

und kreative Aufnahmemöglichkeiten von<br />

den Smartphones absetzen können, so<br />

der Fotoprofi. „Das braucht auch deutlich<br />

größere Bildsensoren, als die<br />

auf schlanke Baugröße getrimmten<br />

Handys sie bieten<br />

können.“<br />

NX<br />

Samsung<br />

mini<br />

Inzwischen sehen<br />

das auch prominente<br />

Vertreter der traditionellen<br />

Fotowelt so.<br />

„Erst hat die Branche<br />

Smartphones als Konkurrenz<br />

ignoriert und<br />

dann zu lange als Gegner<br />

betrachtet“, sagt etwa Canons<br />

Europachef, der Niederländer<br />

Rokus van Iperen. „Ein Irrtum, liefert<br />

uns die Handyfotografie doch gerade<br />

die Kunden, die morgen unsere Kameras<br />

und Serviceangebote nutzen sollen.“<br />

Nur, wie erreichen die Hersteller die<br />

neuen potenziellen Käufer? Sicher nicht<br />

mit den Konzepten traditionellen Fotomarketings:<br />

„Leuten, die via Handy bisher<br />

vor allem Gebrauchsfotos fürs schnelle Teilen<br />

in sozialen Netzen geschossen haben,<br />

die begeisterst du nicht mit Regalen und<br />

Messeständen voller Riesenobjektive“, sagt<br />

Fotoblogger Spoerer.<br />

Der nur zwei Zentimeter<br />

dicken Kamera gelingt der<br />

Spagat zwischen schlichter<br />

Gestaltung und bemerkenswert<br />

guter Bildqualität. Wer will,<br />

kann – über einen Adapter –<br />

selbst Samsungs Profi-<br />

Objektive anschließen.<br />

499 Euro<br />

RADIKALER UMBAU<br />

Auch für Canon-Europachef van Iperen ist<br />

klar: „Die neue Generation der kreativen<br />

Fotografen begeistert sich nicht mehr für<br />

Technik um ihrer selbst willen. Sie ist ihnen<br />

nur Mittel zum Zweck, Emotionen aufs Bild<br />

zu bannen.“<br />

Entsprechend radikal bauten die Japaner<br />

gerade erst auf der Photokina in<br />

Köln, der Leitmesse der Branche,<br />

ihren Auftritt um: Statt<br />

der üblichen Neuheitenflut<br />

zeigten sie dieses Jahr als<br />

Ankerprodukte nur eine<br />

neue Spiegelreflexkamera<br />

– und mit der Power-<br />

shot G7 X einen Neuling<br />

aus der aufstrebenden<br />

Ein-Zoll-Klasse. Was die etwa<br />

in fast völliger Dunkelheit<br />

noch ohne Blitz an Details auf<br />

den Fotosensor bannt, konnten die<br />

Messebesucher anhand von Dioramenszenen<br />

in nahezu unbeleuchteten Testräumen<br />

am Rand des Standes gleich selbst<br />

ausprobieren.<br />

Gerade bei solchen Szenen,<br />

etwa Aufnahmen in der späten<br />

Dämmerung, am Grillfeuer<br />

oder auch bei Feiern<br />

in Räumen, geraten selbst<br />

die besten Smartphones<br />

an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit.<br />

Bilder ohne<br />

Blitz werden verrauscht<br />

oder verwackelt. Durch die<br />

Mikrolinsen fällt schlicht<br />

nicht genug Licht auf deren winzige<br />

Fotosensoren, um ein klares,<br />

farbstarkes Bild zu erzeugen. Und wer den<br />

Aufheller dazuschaltet, sieht nach der Aufnahme<br />

allzu oft in kalkweiß-überblitzte<br />

Gesichter.<br />

Und weil die bei herkömmlichen Kompaktkameras<br />

der Einstiegs- und<br />

Sony<br />

RX 100 Mark III<br />

Kaum größer als eine Packung<br />

Zigaretten, doch bei<br />

der Bildqualität fast auf dem<br />

Niveau guter Systemkameras.<br />

So fasziniert Sonys Edel-Kompakte,<br />

in der sogar ein elektronischer<br />

Sucher<br />

steckt.<br />

Mittelklasse eingesetzten<br />

Sensoren ebenfalls nicht<br />

viel größer sind als ein<br />

halber kleiner Fingernagel,<br />

ist auch da<br />

kaum mehr Bildqualität<br />

zu holen – und<br />

der Qualitätsunterschied<br />

zu Handys<br />

kaum mehr erkennbar.<br />

849 Euro „Die Industrie war zu<br />

lange nicht wirklich innovativ“,<br />

sagt Haruo Ogawa, Chef der<br />

Kamerasparte bei Olympus. Seine Antwort<br />

ist, „große Qualität klein zu machen.<br />

Kompaktere Bauformen, weniger Gewicht,<br />

das kommt bei den Kunden an.“<br />

Ogawa wagte mit seinen Pen- und OM-<br />

D-Systemkameras und deren noch ober-<br />

halb des neuen Ein-Zoll-Formats angesiedelten<br />

Fotochips vor gut vier Jahren erste<br />

Schritte ins Segment handlicher Qualitätskameras.<br />

Inzwischen haben Fotofans mit Hang<br />

zur Kreativität die Wahl zwischen zahlreichen<br />

kompakten Kamerakonzepten.<br />

Wie etwa Samsungs extrem flache NX<br />

mini. Sie paart einen großen Bildsensor<br />

mit (zumindest für Fotopuristen) gewöhnungsbedürftigen<br />

Gehäusefarben wie<br />

Mintgrün, Zartrosa oder Schokobraun sowie<br />

einem nach vorne klappbaren Display.<br />

Selfie-Fotografie auf höchstem Niveau sozusagen.<br />

„Mehr Qualität, pfiffige Optik,<br />

das“, glaubt Samsung-Manager Lim,<br />

„spricht speziell Frauen an, die sich nicht<br />

für lange Ausstattungslisten begeistern,<br />

sondern gute Bilder machen wollen und<br />

Wert auf Lifestyle legen.“<br />

Zugleich adaptiert die Kamerabranche<br />

einen Bildertrend aus der<br />

Smartphone-Welt: eine Art<br />

Nikon 1<br />

AW1<br />

Die Nikon-1er-Serie verbindet<br />

handliches Format mit<br />

einem breiten Objektivangebot.<br />

Dazu sind die Systemkameras<br />

mit bis zu 60 Bildern pro<br />

Sekunde extrem schnell und<br />

im Fall der AW1 sogar wasserdicht.<br />

759 Euro<br />

soziale<br />

Gebrauchsfotografie.<br />

Schnappschüsse<br />

aus dem Handy,<br />

die der Nutzer umgehend<br />

via Mobil-<br />

funk in sozialen Online-Welten veröffentlicht<br />

– von Facebook bis Pinterest.<br />

Daher ermöglichen die Kamerahersteller<br />

inzwischen auch ihren Einzöllern den<br />

Zugang ins Netz. Module für den schnurlosen<br />

Computerfunk WLAN sind Standard.<br />

Mithilfe des Kurzstreckenfunks NFC – etwa<br />

in Canons G7 X, der Fujifilm X30 oder Sonys<br />

RX 100 – lassen sich die Kameras sogar<br />

durch bloßes Berühren mit Handys koppeln.<br />

Die dienen dann als Funkbrücke zu<br />

sozialen Netzwerken, als Megadisplay für<br />

die schnelle Bildkontrolle, als Fernauslöser<br />

für die Kamera – oder auch zum direkten<br />

FOTOS: PR<br />

88 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Upload der Aufnahmen<br />

in Fotoportale und<br />

Cloud-Speicher im Internet.<br />

Denn der Bildertausch<br />

übers Netz, die Diskussion<br />

in Online-Communities,<br />

aber auch die Sicherung der<br />

Aufnahmen gegen Datenverluste<br />

sind kein Privileg mehr von Smartphone-<br />

Fotografen, deren Telefone jede Aufnahme<br />

auf Wunsch gleich im Hintergrund im Internet<br />

archivieren.<br />

Im Gegenteil, die Hersteller treten mit eigenen<br />

Netzdiensten in direkte Konkurrenz<br />

zu Online-Angeboten wie Flickr oder<br />

Dropbox (siehe Kasten Seite 90). Canon<br />

etwa startete sein Irista-Portal – eine Mischung<br />

aus Fotoarchiv und Diskussionsplattform<br />

– im Frühsommer, auch um „die<br />

neue Fotografengeneration da zu erreichen,<br />

wo sie aktiv ist – im Netz, in Communities<br />

und über Apps“, so Europachef van<br />

Iperen. Und folglich findet sich nun in der<br />

G7 X die Option, neue Bilder via Handy in<br />

die Irista-Sammlung zu laden.<br />

Sogar noch etwas konsequenter verknüpft<br />

Panasonics Neuling, die Lumix<br />

CM1 die Bilder- und Online-<br />

Welten. Denn im Grunde ist<br />

der Fotohybride eine Ein-<br />

Zoll-Kamera mit integriertem<br />

Smartphone,<br />

eine Edel-Kompakte<br />

mit direktem Netzzu-<br />

Fujifilm<br />

X30<br />

Canon<br />

G7 X<br />

Klein, schwarz,<br />

stark: Sie ist kaum größer als<br />

eine Billigknipse, glänzt aber<br />

mit Lichtstärke 1,8 bis 2,8 beim<br />

24–100-Millimeter-Zoom<br />

(umgerechnet auf Kleinbildfilm)<br />

und einem extrem<br />

gang. Denn trotz der augenfälligen Verwandtschaft<br />

zum Handy ermöglicht es<br />

auch die Lumix dem Fotografen, alle Kamerafunktionen<br />

manuell zu steuern.<br />

Nur beim Leica-Elmarit-Objektiv muss<br />

der Käufer Abstriche machen: Das ist<br />

zwar mit Blende 2,8 sehr lichtstark,<br />

hat aber eine 28-Millimeter-Festbrennweite.<br />

Statt eines optischen<br />

gibt es nur einen Digitalzoom.<br />

Das ist<br />

durch den zwangsläufigen<br />

Auflösungsverlust<br />

beim Zoomen,<br />

gemessen am Qualitätsanspruch<br />

der Kamera,<br />

nicht mehr als ein<br />

Kompromiss.<br />

Wegbereiter des Ein-Zoll-Segments<br />

war 2011 Nikon mit den ersten Modellen<br />

seiner 1er-Serie, Systemkameras mit<br />

Wechselobjektiven und wegen der kompakten<br />

Bauform extrem schneller<br />

schnellen Autofokus.<br />

650 Euro<br />

Optik und Bedienung<br />

kopieren klassische Analogkameras,<br />

doch bei Lichtstärke<br />

und Rauschverhalten bietet die<br />

X30 klassengemäße Digitalqualität,<br />

auch wenn der Sensor<br />

nicht ganz Zollformat<br />

hat.<br />

549 Euro<br />

Bildfolge von bis zu 60 Aufnahmen<br />

pro Sekunde.<br />

Wegen der zugleich<br />

aber – gemessen an<br />

Spiegelreflexkameras<br />

Panasonic<br />

Lumix CM1<br />

Ist die Lumix eher Edel-<br />

Kompakte mit Smartphone<br />

oder High-End-Fotohandy?<br />

Wie auch immer: Ihr Leica-Objektiv<br />

und der Ein-Zoll-Sensor<br />

liefern Top-Fotos. Nur der<br />

Digitalzoom passt nicht<br />

ins Bild.<br />

899 Euro<br />

– merklich leistungsschwächeren<br />

Bildchips<br />

gab es von Testern<br />

und Fotoprofis<br />

zunächst Kritik an<br />

Rausch- und Schärfewerten<br />

der ersten Modelle.<br />

„Dabei hatten wir sie ja im<br />

Grunde nicht als Spiegelreflex-Ersatz<br />

konzipiert, sondern als ,die bessere<br />

Kompakte‘, und das kam beim<br />

Kunden an“, sagt Nikons deutscher<br />

Chef fürs Handelsmarketing,<br />

Wolfgang Göddertz.<br />

Binnen weniger<br />

Wochen schossen die<br />

Neulinge an die Spitze<br />

der Verkaufs-Charts bei<br />

Systemkameras. Und sie<br />

wurde zur Blaupause für<br />

die neue Generation der<br />

Qualitäts-Kompakten.<br />

Zu denen zählt inzwischen<br />

auch Nikons neues – trotz Wechseloptik<br />

–, wasserdichtes Modell AW1. Das<br />

übersteht Tauchtiefen bis 15 Meter schadlos<br />

und ist mit Weitwinkelobjektiv nicht viel größer<br />

als eine Packung Long-Size-Zigaretten.<br />

„Die Leute sind den Plastikkram leid“,<br />

sagt Fotograf Ritschel. „Wer sich fürs Fotografieren<br />

begeistert, will wieder Wertigkeit,<br />

erfreut sich an Haptik und will auch aktiv in<br />

die Bildgestaltung eingreifen“, erklärt der<br />

Experte den Trend zu stabilen Metallkomponenten<br />

in Rahmen und Gehäusen der<br />

Edelklasse, zu mehrheitlich traditionellem<br />

Kameradesign und zu klassischen Stellrädern<br />

für die wichtigsten Bildeinstellungen.<br />

Blendensteuerung, Zeitvorwahl, Belichtungskorrektur,<br />

all das sind Funktionen,<br />

die Fotografen mit Faible fürs Kreative bei<br />

Smartphones zumeist vergeblich suchen.<br />

Wer gerne mit dem Fokus arbeitet, mit Unschärfen<br />

in Vorder- und Hintergrund oder<br />

Wischeffekten beim Mitziehen sich schnell<br />

bewegender Objekte, der muss nach Alternativen<br />

suchen. Selbst die jüngste Generation<br />

von Foto-Fonen, mit hohem Aufwand<br />

auf die Simulation von Tiefenschärfeeffekten<br />

getrimmt, schafft das eher schlecht als<br />

recht (siehe WirtschaftsWoche 31/2014).<br />

GRENZEN DER PHYSIK<br />

Das ist nicht Unvermögen der Entwickler,<br />

sondern schlichte Physik. Die erschwert<br />

es ihnen schon bei einfachen<br />

Kompaktkameras massiv,<br />

Kreativfunktionen zu integrieren.<br />

Die Designer der<br />

Handys haben’s noch<br />

schwerer. Denn für gute,<br />

lichtstarke und möglichst<br />

scharfe Aufnahmen gilt der alte Entwicklerspruch:<br />

Am Ende zählt nur die Größe –<br />

mehr Raum für Linsen und Sensor. Und<br />

zwar in gleich mehrfacher Hinsicht:<br />

n Bildchip Je größer die Pixel genannten<br />

helligkeits- und farbempfindlichen Punkte<br />

auf dem Bildchip sind, desto mehr Licht<br />

können sie aufnehmen, und desto eher liefert<br />

die Kamera auch ohne Blitz und Stativ<br />

scharfe, rauscharme Bilder.<br />

Dummerweise hat die Jagd nach Auflösungsrekorden<br />

bei Kompaktkameras dazu<br />

geführt, dass die Pixel der einfacheren Kameras<br />

immer winziger wurden – und damit<br />

lichtschwächer. »<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 89<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

BILDERSPEICHER<br />

Safe im Netz<br />

Was einst der Schuhkarton für Negative<br />

war, ist heute das Internet: das<br />

persönliche Bildarchiv im Digitalzeitalter<br />

– und mehr. Ein Überblick.<br />

Für Thorben Hess war es der GAU, als die<br />

Festplatte seines PCs im Frühsommer<br />

plötzlich den Geist aufgab. Denn auf der<br />

hatte der zweifache Vater aus Mühlheim<br />

alle Familienfotos archiviert. „Plötzlich<br />

verschwanden alle Erinnerungen im digitalen<br />

Nirvana“, sagt der 45-Jährige, der<br />

am Ende mehrere Hundert Euro für die<br />

Datenrettung zahlte, um zumindest einen<br />

Teil der Aufnahmen wiederherzustellen.<br />

Seither sichert er die Bilder in seinem<br />

Online-Album bei der Yahoo-Tochter<br />

Flickr. So wie er machen das schon Millionen<br />

Fotofans weltweit. Teils laden sie die<br />

Bilder – direkt nach der Aufnahme <strong>vom</strong><br />

Kamerahandy – in reine Datenspeicher<br />

wie Dropbox. Teils überspielen sie die<br />

Hort der Erinnerungen<br />

Fotos <strong>vom</strong> PC in Web-Alben, die sie per<br />

Mausklick für Freunde oder Verwandte<br />

freigeben können. Mancher Anbieter ermöglicht<br />

sogar einfache Bildbearbeitungen<br />

wie Rote-Augen-Korrekturen oder<br />

Helligkeitsausgleich direkt übers Netz.<br />

BIS ZU 15 GIGABYTE GRATIS<br />

Gemein ist fast allen Angeboten, dass das<br />

Basispaket gratis ist – aber im Speichervolumen<br />

auf 2 bis 15 Gigabyte limitiert.<br />

Das reicht für Gelegenheitsfotografen.<br />

Wer aber das komplette Bildarchiv im<br />

Netz sichern will, womöglich gar Fotos im<br />

unkomprimierten RAW-Format, muss<br />

zukaufen. Je nach Anbieter kostet das<br />

monatlich zwei bis zehn Euro extra für<br />

100 Gigabyte (siehe Tabelle).<br />

Und das sind nicht die einzigen Kosten,<br />

die der Speicher im Netz verursacht: Weil<br />

der Upload aller Bilder seinen bisherigen<br />

DSL-Anschluss wochenlang blockiert<br />

hätte, hat Fotograf Hess auch das Tempo<br />

seines Internet-Zugangs vervierfacht – für<br />

zehn Euro mehr im Monat. Die Sicherheit<br />

seiner Familienbilder war ihm das wert.<br />

Immer mehr Internet-Anbieter und Kamerahersteller stellen Fotofans Bilder-Speicher<br />

und Online-Alben im Netz bereit. Die Funktionen der Dienste reichen <strong>vom</strong> puren Fotoarchiv<br />

in der Wolke über Bilder-Communitys bis zu einfachen Programmen, mit denen<br />

sich Fotos im Browser optimieren und kleinere Bildfehler beheben lassen.<br />

Web-Speicher<br />

Dropbox Basic<br />

Dropbox Pro<br />

Strato HiDrive Media 20<br />

Strato HiDrive Media 100<br />

Web.de Fotoabum<br />

Web.de Club<br />

Online-Foto-Communitys<br />

Adobe Revel<br />

Adobe Revel Premium<br />

Canon Irista Basis<br />

Canon Irista Value<br />

Fujifilm X World<br />

Yahoo Flickr<br />

PC-Cloud-Kombiangebote<br />

Apple Photos + iCloud<br />

Apple iCloud Erweiterung<br />

Google Picasa + Webalben<br />

Google Drive Erweiterung<br />

Microsoft Fotogalerie + Onedrive<br />

Microsoft Onedrive Erweiterung<br />

Kosten<br />

im Monat<br />

0,00 €<br />

9,99 €<br />

1,49 €<br />

4,90 €<br />

0,00 €<br />

4,99 €<br />

0,00 €<br />

5,49 €<br />

0,00 €<br />

4,99 €<br />

0,00 €<br />

0,00 €<br />

0,00 €<br />

0,99 €<br />

0,00 €<br />

1,99 €<br />

0,00 €<br />

1,99 €<br />

Speichervolumen<br />

(in Gigabyte)<br />

2<br />

1000<br />

20<br />

100<br />

2–10<br />

100<br />

2, 50 Bilder pro<br />

Monat<br />

unbegrenzt<br />

10<br />

50<br />

5<br />

1000<br />

5<br />

20<br />

1<br />

100<br />

15<br />

100<br />

Beschreibung des Angebotes<br />

Speicher mit Ordnerfreigabe<br />

Speicher mit Ordnerfreigabe<br />

Fotoarchiv mit Albumfreigabe<br />

Fotoarchiv mit Albumfreigabe und einfacher<br />

Bildbearbeitung<br />

Kein Upload-Limit<br />

Fotoarchiv mit Facebook- und Flickr-Import<br />

sowie Bilderfilter<br />

Fotoarchiv mit Diskussionsforum<br />

Globale Plattform mit Millionen Nutzern<br />

Fotoverwaltung und -bearbeitung für Mac,<br />

Online-Fotoarchiv mit Albumfreigabe<br />

Fotoverwaltung und -bearbeitung für PC und<br />

Mac, Online-Fotoarchiv mit Albumfreigabe<br />

Fotoverwaltung und -bearbeitung für PC,<br />

Online-Fotoarchiv mit Albumfreigabe<br />

n Blende Es ist immer<br />

wieder überraschend,<br />

welch Objektivrüssel<br />

beim Einschalten aus<br />

mancher Westentaschenknipse<br />

herausfährt.<br />

Die Entwickler<br />

wollen mit dem langen<br />

optischen Rohr<br />

Extra<br />

Die Technikdaten<br />

der vorgestellten<br />

Kameras sowie<br />

Testbilder finden<br />

Sie in der App<br />

einen möglichst großen Zoombereich<br />

abdecken, <strong>vom</strong> starken Weitwinkel bis zum<br />

großen Tele. Doch das geht wieder zulasten<br />

der Lichtstärke. Denn zum einen<br />

schlucken die einfachen Linsensysteme<br />

viel Helligkeit. Zum anderen dringt durch<br />

die winzigen Öffnungen kaum noch Licht.<br />

Damit kommt so manche Kompakte im<br />

Weitwinkelbereich auf maximal Blende<br />

3,6, mitunter gar nur auf Blende 4,0. Und<br />

versucht sich der Fotograf an einer Tele-<br />

Aufnahme, halbiert oder drittelt sich die<br />

Lichtstärke oft genug. Edel-Kompakte wie<br />

Canons G7 X oder Sonys RX 100 III sind dagegen<br />

mit Einstiegsblende 1,8 doppelt so<br />

lichtstark.<br />

Die Folge: Romantische Aufnahmen in<br />

der Dämmerung oder bei Kerzenschein<br />

sind nicht mehr grässlich verrauscht oder<br />

hoffnungslos überblitzt, sondern landen<br />

knackscharf und emotionsstark im Kameraspeicher.<br />

n Beugung Bei einfacheren Kompaktkameras<br />

und Smartphones müssen die Lichtstrahlen<br />

auf ihrem Weg durchs Objektiv eine<br />

oft nicht einmal streichholzkopfgroße<br />

Blende passieren. Dabei werden sie durch<br />

die kleine Öffnung so zusammengestaucht,<br />

dass es zu einem gefürchteten<br />

physikalischen Effekt kommt: der Beugung.<br />

Die Strahlen produzieren nicht mehr<br />

sauber einen Bildpunkt neben dem anderen.<br />

Sie fallen stattdessen teils auf mehrere<br />

angrenzende Pixel und sorgen so für die<br />

ungeliebte Unschärfe.<br />

Völlig vermeiden lässt sich der Effekt nie.<br />

Aber auch hier gilt, je größer Objektiv und<br />

Bildsensor sind, desto besser. Ein Plus<br />

mehr für die Edel-Kompakten.<br />

Und noch etwas spricht für die Abkehr<br />

von den Billigknipsen: „Die Lebenszyklen<br />

der Modelle werden wieder merklich länger,<br />

der Gerätekauf wieder eine Investition<br />

von Dauer“, verspricht Yoshiyuki Nogami,<br />

der bei Sony das weltweite Marketing der<br />

Fotosparte verantwortet.<br />

Für Bilderprofi Ritschel ist es auch eine<br />

Rückbesinnung auf alte Werte: „Die Kameras<br />

sind heute so gut, die kannst du wieder<br />

an deine Kinder vererben.“<br />

n<br />

thomas.kuhn@wiwo.de<br />

90 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Moderne Gladiatoren<br />

Das Spiel League<br />

of Legends lockt<br />

die Massen –<br />

wie hier in Paris<br />

FOTO: BESTIMAGE/HUGO WINTREBERT<br />

Helden der Maus<br />

COMPUTERSPIELE | Daddeln am Rechner hat sich längst zum Profisport<br />

entwickelt – und wird zum Rivalen für Fußball und Formel 1.<br />

Michael Ballack und Oliver Kahn waren<br />

im Sangam-Stadion von Seoul<br />

Heroen. Vor 67000 Zuschauern besiegten<br />

sie hier bei der Fußballweltmeisterschaft<br />

2002 mit der deutschen Mannschaft<br />

Gastgeber Südkorea – und schafften so den<br />

Einzug ins Finale gegen Brasilien.<br />

Wenn sich am kommenden Sonntag<br />

(19.10.) wieder die Ränge des Stadions für<br />

eine WM füllen, werden Deutsche nichts<br />

zu melden haben. Denn bei diesem Sportereignis<br />

geht es nicht um Fußball, sondern<br />

um das Echtzeit-Strategiespiel League of<br />

Legends (LoL). Mit mehr als 85 Millionen<br />

Hobbyspielern ist es eines der erfolgreichsten<br />

Computergames der Welt – und wird<br />

von asiatischen Spielern dominiert.<br />

Wie im Fußball treten zwei Mannschaften,<br />

Clans genannt, gegeneinander an. Die<br />

fünfköpfigen Teams sitzen auf einer Bühne<br />

vor einem riesigen Bildschirm. Gebannt<br />

verfolgen Zehntausende Fans auf den Rängen<br />

und Millionen Zuschauer zu Hause jede<br />

Attacke, mit der die Spieler den Nexus<br />

des Gegners erobern wollen, ein virtuelles<br />

Gebäude. Den umjubelten Siegern winkt<br />

ein Preisgeld von einer Million Dollar.<br />

Für die E-Sport-Szene sind die LoL-Weltmeisterschaften<br />

das größte Ereignis des<br />

Jahres. Längst ist das professionelle Daddeln<br />

ein Massenphänomen geworden. Sicher,<br />

seit es PCs gibt, spielen Menschen an<br />

und mit den Computern. Jetzt aber hat sich<br />

eine Profiszene herausgebildet, die <strong>vom</strong><br />

einstigen Hobby-Vergnügen leben kann, ja<br />

sogar reich damit wird. Entstanden ist ein<br />

Milliardengeschäft mit Sponsoring, Live-<br />

Daddeln total<br />

Fans verbringen weltweit immer mehr Zeit vor<br />

dem Bildschirm, um Profis beim Computerspielen<br />

zuzuschauen (in Mrd. Stunden)<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

2010 11 12 13 14 15 16 17 18<br />

ab 2014 Prognose; Quelle: IHS Technology<br />

Übertragungen und stadionfüllenden Mega-Events<br />

wie das Finale der WM.<br />

E-Sport entwickelt sich allmählich zum<br />

ernst zu nehmenden Konkurrenten für<br />

Fußball, Formel 1 oder Tennis. Die Fans<br />

verbringen immer mehr Zeit vor dem Bildschirm,<br />

um die Kämpfe ihrer Helden zu<br />

verfolgen: Bis 2018 sollen sie insgesamt 6,6<br />

Milliarden Stunden lang Videos von Spielen<br />

betrachten, fast eine Verdreifachung<br />

gegenüber 2013 (siehe Grafik). Das entspricht<br />

der Zeit, die alle Frankfurter aufbringen<br />

müssten, um ein Jahr lang ununterbrochen<br />

Computerspielern zuzuschauen.<br />

Folgerichtig beginnen sich die Internet-<br />

Konzerne für den E-Sport zu interessieren.<br />

So schnappte vor Kurzem der Online-<br />

Händler Amazon dem Suchmaschinenriesen<br />

Google Twitch.tv vor der Nase weg, die<br />

wichtigste Sendeplattform der Szene. Stolzer<br />

Kaufpreis: fast eine Milliarde Dollar.<br />

GROSSKONZERNE SIND SPONSOREN<br />

„Wir sind die Zukunft des Entertainments“,<br />

verkündet Alexander Müller selbstbewusst.<br />

Er ist als Managing Director so etwas<br />

wie der Sportchef von SK Gaming aus Köln,<br />

der einzige deutsche Clan, der es zu den<br />

LoL-Weltmeisterschaften nach Südkorea<br />

geschafft hat. Er ist seit 16 Jahren in der<br />

Branche aktiv und weiß, wovon er redet. In<br />

Asien und den USA sind Meisterschaften<br />

wie die jetzt in Südkorea längst Großereignisse.<br />

Aber auch in Europa locken Live-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 91<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

»<br />

turniere auf der Kölner Spielemesse<br />

Gamescom oder eigene Veranstaltungen<br />

wie die Pariser All-Star Challenge im Mai<br />

die Massen. Viele Unternehmen nutzen<br />

das Umfeld, um für sich zu werben. Ob Intel,<br />

AOL, Acer, Samsung – die Trikots der<br />

Teams sind übersät mit den Namen großer<br />

Konzerne.<br />

„Was die Zuschauerzahlen und unsere<br />

Reichweite betrifft, sind wir attraktiver als<br />

ein Zweitligaverein im Fußball“, versichert<br />

Müller. Eine Mannschaft wie SK Gaming<br />

zählt 500 000 Follower bei Facebook und<br />

nochmal 70 000 bei Twitter – der 1. FC Köln<br />

hat nur wenig mehr. Der deutsche Computeranbieter<br />

Medion nutzt die Popularität<br />

des Clans bereits für sich. Der Hauslieferant<br />

von Aldi und seit einiger Zeit Teil des<br />

chinesischen IT-Riesen Lenovo ist Hauptsponsor<br />

von SK Gaming. Mit den Gesichtern<br />

der Spieler versucht Medion eine junge,<br />

männliche, technikaffine Zielgruppe zu<br />

erreichen. Beim Fußball kaufen die Fans<br />

die Schuhe ihrer Stars – im E-Sports ist das<br />

mit Tastatur und Maus nicht anders.<br />

„Unsere Spieler verdienen mindestens<br />

50 000 Dollar im Jahr. Je nachdem wie erfolgreich<br />

sie sind, sind es auch 100 000 oder<br />

mehr“, erzählt Müller. Zudem zahle SK Gaming<br />

die Reisen, die Hardware, die Lebenshaltung<br />

während der drei bis sechs Jahre einer<br />

Profikarriere. In Südkorea verdienen<br />

manche Stars das Zehnfache. Zudem ist<br />

das Ansehen der Profi-Gamer im Ausland<br />

besser. Ein Grund für viele, in die USA, nach<br />

China oder Südkorea zu wechseln.<br />

JEDER VIERTE DEUTSCHE DADDELT<br />

Immerhin gehört die deutsche Spielerszene<br />

zu einer der größten weltweit. Schätzungen<br />

gehen von gut 40 000 E-Sport-<br />

Clans in Deutschland aus. Laut Bundesverband<br />

Interaktive Unterhaltungssoftware<br />

(BIU) spielen hierzulande mehr als 20 Millionen<br />

Menschen regelmäßig Computerspiele.<br />

„League of Legends und Dota 2 dominieren<br />

klar in Bezug auf die Nutzung“,<br />

sagt David Cole <strong>vom</strong> US-Marktforscher<br />

DFC Intelligence. Für 2014 erwarten die<br />

Experten einen Umsatz von 25 Milliarden<br />

Dollar auf dem Markt der PC-Spiele.<br />

Die Electronic Sports League (ESL), betrieben<br />

von der Kölner Turtle Entertainment<br />

und so etwas wie ein Pendant zum<br />

Deutschen Fußball-Bund (DFB), spricht<br />

von immerhin 1,4 Millionen aktiven LoL-<br />

Spielern hierzulande. Die wenigstens sind<br />

Profis, aber für die meisten ist das Spiel<br />

mehr als eine gelegentliche Freizeitbeschäftigung.<br />

Der DFB zählt zwar knapp sieben<br />

Millionen Mitglieder und etwa 25 000<br />

Clubs. In die Bundesliga schafft es aber<br />

auch hier nur ein Bruchteil der Aktiven.<br />

Nun ist der DFB bald 115 Jahre alt. League<br />

of Legends gibt es erst seit 2009, und<br />

die Spieler- und Zuschauerzahlen wachsen<br />

ständig weiter. „Es ist großartig, zu sehen,<br />

wie weit E-Sport in der kurzen Zeit<br />

gekommen ist“, sagt Dustin Beck, bei Riot<br />

Games verantwortlich für das Thema. Die<br />

US-Firma in chinesischem Besitz hat LoL<br />

entwickelt und bietet es kostenlos an. Umsätze<br />

macht sie mit virtuellen Zusatzinhalten,<br />

etwa besonderen Avataren für die<br />

Spieler.<br />

Längst ähneln die Gepflogenheiten im<br />

E-Sport denen im Profifußball. Hohe Ablösesummen<br />

bei Spielertransfers, mehrtägige<br />

Sperren für schlechtes Benehmen,<br />

ein ausgebildeter Trainerstab und sogar<br />

Sportpsychologen sind nicht mehr ungewöhnlich.<br />

Viele ehemalige Gamer werden<br />

zu Kommentatoren, Trainern oder Managern.<br />

Wie in der Bundesliga gibt es bei<br />

Wettbewerben eine ausführliche Vorberichterstattung<br />

auf den Videoplattformen<br />

im Netz. Die stellen Spieler vor, küren Favoriten.<br />

Einspieler und O-Töne der Profis<br />

stimmen das Publikum auf die große<br />

Show ein.<br />

Das deutsche<br />

LoL-Team ist fast<br />

so populär<br />

wie der 1. FC Köln<br />

Virtuelles real Fans von League of Legends<br />

kleiden sich gern wie die Helden des Spiels<br />

Wichtiger virtueller Treffpunkt der Fans<br />

ist Twitch Die Plattform bietet im Unterschied<br />

zu YouTube die Möglichkeit, die<br />

Spiele live zu erleben. Auch außerhalb der<br />

Profiwettbewerbe tummeln sich hier täglich<br />

gut 70 000 Zuschauer – und das nur bei<br />

LoL. Fans und Profis kommen sich hier so<br />

nah wie sonst nirgends. „80 Prozent des Inhalts<br />

bei Twitch ist reiner E-Sport, und wieder<br />

50 Prozent davon ist nur LoL“, sagt Müller.<br />

Dass Amazon zuschlage, könne er angesichts<br />

des Wachstumspotenzials verstehen,<br />

erklärt er die überraschende Übernahme<br />

durch den US-Konzern, der zunehmend<br />

ins Mediengeschäft expandiert.<br />

KOMMENTATOR IN VOLLZEIT<br />

Twitch hat auch die Selbstvermarktung der<br />

Spieler auf eine neue Stufe gehoben. Das<br />

Stichwort lautet Letsplay: Profis spielen<br />

quasi vor laufender Kamera und erklären<br />

per Videostream ihre Taktiken und Strategien.<br />

Viele haben sich so auf eigene Faust<br />

eine treue Fangemeinde aufgebaut, manche<br />

mit Millionen Mitgliedern. Bei Twitch<br />

wird aber nicht nur zugeschaut, Spieler<br />

und Fans diskutieren per Chat – manchmal<br />

dürfen ein paar Glückliche sogar mit ihren<br />

Stars zusammen spielen.<br />

Einer der bekanntesten Streamer in<br />

Deutschland ist Maxim Markow aus Berlin.<br />

Sein Kanal bei Twitch hat 50 000 Abonnenten.<br />

Er besitzt mittlerweile ein eigenes Studio,<br />

professionelle Ausrüstung, Gäste, Interviews,<br />

Analysen – er ist zum Vollzeit-<br />

Kommentator geworden, der sein Hobby<br />

zum Beruf gemacht hat. Seinen Lebensunterhalt<br />

verdient er durch Werbeverträge,<br />

Sponsoren und Spender. Von den Weltmeisterschaften<br />

in Südkorea berichtet er<br />

live zusammen mit einigen Kollegen –<br />

nicht vor Ort, sondern dank Streaming aus<br />

dem eigenen Studio.<br />

Noch ist E-Sport für Alexander Müller<br />

von SK Gaming ein Hidden Champion. So<br />

wie die vielen unbekannten Weltmarktführer<br />

aus dem heimischen Mittelstand. Die<br />

Professionalität, das Wachstumspotenzial<br />

und all die kleinen und großen Erfolgsgeschichten<br />

des Computersports sind längst<br />

vergleichbar. In der breiten Öffentlichkeit<br />

ist das bisher noch nicht angenommen.<br />

Ändern wird sich das wohl erst, wenn ein<br />

deutsches Werksteam von Siemens, Deutscher<br />

Telekom oder SAP bei den Leagueof-Legends-Weltmeisterschaften<br />

antritt –<br />

so wie es der Elektronikkonzern Samsung<br />

vormacht: Er ist mit gleich zwei eigenen<br />

Clans im Sangam-Stadion am Start. n<br />

thiemo bräutigam | technik@wiwo.de<br />

FOTO: BESTIMAGE/HUGO WINTREBERT<br />

92 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


VALLEY TALK | Warum die Aufspaltung von<br />

Hewlett-Packard entscheidende Schwächen hat.<br />

Von Matthias Hohensee<br />

Mit sich selbst beschäftigt<br />

FOTO: JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Über Hewlett-Packard ließe sich<br />

ein Standardwerk der Managementlehre<br />

schreiben. Nicht die<br />

übliche Erfolgsgeschichte über<br />

das erste richtige Garagen-Start-up des<br />

Silicon Valley, das sich mit Produkten wie<br />

Taschenrechnern und Tintenstrahldruckern<br />

mehrmals neu erfand und Legionen<br />

von Gründern inspirierte.<br />

Nein, HP ist vielmehr ein klassisches Fallbeispiel,<br />

wie Top-Manager und deren Berater<br />

unter der Flagge der Profitmaximierung<br />

einen traditionsreichen Konzern in den<br />

Niedergang trieben und ihm vor allem seine<br />

Identität raubten.<br />

Als ich im Herbst 1998 ins Silicon Valley<br />

übersiedelte, war Hewlett-Packard noch<br />

ein stolzer Konzern und für seine Managementphilosophie<br />

berühmt, den HP Way.<br />

Dessen Grundprinzipien lauteten: langfristiges<br />

Denken statt schnellen Profit und der<br />

respektvolle Umgang mit den Mitarbeitern.<br />

Der damalige Chef Lew Platt hatte innerhalb<br />

von nur drei Jahren den Umsatz nahezu<br />

verdoppelt. Doch an der Wall Street war<br />

er umstritten, weil er mit seiner unaufgeregten<br />

Art angeblich das Internet verschlief.<br />

Deshalb löste ihn 1999 Carly Fiorina ab.<br />

Statt eines Ingenieurs stand nun eine von<br />

kurzfristigen Ergebnissen getriebene Vertrieblerin<br />

an der Spitze, die vor allem in Skaleneffekten<br />

dachte. Mit der Begründung,<br />

Kunden kauften am liebsten alles aus einer<br />

Hand, drückte sie gegen den Willen der Belegschaft<br />

den Kauf des texanischen Computerherstellers<br />

Compaq durch. Es folgten<br />

zahlreiche Reorganisationen, bis Sparkommissar<br />

Mark Hurd Fiorina ersetzte, der den<br />

Forschungsetat von HP rigoros kürzte.<br />

Es schloss sich die kurze Chaos-Periode<br />

mit dem ehemaligen SAP-Chef Léo Apotheker<br />

an, die zu Aktionärsklagen wegen der<br />

überteuerten Übernahme des britischen<br />

Softwareunternehmens Autonomy führte.<br />

Schließlich übernahm vor drei Jahren die<br />

ehemalige Ebay-Chefin Meg Whitman das<br />

Ruder. Sie stabilisierte das Unternehmen<br />

finanziell, setzte aber zugleich Massenentlassungen<br />

durch.<br />

Turbulente Zeiten, aber mit einer Konstanten:<br />

An den vielen Übernahmen haben<br />

die beteiligten Manager, Berater und Banker<br />

gut verdient. Diese Tradition setzt Whitman<br />

mit der jetzt verkündeten Aufspaltung<br />

fort. Künftig soll sich ein Konzernteil auf<br />

Drucker und PCs für Privatkunden konzentrieren,<br />

der andere soll sich um Firmenkunden<br />

kümmern. Ob die getrennten Bereiche,<br />

wie versprochen, wirklich agiler sind, darüber<br />

lässt sich debattieren.<br />

VERSPIELTES VERTRAUEN<br />

Die früher <strong>vom</strong> Management immer so betonten<br />

Skaleneffekte durch den gemeinsamen<br />

Einkauf von Komponenten sind jedenfalls<br />

dahin. Und der ärgste Herausforderer<br />

Lenovo geht den umgekehrten Weg. Als<br />

größter PC-Hersteller der Welt und gestärkt<br />

durch die Übernahme von IBMs Servergeschäft<br />

wollen die Chinesen aggressiv ins<br />

Geschäft mit Firmenkunden vorstoßen.<br />

Derweil ist HP wieder einmal mit sich<br />

selbst beschäftigt. Schwer wiegt der Vertrauensverlust<br />

von Whitman. Sie soll das Firmenkundengeschäft<br />

führen und den Hardwarehersteller<br />

überwachen. Noch bis vor<br />

Kurzem hatte sie die Belegschaft in dem<br />

Glauben gelassen, sie werde eine Aufspaltung<br />

verhindern. Nun sollen sich die Mitarbeiter<br />

aussuchen, ob sie bei einem Computerhersteller<br />

arbeiten wollen, der gegen<br />

Apple und Samsung antritt und bis heute<br />

keine überzeugende Strategie für Handys<br />

oder Tablets hat. Oder bei einem Firmenkundenspezialisten,<br />

der seine Cloud-Computing-Sparte<br />

erst noch etablieren muss.<br />

Das ist die große Schwäche des neuen<br />

Konzepts. Wer will bei einem Konzern arbeiten,<br />

der sich ständig umstrukturiert? HP<br />

braucht engagierte Mitarbeiter, um sich<br />

neu zu erfinden. Warum die kommen oder<br />

bleiben sollen, darauf gibt Whitmans Plan<br />

keine überzeugende Antwort.<br />

Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />

im Silicon Valley und beobachtet<br />

von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />

wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 93<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Management&Erfolg<br />

Inselhopping in der<br />

Werkshalle<br />

INDUSTRIE 4.0 | Neue Jobprofile, mehr Verantwortung, flachere Hierarchien: Wie die<br />

Digitalisierung nicht nur die Automatisierung der Produktion beschleunigt,<br />

sondern auch die Arbeitsorganisation revolutioniert. Was Mitarbeiter in den Werkshallen<br />

künftig können müssen – und wer wem etwas zu sagen hat.<br />

Immer wenn morgens um sieben zu<br />

Schichtbeginn Not am Mann ist, legt<br />

Werksmeister Giuseppe Dolce selbst<br />

Hand an. Streift den grauen Arbeiterkittel<br />

über sein kariertes Hemd,<br />

schnappt sich ein Smartphone <strong>vom</strong> Organisationsbrett<br />

und geht in die Werkshalle zu<br />

einem großen Bildschirm, der dort an der<br />

Wand hängt. Mit seinem Telefon scannt<br />

Dolce einen auf der Mattscheibe eingespielten<br />

QR-Code ab – nun hat er alle digitalen<br />

Daten für Bauplan, Größe und Stückzahl<br />

der Zahnräder geladen, die er gleich<br />

produzieren wird. Daten, die er auch auf<br />

seinem Bildschirm über seiner Fräsmaschine<br />

parat hat. Fehlt Material, benachrichtigt<br />

er mit einem kurzen Wischen über sein<br />

Diensttelefon den Transportwagen. Der<br />

schlägt ihm die beste Route ins Materiallager<br />

vor, aus dem Dolce das fehlende Material<br />

besorgt. Zurück in der Werkshalle setzt er<br />

mit leichtem Fingertippen schließlich die<br />

Maschine in Bewegung, die mit dem Fräsen<br />

der gewünschten Zahnräder beginnt –<br />

wohlabgeschirmt hinter Plexiglas.<br />

„Faszinierend, wie Produktion heutzutage<br />

läuft“, sagt Dolce. Seit Januar 2014 baut<br />

der 53-Jährige ein Team von 20 Facharbeitern<br />

auf, in dem jeder mehrere Arbeitsplätze<br />

beherrschen soll. Ihre Aufgabe: das Metall<br />

für die Produktion von Zahnrädern und<br />

Getrieben in der digital gesteuerten Werkshalle<br />

des mittelständischen Maschinenbauers<br />

Wittenstein in Fellbach bei Stuttgart<br />

in Form zu bringen. Natürlich: Die Zähne<br />

der silbernen oder goldenen Räder werden<br />

noch immer gefräst und geschliffen. Aber<br />

das leise Rauschen, wenn Wasser und Öl<br />

die Maschinen automatisch temperieren<br />

und schmieren, ist wohl die letzte Reminiszenz<br />

an die traditionelle industrielle Fertigung.<br />

Statt sich beim eigenhändigen Fräsen<br />

und Drehen den Rücken zu ruinieren<br />

oder die Finger schmutzig zu machen,<br />

kontrollieren die Facharbeiter heute den<br />

Gang der Maschinen durch Tippen und<br />

Wischen über interaktive Bildschirme.<br />

Statt auf Weisungen zu warten, entscheiden<br />

sie selbst, in welcher Reihenfolge sie<br />

ihre Aufträge abarbeiten – der Bildschirm<br />

zeigt ihnen alle Optionen. Türmen sich bei<br />

einem Teammitglied die Zahnrad-Aufträge<br />

im Rechner, kann ein Kollege sich in die<br />

Aufträge einklinken und die Maschine mit<br />

im Auge behalten.<br />

„Wer 15 Jahre dieselben Handgriffe gemacht<br />

hat, mag zuerst nicht glauben, dass<br />

es für jeden leichter wird, wenn alle mehr<br />

können“, sagt der gelernte Industriemechaniker<br />

und Elektrotechniker Dolce, der<br />

Lernen, denken, reden<br />

Welche Kompetenzen die vernetzte Fabrik<br />

von Produktionsmitarbeitern verlangt<br />

(in Prozent)<br />

91<br />

81<br />

79<br />

79<br />

78<br />

75<br />

74<br />

71<br />

64<br />

63<br />

Lebenslanges Lernen<br />

Interdisziplinäres Denken<br />

Aktive Problemlösung<br />

Höhere IT-Kompetenz<br />

Austausch mit vernetzten Systemen<br />

Kenntnis des Gesamtprozesses<br />

Beherrschung komplexer Arbeitsinhalte<br />

Steuerung der Kommunikation<br />

Mitwirken am Innovationsprozess<br />

Koordination von Arbeitsabläufen<br />

Quelle: Fraunhofer IAO/Ingenics, Befragung unter 518<br />

Produktionsverantwortlichen deutscher Unternehmen;<br />

Mehrfachnennung möglich<br />

vor seinem Wechsel zu Wittenstein 2013<br />

selbst 30 Jahre lang im Schichtsystem an<br />

Spritzpumpen geschafft hatte, bevor er begann,<br />

dank Doppelqualifikation, Meisterschule<br />

und seiner kommunikativen Art bei<br />

Wittenstein die Einführung der digitalen<br />

Fertigung zu begleiten. „Jetzt sieht jeder,<br />

dass die Belastung gerechter verteilt wird.“<br />

RADIKALES UMDENKEN<br />

Pilotprojekte wie in Fellbach weisen den<br />

Weg in die digitale Produktion, die derzeit<br />

unter dem Schlagwort Industrie 4.0 diskutiert<br />

wird. Den Schlüssel nicht nur für die<br />

bestmöglichen technologischen Lösungen,<br />

sondern auch für die dafür nötige Qualifikation<br />

und Organisation ihrer Mitarbeiter<br />

wird in der nächsten Dekade für deutsche<br />

Unternehmen existenzieller Erfolgsfaktor.<br />

Allein bei Bosch laufen derzeit 50 Projekte,<br />

mit denen das Unternehmen untersucht,<br />

wie Internet und Maschinen zusammenwachsen<br />

und für mehr Produktivität sorgen.<br />

Voraussetzung für diesen neuerlichen<br />

Effektivitäts- und Effizienzschub: radikales<br />

Umdenken, am Schreibtisch wie in der<br />

Werkshalle. Die Folge: Abteilungs- und<br />

Fachgrenzen werden eingerissen, Jobprofile<br />

ändern sich, gewohnte Arbeitsabläufe<br />

werden auf den Kopf gestellt.<br />

„Die Digitalisierung reduziert die Monotonie<br />

vieler Arbeitsabläufe und schafft Zeitsouveränität“,<br />

sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann.<br />

„Auf der anderen Seite kommt es<br />

aber zu einer enormen Beschleunigung<br />

des technologischen Wandels. Dadurch<br />

sinkt die Halbwertzeit von Qualifikation<br />

dramatisch. Wer jetzt seine Ausbildung<br />

oder seinen Hochschulabschluss macht,<br />

muss sich darauf einstellen, dass in zehn<br />

FOTO: REINER PFISTERER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

94 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Jahren gut 50 Prozent seines Wissens veraltet<br />

ist“ (siehe WirtschaftsWoche 41/2014).<br />

Das gilt auch für lang gediente Facharbeiter<br />

wie Dolce und sein Team. Es ist weniger<br />

der einzelne Handgriff, der sich ändert,<br />

es trifft die gesamte Struktur der Arbeitsplätze,<br />

ja, das Selbstverständnis der Mitarbeiter.<br />

Steht doch nicht mehr das Beherrschen<br />

einzelner Maschinen, sondern das<br />

Steuern komplexer, fach- und gruppenübergreifender<br />

Prozesse im Mittelpunkt ihrer<br />

wachsenden Verantwortung. Sie koordinieren<br />

Arbeitsabläufe eigenverantwortlich,<br />

Wischen statt buckeln<br />

Teamleiter Giuseppe Dolce vor einer<br />

vernetzten, per Bildschirm gesteuerten<br />

Fräsmaschine in der digitalen Pilotfabrik<br />

des Maschinenbauers Wittenstein<br />

müssen sich mit Kollegen und Managern<br />

außerhalb der eigenen Abteilung abstimmen<br />

und Arbeitsprozesse mitgestalten.<br />

Statt ihren Mitarbeitern von oben herab zu<br />

diktieren, was sie zu tun haben, diskutieren<br />

Führungskräfte Entscheidungen im Team<br />

und fordern <strong>vom</strong> Azubi bis zum Ingenieur<br />

Input zum Lösen von Problemen ein. Softwareentwickler<br />

wiederum müssen stärker<br />

als bisher ökonomische Zusammenhänge<br />

berücksichtigen und agieren als Dienstleister,<br />

die ihre digitalen Informationen in die<br />

Produktion einfließen lassen.<br />

„Eine breite Grundausbildung, lebenslanges<br />

Lernen, Flexibilität, Projekt- und<br />

Teamarbeit sind die Schlagwörter für das<br />

Arbeiten in der digitalen Welt von morgen“,<br />

sagt Manfred Wittenstein, Aufsichtsratsvorsitzender<br />

des gleichnamigen Unternehmens<br />

und langjähriger Präsident des Maschinenbauverbands<br />

VDMA. „Uns erwartet<br />

eine Revolution der Arbeitsgestaltung.“<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 95<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Management&Erfolg<br />

Kombination von Mensch und Technik<br />

noch einmal bis zu 30 Prozent rausholen.“<br />

Bei SEW wird jeder Auftrag eingescannt.<br />

Sind die Daten digital erfasst, fahren dann<br />

Arbeitstische, bei SEW Assistenten genannt,<br />

wie von Zauberhand gesteuert, zwischen<br />

fünf digitalen Produktionsinseln mit<br />

Material von einem Platz zum anderen.<br />

»<br />

Das bestätigt auch eine Studie des<br />

Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft<br />

und Organisation IAO im Auftrag des Beratungsunternehmens<br />

Ingenics, für die mehr<br />

als 500 Entscheider aus deutschen Produktionsunternehmen<br />

befragt wurden. Demnach<br />

rechnet jeder der Befragten ausnahmslos<br />

mit einem Effizienzschub durch<br />

die Digitalisierung – und verlangt von seinen<br />

Mitarbeitern aus Fertigung, Montage<br />

und Logistik vernetztes Denken (siehe<br />

Grafik Seite 94). „Die Digitalisierung der<br />

Produktion wird die Arbeitsorganisation<br />

ebenso grundsätzlich verändern wie viele<br />

Jobprofile“, sagt IAO-Forscher Sebastian<br />

Schlund. „Denn es geht um weit mehr als<br />

reine Technologienutzung.“<br />

GENERATION WISSENSARBEITER<br />

Was im ersten Moment nach Überforderung<br />

klingt, hält Unternehmer Wittenstein<br />

für „realisierbar, wenn wir den Mitarbeitern<br />

klarmachen, dass sie das Neue schaffen<br />

werden, weil gleichzeitig alte, überflüssige<br />

Dinge wegfallen“. In seinem eigenen Unternehmen<br />

werden jetzt staatlich anerkannte<br />

Produktionstechnologen ausgebildet, die<br />

Prozesse an den Anlagen analysieren, simulieren<br />

und optimieren. „Jeder Facharbeiter<br />

wird zum Wissensarbeiter, der seine Sichtweise<br />

auf den Prozess lenken muss“, sagt Jochen<br />

Schlick, der die digitale Fabrik für Wittenstein<br />

aufbaut. „Der Mensch wird zum informierten<br />

Entscheider, der aufgrund seines<br />

Erfahrungswissens Handlungsoptionen<br />

zum optimalen Betrieb der Maschine gegeneinander<br />

abwägt und auswählt.“<br />

Digitale Dauerbaustelle<br />

Kfz-Mechaniker Patrik Hausknecht von<br />

SEW-Eurodrive hat seinen teildigitalisierten<br />

Arbeitsplatz mit entwickelt und spart<br />

beim Getriebebau ein Drittel Arbeitszeit<br />

Am besten funktioniert das, wenn die<br />

Belegschaft beim Umbau der Arbeitsplätze<br />

<strong>vom</strong> Start weg mitmischt – so wie im SEW-<br />

Eurodrive-Werk in Graben-Neudorf im<br />

Landkreis Karlsruhe. Beim Hersteller von<br />

Getrieben und Motoren für die Auto- und<br />

Getränkeindustrie wirkt die Werkshalle wie<br />

eine Dauerbaustelle: Schritt für Schritt<br />

werden hier alle Produktlinien zu digitalen<br />

Inseln umgebaut – ganz nach den Vorstellungen<br />

der Arbeiter, die in Workshops erarbeiten,<br />

wo welches Werkzeug oder Getriebe<br />

für den nächsten Arbeitsschritt optimal<br />

angebracht ist. „Wer die Insel nach seinen<br />

Bedürfnissen mit baut und erlebt, dass die<br />

Veränderung die Arbeit erleichtert, der<br />

macht seinen neuen Job gerne und mit voller<br />

Präzision“, sagt SEW-Eurodrive-Geschäftsführer<br />

Johann Soder. „Wir haben in<br />

den Neunzigerjahren durch Lean Management<br />

35 Prozent an Effizienz gewonnen,<br />

jetzt können wir durch die intelligente<br />

»Digitalisierung<br />

wird die Arbeitsorganisation<br />

grundlegend<br />

ändern«<br />

Sebastian Schlund, Fraunhofer-Institut<br />

EIN DRITTEL ZEIT GESPART<br />

„Diese Assistenten stoppen genau dort, wo<br />

ich eine Schraube oder ein Zahnrad ins<br />

Getriebe einbauen muss, und fahren in die<br />

richtige Höhe“, sagt Kfz-Mechaniker Patrik<br />

Hausknecht. Sich nach dem Werkzeug bücken<br />

fällt ebenso weg wie schweres Heben<br />

und Drehen des Getriebes. War der 28-Jährige<br />

früher für nur eine Getriebeart zuständig<br />

und stand fast 20 Meter <strong>vom</strong> nächsten<br />

Arbeiter weg, arbeitet er jetzt mit zwei Kollegen<br />

im Team und beherrscht den Umgang<br />

mit bis zu zehn Maschinen – weil er<br />

dank der Digitalisierung rund ein Drittel<br />

Zeit spart. Freie Tage, Urlaub, schwankende<br />

Auftragslage sind für Manager wie Mitarbeiter<br />

unkomplizierter zu lösen. Inselhopping<br />

in der Werkshalle – also immer<br />

wieder an anderen Arbeitsplätzen zu arbeiten<br />

– bringt niemanden mehr zum<br />

Schwitzen: Rote Leuchten und der selbstfahrende<br />

Assistent vereinfachen den Griff<br />

zum richtigen Radsatz und zur passenden<br />

Ritzelwelle. Noch gibt es den Auftrag mit<br />

seinen vielen Materialkennziffern zur Kontrolle<br />

zusätzlich auf Papier, aber bald wird<br />

nur noch der Bildschirm Auskunft geben.<br />

„Wir lernen schnell um“, sagt Hausknecht,<br />

„das müssen wir auch, denn das<br />

Einzige, was gleich bleibt, ist die Veränderung.“<br />

Dieses Motto gilt auch bei Borgwarner.<br />

Der Ludwigsburger Automobilzulieferer<br />

sucht IT-Fachleute, die über ihren Bildschirm<br />

hinaus denken, in gruppen- und<br />

fachübergreifenden Teams arbeiten können<br />

und flexibel einsetzbar sind: Borgwarner<br />

arbeitet an einem virtuellen System zur<br />

selbst organisierten Personaleinsatzplanung.<br />

Ziel ist es, immer nur genau so viele<br />

Mitarbeiter im Werk zu haben, wie laut<br />

Auftragslage nötig sind. Mitarbeiter sollen<br />

per App und Chat ihre Verfügbarkeit mit<br />

Vorgesetzten und Kollegen diskutieren.<br />

„Die Frage ist nicht, ob Maschine und<br />

Mensch zusammenwachsen, sondern<br />

wann“, sagt auch Wittenstein-Aufsichtsratschef<br />

Manfred Wittenstein. „Die Digitalisierung<br />

der Produktion ist die einzige<br />

Chance, im Weltmarkt mitzuhalten.“ n<br />

ruth lemmer | management@wiwo.de<br />

FOTO: HARDY MÜLLER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

96 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Management&Erfolg<br />

Spielplatz in der Chefetage<br />

PLANSPIELE | Mitarbeiter einstellen, das Marketingbudget kürzen, die Preise erhöhen:<br />

In virtuellen Szenarien können sich angehende Manager am Computer mit den Grundregeln der<br />

Unternehmensführung vertraut machen, ohne Schaden anzurichten. Ein Selbstversuch.<br />

PHASE 1<br />

Erst mal aus dem Bauch<br />

Seit mehr als 30 Jahren ist das Unternehmen<br />

am deutschen Markt etabliert,<br />

überzeugte mit innovativer<br />

Technik zu moderaten Preisen. Größter Erfolg<br />

des Fahrradherstellers Settler: das Citybike,<br />

von dem er jährlich 25 000 Stück<br />

verkauft. Mit zehn Millionen Euro Umsatz<br />

und knapp 800 000 Euro Gewinn kann sich<br />

der Mittelständler mit seinen 50 Mitarbeitern<br />

behaupten – zumindest noch. Seit<br />

zwei Jahren stagniert der Verkauf, technisch<br />

könnte das Citybike aufgefrischt werden,<br />

steigende Energie- und Materialkosten<br />

sowie die Wirtschaftskrise erschweren<br />

Produktion und Absatz. Die Expansion ins<br />

Ausland könnte helfen.<br />

Was bedeutet das für die Organisation<br />

von Produktion und Vertrieb? Wie viel<br />

Geld muss das Unternehmen in die Hand<br />

nehmen? Welches Personal ist dafür nötig?<br />

Fragen, die mir im Kopf herumschwirren<br />

– mir, dem Chef von Settler, dem CEO per<br />

Mausklick, für vier virtuelle Geschäftsjahre.<br />

Fragen, die ich in diesem Online-Simulationspiel<br />

des E-Learning-Anbieters Tata Interactive<br />

Runde für Runde beantworten<br />

will – um zu sehen, ob ich das Zeug zum<br />

Chef hätte.<br />

Fragen, die ab 22. Oktober auch Sie beschäftigten<br />

könnten – als Teilnehmer des<br />

ManagementCups, den WirtschaftsWoche<br />

und Tata Interactive zum dritten Mal ausrufen<br />

(siehe Kasten Seite 99).<br />

„Diese Simulationsspiele entwickeln gerade<br />

innerhalb eines Unternehmens oft eine<br />

Eigendynamik“, hat Tata-Manager Florian<br />

Gaspar beobachtet. „Da lässt sich online<br />

der reale Intimfeind in der Abteilung<br />

überflügeln, und der Trainee steht im Ranking<br />

plötzlich besser da als sein Chef.“<br />

Um konkurrenzfähig zu bleiben, will ich<br />

das Citybike technisch weiterentwickeln<br />

und im Ausland die sinkende Nachfrage im<br />

Inland kompensieren. Ob ich mir beide<br />

Schritte leisten kann? Eine Recherche im<br />

Infoboard des Online-Spiels – hier kann ich<br />

auf Presseberichte und Marktprognosen,<br />

Infos zu Materialkosten, gesamtwirtschaftlicher<br />

Entwicklung und Auslastung der<br />

Fertigung zugreifen – zeigt mir: Das Ausland<br />

muss warten, ich muss meine <strong>Ausgabe</strong>n<br />

in den Griff kriegen. Mein Vorgänger<br />

hatte Gehälter erhöht, und ich muss meine<br />

veraltete Produktionsanlage aufrüsten. Zusätzliche<br />

Mitarbeiter sind da nicht drin.<br />

Dabei liegt ihre Auslastung bereits bei 93<br />

Prozent. Stemmen die noch mal 1000<br />

Räder mehr? Weil ich die Daten auf die<br />

Schnelle nicht finde, entscheide ich aus<br />

dem Bauch: Die Fertigung bekommt doch<br />

eine Stelle zusätzlich, ich stecke 400 000<br />

Euro in die Werbung und erhöhe das Produktionsziel<br />

auf 26 000 Räder.<br />

Aber zu welchem Preis kann ich sie anbieten?<br />

Auch dazu liefert das Infoboard<br />

Daten: wie stark der Preis den Verkaufserfolg<br />

eines Produkts beeinflusst. Oder wie<br />

viel Prozent Nachlass die Nachfrage wie<br />

stark steigen lässt. In letzter Sekunde senke<br />

ich den Verkaufspreis um fünf Euro – also<br />

genau um den lächerlich geringen Betrag,<br />

vor dem mich das Infoprogramm gewarnt<br />

hatte. Eine Kurzschlusshandlung – aber ich<br />

will das Geschäftsjahr abhaken und lasse<br />

den Computer rechnen.<br />

In zwei Minuten, die mir endlos erscheinen,<br />

jagt der Rechner meine Entscheidungen<br />

durch diverse Szenarien: Macht zu hohe<br />

Arbeitsbelastung meine Mitarbeiter unzufrieden,<br />

liebäugeln sie mit der Konkurrenz.<br />

Investiere ich zu wenig in mein Produkt,<br />

meckern die Kunden, der Verkauf<br />

bricht ein. Auch das Verhalten meiner drei<br />

virtuellen Konkurrenten fließt ein.<br />

Das Ergebnis meines ersten Geschäftsjahres:<br />

mehr Umsatz, weniger Marktanteil.<br />

Und weniger Gewinn.<br />

ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

98 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


PHASE 2<br />

Auf ins Ausland<br />

Mein Gewinn ist zwar rückläufig, aber die<br />

Konkurrenz steht noch schlechter da. Bestes<br />

Ebit, höchste Kundenzufriedenheit,<br />

bester Technologieindex, höchster Gewinn<br />

– schön, schön, schön. Aber ich habe<br />

Marktanteile verloren und hatte Lieferengpässe.<br />

Immerhin: Meine Kasse ist dick gefüllt.<br />

Aber ist das ein Vorteil? Oder haben die<br />

anderen das Geld schon sinnvoll investiert?<br />

Und was will mir der hohe ROCE-<br />

Wert sagen und was ist das überhaupt?<br />

Schnell aufs Glossar geklickt und im Internet<br />

recherchiert – aha: vergleichbar mit<br />

dem ROI, der Rendite aufs eingesetzte Kapital.<br />

Mein EVA, also mein Kapitalerlös<br />

abzüglich der Kapitalkosten, ist im Vergleich<br />

zu den Wettbewerbern auch hoch.<br />

Auch in Sachen Planung überflügle ich<br />

die Konkurrenz deutlich. Welch ein Triumph<br />

– dabei spiele ich nur gegen den<br />

Computer.<br />

Ich wage also den Gang ins Ausland.<br />

Dort will ich die Räder etwas günstiger anbieten,<br />

um Boden gutzumachen. Wie viel<br />

Umsatz ich dort im laufenden Jahr erwarte,<br />

will der Computer wissen. Sagen wir 1,2<br />

Millionen? Oder 1,8 Millionen? Die Euro<br />

werden zum Spielgeld. Auf jeden Fall<br />

brauche ich eine neue Fertigungsanlage:<br />

Ich wähle das Luxusmodell – die Standardmaschine<br />

kommt zu schnell an die<br />

Kapazitätengrenze für meine großen Pläne.<br />

Außerdem brauche ich mehr Vertriebler<br />

und Produktioner und berücksichtige<br />

die Transportkosten ins Ausland. Meine<br />

internationalen Handelspartner bitten um<br />

einen Werbekostenzuschuss. Meiner Entwicklungsabteilung<br />

lege ich auch noch<br />

was drauf. Die Millionen schwinden – gut<br />

so! Gut so? Mal schauen, was der Computer<br />

sagt: Was? Der Gewinn ist zurückgegangen,<br />

meine Kunden sind unzufrieden,<br />

meine Mitarbeiter überlastet, und jetzt<br />

wollen sie auch noch mehr Geld. Puh – ich<br />

mach jetzt Feierabend.<br />

PHASE 3<br />

Wie soll das klappen?<br />

Ich habe ehrgeizige Ziele: Ich will meine<br />

Marktposition verbessern und mich wieder<br />

von der Konkurrenz absetzen. Dafür<br />

investiere ich in Personal: stelle mehr Mitarbeiter<br />

für die Produktion ein, spendiere<br />

dem Team diverse Weiterbildungen, erhöhe<br />

die Betriebsrente und stecke mehr<br />

Geld in Werbung. Gleichzeitig erreicht<br />

mich die Nachricht, dass die Energiekosten<br />

gestiegen sind und sich auch die Materialkosten<br />

verteuern. Wie soll ich das alles<br />

wuppen? Ich klicke hier und da, schiebe<br />

Regler pi mal Daumen von links nach<br />

rechts und wieder zurück – noch stehe ich<br />

ja an zweiter Stelle im Ranking, alles halb<br />

so wild. Das Support-Team empfiehlt mir,<br />

die Produktforschung im Blick zu haben,<br />

sonst würden mich die Wettbewerber abhängen.<br />

Einer nervt mich mit aggressiver Hochpreispolitik<br />

– wahrscheinlich setzt er auf<br />

High-Tech-Designräder mit nachhaltig gefertigten<br />

Bambus-Bauteilen und Ledersattel.<br />

Oder der Hersteller mit den Kampfpreisen<br />

– irgendwie vulgär. Okay, er verkauft<br />

gut, verdient aber nichts. Bleibt hoffentlich<br />

so. Im dritten Wettbewerber sehe ich einen<br />

Verbündeten: ein Durchwurschtler ohne<br />

Wagemut, aber hoch solide.<br />

Weil ich deutlich besser dastehe als er,<br />

leiste ich mir Wertpapiere. Maschinen und<br />

Mitarbeiter sind bis zum Anschlag ausgelastet,<br />

da darf keiner krank werden. Stelle<br />

schnell noch vier neue Mitarbeiter ein, das<br />

System warnt mich: Gute Fachkräfte sind<br />

derzeit knapp. Ich hoffe, ich habe die richtigen<br />

erwischt, setze noch ein paar Schulungen<br />

an und beschließe das Geschäftsjahr<br />

mit einem Klick.<br />

PHASE 4<br />

Das Ruder rumreißen<br />

Die Krise hat mich voll erwischt. Auch die<br />

Konkurrenz musste Federn lassen, aber<br />

bei mir sieht es am übelsten aus: Selbst der<br />

Billigheimer hat mich überflügelt. Jetzt<br />

heißt es Ruder rumreißen: Ich verkaufe<br />

meine Aktien wieder, leere mein Materiallager<br />

und stecke dafür mehr Geld in Werbung,<br />

Training und Sozialausgaben. Und<br />

stelle weitere Mitarbeiter für Produktion<br />

und Forschung ein. Das muss doch noch<br />

klappen!<br />

Aber das Urteil des Computers ist ernüchternd:<br />

Ich war zu knauserig. Die Kasse<br />

ist gefüllt, aber meine Leute mussten<br />

schuften bis zum Umfallen – drei haben gekündigt.<br />

Und auch technisch konnte mein<br />

Fahrrad nicht mithalten. Das Rennen hat<br />

ausgerechnet der Konkurrent mit den Nobelrädern<br />

gemacht. Na warte – morgen<br />

spiele ich noch mal von vorn!<br />

n<br />

jenny niederstadt | management@wiwo.de<br />

MANAGEMENT CUP<br />

Sie sind der<br />

Boss!<br />

Auf den Sieger wartet ein Opel<br />

Adam Rocks für bis zu 20 000 Euro.<br />

DIE STORY<br />

Wir schreiben das Jahr 2018: Die mobile<br />

Kommunikation steht vor dem nächsten<br />

großen Schritt, die Grenze zwischen<br />

Smartphone und Tablet schwindet. Als<br />

international tätiger Hersteller von Laptops<br />

und Desktopcomputern steht Ihr<br />

Unternehmen vor einer fundamentalen<br />

strategischen Neuausrichtung. Konfrontiert<br />

mit den rasanten Entwicklungen im<br />

Tablet- und Smartphone-Markt, ist Ihr<br />

Geschäftsmodell mittelfristig in Gefahr.<br />

Ihr Hoffnungsträger: das Hochleistungs-<br />

Tablet Durablet mit 24-Monats-Akku.<br />

IHRE MISSION<br />

Sie steuern ein Jahr lang den Erfolg des<br />

Durablet – von der Etablierung im Markt<br />

bis zum Eintritt in die Gewinnzone.<br />

RUNDE 1: 22.10.–18.11.<br />

Sie managen das erste Jahr, unterteilt<br />

in vier Quartale – für jedes Quartal<br />

haben sie jeweils eine Woche Zeit.<br />

RUNDE 2: 19.11.–9.12.<br />

Sie kümmern sich um die Weiterentwicklung<br />

der kommenden drei Jahre,<br />

für jedes Geschäftsjahr haben Sie eine<br />

Woche Zeit.<br />

DIE PREISE<br />

In jeder Runde winken Sonderpreise –<br />

darunter Uhren von Nomos Glashütte,<br />

eine Reise nach Fuerteventura oder<br />

Fahrertrainings. Der Spieler mit der<br />

höchsten Gesamtpunktzahl der Finalrunde<br />

gewinnt den Hauptpreis: einen<br />

Opel Adam Rocks für bis zu 20 000 Euro.<br />

ANMELDUNG<br />

Bis 18. November, 12 Uhr,<br />

unter wiwo.de/managementcup<br />

ManagementCup<br />

WirtschaftsWoche <strong>13.10.2014</strong> Nr. 42 99<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Geld&Börse<br />

Die richtige Zeit ist –<br />

jetzt!<br />

GELDANLAGE | Wer Geld übrig hat, kennt das Problem: Wohin damit? Bei Aktien droht<br />

der Crash, bei Gold war er schon da, auch Immobilien scheinen überteuert.<br />

Die Lösung: breit streuen. Wie Sie jetzt 15 000 oder 50 000 Euro am besten anlegen und<br />

später einfach nachjustieren. Die Strategie ist erprobt, wer sie über Jahre durchzieht,<br />

muss weder Nullzins noch Aktiencrash fürchten.<br />

Früher“, sagt Margarethe Klein, 69,<br />

da habe sie sich immer gefreut<br />

auf den Brief von der Bank im Januar.<br />

Der enthielt den Depotauszug<br />

fürs Jahr davor, und Frau<br />

Klein las zufrieden, dass sie wieder ein paar<br />

Tausend Mark Zinsen bekommen hatte.<br />

„Da hatte ich das Gefühl, dass ich belohnt<br />

werde für mein Sparen.“ Freundinnen gingen<br />

drei Mal im Jahr auf Flusskreuzfahrt;<br />

Klein sparte. Weil sie muss: eine Ausbildung<br />

zur Modeschneiderin hat sie gemacht,<br />

aber auch drei Kinder großgezogen.<br />

Vollzeit gearbeitet hat sie daher nur kurz –<br />

und so kaum Rentenansprüche. Sie lebt<br />

von den Zinsen, die das gemeinsam mit ihrem<br />

Mann aufgebaute Vermögen abwerfen<br />

soll, und von einer kleinen Witwenrente.<br />

Die Auswirkungen der aktuellen Niedrigzinsen<br />

sieht Klein schwarz auf weiß auf ihrem<br />

Depotbericht: „Die Weihnachtsgeschenke<br />

für die Enkel fielen in den letzten<br />

Jahren schon ’ne Nummer kleiner aus.“<br />

KEIN ZINS, NIRGENDS<br />

Anhaltende Niedrigzinsen sind für Anleger<br />

mehr als ein Luxusproblem. Sie schmälern<br />

nicht nur die Erträge der Spargroschen;<br />

auch Wertpapiere wie Staatsanleihen, in<br />

die zum Beispiel Lebensversicherungen einen<br />

Großteil ihrer Einlagen investieren<br />

müssen, werfen kaum noch Rendite ab,<br />

Versicherungen schütten ihrerseits immer<br />

weniger an die Anleger aus. Das merken<br />

die spätestens als Rentner. Wenn die Zinsen<br />

20 Jahre lang im Schnitt auch nur 1,5<br />

Prozentpunkte unter der Teuerungsrate<br />

liegen, schrumpft die Kaufkraft eines Vermögens<br />

von 100 000 Euro auf 74 000 Euro.<br />

Dennoch legen die Deutschen weiter zinslastig<br />

an. „Kaum jemand bringt<br />

so viel Geld zur Bank wie wir, obwohl<br />

die Zinsen noch niedriger<br />

sind als im Rest Europas“, sagt<br />

Aktien spielen keine Rolle<br />

Wie die Deutschen ihr Geld investieren<br />

(in Prozent)*<br />

Investmentfonds<br />

Zertifikate<br />

2,0<br />

Rentenpapiere<br />

2,6<br />

Aktien<br />

6,3<br />

9,1<br />

Sonstiges<br />

10,6<br />

Gesamt:<br />

5226<br />

Mrd. Euro<br />

29,6<br />

Ansprüche gegen<br />

Versicherungen<br />

* ohne Immobilien; Stand: Dezember 2013;<br />

Quelle: Bundesbank<br />

39,8<br />

Mehr zur Geldanlage<br />

2015 bietet<br />

unsere Konferenz:<br />

www.wiwo-invest<br />

mentgipfel.de/<br />

Bankeinlagen<br />

Allianz-Chefvolkswirt Michael<br />

Heise. 5226 Milliarden Euro haben<br />

wir in Summe an Privatvermögen<br />

(ohne Immobilien) angehäuft;<br />

mehr als 70 Prozent davon<br />

liegen in Bankeinlagen wie<br />

Tagesgeld und Festgeld, und in<br />

Ansprüchen gegen Versicherungen<br />

(siehe Grafik unten).<br />

Nur jeder zehnte Deutsche ist Aktionär,<br />

direkt oder über Fonds, in den USA jeder<br />

zweite. „Die Börsen-Allergie ist nachvollziehbar,<br />

zwei Mal konnten Anleger dort in<br />

zehn Jahren die Hälfte ihres Einsatzes verlieren“,<br />

sagt Joachim Paul Schäfer, einer der<br />

dienstältesten deutschen Vermögensverwalter,<br />

„viele haben Angst, schon<br />

wieder zu spät zu kommen.“<br />

Und es stimmt: Vor zwei Jahren<br />

waren Aktien billiger. Nur<br />

nutzt diese Erkenntnis wenig,<br />

wenn man hier und heute Geld<br />

anzulegen hat. Wohin also damit,<br />

wenn sichere Zinsen nicht<br />

mal die Inflation ausgleichen<br />

und Aktien so teuer sind, dass<br />

man fürchten muss, direkt in den<br />

nächsten Crash zu laufen?<br />

Die Lösung liegt in der richtigen<br />

Mischung. Ein Depot aus je 30 Prozent<br />

Aktien und Anleihen, 25 Prozent Gold und<br />

15 Prozent Tagesgeld hat Anlegern seit<br />

2000 5,6 Prozent Rendite pro Jahr eingebracht.<br />

Seit Januar 2000 liegt es insgesamt<br />

123 Prozent im Plus – trotz verheerender<br />

Aktiencrashs und Niedrigzinsen. Wie Anleger<br />

sich ein Depot bauen, was sie dabei beachten<br />

müssen und mit welchen Aktien<br />

und Fonds es bestückt werden kann, steht<br />

auf den folgenden Seiten: einmal für 15 000<br />

Euro und einmal für 50 000, die angelegt<br />

werden sollen (siehe Tabelle Seite 103).<br />

DIE ZINSEN BLEIBEN UNTEN<br />

Eins vorweg: Einfacher wird es nicht werden.<br />

Um in der Finanzkrise seit 2008 eine<br />

Depression mit Banken- und Staatspleiten<br />

zu verhindern, haben die Notenbanken die<br />

Märkte mit Geld geflutet und die Zinsen<br />

auf nahe null gesenkt. „Damit haben sie<br />

damals Schlimmeres verhindert, doch nun<br />

haben wir die Folgen dieser Geldpolitik zu<br />

tragen“, sagt Daniel Stelter, Ex-Berater bei<br />

Boston Consulting und Gründer des Krisen-Thinktanks<br />

BTO. „Tagesgeld und Lebensversicherungen<br />

werden durch die<br />

»<br />

FOTO: LAIF/MARTIN LEISSL<br />

100 Nr. 42 <strong>13.10.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Nichts wie weg Private<br />

flohen von der Börse–<br />

auf lange Sicht unklug<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Geld&Börse<br />

30 % AKTIEN<br />

»<br />

unter der Inflationsrate liegenden Zinsen<br />

entwertet, und für Aktien und Immobilien<br />

müssen Anleger so hohe Preise bezahlen,<br />

dass die Renditeaussichten auf Jahre<br />

mau sind.“ Denn die Geschäftsbanken<br />

nutzten das Notenbankgeld weniger, um<br />

damit Kredite an Start-ups oder Mittelständler<br />

zu vergeben. Sie verliehen es weit<br />

großzügiger an Großinvestoren wie Hedgefonds.<br />

Die kauften davon Anleihen, Aktien,<br />

Immobilien. Folge: Alles ist teuer. Privatanleger,<br />

die nicht früh mit auf den Trend<br />

sprangen, haben das Nachsehen.<br />

Dass die Zinsen bald wieder substanziell<br />

steigen, ist sehr unwahrscheinlich. Schuld<br />

daran sind die noch immer viel zu hohen<br />

Schulden der Staaten; sie wurden seit Beginn<br />

der Krise keineswegs abgebaut. Würden<br />

die Zentralbanken jetzt die Zinsen erhöhen,<br />

riskierten sie einen Rückfall in<br />

schlimmste Krisenzeiten. „Die derzeitige<br />

Ruhe trügt; die Schulden können nach wie<br />

vor nicht auf normalem Wege zurückgezahlt<br />

werden“, sagt Schäfer. Der anormale<br />

Weg wären galoppierende Inflation oder<br />

ein Schuldenschnitt, die Zinspapiere entwerten.<br />

NUR KEINE PANIK<br />

Viele fallen nun von einem Extrem ins andere:<br />

„Im Moment fließt viel in Immobilien“,<br />

weiß Uwe Wiesner <strong>vom</strong> Vermögensmanager<br />

Hansen & Heinrich, „die Risiken<br />

blenden viele komplett aus.“ Dort, wo Menschen<br />

Wohnraum weiter nachfragen, sind<br />

die Preise oben: In München etwa kletterten<br />

sie seit 2008 um 56 Prozent. Zinshäuser<br />

in guten Lagen kosten 25 Netto-Jahreskaltmieten<br />

– zu viel.<br />

Ein anderer Vermögensverwalter berichtet<br />

von einem Kunden, Abteilungsleiter bei<br />

einem Dax-Konzern, der aus einem Depot<br />

Mehr Schub fürs Depot<br />

ABB<br />

21<br />

19<br />

17<br />

15<br />

ABB<br />

in Euro<br />

13<br />

12 2013 2014<br />

baut Antriebs- und<br />

Automatisierungstechnik,<br />

etwa Steuersysteme<br />

für Schiffsschrauben.<br />

Vom<br />

Zwang zu mehr Energieeffizienz<br />

profitieren<br />

auch Anleger<br />

von 500 000 Euro 100 000 machte, weil er<br />

2012 fast alles in Gold und Goldminenaktien<br />

investierte – in der festen Überzeugung,<br />

der Euro gehe kaputt, und nur Gold<br />

rette Vermögen.<br />

Besser als solche Hauruck-Umschichtungen<br />

ist es, das Depot zu streuen und regelmäßig<br />

an die für die einzelnen Anlageklassen<br />

festgelegten Quoten anzupassen.<br />

Den Kern sollten Aktien, Anleihen, Cash<br />

und Gold bilden. Sie sind schnell verfügbar,<br />

ihre Preise sind transparent, und Gebühren<br />

halten sich im Rahmen.<br />

Aktien, Anleihen, Cash, Gold<br />

Wie ein Vermögen von 50000 Euro angelegt<br />

werden sollte (in Prozent)<br />

Cash<br />

20<br />

30<br />

Anleihen<br />

Gold<br />

(physisch) 20<br />

50000<br />

Euro<br />

30<br />

Aktien<br />

Akzeptable Renditen sind ohne Aktien<br />

kaum zu schaffen. „Nur die Privatwirtschaft<br />