Wirtschaftswoche Ausgabe vom 13.10.2014 (Vorschau)
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
42
13.10.2014|Deutschland €5,00
4 2
4 1 98065 805008
Der „Islamische Staat“ bedroht die Weltwirtschaft
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Einblick
Geschäftsberichte, Markenkommunikation und
Terror als Produkt. Der „Islamische Staat“ agiert wie
ein globaler Konzern. Von Miriam Meckel
Kriegsökonomie
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Die Geschäfte der radikalen Terrororganisation
„Islamischer
Staat“ („IS“) laufen blendend.
Das klingt schrecklich, ist aber
wahr. Der Kampf um Kobane in Nordsyrien
ist nur eine weitere martialische
Transaktion. Sie ist ausgerichtet auf eine
geopolitische Übernahme – so steigert der
„IS“ seinen Macht- und Marktanteil gegenüber
der internationalen Anti-Terror-
Allianz. Mit bedrückender strategischer
und operativer Präzision arbeiten sich die
Dschihadisten im Mittleren Osten vor. Der
„IS“ ist der reichste und bestorganisierte
Terrorkonzern der Welt. Sein Produkt ist
der Terror, seine Währung die Angst.
Seit 2011 wurde konsequente Arbeit geleistet.
Der „IS“ agiert nicht nur auf
schreckliche Weise kompromisslos. Er legt
über sein Vorgehen in Geschäftsberichten
(„al-Naba“, die Nachricht) Rechenschaft ab
– in Optik und Anmutung ausgerichtet an
Konzernen der Weltwirtschaft und angereichert
mit professionellen Infografiken.
Ihre KPIs (Key Performance Indicators)
heißen: Mordanschläge, Sprengstoffattacken,
Enthauptungen.
Das Institute for the Study of War in Washington
hat die Berichte systematisch
ausgewertet. Allein für das Jahr 2013 verzeichnet
das Portfolio der Terroristen 1083
Morde, 607 Granatenangriffe, 4465 Sprengstoffanschläge.
Der Bericht liefert die Zahlen
nach Bedarf auch noch differenzierter,
auf einzelne Regionen der umkämpften
Gebiete heruntergebrochen.
Die Geschäfte des „Islamischen Staats“
laufen auch finanziell blendend. Um die
425 Millionen Dollar soll die Terrormiliz allein
durch die Plünderung der Zentralbank
von Mossul erbeutet haben. Laufende Einnahmen
stammen aus Schutzsteuern der
Bevölkerung und dem Schwarzhandel mit
Öl aus Quellen in den kontrollierten Gebieten.
Für uns alle ist der Preis hoch: Menschen
werden zu Hunderten brutal abgeschlachtet.
Eine Milliarde Dollar hat der
Kampf gegen den „IS“ die USA bereits gekostet.
Es wird noch viel teurer werden –
Kosten der Konjunktureinbrüche, Destabilisierung
und des Vertrauensverlusts. In einer
Ökonomie der Aufmerksamkeit ist
Angst für Terroristen die härteste Währung.
Uneinigkeit und Partialinteressen bei
den Stakeholdern im arabischen Raum
treiben die Preise hoch. Saudi-Arabien unterstützt
offiziell die US-geführte Allianz im
Kampf gegen den „IS“. Doch auf versteckten
Wegen fließt das Geld von Großfinanziers
im Land in die Kassen der Terroristen.
Die Türkei dagegen, Nato-Partner, wir erinnern
uns dunkel, hat für ihre Panzer an der
Grenze zu Syrien Dauerparkplätze eingerichtet.
Da stehen sie nun rum. Präsident
Erdogan will vor allem eines nicht:die Kurden
in Syrien unterstützen – und liefert ein
Beispiel für politischen „moral hazard“. Die
Türkei will den Nato-Bündnisfall provozieren,
um dann vom politischen „Bail-out“
zu profitieren. Diese Uneinigkeit der Staaten
in der Region lässt sich durch den „IS“
wunderbar hedgen: als Absicherung seiner
Strategie geopolitischer und ideologischer
Anteilsübernahme.
TERRORBRANDING IM INTERNET
Alles, was der „Islamische Staat“ tut, ist
durch eine professionelle Kommunikation
des Grauens unterlegt. Videos von Enthauptungen
und Autobombenexplosionen
sind überall im Internet zu finden und verbreiten
sich viral. Im Umgang mit Twitter
und YouTube schlägt der „IS“ manchen US-
Großkonzern. Eine eigene App („Die Morgendämmerung
der Freudenbotschaft“),
die das Telefon der Nutzer hackt und
„IS“-Botschaften am laufenden Bit sendet,
wurde durch Google gestoppt. Aber: Ein
Twitter-Konto wird abgeschaltet, zehn
neue entstehen. Das Internet ist eine große
Marketingplattform – auch für Terroristen.
Die Terrormiliz hat eine starke Marke.
Sie lässt sich auch für die Rekrutierung von
Nachwuchskämpfern effizient nutzen:
„Employer Branding“ für potenzielle
Selbstmordattentäter und Söldner des
grausamen Tötens. Wie weit die Zuversicht
in ein gelungenes Leben und eine hoffnungsvolle
Zukunft bei denen heruntergewirtschaftet
sein muss, die sich davon
blenden lassen, will man sich kaum vorstellen.
n
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 3
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Überblick
Menschen der Wirtschaft
6 Seitenblick Hopfen mit Bonbonnote
8 Sportwetten: Staatsvertrag auf der Kippe
9 Bang & Olufsen: Trendwende | Amazon:
Deutsches Rechenzentrum öffnet
10 Interview: Finanzwissenschaftler Markus
Kerber attackiert die EZB | Babynahrung:
Streit um Versorgungslage
12 Nobelpreis: Geschäft für Leica und Zeiss |
Hochtief: Krankheit vorgeschoben | Drei
Fragen zum Kauf von Gruner + Jahr
14 Bahn: Konkurrenz aus England | Audi:
Luxus-Carsharing für Schweden | Draghi:
Deutsche Englischverweigerer bremsen
16 Chefsessel | Start-up UniCoach
18 Chefbüro E.On-Chef Johannes Teyssen
Titel Die Angst rückt näher
So brutal die islamistischen Milizen
im Irak und in Syrien auch wüten – der
Westen wähnt sie weit weg. Doch die
Folgen des Kriegs bekommt die ganze
Welt zu spüren. Europas Sicherheit ist
in Gefahr, neue Risiken bedrohen die
Weltwirtschaft. Seite 20
Politik&Weltwirtschaft
20 Terror Der „Islamische Staat“ bedroht die
Weltwirtschaft | Interview: Alois Stutzer erklärt,
warum Angst mehr schadet als nutzt |
Forum: Volkhard Windfuhr über Versäumnisse
des Westens | Die Bundeswehr könnte
durchaus mehr leisten
32 Streitgespräch Unternehmer Fabian Heilemann
und SPD-Hoffnungsträger Jan Stöß
debattieren die Chancen der IT-Szene Berlin
36 Transparenz Hamburgs Verwaltung stellt
ihre Daten ins Netz. Nicht alle finden das toll
38 Ukraine OSZE-Beobachter leben gefährlich
39 Global Briefing | Berlin intern
Der Volkswirt
40 Kommentar
41 Deutschland-Konjunktur
42 Nachgefragt: Leon Louw Der Aktivist
bricht eine Lanze für die Ungleichheit
44 Denkfabrik Ökonom Holger Schmieding
nimmt Europas Zentralbank in Schutz
Unternehmen&Märkte
46 Fiat Konzernchef Sergio Marchionne baut
das Turiner Traditionsunternehmen um
52 Interview: Keith Block Der Präsident von
Salesforce sagt SAP den Kampf an
54 Banken Faule Schiffskredite in Milliardenhöhe
bedrohen deutsche Institute
58 Allianz Wie Oliver Bäte, der designierte
Vorstandschef, tickt
60 Interview: Ulrich Spiesshofer Der Chef
des Anlagenbauers ABB gesteht Fehler ein
62 Tengelmann Der Verkauf der Supermärkte
ist noch längst nicht über die Bühne
64 Segafredo Espresso-König Massimo Zanetti
ist anders als die meisten seiner Kaste
68 Spezial Mittelstand Kleinere Unternehmen
zeigen, wie sie sich gegen Konzerne behaupten
| Alnatura | Germania | Tobit | Eugen
Trauth & Söhne | Abeking & Rasmussen
84 Serie: Fit for Future (IV) Wie Mittelständler
Probleme bei Firmenübernahmen
in Osteuropa und Asien überwinden
Turiner Träumereien
Mit dem Börsengang inszeniert Konzernchef Sergio Marchionne
für den italienischen Autobauer Fiat ein Finale im Stil einer ernsten
Oper – voller Emotionen, Hoffnungen und Versprechen. Seite 46
TITELILLUSTRATION: DMITRI BROIDO
4 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Nr. 42, 13.10.2014
Technik&Wissen
86 Fotografie Mit lichtstarken und kompakten
High-End-Geräten reagiert die Kameraindustrie
auf den Boom der Smartphones
91 Computer Daddeln am PC wird Profisport
93 Valley Talk
Deutschlands
Geheimwaffe
Ausländer bestaunen
deutsche Mittelständler
wie Alnatura-Chef Götz
Rehn. Mit Flexibilität,
Kundennähe und Innovationen
gelingt es den
Familienunternehmen,
Konzernen zu trotzen
und Weltmarktführer zu
werden. Seite 68
Wohin mit dem Geld?
Wie Sie jetzt 15 000 oder 50 000 Euro in Aktien, Anleihen und Gold
anlegen. Die Strategie ist erprobt, wer langen Atem bewahrt, muss
weder Nullzins noch Aktiencrash fürchten. Seite 100
Management&Erfolg
94 Industrie 4.0 Die Digitalisierung verändert
die Produktion, aber auch Jobprofile
98 Planspiele In virtuellen Szenarien lernen
Jungmanager, Unternehmen zu führen |
Management Cup: Spielen Sie Chef!
Geld&Börse
100 Geldanlage Aktien, Anleihen, Gold: Richtig
investieren in Zeiten der Zins-Dürre
108 Erbschaften Wie geprellte Erben Konten
von Verstorbenen aufspüren
110 Interview: Bill Gross Der Guru über die
Märkte und seinen Abgang bei Pimco
112 Steuern und Recht Bahnstreik und Pendler
| Was Vermieter kassieren dürfen | Erbschaft |
Zusatzleistungen vom Chef | Ärger im Büro
114 Geldwoche Kommentar: Anleihe-Desaster |
Trend der Woche: Börsen drehen ab | Dax-
Aktien: Lufthansa | Hitliste: Schwellenländer
| Aktie: Deutsche Bank | Anleihe: VW in
Pfund Sterling | Investmentfonds: Manager
Michael Muders zu gefloppten Internet-
Börsengängen | Chartsignal: ifo-Index
drückt den Dax | Relative Stärke: Südzucker
ILLUSTRATION: EDWIN FOTHERINGHAM; FOTOS: LAIF/OLIVER RUETHER, CORBIS IMAGES/OCEAN/CHRIS TOBIN
Edle Blickfänger
Getrieben durch die Konkurrenz der Smartphones, besinnt
sich die Fotobranche auf ihre Innovationskraft – und erfindet
eine neue Kameragattung. Die hat es in sich. Seite 86
Perspektiven&Debatte
122 Bonds Shakespeares „Kaufmann von
Venedig“ lehrt viel über Schuldenwirtschaft
126 Kost-Bar
Rubriken
3 Einblick, 128 Leserforum,
129 Firmenindex | Impressum, 130 Ausblick
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche
weltweit auf iPad oder iPhone:
Diesmal mit unserem neuen
Video-Streitformat „Schlag auf
Schlag“, einem virtuellen
Rundgang durch das
Turiner Auto-Museum
und einem 360-Grad-
Blick durchs Chefbüro.
wiwo.de/apps
n Nordkorea Autor und Nordkorea-
Kenner Rüdiger Frank spricht im
Interview über das verschwiegene
kommunistische Land und Diktator
Kim Jong-un. wiwo.de/nordkorea
facebook.com/
wirtschaftswoche
twitter.com/
wiwo
plus.google.com/
+wirtschaftswoche
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 5
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Seitenblick
BIERMARKT
Edler Hopfen
Nach schweren Jahren erleben die deutschen Hopfenbauern eine Trendwende. Denn die
kleinen Brauer der boomenden Craft-Biere benötigen riesige Mengen teurer Spezialsorten.
Reiche Ernte Hopfenbauer
Peter Bentele (Mitte) bei
Tettnang im Hinterland
des Bodensees
6 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
35 000 Tonnen
wurden jetzt in Deutschland geerntet, das ist etwa ein
Drittel der weltweiten Produktion. Der Großteil davon
wird in der bayrischen Hallertau zwischen Landshut
und Ingolstadt angebaut. In den vergangenen
Jahren gingen die Anbauflächen zurück. Doch 2014
gab es wieder einen Anstieg, für Experten eine
Trendwende. Ein Grund: die wachsende Nachfrage
nach Spezialhopfen für Craft-Bier.
Hopfen
1 Prozent der weltweiten Bierproduktion erzeugen
die kleinen, unabhängigen Brauer allein in
den USA, wo der Trend zum Craft-Bier entstanden ist.
Dabei verbrauchen sie jedoch zehn Prozent der weltweiten
Hopfenernte, da die Spezialbiere wie India
Pale Ale oft viel bitterer sind. Zudem nutzen die kleineren
Brauer besondere Hopfensorten. Das „Gewürz
des Bieres“ verleiht diesem so besondere Noten.
5 der 17 deutschen Sorten kamen in den vergangenen
zwei Jahren neu auf den Markt, darunter Polaris „mit
der Note eines Gletschereisbonbons“.
30 Euro kostet ein Kilo der Sorte Centennial.
Für normale Sorten bekommen die Hopfenbauern
im Schnitt fünf Euro. Der Anteil der Aromahopfen
macht inzwischen in Deutschland 55 Prozent aus.
„Trotzdem sind die sogenannten feinen Aromahopfen
der Ernte 2014 schon weitestgehend ausverkauft“,
sagt Thomas Raiser, Verkaufsleiter des weltgrößten
Hopfenhändlers Joh. Barth & Sohn aus Nürnberg.
oliver.voss@wiwo.de, thorsten firlus
Besondere Hopfensorten und ihre Aromen
Aurora
Menthol,
Zitrus,
Holz und
Kräuter
Cascade
Litschi,
Zitrus,
Sahne,
Kräuter und
rote Beeren
Centennial
Harz, Holz
und
rote Beeren
Citra
Grüne
Früchte,
rote Beeren,
Limette,
Mango,
florale Noten
Hallertau
Blanc
Menthol,
grüne Früchte,
fruchtigblumig,
Zitronengras
FOTO: LAIF/BERND JONKMANNS
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 7
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft
Kein großer Wurf
Hessens Ministerpräsident
Bouffier
SPORTWETTEN
Neues Spiel, neues Glück
Der Staatsvertrag steht auf der Kippe. Nun
sollen die Ministerpräsidenten wieder
ran, fordert der hessische Regierungschef.
Am Donnerstag sind sie gefordert.
Der Glücksspielstaatsvertrag, der auch das Betreiben
von Sportwetten regelt, kommt erneut auf den
Prüfstand. Auf Wunsch des hessischen Ministerpräsidenten
Volker Bouffier beraten er und seine
Kollegen auf ihrer Jahreskonferenz am Donnerstag
in Potsdam, wie es mit der verkorksten Regulierung
der Sportwetten weitergehen soll. Die Regierung in
Wiesbaden steht in der Öffentlichkeit am Pranger,
weil die Zulassung von Sportwetten an allen Ecken
hakt. Dabei führt Hessen nur im Auftrag aus, was alle
16 Bundesländer gemeinsam im Staatsvertrag
beschlossen haben.
Nachdem bei der Vergabe der vorgesehenen 20
Konzessionen viele Bewerber leer ausgegangen
waren, hatten diese vor Gericht zunächst in einer
Eilentscheidung durchgesetzt, dass das Lizenzverfahren
vorläufig ausgesetzt wird. Träten die Zulassungen
sofort in Kraft, könnten sich die glücklichen
ausgewählten Anbieter „angesichts des stark umkämpften,
lukrativen Markts für Sportwetten“ erhebliche
Vorteile sichern, urteilte der Hessische
Verwaltungsgerichtshof Dienstag vergangener Woche.
Die Richter wiesen damit eine Beschwerde des
hessischen Innenministeriums gegen den Stopp
zurück. Sollten die Richter in weiteren Verfahren
verfügen, dass gar der Ausgang des Hauptsacheverfahrens
abgewartet werden müsse, träten die Konzessionen
jahrelang nicht in Kraft.
Zudem hatte das Verwaltungsgericht Wiesbaden
bereits im August festgestellt, dass das Gremium
zur Vergabe der Konzessionen gar nicht befugt sei.
Im sogenannten „Glücksspielkollegium“ entscheiden
die zuständigen Referenten der Länder, teilweise
mit Mehrheit. Hierdurch werde eine „dritte Ebene“
jenseits von Bund und Ländern geschaffen, die
es nicht geben dürfe, hatte der Leipziger Staatsrechtler
Christoph Degenhart in einem Gutachten
begründet. Es halte die darin „aufgezeigten Bedenken
hinsichtlich der Legitimation des Glücksspielkollegiums
für durchgreifend“, so das Gericht.
Hessen hat nun die 15 anderen Bundesländer
wissen lassen, dass es im vertraulichen Kamingespräch
der Ministerpräsidenten am Donnerstag
seinen schon früher einmal vorgebrachten Vorschlag
wiederholen will, die Zahl der Konzessionen
deutlich zu erhöhen. Die Mehrheit der Länder sieht
das skeptisch, weil das Ziel des Staatsvertrages ja
gerade eine Begrenzung des Angebots sei. Sie
wollen zumindest abwarten, ob die Gerichte die
Konzessionen bis zum Ende der Hauptverfahren
aussetzen. In diesem Fall müsse man in der Tat entscheiden,
ob die gesamte Konstruktion erneuert
werden muss.
henning.krumrey@wiwo.de | Berlin
Der Staat gewinnt
Einnahmen der Länder
aus der Rennwett- und
Lotteriesteuer
(in Millionen Euro)
2012 2013 1. Hj. 2014
Rennwett- und Lotteriesteuer
865,2
1432,0
1635,3
darunter: Sportwettsteuer
84*
188,7
106
* die Sportwettsteuer wird ab
1. Juli 2012 erhoben; Quelle: BMF
FOTO: LAIF/GABY GERSTER
8 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
BANG & OLUFSEN
Mehr Läden geplant
Bang & Olufsen-Chef Tue
Mantoni will die Sanierung des
dänischen Unternehmens beschleunigen.
Im Zuge der Finanzkrise
konnte der Konzern
seine Luxusfernseher und Edel-
Soundsysteme nur noch
schleppend absetzen. Nun
scheint das Schlimmste überstanden
zu sein. Im Ende Mai
abgelaufenen Geschäftsjahr
stieg der Umsatz leicht auf rund
385 Millionen Euro. Erstmals erwirtschaftete
Bang & Olufsen
wieder einen kleinen Vorsteuergewinn
von 400 000 Euro. „Zwar
wird es von Quartal zu Quartal
Völlig neuer Sound
Bang & Olufsen-Chef Mantoni
weiterhin Schwankungen geben“,
sagt Mantoni, „aber ich
gehe für die nächsten drei Jahre
von einem jährlichen Wachstum
von zehn Prozent aus.“
In Europa wächst das Unternehmen
derzeit um 20 Prozent
jährlich, vor allem in Deutschland
und Großbritannien. Mit
einem Umsatzanteil von zehn
Prozent ist Deutschland aktuell
der wichtigste Markt.
In China allerdings verdoppelt
der Konzern jedes Jahr seinen
Umsatz. Noch vor drei Jahren
erzielte er dort drei Prozent
des Gesamtumsatzes, heute
sind es zehn Prozent. „In drei
Jahren rechne ich mit 20 Prozent“,
sagt Mantoni.
Als er vor dreieinhalb Jahren
den Chefposten übernahm,
schloss er 150 der damals 800
Läden. „Wir konzentrieren uns
nur noch auf Top-Lagen“, sagt
der Däne. Auch will Bang &
Olufsen mehr Geschäfte in Eigenregie
betreiben statt als
Franchise. In China kaufte
Mantoni den lokalen Franchisepartner.
Rund 40 Läden unterhält
das Unternehmen dort.
Insgesamt will es in den kommenden
Monaten 60 neue
Shops eröffnen, vor allem in
Deutschland, Großbritannien –
und natürlich in China.
matthias.kamp@wiwo.de | München
Aufgeschnappt
AfD im Goldrausch Vom Euro
hält die AfD nicht viel, nun bietet
sie ihren Anhängern eine Alternative
an: Goldmünzen und
Goldbarren aus dem eigenen
Online-Goldshop. Der verlangt
bis zu acht Prozent mehr als andere
Anbieter. So will die Partei
bis Jahresende zwei Millionen
Euro verdienen. Sonst verlöre
sie einen Teil der staatlichen
Zuschüsse. Deren Höhe richtet
sich nach Wahlerfolg und eigenen
Einnahmen. Und die Zuschüsse
will sich die AfD nicht
entgehen lassen – auch wenn
sie in Euro ausgezahlt werden.
Goldene Reserve 121 Gramm
Gold besitzt jeder erwachsene
Deutsche im Durchschnitt, vier
Gramm mehr als vor zwei Jahren,
so eine Studie des Heraeus-
Konzerns. Insgesamt stieg der
private Goldbestand – inklusive
Schmuck – seit 2012 um knapp
200 Tonnen auf 8200 Tonnen.
AMAZON
Premiere in
Deutschland
Der amerikanische Internet-
Riese Amazon eröffnet voraussichtlich
am 23. Oktober sein
erstes deutsches Rechenzentrum,
in dem andere Unternehmen
ihre Daten speichern
können. Mit seiner Tochter
Amazon Web Services (AWS)
ist der Konzern der weltweit
größte Anbieter von Cloud
Computing. Seit der Datenklauaffäre
des amerikanischen
Geheimdienstes NSA beharren
viele europäische Cloud-Computing-Kunden
darauf, dass
ihre Daten nicht auf Speichern
in den USA abgelegt werden.
Auch der US-Konzern Oracle
kündigte jüngst an, dass er in
Deutschland bis zum Jahresende
zwei Rechenzentren ans
Netz bringen will.
Die Amazon-Tochter AWS
betreibt in Europa bisher nur einen
Cloud-Serverpark – in Irland.
Zum Start des deutschen
Rechenzentrums will sogar
AWS-Chef Andy Jassy nach
Deutschland kommen, wie es
in unternehmensnahen Kreisen
hieß. Erste Indizien für den
Start eines deutschen Rechenzentrums
von AWS waren vor
drei Monaten aufgetaucht
(WirtschaftsWoche 29/2014).
thomas.stoelzel@wiwo.de
Fleißige Beamte Wie viele Überstunden deutsche Arbeitnehmer pro Monat leisten
14:36
bezahlte Überstunden
unbezahlte Überstunden
9:36
7:00
7:18
5:00
4:24 4:18
0:12 0:30
0:54
1:18 1:24 1:30 1:24 1:36
0:30
3:36
2:18
0:12 0:24
FOTOS: PR, FOTOLIA
Vorarbeiter
Gelernte
Arbeiter,
Facharbeiter
Quelle: IAB, September 2014
Meister,
Polier
Angestellte,
einfache Arbeit
Beamte im
gehobenen
Dienst
Angestellte,
qualifizierte
Arbeit
Industrieund
Werkmeister
Leitende
hoch qualifizierte
Angestellte
Beamte im
höheren
Dienst
Angestellte
Führungskräfte
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 9
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft
BABYNAHRUNG
Streit um
Versorgung
Produktion erhöht
Unternehmer
Hipp
Als der US-Lebensmittelriese
Heinz kürzlich Babynahrung
in China wegen zu hoher Bleikonzentration
aus den Läden
nahm, schreckten auch deutsche
Mütter auf. Denn während
des letzten Skandals in China
um verseuchte Babymilch im
Jahr 2013 leerten sich auch hierzulande
die Regale, die hiesigen
Produkte wurde in die Volksrepublik
verkauft. Selbst nach einem
Jahr ist keine Entspannung
in Sicht. „Die Gesamtnachfrage
nach Milchnahrung kann nach
wie vor nicht voll gedeckt werden“,
sagt Christoph Werner,
bei der Drogeriekette dm Geschäftsführer
für Beschaffung.
Um Hamsterkäufen vorzubeugen,
ist die Abgabe vieler Produkte
immer noch beschränkt.
Auch Konkurrent
Rossmann
verkauft
von vielen
Produkten
maximal
drei Stück.
Laut Rossmann
„bestehen
derzeit
bei
Hipp-Produkten
Lieferengpässe“.
Der größte deutsche
Produzent von Babynahrung
widerspricht. „Die Regale sind
national gut gefüllt, und sowohl
wir als auch der Handel haben
auch wieder ausreichend Bestände“,
heißt es aus dem Hause
von Claus Hipp. Die Produktion
wurde deutlich erhöht.
Auch Konkurrent Milupa hat
die Produktion verdoppelt und
spricht von einer Entspannung.
Dies zeigten auch die Nachfragen
besorgter Mütter: „Statt
3000 Anrufen pro Woche bekommen
wir jetzt nur noch 30.“
oliver.voss@wiwo.de
INTERVIEW Markus C. Kerber
»Die EZB verfälscht
den Wettbewerb«
Der Berliner Finanzwissenschaftler klagt gegen
die Europäische Zentralbank. Er befürchtet, dass
sie diktatorische Züge entwickelt.
Herr Kerber, der Europäische
Gerichtshof (EuGH) verhandelt
am Dienstag darüber, ob die
Europäische Zentralbank (EZB)
ihre Kompetenzen überschreitet,
wenn sie Anleihen kriselnder
Euro-Staaten aufkauft. Das
2012 von der EZB angekündigte
OMT-Programm erlaubt ihr
dies. Warum haben Sie dagegen
geklagt?
Allein die Ankündigung, im
Notfall Staatsanleihen zu kaufen,
verfälschte den Wettbewerb
auf dem Markt für Staatsschulden
in der Euro-Zone. Die
Renditen für kurzfristige Staatsanleihen
von Deutschland und
Frankreich etwa kennen keine
nennenswerten Unterschiede –
obwohl die Länder in dramatisch
unterschiedlicher Verfassung
sind. Zudem vernichtet
die Nullzinspolitik der EZB das
Vermögen deutscher Sparer
und schmälert die Refinanzierungsmöglichkeiten
des Bundes.
Das muss aufhören.
Der EuGH hat zuletzt immer
proeuropäisch entschieden, etwa
beim Euro-Rettungsschirm
ESM.
Dass der ESM durchgewinkt
wurde, ist hanebüchen und
könnte ein böses Omen für die
anstehende Verhandlung sein.
Der EuGH ist in den letzten Jahren
zu einem politischen Organ
geworden, das sich als Integrationsmotor
versteht. Dennoch:
Wir werden bestens vorbereitet
in die mündliche Verhandlung
gehen, um das Gericht von unserer
Argumentation zu überzeugen.
Was ist Ihr Kernargument?
Die EZB überschreitet ihr Mandat.
Sie betreibt monetäre
Staatsfinanzierung. Das ist ihr
DER WIDERSPENSTIGE
Kerber, 58, ist Jurist und Professor
für öffentliche Finanzwirtschaft
und Wirtschaftspolitik
an der Technischen Universität
Berlin.
nach Artikel 123 des Vertrags
über die Arbeitsweise der Europäischen
Union verboten und
passiert dennoch. Ganz einfach:
Der ESM kann auf dem
Primärmarkt Anleihen der Krisenländer
bis zu 80 Prozent der
Emission zeichnen und diese
anschließend auf dem Sekundärmarkt
an die
EZB verkaufen. So
fließt frisches Geld
der EZB über den
ESM in die Staatshaushalte
der Krisenländer.
Die Fürsprecher
des OMT-Programms sagen, es
sei keine Staatsfinanzierung,
weil sich die Krisenländer nicht
darauf verlassen könnten, dass
die EZB ihre Anleihen aufkauft.
Das ist für mich nicht stichhaltig.
Die EZB argumentiert, das
Kaufprogramm sei durch die
MEHR ZUM THEMA
Weitere Fragen und
Antworten zum Kurs
der Europäischen Zentralbank
auf wiwo.de/
kerber und in der App
Fokussierung auf Anleihen der
Krisenländer mit einer Laufzeit
von bis zu drei Jahren auf rund
524 Milliarden Euro beschränkt.
Doch das ist lediglich eine unverbindliche
Angabe der EZB.
Die Notenbank will die Refinanzierungskosten
für die Länder
erträglich halten. Das gelingt
nur, wenn sie bei entsprechend
hohen Renditeforderungen der
Investoren eingreift. Und zwar
immer und immer wieder.
Sie können mit Ihrer Klage
doppelt verlieren. Die Richter
könnten nicht nur das OMT-
Programm durchwinken.
Das Urteil könnte dann auch
ein Freifahrtschein für künftige
EZB-Entscheidungen
bedeuten.
Die europäischen Institutionen
– die EZB, aber auch die Europäische
Kommission und das
Europäische Parlament – wollen
ein Urteil, das die Zentralbank
zur weiteren Selbstermächtigung
ermutigt. Auch
perspektivisch. Das Parlament
geht so weit, dass es – stark vereinfacht
– sagt: Die EZB ist unabhängig
und muss daher frei
von Rechtsbindungen sein. Die
EZB könnte demnach schalten
und walten, wie sie will. Ihre
Allmacht hätte diktatorische
Züge.
Was, wenn der EuGH das OMT-
Programm billigt. Ist die
Schlacht dann geschlagen?
Das Verfahren vor dem EuGH
ist mitnichten das Ende der Debatte.
Das Bundesverfassungsgericht
hat bei seiner Entscheidung
im Februar
bereits angedeutet,
dass es Zweifel hat,
ob Anleihenkäufe
durch die EZB nicht
außerhalb des geldpolitischen
Mandats
stattfinden –
und angekündigt, eventuell erneut
einzugreifen. Die Karlsruher
Richter könnten erkennen,
dass das OMT-Urteil des EuGH
in flagranti europäisches Recht
verletzt und damit für Karlsruhe
unverbindlich wird.
tim.rahmann@wiwo.de
FOTO: WENN.COM/SIPA
10 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft
CHEMIE-NOBELPREIS
Schub für Leica und Zeiss
Mikroskope für 600 000 Euro Nobelpreisträger Hell
Das Fax, immer wieder das Fax-
Gerät:Wenn Manager oder Politiker
in ihren Sonntagsreden
über den Innovationsstandort
meckern, kommt irgendwann
dieses Beispiel. In Deutschland
erfunden, vermarktet von den
Japanern. Soll heißen, wir Deutsche
haben tolle Ideen, das Geschäft
machen andere.
Es wird Zeit, von diesem lieb
gewonnenen Vorurteil Abschied
zu nehmen. Spätestens
mit dem Chemie-Nobelpreis,
der – Ironie des Schicksals – am
vergangenen Mittwoch an einen
Physiker ging: den deutschen
Stefan Hell, Direktor
HOCHTIEF
Misstrauen gegen Madrid
Zum überraschenden Rücktritt
von Hochtief-Aufsichtsratschef
Thomas Eichelmann sickern
nun Details durch. Nicht aus gesundheitlichen
Gründen habe
er aufgegeben, so ein Eichelmann-Intimus:
„Eichelmann
trägt nicht mehr mit, dass die
Hochtief-Sparten in Europa,
Australien und den USA inzwischen
alle von Madrid aus geführt
werden“ – also von der
Zentrale des Hochtief-Großaktionärs
ACS, der den größten
deutschen Baukonzern 2011
feindlich übernommen hat.
am Max-Planck-Institut für Biophysikalische
Chemie in Göttingen.
Die exklusiven Rechte
an seiner Erfindung und an der
des ebenfalls ausgezeichneten
US-Amerikaners Eric Betzig haben
sich bereits sehr früh die
deutschen Traditionsunternehmen
Leica Microsystems und
Carl Zeiss gesichert. Sie haben
es geschafft, beide Entdeckungen
erfolgreich zu vermarkten.
„Heute prügeln sich Leica
und Zeiss“, so ein Brancheninsider,
„auch dank der beiden um
die Marktführerschaft“ in dem
rund eine halbe Milliarde Euro
schweren Geschäft mit der optischen
Hochleistungs-Mikroskopie.
Sie ist eine Schlüsseltechnik
für Mediziner, mit der sie
das Innere lebender Zellen untersuchen
können. Die Rivalen
aus Japan wie Nikon und Olympus
haben das Nachsehen.
Hells Verbindung zu Leica
reicht weit zurück. Während
seiner Diplomarbeit forschte er
1987 bei der Firma Heidelberg
Instruments Mikrotechnik, deren
Mikroskopie-Geschäft später
in Leica aufging. Seitdem
hält er Kontakt zu dem Unternehmen,
das bereits zwei seiner
Erfindungen zur Marktreife gebracht
hat.
Die WirtschaftsWoche hat
Leica und Stefan Hell deshalb
schon 2006 mit dem Innovationspreis
der deutschen Wirtschaft
ausgezeichnet.
„Die Entscheidung, die Exklusivrechte
an Hells Entdeckung
zu erwerben, war damals
sehr risikoreich“, sagt Bernd
Sägmüller, bei Leica für das Geschäftsfeld
Konfokalmikroskopie
verantwortlicher Direktor.
Es hat sich gelohnt, seit 2008
haben Universitäten und Forschungsinstitute
mehr als 150
der Geräte erworben, die immerhin
im Schnitt knapp
600 000 Euro kosten. „Die Produktion
läuft auf Hochtouren“,
sagt Sägmüller.
Auch die Zeiss-Manager waren
mutig. Denn ihr Partner
Betzig hat sein Mikroskop quasi
in der heimischen Garage erfunden.
Heute verkaufen die
Oberkochener einige Dutzend
pro Jahr.
lothar.kuhn@wiwo.de
Auch Eichelmanns quasi
letzte Amtshandlung kann als
Misstrauensvotum gegenüber
Hochtief-Vorstandschef Marcelino
Fernández verstanden werden.
Der Spanier musste sich
im Aufsichtsrat im September
zu Zweifeln an der Bewertung
von Hochtief-Offshore-Projekten
äußern, die die Wirtschafts-
Woche enthüllt hatte.
harald.schumacher@wiwo.de
DREI FRAGEN...
...zum Kauf von Gruner +
Jahr durch Bertelsmann
Frank
Donowitz
46, Konzernbetriebsrat
von
Gruner + Jahr
in Hamburg
n Was ändert sich, wenn
Bertelsmann ab 1. November
Alleineigentümer des
Verlags Gruner + Jahr mit
Magazinen wie „Stern“ und
„Brigitte“ ist und die Familie
Jahr ihre 15,1 Prozent abgibt?
Neu ist die Klarheit darüber,
wer das Sagen hat. Das Hinund
Herschieben von Verantwortlichkeiten
bei zwei Eignern
ist passé. Den Alleineigentümer
können und werden
wir nun an seinem Bekenntnis
zu Journalismus und Investitionsbereitschaft
messen.
n Sind jetzt mehr als die
rund 400 Arbeitsplätze gefährdet,
die ohnehin schon
auf der Streichliste stehen?
Der Vorstand von Gruner +
Jahr verneint das. Ein zusätzliches
Sparprogramm aus Gütersloh
hätte extreme Risiken.
Schon heute ist hier kein
Kuschelrock: Wir haben bislang
gerade mal erreicht, dass
nicht innerhalb der Elternzeit
gekündigt wird und dass Altersteilzeitverträge
nicht rückabgewickelt
werden.
n Was würde der frühere
Bertelsmann-Patriarch
Reinhard Mohn zur Führung
von Gruner + Jahr sagen, die
schon die Standorte Köln
und München abgewickelt
hat?
Nach allem was ich von ihm
gelesen habe, hätte er kein
Verständnis für die Strategien
der Konzernchefs in Gütersloh
und Hamburg gehabt, die nun
derart geballte Maßnahmen
zur Folge haben.
harald.schumacher@wiwo.de
FOTOS: LAIF/STEFAN THOMAS KROEGER, G+J
12 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft
BAHN
Konkurrenz
aus England
In Großbritannien ist Go Ahead
der größte Bahnbetreiber. Zudem
lenkt das börsennotierte
Unternehmen die roten Doppeldeckerbusse
durch London.
In Deutschland will es jetzt den
Nahverkehr auf der Schiene
aufrollen. „Wir werden uns an
einer kleinen Anzahl von
Ausschreibungen beteiligen“,
kündigt Deutschland-Chef
Richard Stuart an. In zwei
Verfahren habe das Unternehmen
schon Gebote eingereicht.
Wo, will Stuart nicht sagen. Experten
gehen von mindestens
einer Ausschreibung in Niedersachsen
aus.
Für die etablierten Anbieter
im Nahverkehr wie die Deutsche
Bahn, Veolia Verkehr und
Abellio wird der Markt nun enger.
Go Ahead arbeitet profitabel,
setzte zuletzt 3,4 Milliarden
Euro um.
In Berlin unterhält es bereits
ein Büro. „Wir fokussieren uns
derzeit auf den Schienenpersonennahverkehr“,
sagt Stuart,
„aber wir werden auch andere
Märkte wie den städtischen
Busverkehr im Auge behalten.“
christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin
CARSHARING
Audi testet in
Stockholm
Audi-Vertriebsvorstand Luca
de Meo test in Stockholm erstmals
das Carsharing-Konzept
des Autokonzerns. Es firmiert
als Audi Unite, jeweils maximal
fünf Personen teilen sich für ein
Jahr oder zwei Jahre ein
Auto – das Angebot
reicht vom Kleinwagen
A1 bis zum
Wenn Teilen Luxus
wird Audi-Modell R8
TOP-TERMINE VOM 13.10. BIS 19.10.
13.10. Wirtschaftsnobelpreis Die Königlich-Schwedische
Wissenschaftsakademie gibt am Montag
bekannt, wer den diesjährigen Nobelpreis für
Wirtschaftswissenschaft erhält. Einziger deutscher
Preisträger war Reinhard Selten 1994.
Tourismus Auf dem Tourismusgipfel in Berlin berät
die Branche über Folgen der Sharing Economy.
Was Uber für Taxis, ist AirBnB für Hotels: Das Unternehmen
vermittelt Privatzimmer an Reisende.
14.10. EZB Der Europäische Gerichtshof
verhandelt am Dienstag über
eine Klage gegen die Europäische
Zentralbank (EZB). Die Richter
sollen klären, ob das EZB-Programm
für den Ankauf von Anleihen
notleidender Euro-Länder rechtens ist.
Porsche Das Landgericht Hannover befasst sich
mit der Klage gegen die Porsche-Holding. Anleger
fordern rund zwei Milliarden Euro Schadensersatz.
Sie werfen dem Autobauer mangelnde Informationen
im Übernahmekampf mit VW 2008 vor.
15.10. EZB Der Rat der Europäischen Zentralbank trifft
sich am Mittwoch turnusmäßig in Frankfurt.
Konjunktur Das Statistische Bundesamt nennt
Details zur Entwicklung der Preise im September.
Zwangsumtausch Der Europäische Gerichtshof
verhandelt über den Zwangsumtausch griechischer
Staatsanleihen. Private Anleger fordern von
Griechenland Schadensersatz.
18.10. SPD Die Berliner Sozialdemokraten zählen am
Samstag das Mitgliedervotum zur Nachfolge des
Berliner Regierungschefs Klaus Wowereit aus.
Sportcoupé R8. Per App kann
jeder Reservierungswünsche
äußern sowie sehen, wo das
Auto steht und wie viel Benzin
noch im Tank ist.
Das Premium-Sharing kostet
monatlich pro Person je nach
Modell zwischen 1439 und 8849
schwedischen Kronen (160 und
970 Euro). Die Rate enthält auch
monatliche Reinigung und Reifenwechsel.
Wann das Konzept
nach Deutschland kommt und
was es hier kosten wird, steht
noch nicht fest. Stockholm habe
Audi wegen seines guten Abschneidens
bei Innovationsrankings
und eines hohen Anteils
weltoffener Menschen ausgewählt,
erklärt der Autokonzern.
Ein weiterer Grund dürfte sein,
dass die Konkurrenz in der
schwedischen Hauptstadt
gering ist:Weder die
Mercedes-Tochter
Car2Go noch die BMW-
Sixt-Kooperation Drive-
Now sind vor Ort.
rebecca.eisert@wiwo.de
EZB
Sänk ju for
tränsleting
Die Europäische Zentralbank
(EZB) hat ihren Sitz zwar in
Frankfurt am Main, aber offizielle
Amtssprache ist Englisch.
Viele deutsche Banken pochen
aber auf einen Übersetzer,
wenn sie mit den Notenbankern
über die Bankenaufsicht
sprechen. Die EZB hatte die
Dolmetscher auch zugesagt.
Doch nun ist der Sprachendienst
der EZB völlig überfordert,
mit so viel Bedarf der
Da fehlen manchem die Worte
EZB-Präsident Draghi
Deutschen an Englisch-Nachhilfe
hatte er nicht gerechnet.
Außer der Deutschen Bank
nutzen fast alle deutschen Institute
das Übersetzungsangebot
und ringen sich dann ein „Sänk
ju for tränsleting“ ab. Die spanischen
oder italienischen Finanzhäuser
kommen dagegen
ohne Übersetzer klar.
Die Deutschen werden damit
zum Problem für EZB-Präsident
Mario Draghi, denn die
Englisch-Verweigerer verzögern
den gesamten Prozess: Die
EZB führt derzeit einen Bilanzcheck
bei den Banken auf Risiken
durch und unterzieht die
größten europäischen Institute
einem Stresstest. Die Ergebnisse
sollen am letzten Oktober-
Wochenende veröffentlicht
werden.
In Finanzkreisen wird nun
schon darüber spekuliert, dass
das Datum möglicherweise
nicht zu halten sei.
angela.hennersdorf@wiwo.de | Frankfurt
FOTOS: CORBIS IMAGES, PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR
14 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft
CHEFSESSEL
START-UP
JUNG VON MATT
Thomas Strerath, 48, geht
einen Schritt, „den man
sich gar nicht hätte ausdenken
können“, so ein Insider
der Werbebranche. Der
Deutschland-Chef der Werbeagentur
Ogilvy & Mather
wechselt zum Konkurrenten
Jung von Matt. Seit 2005 arbeitet
Strerath bei Ogilvy, seit
2009 leitet er den deutschen
Ableger, der zum börsennotierten
britischen Agenturkonzern
WPP gehört. Bei
Jung von Matt, einer inhabergeführten
Agentur, wird
der hoch angesehene Werber
Vorstand und Teilhaber.
Sein Vertrag mit Ogilvy läuft
Ende August 2015 aus. Wer
ihm dort nachfolgt, ist noch
nicht bekannt.
BAYER
Otmar Wiestler, 57, Chef
des Deutschen Krebsforschungszentrums,
zieht in
den Aufsichtsrat des Bayer-
Konzerns ein. Dort löst der Mediziner
den früheren Siemens-
Chef Klaus Kleinfeld ab, der
sein Mandat zum 30. September
niedergelegt hat, um sich
auf seine Posten in den USA zu
konzentrieren, wo er den Technologiekonzern
Alcoa leitet.
Der Wechsel passt zum kürzlich
verkündeten Strategiewechsel:
Bayer will sich in den
nächsten 12 bis 18 Monaten
vom Industriegeschäft mit Chemikalien
und Kunststoffen
trennen und sich fortan vor allem
auf die Gesundheitssparte
konzentrieren.
ADIDAS
Karen Parkin, 49, steigt am
1. November zur Personalchefin
des Sportartikelherstellers
auf. Sie folgt auf Matthias Malessa,
54, der sich im Juli verabschiedet
hat. 1997 kam die
Britin als Vertriebsdirektorin
zur britischen Adidas-Tochter,
zuletzt verantwortete sie die
weltweiten Lieferbeziehungen
des Konzerns. Diese Aufgabe
übernimmt IT-Chef Jan
Brecht, 42, zusätzlich.
AMD
Lisa Su, 44, bisher für das operative
Geschäft des amerikanischen
Chipherstellers zuständig,
übernimmt sofort den
Chefposten dort. Der Wechsel
kommt so plötzlich, dass AMD
mit dem bisherigen Chef Rory
Read, 52, noch gar nicht die Details
über dessen Ausscheiden
verhandelt konnte.
APPLE
53 Prozent
der Besitzer mobiler Apple-Geräte haben das neue Betriebssystems
iOS8 auch vier Wochen nach dessen Einführung noch nicht
installiert. Anders 2013, als iOS7 herauskam. Damals waren es
nur 30 Prozent, die das System in den ersten Wochen nicht geladen
hatten. Grund sind jetzt Probleme mit der neuen Software.
UNICOACH
Quora für Studenten
Als Benjamin Bauer (Mitte) vor zwei Jahren noch an der Universität
Erlangen-Nürnberg studierte, nervte ihn das umständliche
Erstellen eines Stundenplans. Mit seinen Kommilitonen Andreas
Wünsche (links) und Jan Hohner (rechts) entwickelte er daher
ein eigenes Programm. „Nach vier Tagen nutzten es 1000 Studenten“,
sagt Bauer. Inzwischen erstellen 60 Prozent der Nürnberger
Studenten ihren Stundenplan mit dem Tool.
Nun haben die drei ihr Angebot erweitert und wollen mit ihrem
Start-up UniCoach zum zentralen Informationsportal für Studenten
werden. Zum jetzt beginnenden Wintersemester starten sie
damit für die 25 größten deutschen Hochschulen. „Bislang organisieren
die Studenten sich in Facebook-Gruppen und Foren“, sagt
Bauer. Analog zu bekannten Frage-Antwort-Portalen wie Quora
oder Gute-Frage sollen bei UniCoach Professoren und Prüfungsämter
den Studenten helfen.
Geld verdienen die Gründer bisher durch Werbung, künftig
wollen sie sich als Dienstleister für Hochschulsoftware finanzieren.
„Um Lehrpläne zu erstellen, werden Word-Dokumente mit
400 Seiten von Lehrstuhl
zu Lehrstuhl geschickt“,
Fakten zum Start
Team derzeit 7 Mitarbeiter
Angebot das Stundenplan-Tool
enthält die Daten von 300 000
Vorlesungen
Kunden bisher 5000 Nutzer
sagt Unternehmensgründer
Bauer. Er will helfen,
diese Prozesse zu digitalisieren.
Den ersten Auftrag
hat er schon von der
Nürnberger Universität
erhalten.
oliver.voss@wiwo.de
FOTOS: PR (3)
16 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft | Chefbüro
Johannes Teyssen
Vorstandsvorsitzender des Energiekonzerns E.On
Der lang gestreckte Tisch aus
massivem Kirschholz beherrscht
fast das gesamte Arbeitszimmer
in der Düsseldorfer
Konzernzentrale. „Wo vorn und
hinten ist, kann ich selbst bestimmen“,
sagt Johannes Teyssen,
54, und setzt sich ans obere
Ende des Unikats. Dort entgeht
dem Chef des größten deutschen
Energiekonzerns E.On
nichts. Teyssen sieht, wer durch
die Bürotür kommt und kann in
ruhigeren Minuten auch mal einen
Blick hinunter auf den nahen
Rhein werfen. Seit Mai 2010
steht der promovierte Jurist und
Volkswirt an der Spitze des Unternehmens,
das 2000 aus der
Fusion der beiden Mischkonzerne
Veba und Viag entstand.
122,5 Milliarden Euro
360 Grad
In unseren App-
Ausgaben finden
Sie an dieser
Stelle ein interaktives
360°-Bild
setzte der Strom- und
Gaslieferant im vergangenen
Jahr um,
mehr als 62000 Beschäftigte
arbeiten
derzeit für ihn. Teyssen
selbst bezeichnet
sich als „hausgemacht“.
1986 fing er bei der ehemaligen
Versorgungstochter
PreussenElektra in Hannover
an, die später zu E.On kam. Im
Konzern durchlief er eine „klassische
Kaminkarriere“. Bodenständig
ist er geblieben. „Wer
mit mir spricht, soll auf Augenhöhe
sitzen“, sagt er. Sein 35
Quadratmeter großes Büro passt
zu dieser selbst auferlegten Zurückhaltung:
keine
Statussymbole, nicht
einmal ein Wimpel
seines Lieblingsvereins
Bayern München
ist zu entdecken.
Stattdessen hängen
an den weißen Wänden
zwei Bilder: ein
Original des deutschen Malers
und Bildhauers Horst Antes und
ein surrealistisches Werk des
amerikanischen Künstlers Robert
Motherwell mit dem Titel
„Black Mozart“. Dass Teyssen ein
Faible für moderne Kunst hat,
zeigen die akkurat ausgerichteten
Kunst-und Fotobände auf
dem Sideboard in seinem Chefzimmer.
Auch die Familie ist
präsent. Mehrere Fotos seiner
Frau zusammen mit ihren vier
Kindern hat der E.On-Manager
um seinen Monitor gruppiert.
„Meine Familie bekommt von
mir immer Streicheleinheiten“,
sagt Teyssen, lacht und zeigt auf
sein Mauspad mit Familienfoto.
ulrich.groothuis@wiwo.de
FOTO: STEFAN KRÖGER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
18 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Kampf dem Kalifat
TERRORISMUS | So brutal die islamistischen Milizen im Irak und in Syrien auch wüten –
der Westen wähnt sie weit weg. Doch die Folgen des Kriegs bekommt die ganze Welt zu
spüren. Europas Sicherheit ist in Gefahr, neue Risiken bedrohen die Weltwirtschaft.
Zynisch wirkt Wirtschaft, wenn
sie selbst übelste Grausamkeiten
in diesen kriegerischen Zeiten
kalt zu lassen scheint. Seit
vier Monaten morden und
brandschatzen sich radikale Islamisten
durch den Irak und Syrien – ohne dass der
Ölpreis panisch Kapriolen dreht. Im Norden
Syriens trennen köpfende Killer des
sogenannten „Islamischen Staats“ („IS“)
keine drei Kilometer von türkischem Boden
– wirtschaftlich ist dort aber bislang alles
noch im Lot. Im Dunkelreich der Illegalität
gelingt es der Terror-Miliz sogar, das
im Nordirak erbeutete Öl zu Geld zu machen,
um damit und mit Spendengeldern
aus aller Welt weiter Waffen zu kaufen.
Zwar geraten islamistische Fanatiker
und Kurden – wie Mitte vergangener Woche
– auch in deutschen Städten aneinander,
doch noch wähnen wir unsere Wirtschaft
nicht in Gefahr. Ein Trugschluss!
Denn der Terror in Nahost gefährdet die
Sicherheit auch in Europa und stellt die
Nato vor eine schwere Probe. Die Kosten
werden in die Milliarden gehen – auch für
Deutschland. Und neben dem Staat werden
auch die Unternehmen zahlen.
Das Gefährliche und Neue an dieser
Krise ist ihre Grenzenlosigkeit, sagt Josef
Janning vom European Council on Foreign
Relations in Berlin. Da sich Staaten
wie Syrien und der Irak als funktionsunfähig
erweisen, werden „nationale Identitäten
von religiösen Ideologien zerstört“.
In Ländern mit gesellschaftlichen Konflikten
fängt der radikale Islamismus jene
auf, die sich in nationalen Grenzen nicht
(mehr) aufgehoben fühlen. Dem „IS“-
Vorbild folgend, könnten Grenzen auch in
Libyen und Myanmar, Indonesien oder
Pakistan infrage gestellt werden, fürchtet
FOTO: LAIF/POLARIS/PUBLIC DOMAIN
20 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Knapp
1 Mrd.
Dollar
hat die USA
der Kampf
gegen den
Terror bislang
gekostet
Janning: „So geraten weltweit politische
Ordnungen in Gefahr, auf denen unsere
Sicherheitsarchitektur ruht.“
Kein Wunder, dass sich der stoischen
Ruhe an den Märkten zum Trotz nun
Ökonomen um die Weltwirtschaft sorgen:
Vergangene Woche senkte der Internationale
Währungsfonds (IWF) seine Prognose
für das Wachstum des globalen Bruttoinlandsprodukts
für 2014 auf 3,3 Prozent
– im April ging der IWF noch von 3,7 Prozent
aus. Krisen wie die in Nahost könnten
weit über die Region hinaus Schaden
anrichten.
Die Politik ist alarmiert. Behörden richten
sich auf Attacken in Deutschland ein,
immerhin nutzen Terrorzellen das liberal-naive
Deutschland mit Erfolg als Versteck.
Schon mehren sich Stimmen, wie
die Bundeswehr um- und aufgerüstet
werden sollte, damit sie in Kampfeinsätzen
eine größere Hilfe sein kann (siehe
Seite 30). Bereits heute kostet die Flucht
von Millionen viele Staaten Milliarden,
auch Deutschland wird die Ausgaben für
humanitäre Hilfe weiter aufstocken müssen.
Jene für den Wiederaufbau werden
später, aber mit Wucht folgen.
Deutsche Unternehmen müssen auf
Großaufträge im arabischen Raum verzichten,
wenn wegen des Terrors Kraftwerke
oder Wasserwege vorerst nicht gebaut
werden. Mit der Türkei droht ein
wichtiger Wirtschaftspartner an der fast
gelöst geglaubten Kurdenfrage zu zerbrechen.
Flughäfen müssen in die Sicherheit
investieren, Reedereien Schifffahrtsrouten
umplanen. Dabei hat der neue Kampf
gegen den Terror erst begonnen – und ein
Ende ist noch lange nicht Sicht. Welche
Folgen sich bereits jetzt absehen lassen,
lesen Sie auf den nächsten Seiten. »
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 21
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Schätzungen
nach kämpfen
30000
Mann für die
radikalen
„IS“-Milizen
Militäreinsatz
BIS ZU 22 MILLIARDEN DOLLAR
WERDEN DIE USA IN DEN KAMPF
GEGEN DIE „IS“-MILIZEN STECKEN.
Mit viel Knall und Rauch hatte sich die erste
Milliarde Dollar bis Anfang Oktober in
Luft aufgelöst:Der Einsatz gegen den „Islamischen
Staat“ („IS“) in Syrien und im Irak
kostete die USA bis Ende September zwischen
780 und 930 Millionen Dollar,
schätzt der Washingtoner Thinktank Center
for Strategic and Budgetary Assessments
(CSBA). Für die Berechnung der
künftigen Kosten haben die Militärexperten
drei Szenarien entwickelt: Entweder
die USA beschränken sich auf begrenzte
Luftschläge, es kommt zu intensiven Luftangriffen
– oder sie setzen im „worst case“
Bodentruppen ein.
Im ersten Fall geht das CSBA von 90 Luftangriffen
pro Tag aus, was, auf den Monat
gerechnet, mit 200 bis 320 Millionen Dollar
zu Buche schlüge. Im zweiten Szenario
würde es etwa 120 Einsätze täglich geben,
flankiert von 5000 Soldaten. Dann kämen
Kosten von 350 bis 570 Millionen Dollar im
Monat auf die USA zu. Die Entsendung von
etwa 25 000 Mann am Boden würde die
monatliche Rechnung auf bis zu 1,8 Milliarden
Dollar steigen lassen. Während jeder
Soldat in Nahost jährlich gut eine Million
Dollar kostet, fallen Materialkosten bei
Lufteinsätzen weniger ins Gewicht. Ein Raketenangriff
kostet 1,5 Millionen Dollar, ein
Kampfjet fliegt für 20 000 Dollar die Stunde.
Aufs Jahr gerechnet, werde der Krieg gegen
den „IS“ also zwischen 2,4 und 22 Milliarden
Dollar kosten, schätzt CSBA-Budgetexperte
Todd Harrison. Ein solcher Betrag
ist für die Amerikaner nicht ungewöhnlich.
Der „War on Terror“, den die
USA nach den Anschlägen vom 11. September
2001 begannen, verschlang nach
vorsichtigen Schätzungen 4375 Milliarden
Dollar, pro Bürger also knapp 14 000 Dollar.
Zu diesem Ergebnis kommt das Eisenhower
Research Project der Brown University
im US-Bundesstaat Rhode Island.
„Winzig“ empfindet die Kosten im
„IS“-Krieg der Budgetexperte Harrison –
sofern man sie mit dem Etat des US-Verteidigungsministeriums
(550 Milliarden Dollar)
vergleicht oder an den jährlichen Ausgaben
im Irak (bis zu 164 Milliarden Dollar)
und Afghanistan (bis zu 122 Milliarden
Dollar) misst. Sollte die US-Regierung allerdings
einen jahrelangen Anti-Terror-Krieg
führen, um auch den letzten Terroristen
„bis an die Pforten der Hölle zu jagen“ (US-
Vizepräsident Joe Biden), würde die Rechnung
von maximal 22 Milliarden Dollar
weit überzogen. Über dieses Risiko spricht
derzeit in Washington niemand.
Energiemärkte
ES IST PARADOX: TROTZ DES KRIEGS
IN NAHOST IST DER ÖLPREIS SEIT
JUNI UM 24 DOLLAR GESUNKEN.
Natürlich machen sich Erdölverbraucher
und -händler Gedanken über Terror und
Krieg im Nahen Osten. Die Region hat einen
Anteil von 32 Prozent an der Weltproduktion
und verfügt über 48 Prozent der
gesicherten und wirtschaftlich nutzbaren
Erdölvorkommen. So ließe sich leicht erklären,
dass der Rohölpreis am Handelsplatz
London, bei Jahresanfang 2014 und
noch Monate danach stabil um die 110
Dollar, im Juni auf 115 Dollar hochschnellte,
als die „IS“-Krieger die irakische Großstadt
Mossul einnahmen, die größte Raffinerie
des Landes belagerten und auf die
Hauptstadt Bagdad marschierten.
Seither ist die Terrortruppe nicht schwächer
geworden, der Ölpreis in London aber
22 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
40000
Barrel Erdöl
werden jeden
Tag aus dem
„IS“-Gebiet in
die Türkei
geschmuggelt
FOTOS: REUTERS/STRINGER, VISUM/PANOS PICTURES/DAVID ROSE
stetig gefallen, inzwischen auf etwa 91 Dollar.
Das liegt an den weltweit eher schlechten
Konjunkturaussichten, aber auch an
der Hoffnung, die „IS“-Krieger würden den
Vormarsch in Richtung der großen Ölfelder
im Südirak niemals schaffen. „Über 90
Prozent unseres Ölexports stammt doch
aus dem Süden und wird im Hafen Basra
verschifft“, betont der neue irakische Erdölminister
Adil Abd al-Mahdi, „da muss sich
niemand Sorgen machen.“ Den Ausfall der
Ölproduktion im irakischen Norden kann
der Weltmarkt leicht verkraften. Denn
weltweit geht die Erdölnachfrage derzeit
zurück. Großkunden wie die USA machen
sich durch Fracking und andere neue
Techniken zunehmend unabhängig von
Ölscheichs, Mullahs und Gotteskriegern.
„Solange die Opec keinerlei Anstalten
macht, das Angebot zu reduzieren, dürften
die Preise unter Druck bleiben“, sagt der
Energieexperte Eugen Weinberg von der
Commerzbank in Frankfurt. Eine solche
Politik der großen arabischen Produzenten
ist unwahrscheinlich. Ostasiatische Kunden
der Saudis berichten von Preisnachlässen
für langfristige Kontrakte: Das Königreich
will seinen Marktanteil halten –
und die hohen Einnahmen aus dem Ölgeschäft.
Die sind bitter nötig, wenn das Land
ernsthaft in den Kampf gegen die „IS“-
Terroristen einsteigen will. Ideologisch ist
die saudische Gesellschaft für die Propaganda
des Kalifatstaats extrem anfällig. Um
dagegenzuhalten, braucht die Herrscherfamilie
Geld für sozialpolitische Wohltaten.
Investitionsklima
DEUTSCHE ANLAGENBAUER HABEN
2013 IN NAHOST ANLAGEN FÜR 2
MILLIARDEN EURO VERKAUFT.
Es sind eben nicht nur Syrien und der Irak,
die der Kalifatstaat mit seinen Horden bedroht.
Keine Gesellschaft der Region ist erhaben
über die radikalen Ideologien. Die
potenzielle Instabilität durch den Terror in
der Nachbarschaft belastet das Investitionsklima
in Nahost insgesamt. 2013 gingen
von dort Aufträge für Großanlagen wie
Chemie- oder Kraftwerke in Höhe von zwei
Milliarden Euro ein. So konnten die deutschen
Hersteller ihr Minus im Asien-Geschäft
teils kompensieren, wo Chinesen inzwischen
lieber bei Chinesen bestellen.
Doch jetzt lähmt der Terror das Geschäft.
Etwa im Libanon, wo vergangene Woche
die Islamisten erstmals angriffen. Kämpfe
zwischen Schiiten und Sunniten könnten
das kleine Land schnell ins Chaos stürzen.
Der Aufschwung der vergangenen zwei
Jahrzehnte wäre abrupt beendet. Dabei ist
der Libanon mit seinen Finanzbeziehungen
zu den reichen Golfstaaten ein wichtiges
Steinchen im Mosaik der Wirtschaftsordnung
in Nahost. So wichtig der Libanon
für die Wirtschaft ist, so entscheidend ist
Jordanien für die geopolitische Stabilität:
Das Land ist ein hochgerüsteter Puffer zwischen
Israel und dem Irak, zwischen Saudi-Arabien
und Syrien. Jordaniens prowestlicher
und ziemlich autoritärer König
regiert gut ausgebildete, aber oft arbeitslose
Untertanen, die gemäßigt islamistische
Parteien wählen – noch.
All das mag die Weltwirtschaft ertragen,
solange das große Saudi-Arabien nicht attackiert
wird. Aber wie sicher ist das? Kritiker
meinen, die so befremdliche Ideologie
der „IS“-Terroristen sei die logische Konsequenz
aus den Lehren der in Saudi-Arabien
staatlich verordneten Spielart des Islam.
Und fände darum auch Anhänger unter
saudischen Untertanen, die vom Ölreichtum
persönlich nicht profitiert haben.
Erst recht in Jordanien. Und im Libanon.
Und so weiter.
»
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 23
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Finanzplatz
Beirut: Das
Zentrum für
wachsende
Geschäfte mit
der Region ist
in Gefahr
Luftverkehr
LUFTSICHERHEIT IN DEUTSCHLAND
KOSTET HEUTE 450 MILLIONEN EU-
RO PRO JAHR. AIRLINES FÜRCHTEN
SCHÄRFERE KONTROLLEN.
Vielleicht kommt der Terror schon bald in
Deutschland an. Vor allem der zivile Luftverkehr
unterliege „gegenüber anderen
Verkehrsträgern einer besonderen Gefährdung
durch den internationalen Terrorismus“,
heißt es im Bundesinnenministerium.
Deutschland werde vom „IS“ „bislang
nicht öffentlich als Ziel propagiert“. Da die
Bundesrepublik aber Teil der Anti-Terror-
Koalition ist, heißt es im Ministerium,
„können deutsche Einrichtungen ins Zielspektrum
geraten“.
Im Falle der Eskalation würden Sicherheitsmaßnahmen
auch an den Flughäfen
deutlich verschärft werden müssen. Vorgaben
wie etwa das Flüssigkeiten-Verbot an
Bord verlängern im besten Fall den Sicherheitscheck.
Andere kosten richtig Geld. So
müssen EU-Flughäfen seit einigen Jahren
vermeiden, dass ankommende Passagiere
aus Nicht-Schengen-Staaten auf abfliegende
Reisende treffen. Baumaßnahmen haben
allein den Frankfurter Flughafen einen
dreistelligen Millionenbetrag gekostet.
Sollte der „IS“ mit Anschlägen auf die
Luftverkehrswirtschaft drohen, wären
wohl zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen
nötig. Zum Beispiel könnte die Sensibilität
der Torsonden erhöht, die Kontrolle per
Hand für jeden Fluggast vorgeschrieben
oder sogar Handgepäck generell verboten
werden. „Die Kontrollen sind beliebig erweiterbar“,
sagt ein Kenner der Flughafensicherheit.
Zusätzliches Personal wäre erforderlich,
die Preise würden steigen.
Schon heute tragen alle Fluggäste mit einer
Luftsicherheitsgebühr von bis zu zehn Euro
zu den 450 Millionen Euro Sicherheitskosten
bei – dieser Posten könnte künftig
deutlich höher ausfallen.
Deutsche Airlines beobachten die Entwicklungen
in Nahost aufmerksam. Zumal
der „IS“-Terror sie zwingen könnte, riskante
Lufträume zu umfliegen. So fliegt die
Lufthansa seit einem Jahr nicht mehr über
syrisches Gebiet. Auch den Südirak meiden
die Kraniche seit August dieses Jahres.
Die Lufthansa-Flüge würden dadurch aber
nur wenige Minuten länger dauern, Mehrkosten
seien „vernachlässigbar“, heißt es im
Konzern. Wenn ganz Vorderasien umflogen
werden müsste, würde das aber teurer
werden.
Flüchtlinge
FÜR JEDEN DER 30 000 FLÜCHTLIN-
GE GIBT DER DEUTSCHE STAAT PRO
JAHR RUND 11 600 EURO AUS.
Seit Sommer vergangenen Jahres sind fast
30 000 syrische Flüchtlinge nach Deutschland
gekommen. Mit mehr als 3000 Asylsuchenden
pro Monat stellen die Syrer die
größte Flüchtlingsgruppe, aber der Zustrom
an Flüchtlingen aus dem Irak
schwillt ebenfalls an: Allein im Juli waren
es mehr als 1600. Für die Flüchtlinge zu
sorgen gilt als humanitäre Selbstverständlichkeit
– aber die kostet Geld. Die Kosten
zu beziffern ist allerdings schwierig, da sie
zwischen Bund, Ländern und Gemeinden
aufgeteilt werden. Das größte Los zahlen
Kommunen, die für Unterbringung, Verpflegung
und medizinische Versorgung zuständig
sind. Eine Abfrage bei den Ländern
zeigt: Niedersachsen (5932 Euro jährlich
pro Flüchtling), Rheinland-Pfalz (6042 Euro)
und Sachsen (6000 Euro) zahlen niedrige
Pauschalen, Brandenburg ist mit 9100
Euro pro Flüchtling am spendabelsten.
Es ist jedoch schwer abschätzbar, welcher
Anteil der tatsächlichen Kosten von
diesen Pauschalen gedeckt wird. Denn von
Bund und Ländern bekommen die Kom-»
24 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
INTERVIEW Alois Stutzer
»Angst kostet Freiheit«
Der Wirtschaftsprofessor von der Universität Basel erklärt, warum wir
auf Terrorismus übertrieben reagieren – und wie er uns beeinflusst.
FOTOS: LAIF/POLARIS/MARO KOURI, PR
Herr Stutzer, laut einer aktuellen Umfrage
haben 63 Prozent der Deutschen
Angst vor terroristischen Anschlägen.
Überrascht Sie diese hohe Quote?
Nein. Wir wissen aus der Forschung,
dass Menschen seltene jedoch momentan
präsente Ereignisse, wie einen Terroranschlag,
systematisch überschätzen.
Selbst wenn ich auf dem Bürgersteig gehe,
ist die Wahrscheinlichkeit, von einem
Auto angefahren zu werden, höher,
als einem Anschlag zum Opfer zu fallen.
Warum haben wir dann so viel mehr
Angst vor Terroristen als vor Autos?
Neue Risiken erhalten in den Medien eine
viel höhere Aufmerksamkeit. Als vor
einigen Wochen der Verdacht auf eine
Terrorzelle in der Schweiz publik wurde,
gab es in unseren Nachrichten eine Vielzahl
von Beiträgen dazu. Die Berichterstattung
verzerrt die Wahrnehmung.
Es sind aber nicht nur die traditionellen
Medien, die berichten. Die Terroristen
selbst verbreiten ihre Videos über soziale
Kanäle. Macht das die Bedrohung für
uns unmittelbarer?
Das gehört zur Strategie der Dschihadisten.
Ein normaler Mensch kann diese
Grausamkeit überhaupt nicht begreifen,
bekommt sie aber dennoch in Bild und
Ton präsentiert. Das überfordert uns. Die
Medien sollten darüber nachdenken,
solche Gräueltaten nicht mehr zu zeigen.
Damit würden sie weniger Angst verbreiten
und den Islamisten einen Hebel –
auch bei der Rekrutierung – entziehen.
Im Internet wären die Bilder dennoch
auffindbar.
Dort muss man sie aber aktiv suchen.
Aber klar, eine koordinierte Selbstzensur
ist in Zeiten der sozialen Medien kaum
möglich.
DER PSYCHOLOGE
Stutzer, 42, lehrt
Wirtschaft an der
Universität Basel und
erforscht das Zusammenspiel
von Ökonomie
und Psychologie.
Hat die diffuse Furcht vor Terror auch
Auswirkungen auf unser Handeln?
Sicher. Nach dem 11. September 2001 etwa
haben viele US-Amerikaner auf Flüge
verzichtet und sind auch weite Strecken
mit dem Auto gefahren. Mit fatalen Folgen:
Viele sind bei Unfällen gestorben,
weil sie total übermüdet gefahren sind.
Haben die Deutschen auch schon solche
vermeintlichen Sicherheitsstrategien
gegen den „IS“-Terror entwickelt?
Ja, aber in kleinerem Ausmaß. Touristen
suchen sich etwa andere Reiseziele. Diese
Reaktion kennen wir schon länger:
Wenn beispielsweise die ETA in Spanien
angekündigt hatte, an der Costa Brava
Touristen ins Visier zu nehmen, sind die
Buchungen runtergegangen. Vielleicht
halten sich die Deutschen unterbewusst
auch schon seltener an öffentlichen Plätzen
auf. Aber für weitere Gegenstrategien
ist die Gefahr hierzulande zu diffus.
Folgen gibt es dennoch, wenn sich die
Bevölkerung vor Terrorismus ängstigt?
Natürlich. Zum Beispiel wächst derzeit
die Skepsis gegenüber dem Islam. Das
könnte den Zusammenhalt unserer Gesellschaft
belasten. Und auch das Spannungsfeld
zwischen Sicherheit und Freiheit
droht sich erneut zu verschieben,
weil Staaten ihre Bürger beschützen wollen
– neue Kameras an öffentlichen Plätzen,
verschärfte Kontrollen im Internet.
Hier kostet Angst nicht nur Geld, sondern
auch Freiheit. Wichtig wäre, dass
solche Maßnahmen mit einem Ablaufdatum
versehen werden, sodass sie
automatisch wieder außer Kraft treten.
Welche konkrete Auswirkung auf unser
ökonomisches Handeln hat Angst?
Die Forschung zeigt, dass Menschen, die
nicht direkt bedroht sind – also wie die
Deutschen –, in solchen Situationen
eher sparen. Sie wollen sich absichern,
weil turbulente Zeiten bevorstehen.
Menschen aus den Krisengebieten reagieren
anders. Sie konsumieren stärker,
denn wer baut schon ein Haus, wenn es
morgen vielleicht zerstört wird. n
kristin.schmidt@wiwo.de
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 25
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Libanon und
die Türkei
nehmen je
1 Mio.
Flüchtlinge
vor der Terrormiliz
in Schutz
»
munen Zuschüsse. Aufschlussreich sind
daher die Werte aus Schleswig-Holstein, einem
Land, das bislang noch recht gut mit
den Flüchtlingsströmen klarkommt. Hier
bekommen die Städte 70 Prozent der Kosten
erstattet, zuletzt waren es 8126 Euro pro
Flüchtling. Das bedeutet: Die Unterbringung
eines Flüchtlings kostet insgesamt gut
11 600 Euro im Jahr, das kann als Anhaltspunkt
für einen Bundesdurchschnitt gelten.
Aber die Kapazitäten sind schon an
den Grenzen: Die Stadt Düsseldorf mietet
Hotelzimmer an, da keine Quartiere mehr
frei sind. Das kostet sie mehr als 1000 Euro
im Monat, allein für die Unterbringung. Einige
Bundesländer haben bereits angekündigt,
ihre Pauschalen deutlich zu erhöhen.
Humanitäre Hilfe
SYRIENS NACHBARN VERKRAFTEN
DIE FLÜCHTLINGE NICHT. NUN HILFT
BERLIN MIT 145 MILLIONEN EURO.
Geradezu knausrig sind die Deutschen bei
der Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien
und dem Irak – zumal, wenn man die Migrationspolitik
der armen Anrainerländer
Jordanien und Libanon als Maßstab ansetzt.
Letzteres hat bis dato Flüchtlinge im
Umfang eines Viertels seiner Bevölkerung
aufgenommen. Das wäre, als wenn die
Deutschen 20 Millionen Flüchtlinge aufnehmen
müssten. Dabei kann sich weder
Jordanien noch der Libanon eine solche
Großzügigkeit leisten. Den Libanon besuchte
kürzlich der Bundestagsabgeordnete
Omid Nouripour (Grüne). „Viele Syrer
leben dort auf Müllhalden, es gibt oft kein
fließendes Wasser und keinen Strom“, sagt
er. In vielen Schulklassen gebe es inzwischen
mehr syrische als libanesische Kinder,
was soziale Spannungen anheize. Der
Haushaltsausschuss bewilligte vergangene
Woche zusätzliche 145 Millionen Euro für
humanitäre Hilfe in der Region. Das reicht
nicht, sagt Nouripour – er verlangt 400 Millionen
Euro an Nothilfe für das laufende
Jahr. Das sei der Bedarf, den die Vereinten
Nationen ermittelt hätten.
Auf längere Sicht werden die Kosten jene
der schnellen Hilfe weit übersteigen: Große
Teile der Infrastruktur in Syrien und im
Irak sind zerstört, die Länder mit „IS“-Präsenz
sind wirtschaftlich nicht funktionsfähig.
Der Irak etwa mag viel Öl haben – doch
soziale Konflikte in der Gesellschaft lassen
sich nicht lösen, wenn es wegen Korruption
ungleich verteilt wird. Es wird Aufgabe
des Westens sein, solche Länder zum
Funktionieren zu bringen: Korruptionsbekämpfung,
gute Regierungsführung, Entwicklung
des ländlichen Raums – Entwicklungshelfer
werden sich in zahlreicher werdenden
„failed states“ austoben können.
Aufrüstung
EIN KILOMETER GRENZE KOSTET
SAUDI-ARABIEN 800 000 EURO. AUCH
DIE TÜRKEI WIRD INVESTIEREN.
Militärische Kosten für Deutschland halten
sich in Grenzen. Berlin liefert Waffen im
Wert von rund 70 Millionen Euro an kurdische
Peschmerga – Kosten für Transport
und Schulung kommen hinzu. Die Bundeswehr
könnte den Kurden auch ein Ausbildungszentrum
bauen, schlug Bundesverteidigungsministerin
Ursula von der
Leyen (CDU) vor. Zudem sind 270 deutsche
Soldaten in der Türkei im Einsatz, um
mit Patriot-Raketenabwehrsystemen die
Grenze zu schützen. Offiziell ist das ein
Bündnis-Einsatz, keiner gegen Terror, wie
ein Sprecher betont. Die Kosten der Operation
ließen sich noch nicht beziffern.
Derweil steigt der politische Druck, dass
sich die Deutschen auch am Luftkrieg be-
26 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FOTO: VISUM/PANOS PICTURES/BRIAN SOKOL
iPad
In unserer App-
Ausgabe finden
Sie eine Zeitleiste
über die Entwicklung
des „IS“
teiligen. Das wäre für die Politik das Höchste,
was dem pazifistischen deutschen Michel
zu vermitteln wäre (siehe Seite 30).
Hinter den Kulissen ist zudem eine Diskussion
über die Strategie der Bundeswehr im
Gange: Was kann, will oder soll die Bundeswehr
in der sicherheitspolitischen Allianz
des Westens tun? Geht es künftig wieder
um Landesverteidigung, oder soll die
Armee auch anderswo kämpfen können?
Braucht sie Transportkapazitäten, moderne
Aufklärungssysteme oder beides?
In jedem Fall wird der Wehretat steigen,
sagt Roderich Kiesewetter. Der Oberst a. D.
und CDU-Bundestagsabgeordnete rechnet
ab 2016 mit einem schrittweisen Anstieg
des Verteidigungshaushalts von 33 auf bis
zu 40 Milliarden Euro. Das sei notwendig,
auch um Investitionsprojekte abschließen
zu können. Zudem herrsche in der Armee
Personalbedarf, der mit einer Marketing-
Offensive behoben werden
müsse. „Auf keinen
Fall sollten wir die Wehrpflicht
wieder einführen“,
sagt Kiesewetter. Er
schlägt vor, Männern und
Frauen nach der Schule
einen Freiwilligendienst
bei Armee, Feuerwehr
oder im sozialen Bereich
anzubieten – und ihnen diese Zeit auf die
Lebensarbeitszeit zu reduzieren.
Horrende Kosten trägt der Steuerzahler,
auch manch ein Unternehmen. Dennoch
gibt es Profiteure des Terrors, etwa den
Münchner Rüstungshersteller Cassidian.
Die Tochter der europäischen Airbus-
Group bastelt Drohnen und Lenkflugkörper
und liefert Systeme zur Grenzsicherung,
etwa an Saudi-Arabien: Die 1500 Kilometer
lange Nordgrenze des Landes hat
einen Auftragswert von 1,2 Milliarden Euro.
Ein Kilometer Grenze kostet demnach
800 000 Euro. Wobei die Saudis das Luxus-
Paket bestellt haben, das über Stacheldraht
und Kamera hinaus auch den Datenabgleich
per Satellit einschließt.
Auch die Türkei verlangt nach einer sicheren
Grenze, später wohl auch der Irak
und Syrien. Für deutsche Rüstungshersteller
öffnet sich trotz anhaltendem Beschuss
zu Hause ein immer größerer Markt in Nahost,
von wo der Terror die Welt bedroht. So
zynisch kann eben Wirtschaft sein. n
florian.willershausen@wiwo.de | Berlin;
konrad fischer, hansjakob ginsburg, christian schlesiger,
cordula tutt, martin seiwert | New York
Lesen Sie weiter auf Seite 28 »
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 27
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Weg mit den Tabus
FORUM | Die brutale Machtausdehnung des „Islamischen Staats“ verändert schlagartig die soziopolitische
Landkarte in Nahost. Es ist an der Zeit, die grundlegenden Probleme der Region anzugehen: Ein eigener
Kurdenstaat muss her – und der Islam muss sich kulturell verändern. Von Volkhard Windfuhr
Nicht das Auf und Ab des revolutionären
Aufbegehrens in den
arabischen Kernländern verursachte
den Aufstieg der islamistischen
Mordbuben des „IS“. Im Irak
und in Syrien waren es die konfessionsgebundenen
Privatarmeen schiitischer
und sunnitischer Politiker, die
nach der amerikanischen Irak-Invasion
2003 die Nation spalteten. Der erste
Identitätsbezug war fortan die Glaubensrichtung,
nicht der Staat. Die
neuen Streitkräfte sind konfessionell
und tribalistisch zusammengesetzt
und kaum einsatzfähig. Hinzu kommen
ethnische Zentrifugalkräfte. Die
Turkmenen fühlten sich allein gelassen,
während die Kurden ein de facto
selbstständiges Staatswesen im Nordirak aufbauten, mit eigenem
Verwaltungsapparat, Parlament und eigener Armee. Christen und
Angehörige anderer vorislamischer Glaubensgemeinschaften, wie
Mandäer und Jesiden, wurden zum Freiwild der Milizen. Angriffe
auf ihre Kirchen und Wohngebiete ließen sie in den kurdischen
Norden des Irak abwandern, wo eine strikte Trennung von Staat
und Religion herrscht. Die religiöse Aufwiegelung im Raum Bagdad
und im Süden führte bald zu täglichen Zusammenstößen schießbereiter
Milizen. Fanatische schiitische Kampfgruppen liegen bis
heute im Dauerkonflikt mit sunnitischen Glaubenskriegern. Wirtschaft
und Handel im Land stagnieren trotz des Erdöls. Die Kämpfer
des „Islamischen Staates“ haben das entstehende Vakuum genutzt
und über ein Drittel des Staates unter ihre Kontrolle gebracht.
Auch in Syrien sind die Opfer der Kalifat-Terroristen Christen,
übertrittsunwillige Jesiden und Liberale. Doch es trifft ebenfalls
die syrischen Kurden, die in ihren Städten und Dörfern keinerlei
religiöse Indoktrinierung zulassen. Hunderttausende von ihnen
flüchteten bereits in die Türkei. Doch Ankara hilft den Kurden nur
ungern. Denn die verlangen von der Regierung kulturelle und
sprachliche Autonomie. Der Zorn über die lasche türkische Haltung
im Konflikt mit dem „Islamischen Staat“ führt zu gewalttätigen
Protesten und droht in bürgerkriegsähnliche Zustände auszuarten.
Doch hier könnte der Westen helfen.
Das türkische Tabu, den Kurden echte Autonomie zu gewähren,
darf nicht länger einer friedlichen Vernunftlösung im Weg stehen.
Im auseinanderfallenden Ex-Jugoslawien hatten die USA und die
Nato die widerspenstigen Serben mit Waffengewalt gezwungen,
die Kosovaren und die Bosnier in die Unabhängigkeit zu entlassen.
„Wir haben das Recht auf einen eigenen Staat ebenso wie die Israelis
und die Palästinenser“, erklärte mir Masuud Barzani, Präsident
der autonomen Kurdenregion im Nordirak schon 2003. Der
Windfuhr, 77, begann seine journalistische Laufbahn
1958 in Kairo als Rundfunkredakteur, unter anderem
für die Deutsche Welle. Von 1974 bis 2013 arbeitete er
in Beirut und Kairo als Nahost-Korrespondent für das
Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.
armenische Patriarch Karekin II. erinnert
gar an das Versprechen von US-
Präsident Woodrow Wilson aus dem
Jahr 1921, Kurden und Armeniern die
Unabhängigkeit zu verschaffen.
Das aber setzt voraus, dass auch
Syrien die dort ansässigen Kurden
zunächst nach dem Muster des Nordirak
in die Autonomie entlässt. Moskau
bemüht sich bereits seit vier
Monaten, das Baath-Regime in Damaskus
von der Notwendigkeit zu
überzeugen, „seinen“ Kurden eine
eigene Selbstverwaltungsregion zu
überlassen, um diese später mit dem
kurdischen Nordirak zu einem Staat
zu verschmelzen. Die Chancen für ein
Gelingen sind gut. In der Türkei könnten
einige Gebiete in Südostanatolien, etwa die zu über 90 Prozent
von Kurden bewohnte Provinz Hakkârî, problemlos den Kurden
überlassen werden. Das zu erreichen wäre eine wichtige Aufgabe
der westlichen Diplomatie, weil damit ein Fehler vergangener
Jahrzehnte korrigiert würde. Im Dienste des Friedens.
ZWEITER TABUBRUCH NÖTIG
Der Kampf gegen die „IS“-Banden und Hintermänner erfordert
aber auch einen Tabubruch in den islamischen Ländern selbst.
Der Islam, wie er heute den Heranwachsenden vermittelt wird,
muss reformiert werden. Die Texte des Koran und der Aussprüche
des Propheten bedürfen keiner Überarbeitung, aber einer zeitgemäßen
Interpretation. „Wir Moslems brauchen einen islamischen
Martin Luther“, forderte der zukunftsorientierte Ex-Scheich der
einflussreichen Kairoer Al-Azhar-Universität, Scheich Mohammad
Hassan Tantawi, schon vor 15 Jahren. „Wir müssen den Koran
wieder neu lesen. Vor 120 Jahren war das Koranverständnis gegenwartsbezogener
als heute.“ Der Westen kann dabei hilfreich sein,
wenn er Aufklärung und sachlichen Dialog liefert, ohne faule
Kompromisse mit den menschenverachtenden Predigern des kulturellen
Zusammenpralls einzugehen.
Das islamistische Experiment der Moslembruderschaft in Ägypten
ist gescheitert. Doch die arabischen Revolutionäre haben weiterhin
eine Chance und Aufgabe: Echte Demokratie, Menschwürde
und der Kampf gegen die Pervertierung weltweit gültiger Werte
fallen in ihren Aufgabenbereich. Der Wahlspruch der demokratieunfähigen
Islamisten „Al Islam din wa-daula“ („Der Islam ist
Staat und Religion“) darf nicht mehr in Hirne und Herzen geimpft
werden.
n
Lesen Sie weiter auf Seite 30 »
FOTO: SCOTT NELSON
28 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Bedingt abhebbereit Tornado-Kampfjet
der Bundeswehr
Da geht noch was
BUNDESWEHR | Die Luftwaffe könnte in der Allianz
gegen den islamistischen Terror eine Rolle spielen –
wenn sie denn dürfte.
Militärisch gesehen ist die internationale
Koalition gegen die „IS“-Milizen
eine Koalition der Luftstreitkräfte.
Angeführt von den USA, haben mehrere
westliche Staaten Jagdbomber, Aufklärungsflugzeuge
und Tanker in die Region
verlegt: Der Kampf gegen die Dschihadisten
wird aus der Luft geführt – am Boden
sollen die irakische Armee und vor allem
die Kurden sowohl im Irak als auch in Syrien
die Gotteskrieger zurückdrängen.
An Luftschlägen könnte sich auch die
Bundeswehr beteiligen, wenn es politisch
gewünscht wäre – denn auch Deutschland
betrachtet sich als Teil der Anti-„IS“-Koalition,
die die USA im September auf dem
Nato-Gipfel in Wales ins Leben gerufen haben.
Die deutschen Streitkräfte wären
dann mit Einheiten beteiligt, die in den
Einsätzen der vergangenen Jahre kaum gefordert
waren: Im Kampf setzte die Luftwaffe
ihre Tornado-Kampfjets zuletzt 1999
in den Nato-Angriffen auf Serbien ein.
Über Afghanistan wurden die Tornados
ausschließlich für die Aufklärung genutzt.
Nach dem Muster der anderen beteiligten
Länder – neben den USA sind das
Frankreich, Großbritannien, die Niederlande,
Belgien und Dänemark sowie mehrere
arabische Staaten und Australien – kämen
für Angriffe am Boden nur diese jahrzehntealten
Maschinen infrage, obwohl
diese nicht über Panzerabwehr-Lenkraketen
verfügen. Die neueren Eurofighter-
Kampfjets, ursprünglich als Abfangjäger
vorgesehen, werden noch auf die Möglichkeiten
des Luftangriffs vorbereitet.
Deutschland spart
Rüstungsausgaben ausgewählter Länder
(2013, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts)
9,0
5,6
5,0
4,2
3,8
3,8
2,3
2,3
2,2
2,1
1,6
1,3
1,0
Israel
Saudi-Arabien
Vereinigte Arabische Emirate*
Russland
Bahrain
USA
Großbritannien
Türkei
Frankreich
China
Italien
Deutschland
Japan
* 2012, Quelle: Weltbank
Das Taktische Luftwaffengeschwader 33
in Büchel in Rheinland-Pfalz ist die Heimatbasis
der Tornado-Jagdbomber, mehrere
Maschinen könnten rasch in die Region
verlegt werden. Allerdings sind diese
Jagdbomber für die Art des Luftkrieges, wie
sie derzeit im Irak und in Syrien gefordert
ist, nur bedingt geeignet. Die Luftwaffen-
Tornados können ihre Ziele mit lasergelenkten
Präzisionsbomben angreifen –
doch für Angriffe auf bewegliche Ziele wie
Fahrzeugkonvois sind solche Bomben wenig
sinnvoll. Angriffe auf Ölfelder aber
könnten die Deutschen starten – die USA
und arabische Kampfjets hatten diese und
auch Raffinerien gezielt angegriffen, um eine
Einkommensquelle der „IS“ in den von
ihr kontrollierten Gebieten zu zerstören.
Eine Einsatzbasis für die deutschen Tornados
wäre zu finden, selbst wenn der
Nato-Partner Türkei keinen Flugplatz zur
Verfügung stellen will. Die Briten starten
ihre Tornado-Flüge auf einer eigenen Basis
in Zypern, die möglicherweise auch
Platz für die Luftwaffe hätte. Wenn nicht,
käme der Flugplatz Decimomannu auf
Sardinien infrage. Für den Einsatz über
dem Irak und vielleicht auch Syrien müssten
die Tornados allerdings in der Luft betankt
werden.
Wie alle Kampfjets der beteiligten Nationen
hätten aber auch die deutschen ein
Problem: Die Ziele im selbst ernannten „Islamischen
Staat“ mit seiner wenig staatlichen
Infrastruktur müssen erst einmal erkannt
und geortet werden. Den USA, erst
recht den anderen Staaten, fällt es aber
schwer, mit ihrer Luftaufklärung die wirklich
wichtigen Ziele auszumachen – vor allem,
wenn es darauf ankommt, Opfer unter
der Zivilbevölkerung zu vermeiden.
BOOTS ON THE GROUND
Ohne die berühmten „Boots on the
ground“, die Soldaten im Kampfgebiet, können
die Flugzeuge nur eingeschränkt operieren:
Spezialkräfte am Boden könnten die
Jets per Funk an ein erkanntes Ziel lotsen
und außerdem mit Lasergeräten diese Ziele
so markieren, dass die lasergesteuerten
Bomben exakt treffen. Angeblich sollen sowohl
die USA als auch die Briten solche
Spezialkräfte im
Irak im Einsatz haben,
bestätigt wurde
das bisher nicht.
online
Der Autor schreibt
einen viel beachteten
Blog unter
augengeradeaus.net
Rein militärisch
gesehen, wäre auch
die Bundeswehr in
der Lage, mit Spezialkräften
solche Aktionen
durchzuführen.
Doch das wäre ein noch viel weiter gehender
Schritt als eine Beteiligung an einem
Luftkrieg – und deshalb noch unwahrscheinlicher.
Denn mit Bodentruppen,
und dazu müsste auch der Einsatz von
Spezialkräften gezählt werden, will offiziell
kein westliches Land in diesen Konflikt
eingreifen. Zu groß ist die Furcht, damit in
eine neue, nicht mehr kontrollierbare Auseinandersetzung
hineinzugeraten. n
thomas wiegold | politik@wiwo.de
FOTO: CARO/SCHULZ
30 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
ENTSCHEIDER...
Stöß, 41, könnte Nachfolger
des Berliner Bürgermeisters
Klaus Wowereit werden. Der
SPD-Landeschef – von Beruf
Richter – muss sich noch
gegen weitere SPD-Kandidaten
durchsetzen: Fraktionschef
Raed Saleh und Senator
Michael Müller. Sein Motto:
„Arm ist nicht sexy!“
...GEGEN MACHER
Heilemann, 32, ist Investor
und Gründer. Seine erste
Internet-Firma Dailydeal
verkaufte er gemeinsam mit
seinem Bruder 2011 an
Google – für 114 Millionen
Dollar. Ihre Holding Heilemann
Ventures ist derzeit an
zehn deutschen Start-ups
beteiligt.
»Werden Sie ein Digital-Chef!«
STREITGESPRÄCH | Jan Stöß und Fabian Heilemann Der eine will Berlins neuer Bürgermeister werden,
der andere die Stadt zur Start-up-Weltmetropole machen. Aber wie? Eine Diskussion über das Vorbild
Silicon Valley, die Gründerangst deutscher Ingenieure und Verlockungen des ganz großen Geldes.
FOTO:
32 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Herr Stöß, Herr Heilemann, gerade sind
die Berliner Start-up-Stars, Zalando und
Rocket, an die Börse gegangen. Wer von
Ihnen beiden hat Aktien gekauft?
Stöß:(lacht) Da fangen Sie mal an!
Heilemann: Man könnte aus Lokalpatriotismus
einsteigen. Aber ich bin vor allem
im Nasdaq investiert und werde vorerst dabei
bleiben. Das upside-Potenzial der beiden
Aktien ist angesichts der Lage des Gesamtmarktes
relativ gering, das downside
hingegen erheblich. Also: nein.
Stöß: Ich kenne politisch nur upside-
Potenzial. Und im Ernst: Ich besitze gar
kein Aktienportfolio und werde jetzt auch
nicht damit anfangen. Aber die beiden
Börsengänge sind für Berlin eine Zäsur, ein
gewaltiger Schritt nach vorne, weil die Aufmerksamkeit
so groß ist – weltweit.
Herr Stöß, wenn Sie Internet-Firmen besuchen:
Was überrascht Sie da am meisten?
Stöß: Das Großartige sind die vielen Menschen
aus allen Ländern, die dort arbeiten.
Wo in Deutschland findet man das? Die
richtigen Fachleute zu finden ist für Startups
in Berlin offenbar kein Problem. Die
Marke Berlin ist unser unique selling point.
Und so muss es auch bleiben.
Heilemann: Wahrscheinlich gibt es keine
europäische Stadt, die da mithalten kann.
London, wenn überhaupt. Aber dort ist das
Leben eben absurd teurer. Diese Kombination
aus Internationalität und geringen Lebenshaltungskosten
ist genau der breeding
ground, auf dem die Szene in den letzten
fünf Jahren gewachsen ist.
Stöß: Ich habe allerdings den Ehrgeiz, dass
sich daran ein bisschen was ändert. Denn
billiges Leben hieß bisher auch zu häufig,
dass die Löhne und Gehälter niedrig sind.
Berlin wächst zwar stark, auch wirtschaftlich,
aber vor allem pro Kopf ist das Einkommen
noch zu gering. Hier müssen wir
ran. Wir wollen nicht auf ewig der größte
Nehmer im Finanzausgleich bleiben.
Sie können allerdings schlecht selbst die
Gehaltsverhandlungen übernehmen...
Stöß: Keine Sorge. Was ich möchte, ist eine
Debatte, was gute Arbeit im digitalen
Zeitalter bedeutet. Gerade in Start-ups
gelten meist keinerlei Tarifverträge, die
Grenzen zwischen angestellt und selbstständig
verwischen. Ordentliche Löhne
gehören definitiv zu guter Arbeit, wie ich
sie verstehe.
Heilemann: Es stimmt, unsere Branche ist
weitgehend tarif- und gewerkschaftsfrei.
Aber: Bei uns verfängt keine Mindestlohnforderung,
nicht in unserer Unternehmensgruppe
und auch bei anderen nicht.
Bei uns steht immer eine zwei vor dem
vierstelligen Monatsgehalt.
Einen Betriebsrat...
Heilemann: ...haben wir nicht. Hat aber
auch wenig Sinn: Wir sind nur wettbewerbsfähig,
wenn wir flexibel und extrem schnell
reagieren können. Es ist so schon schwierig
genug, zu überleben. Stellen Sie sich Finanzierungsrunden
in unserer Branche wie eine
Pyramide vor: extrem steil. Da schaffen
es nicht alle nach oben. Betriebliche Mitbestimmung
kann da für geringeres Tempo
sorgen. Im Übrigen: Wir arbeiten so intensiv
und offen mit unseren Mitarbeitern, dass
wir hier auch ohne Betriebsrat sehr gut Interessen
zum Ausgleich bringen können.
Stöß: Einspruch!
Heilemann: Bei uns herrscht eben nicht
wie in vielen alten Industrien ein hierarchisches
Verhältnis, das ausgeglichen werden
müsste. In unserem Gebäude hier arbeiten
zahlreiche junge Unternehmen.
Wer auf uns keine Lust mehr haben sollte,
geht nur eine Hausnummer weiter, viel-
»Geld geben ist
doch keine
Staatsaufgabe!«
Jan Stöß
leicht nur eine Etage. Das Ringen um gute
Programmierer oder Online-Marketingprofis
ist echt kein Spaß.
Stöß: Ich bleibe trotzdem beim Einspruch.
Betriebliche Mitbestimmung muss auch in
Ihrer Branche zur Regel werden. Solange
es aufwärts geht, spielt die Organisation
der Arbeitnehmer oft keine Rolle, aber
wenn es schwierig wird, sieht das schnell
anders aus. Wenn jemand gekündigt wird,
gibt es eben doch wieder eine Hierarchie.
Vizekanzler Sigmar Gabriel will den „Silicon-Valley-Kapitalismus
zähmen“. Können
Sie das verstehen, Herr Heilemann?
Heilemann: Ich kann mir zumindest vorstellen,
was er meint. Etwas wie Google,
Amazon und Facebook hat es in der Wirtschaftsgeschichte
noch nicht geben. Selbst
Rockefeller und Ford haben nie die ganze
Welt derart dominiert. Das muss man ohne
Verklärung analysieren, aber bitte auch ohne
Verdammung. In erster Linie sind das
extrem erfolgreiche Unternehmen, weil sie
Dienste anbieten, die Milliarden von Menschen
nutzen wollen.
Stöß: Aber die problematischen Fragen
sind doch unübersehbar: Google hat rund
95 Prozent Marktanteil. Es ist nicht nur eine
Suchmaschine, sondern auch Wettbewerber
vieler Dienste, die darauf angewiesen
sind, dass sie per Google-Suche gefunden
werden. Hier hat ein privates Unternehmen
faktisch ein Monopol, und die Spielregeln
sind nicht klar. Deshalb hat Gabriel
recht, wenn er diese Fragen aufwirft.
Was überwiegt denn: Die Probleme? Oder
der Optimismus, der Gründergeist?
Stöß: Aus Berliner Sicht überwiegt der Optimismus.
Für Berlin ist das Internet eine
Erfolgsgeschichte, die wir fortsetzen wollen.
Alles, was der Start-up-Szene hier in
der Stadt hilft zu bleiben, zu wachsen und
neue Jobs zu schaffen, sollten wir tun. Aber
wir verschließen nicht die Augen vor den
Risiken, die wir politisch angehen müssen.
Herr Heilemann, Sie haben in Stanford
promoviert, für Google gearbeitet. Was
haben Sie da gelernt?
Heilemann: Nationale Lösungen sind
schwieriger als früher. Datenschutz, Monopole,
auch Besteuerung, all das müssen wir
in globaler Perspektive denken. Es hat
Gründe, warum die großen Venture-Capital-Deals
nicht in Deutschland gemacht
werden, sondern über Luxemburg, London
oder Delaware laufen. Das regulatorische
Korsett und die Anlage-Richtlinien für
institutionelle Anleger hierzulande schrecken
ab. Deswegen fehlt uns bis heute eine
florierende Wagniskapitalbranche.
Was soll Politik da tun? Und was lassen?
Heilemann: Ganz ehrlich: Am Anfang ist
Politik ein irrelevanter Faktor. Bürokratie
und rechtlicher Rahmen bestimmen vielleicht
über zwei bis drei Prozent meines Erfolgs.
Mindestens 95 Prozent gründen dagegen
auf unsere Technologie, dem Marketing
und dem Vertrieb, also der operativen
execution der Geschäftsidee.
Stöß: Seien wir realistisch: Die Leute gründen
nicht in Berlin, weil wir die weltweit
schnellste Verwaltung haben, sondern weil
die Stadt eben so großartig ist, weltläufig,
wild und aufregend. Wir müssen also alles
tun, damit dieser Geist erhalten bleibt.
Heilemann: Da bin ich ganz bei Ihnen.
Stöß: Dann dürfen wir gesellschaftliche
Freiräume nicht zerstören, müssen freie Flächen
erhalten, Zufall geschehen lassen. Und
trotzdem gute Politik machen: Räume und
Grundstücke sollte die Stadt auch für diejenigen
reservieren, die zwar nicht am meisten
zahlen, aber das kreativste Konzept haben.
Wir sollten dafür sorgen, dass in unseren
Behörden Englisch gesprochen wird.
»
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 33
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
»
Und wir brauchen endlich eine funktionierende
one-stop agency für Gründer.
Den Berlin-Hype in allen Ehren, aber im
Silicon Valley wird 25-mal mehr Geld investiert
als hier. Wie soll sich das ändern?
Heilemann: Wenn wir in Berlin Firmen
aufbauen wollen, die ernsthaft in der Weltliga
mitspielen können, brauchen wir
zweierlei: Talente und Kapital. Beim Geld
hat sich einiges zum Guten getan, gerade
wenn es um die Startphase geht. Unser
Problem ist der Schritt danach, das Wachstum.
Eine halbe oder Dreiviertelmillion
einzusammeln, ist nicht das Thema. Aber
bei zwei bis drei Millionen wird es eng.
Das müssen Sie erklären.
Heilemann: Institutionelle Venture-Capital-player,
die das Vermögen von Investoren
verwalten, finden in Deutschland derzeit
keine guten steuerlichen und rechtlichen
Rahmenbedingungen. Wie werden
die Erträge der Venture-Fonds selbst und
die Gewinnbeteiligungen der Fonds-Manager
besteuert? Das sind standortpolitisch
gesehen sehr kritische Fragen. Das
Gros des US-Venture-Capital kommt doch
von Versicherern, Pensionsfonds und Banken,
weil sie Anlage-Richtlinien haben, die
ihnen zu einem gewissen Prozentsatz auch
die Investition in alternative Asset-Klassen
ermöglichen. In Deutschland ist das anders.
Und das ist ein strukturelles Problem
für unser digitales Ökosystem.
Stöß: Langsam, Berlin muss selbst investieren.
Dafür benötigen wir ebenfalls Geld.
Deshalb können wir Ihnen und anderen
bei Steuererleichterungen nicht allzu weit
entgegenkommen. Ich setze eher auf Ausrufezeichen
wie Rocket. Geld geben ist ja
keine Staatsaufgabe.
Heilemann: Da sind wir uns einig.
Stöß: Danke. Sie sind doch ein gutes Beispiel
für die Kraft von Traditionen: Ein junger
Mann, der eine Vision hat, die er trotz
aller Hürden durchzieht. 1847 hat nicht
weit von hier ein Mann namens Werner
von Siemens eine Telegrafen-Werkstatt
aufgebaut. Gründen liegt einfach in der
DNA dieser Stadt.
Damit sind wir bei Talenten: Was fehlt der
Humboldt-Universität, was Stanford hat?
Heilemann: Da herrscht ein riesiger kultureller
Unterschied. Die Helden dort heißen
Mark Zuckerberg, Steve Jobs oder Larry
Page. Das sind die Sterne am Firmament
von Nordkalifornien. Jeder will der nächste
sein, der da oben funkelt.
Hier arbeiten die Leute lieber beim Staat.
Heilemann: Nicht nur. Wir wollten mal mit
der RWTH Aachen ein Projekt aufbauen.
»In der Politik
würde ich
wahnsinnig«
Fabian Heilemann
Das scheiterte, weil deutsche Ingenieure –
brillante Leute – eben nicht das Risiko der
Selbstständigkeit lieben, sondern Siemens,
Porsche oder Bosch.
Und das heißt?
Heilemann: In Deutschland gründen immer
noch überwiegend BWLer. Schauen
Sie sich die wichtigsten Köpfe des vergangenen
Jahrzehnts doch mal an, da finden
Sie immer wieder eine Uni in der Vita: die
Business School WHU in Vallendar. Im Valley
ist es genau andersrum: Da sind die
Programmierer und Tech-Nerds die Stars.
Manager kauft man sich eben ein, weil
man sie braucht.
Stöß: Sehen wir das doch positiv. Wir bieten
andere Chancen. Hier können motivierte
Leute in kleinen Unternehmen Großes
bewegen. Das Leben ist noch günstig,
es gibt keine Studiengebühren. Dabei soll
es auch bleiben. Ich würde mir nur noch
mehr Berliner Absolventen wünschen, die
ihren ersten Job nicht woanders suchen.
Häufig erlebt man unter Netzprofis Belustigung
über digitale Analphabeten in der
Politik. Empfinden Sie beide das auch so?
Heilemann: Ich will Ihrer Analyse nicht
widersprechen, aber ich persönlich sehe
das anders. Ich habe selber in meiner Jugend
Politik gemacht und habe Freunde,
die heute Landtags- oder Bundestagsabgeordnete
sind. Um Deutschland als Digital-
»Gründen liegt
einfach in der
DNA der Stadt«
Jan Stöß
Standort zu stärken, investiere ich Zeit, in
der ich Politikern meine Ansichten vermittele.
Nur für mich selber wäre Politik
nichts. Ständig Kompromisse schließen,
diskutieren, kaum Ergebnisse – ich würde
wahnsinnig werden.
Stöß: Manchmal gibt es diese Verachtung,
ja. Dagegen hilft nur miteinander sprechen.
Der Graben darf nicht weiter aufreißen.
Wenn wir für die Internet-Szene gute
Politik machen sollen, dann brauchen wir
ernsthaften Input.
Ist hier unter Wowereit genug passiert?
Stöß:Lassen Sie uns über die Zukunft sprechen
und nicht über die Vergangenheit.
Wenn ich Regierender Bürgermeister werde,
dann wird die Internet-Wirtschaft einer
meiner Schwerpunkte. Ich will einen nachhaltigen
Aufschwung.
Gutes Stichwort: Nicht alle Gründer legen
auf ein nachhaltiges Geschäftsmodell
Wert. Die suchen lieber den schnellen
Exit, um mit ein paar Millionen aus dem
Firmenverkauf das Leben zu genießen.
Heilemann: Das sehe ich komplett anders.
Mehr als 300 Millionen Euro fließen durchschnittlich
jedes Jahr nach Berlin in Startups.
Damit werden Unternehmenswerte
geschaffen, die beim Zwei- bis Dreifachen
der Investitionssumme liegen. Hier wird
unterm Strich definitiv kein Geld vernichtet.
Ich wehre mich auch gegen dieses Zerrbild
von Gründern, die zu schnell zu reich
geworden sind. Die große Mehrzahl gibt
weiter Gas. Ich persönlich sitze nach wie
vor jeden Morgen um neun am Ikea-
Schreibtisch und arbeite oft bis in die
Nacht, investiere und gründe neue Unternehmen.
Mit all den Rückschlägen und
Frustrationen, die das manchmal mit sich
bringt. Das müsste ich nicht. Ich könnte
auch auf Sylt oder an der Côte d’Azur rumhängen.
Tue ich aber nicht.
Herr Heilemann ist durch den Verkauf seiner
Firma zum Millionär geworden. Ist das
eigentlich eine Geschichte, die Ihr sozialdemokratisches
Herz erwärmt, Herr Stöß?
Stöß: (lacht) Wenn er jetzt noch einen Betriebsrat
bekommt, dann ja!
Heilemann: Wenn ich Ihnen im Gegenzug
auch noch einen Rat geben darf: Herr Wowereit
hat uns mit einem Ohr zugehört,
aber mit mehr auch nicht. Wenn Sie sein
Nachfolger werden, dann machen Sie die
Internet-Wirtschaft wirklich zu Ihrem dominierenden
Thema. Reden Sie nicht nur
darüber. Werden Sie der Digital-Regierungschef
Deutschlands! Nur so kann Berlin
sich sanieren.
n
max.haerder@wiwo.de | Berlin
FOTO: ANDREAS CHUDOWSKI FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
34 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Behördenstriptease
DATENSCHUTZ | Als erstes Bundesland verpflichtet Hamburg
seine Behörden, alle Dokumente offenzulegen. Datenschützer
feiern das Transparenzgesetz und fordern die Ausweitung.
Doch der Praxistest zeigt: Sorge ist angebracht.
Schatz in der Hand Der Hamburger Piraten-Politiker Burkhard Masseida
Als einer der Ersten wird Christoph
von Rauchhaupt durchleuchtet. Insgesamt
43 925 Euro und 48 Cent hat
der Hamburger Arzt von der städtischen
Denkmalbehörde seit 2012 erhalten, um
eine historische Immobilie zu Wohnzwecken
umzubauen und zu sanieren. Zu viel?
Völlig in Ordnung? Darüber können sich
ab sofort seine Nachbarn oder Patienten
den Kopf zerbrechen. Denn seit dem 6. Oktober
ist diese Information öffentlich.
Seit einer Woche gilt in Hamburg das
Transparenzgesetz. Alle Behördendokumente,
deren Nutzung nicht auf den
Dienstgebrauch beschränkt wird, müssen
nun online veröffentlicht werden. Maschinenlesbar
und mit Suchfunktion. Unternehmen,
die Aufgaben der Daseinsvorsorge
übernehmen, sind ebenfalls betroffen.
Das Denkmalschutzamt hat den Anfang
gemacht: Am Montagmorgen stellten die
Beamten eine Liste aller Zuwendungsempfänger
der vergangenen zwei Jahre online.
Seitdem folgten über 100 weitere Dokumente,
gut 26 000 waren zuvor bereits zu
Testzwecken veröffentlicht worden. Das
Gesetz ist ein absolutes Novum. In der Slowakei,
wo die Idee ihren Ursprung hat, ist
nur ein kleiner Teil aller behördlichen Dokumente
betroffen. Datenschützer sind begeistert,
fordern eine flächendeckende
Einführung. In mehreren Bundesländern
sind Gesetze nach Hamburger Vorbild geplant.
Dabei ist schon nach einer Woche
absehbar, dass der Hamburger Feldversuch
mittelfristig vor allem eines offenbaren
wird: die Risiken, die im Transparenzjubel
untergehen.
Burkhard Masseida wird einer der regelmäßigen
Gäste auf der Plattform sein. „Ich
interessiere mich vor allem für die Daten
über die Arbeit der Hamburger Polizei“,
sagt Masseida. Der 40-Jährige arbeitet als
Türsteher, im kommenden Jahr soll er nebenbei
die Hamburger Piratenpartei als
Spitzenkandidat in die Bürgerschaftswahl
führen. Er ist einer der Erfinder des Gesetzes,
im Herbst 2011 hat Masseida selbst
mehr als 1500 Unterschriften gesammelt,
um aus der Idee ein Bürgerbegehren zu
machen. Am Anfang hatte er die Initiative
„Mehr Demokratie“ an seiner Seite, später
kamen Transparency und der Chaos Computer
Club hinzu. Um die Überparteilichkeit
zu ermöglichen, zogen sich die Piraten
dann aus der Projektspitze zurück. Das
Thema Transparenz hat seine Partei groß
gemacht.
NUR EIN WERKZEUG
Jetzt ist das Gesetz da und die Partei längst
nicht mehr groß. Masseida ist dennoch begeistert:
„Das Portal wird einen Paradigmenwechsel
einläuten“, sagt er. „Die Behörden
werden merken, dass Offenheit ihnen
nicht schadet.“ Zumindest Renate Mitterhuber
hat er schon überzeugt. Die stellvertretende
Leiterin der IT-Abteilung der
Hamburger Finanzbehörde hat die Umsetzung
des Gesetzes koordiniert. „Von immer
mehr Kollegen bekomme ich positive
Rückmeldungen, denn auch wir erhalten
durch das Portal einen neuen Überblick
über unsere eigenen Aktivitäten.“
So bunt wie das Behördenleben ist der
erste Eindruck von der Plattform. Nach
dem Denkmalschutzamt hat die Behörde
für Stadtentwicklung die „Kooperationsvereinbarung
mit der Vattenfall-Gruppe“
ins Netz gestellt, wenig später das Personalamt
die „Dienstvereinbarung über verlängerte
Mittagspausen“. Da ist zu lesen,
dass die Mitarbeiter ihre Pause von den regulären
30 Minuten auf bis zu zwei Stunden
ausweiten dürfen, wenn sie es anderswo
durch die Mehrarbeit reinholen. Wenig
später folgt die „Anstaltsverfügung“ der Sozialtherapeutischen
Anstalt Hamburg über
die Einrichtung von „DVD-Gruppen“. Insassen
und Sicherheitsverwahrte dürfen
demnach DVDs anschauen – aber nur gemeinsam.
Und: „In der Regel sind Filme
mit einer FSK-Zulassung ,ab 18 Jahren‘
nicht geeignet.“ Und solche Sachen sollen
die Hamburger jetzt täglich zum Morgenkaffee
studieren?
FOTO: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
36 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Die Transparenz
ist da, doch die
Partei ist weg, die
das Thema erfand
„Wir haben da ein Werkzeug geschaffen,
mit dem jeder arbeiten kann, wenn es nötig
ist“, erklärt Masseida. „Wenn Sie eine
Kettensäge kaufen, laufen Sie ja auch nicht
gleich in den Wald und machen alle Bäume
platt.“ Schon recht, und dennoch zeigen
gerade diese banalen Beispiele, dass
die allumfassende Transparenz etwas
Grundsätzliches verändern könnte im Umgang
zwischen Bürgern und Staat. Vertrauen
in die Arbeit der Behörden wird durch
die Illusion umfassender Kontrolle ersetzt.
Die Kontrolle des Staats durch seine
Bürger ist ein hehres Ziel, für das es bereits
einige Instrumente gibt. Das Informationsfreiheitsgesetz
garantiert, dass auf
konkrete Anfragen ziemlich umfassende
Antworten folgen müssen. „Wir müssen
wegkommen von dieser Rolle als Bittsteller,
wo der Bürger im Prinzip als Querulant
gesehen wird“, sagt Masseida. Bisher
musste der Bürger sich rechtfertigen, warum
er etwas wissen will. Ab jetzt soll der
Staat begründen, wenn er Dinge nicht verraten
will.
Das ist mit dem Gesetz zweifellos gelungen.
Doch vor lauter Begeisterung über die
Vorzüge der Offenheit wurde wohl vergessen,
dass diese auch jemanden bloßstellen
kann: den Menschen dahinter. „Wenn ich
eine Ausschreibung der Stadt gewinne,
kann ab sofort jeder Konkurrent sehen,
mit welchen Preisen ich kalkuliere“, sagt
Tobias Bergmann, Geschäftsführer des
Hamburger Beratungsunternehmens
nordlicht consultants. Zwar gilt das Transparenzgesetz
für alle Aufträge in gleicher
Weise, aber eben nur innerhalb Hamburgs.
„Ein Unternehmer aus Bayern kann
seine Kalkulation darauf abstimmen, ohne
dass ich Ähnliches über seine Angebote
wüsste“, sagt Bergmann. Zwar dürfen Unternehmen
der Verwaltung vorschlagen,
was in einem Vertrag geschwärzt werden
soll, die Entscheidung aber verbleibt bei
den Beamten. So erfährt man auf dem
Transparenzportal, dass das Ingenieurbüro
WKC Hamburg für die „Instandsetzungsplanung
für die 85 Meter lange
Kaimauer am Lotsekai“ insgesamt 130 827
Euro erhalten hat. Wäre es ein Wunder,
wenn bei der nächsten Kaimauer einer
129 000 Euro bietet?
Selbst wenn es nicht zu solchen direkten
Folgen kommt, ändern wird sich der Geist,
der durch die Behördenflure weht. Am
Dienstag folgte das Dokument „Hausordnung
der Behörde für Justiz und Gleichstellung“.
Punkt 11.3.2: „Das Abstellen von
Fahrrädern in Büros oder auf Verkehrsflächen
innerhalb des Dienstgebäudes ist untersagt.“
Oder 11.4: „In die Papierkörbe
sind nur Papierabfälle zu entsorgen.“ Geht
jetzt ein Bürger hin und schwärzt einen
Mitarbeiter wegen solcher Verstöße an,
wenn der sein Begehren ablehnt? Wer zur
Blockwartmentalität neigt, dem eröffnen
sich ganz neue Betätigungsfelder.
Bis auf Weiteres scheint der Hamburger
im Allgemeinen noch recht harmlose Ziele
zu verfolgen: Der meistgesuchte Begriff in
den ersten Tagen lautete „Baumkataster“. n
konrad.fischer@wiwo.de
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Politik&Weltwirtschaft
Fürsorge Fehlanzeige
UKRAINE | Das Auswärtige Amt stellt Mitarbeiter an, die im OSZE-
Auftrag den Krieg beobachten – für viel Geld und wenig Sicherheit.
der Bund jener strengen Fürsorgepflichten,
denen private Arbeitgeber über das Arbeitsrecht
unterliegen. Anders als Soldaten
fehle OSZE-Beobachtern jegliche soziale
Absicherung. „Das mag formal legal sein,
legitim ist es nicht“, so Abeln.
Rechtswissenschaftler Holger Berens
warnt, vertraglich sei „in keiner Weise geregelt,
wer für Fürsorgepflichten am Einsatzort
verantwortlich ist“, so der Experte für Mitarbeiterentsendung,
der an der Rheinischen
Fachhochschule in Köln lehrt. Bei Verletzung
dieser Pflichten könne „Schadensersatz
und unter Umständen Schmerzensgeld
verlangt werden“. Die OSZE verweist auf Anfrage
an das Auswärtige Amt. Dort verweist
man auf das Gesetz aus dem Jahre 2009, das
„zahlreiche Fürsorgeleistungen“ vorsehe.
Jeder, den Deutschland auf die Mission in
der Ukraine schicke, mache dies „freiwillig
und in voller Kenntnis der Lage vor Ort“.
Als neulich die Neuen kamen, blickten
sie zum Einstand in Gewehrläufe
prorussischer Separatisten. In Kiew
müssen sie das Navi falsch eingenordet haben
– jedenfalls führte der Weg die Beobachter
nicht ins Camp der Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(OSZE), sondern direkt an die Front. Rings
um den Geländewagen knallten Schüsse,
irgendwo detonierten Granaten. Schließlich
stoppten bewaffnete Rebellen die vier
Zivilisten am Checkpoint – mitten in der
Nacht, und keiner sprach Russisch.
Diese Neulinge hatten Glück: An jenem
Abend konnten sie heimkehren, niemand
wurde entführt. Noch mehr Fortune hatten
Kollegen einige Tage später, als ukrainische
Soldaten OSZE-Jeeps unter Beschuss nahmen.
Nur die Panzerung rettete fünf Mann
das Leben. Nein, gefahrlos ist die „Special
Monitoring“-Mission in der Ukraine nicht.
„Ständig passiert etwas“, sagt ein Teilnehmer.
„Es ist ein Wunder, dass es bisher weder
Tote noch Verletzte gab.“
Sofern es dazu kommt, wäre es ihr Pech.
Die Bundesregierung und andere EU-Länder
bestücken OSZE-Missionen mit Personal,
das an Kurzzeitverträge ohne jegliche
Fürsorgeverpflichtung und mit minimalen
Sozialleistungen geknebelt ist. Das Auswärtige
Amt zahlt Beobachtern kein Gehalt,
sondern eine Aufwandsentschädigung,
die OSZE überweist Verpflegungspauschalen.
So kommt ein deutscher Be-
Unter Beschuss Zivile Beobachter der OSZE
befinden sich plötzlich mitten im Krieg
obachter auf 7000 Euro brutto – ein hübsches
Salär für Uni-Absolventen. Doch Risiken
in Krisenregionen tragen die Beobachter:
Sie verpflichten sich laut einem der
WirtschaftsWoche vorliegenden Vertrag,
„eine Krankenversicherung abzuschließen,
die die besonderen Risiken des Einsatzes
abdeckt“. Auf Anfrage teilt die OSZE
mit, man habe Verträge mit Versicherern
und vermittle psychologische Beratung.
Arbeitsrechtler haben da ihre Zweifel. In
der Praxis schließe jeder Versicherer Risiken
in Kriegsgebieten von Leistungen aus,
sagt Christoph Abeln, Chef einer gleichnamigen
Berliner Kanzlei. Es sei „gesetzlich
fixierter Widersinn“, was der Bund per Gesetz
zur „Regelung von Sekundierungen im
Rahmen von Einsätzen der zivilen Krisenprävention“
nicht nur für OSZE-Missionen
festschreibt: Ausgerechnet gegenüber Mitarbeitern
in Krisengebieten entzieht sich
250 Kräfte
der OSZE sind in der
Ukraine im Einsatz
MITTEN IM KRIEG
Im Moment setzt die OSZE in der Ukraine
250 Kräfte ein – darunter 17 Deutsche. Für
250 weitere läuft eine Ausschreibung, die
Neuen sollen Erfahrung bei der Überwachung
von Waffenstillständen mitbringen.
Viele Freiwillige sind in umkämpften Ostgebieten
der Ukraine unterwegs, sprechen
mit Soldaten und Rebellen, befragen Anwohner.
Einer von ihnen ist Bruno Brückmann;
seinen wahren Namen will er nicht
gedruckt sehen. „Mit friedlichem Beobachten
hat diese Mission nichts zu tun“, sagt er.
„Wir stecken mitten in einem Krieg mit
Mörsern und Granaten.“ Nie habe er einen
Einsatz erlebt, der „so dilettantisch vorbereitet
und begleitet wurde wie dieser“, sagt
er in Richtung der OSZE-Führung in Wien.
Dort heißt es, der Einsatz „ist und bleibt eine
zivile Mission“. Die Sicherheitslage werde
ständig überprüft, es gebe „angemessene
Maßnahmen zur Risikominimierung“.
Friedrich Haas kennt die Ukraine. Er ist
Chef der Bielefelder Sicherheitsberatung
AKE, war in Beobachtermissionen tätig
und begleitet nun Fernsehteams in den Osten
des Landes. „Vielen Beobachtern fehlt
die Erfahrung, sie unterschätzen leicht die
Gefahr.“ Wer bei früheren Einsätzen dabei
gewesen sei, habe sich auf Armeen verlassen
können: Wer sich im Kosovo in ein Minenfeld
verirre, den hole die Truppe ab. In
der Ukraine nicht: „Da werden Sie nicht
einmal bei einem Beinbruch versorgt.“ Bei
der OSZE heißt es, man baue mit der Vergrößerung
der Mission eine medizinische
Versorgung vor Ort auf. Das tut auch not. n
florian.willershausen@wiwo.de | Berlin, thomas kuhn
FOTO: CORBIS IMAGES/ITAR TASS/SAZONCHIK KONSTANTIN
38 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FOTOS: SAMMY HART, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, BERLINPRESSPHOTO/HENNING SCHACHT
PARIS | Die Regierung
spart an der
Kinderprämie –
Eltern schlagen
Alarm. Von Karin
Finkenzeller
Kindersegen
auf der Kippe
Frankreich, du hast es
besser. Zumindest was
die Geburtenrate angeht,
schien das bisher zu stimmen.
Mit 1,99 Kindern
pro Frau liegt Frankreich
weit vor Deutschland und gilt als leuchtendes
Vorbild, was die Vereinbarung von
Beruf und Familie angeht. Da wird zwar
ausgeblendet, dass auch die Nachbarn
ein Krippenplatzproblem haben und Kinder
in ihren Horten häufig kein Fleckchen
Grün sehen. Aber es ist schon richtig: Die
Drei-Kind-Familie ist in Frankreich nicht
ungewöhnlich. Doch jetzt fürchten die
Nachbarn um ihre hohe Geburtenrate.
Weil die Kassen leer sind, will die Regierung
die Prämie ab dem zweiten Kind
von derzeit 923 Euro um zwei Drittel senken
– zumindest bei Familien, die sich
das leisten können. Zudem soll die Erziehungszeit
von derzeit drei Jahren auf 18
Monate reduziert werden, wenn nur ein
Elternteil die Auszeit nimmt. Offiziell soll
dies Väter dazu animieren, sich ebenfalls
ausgiebig mit dem Nachwuchs zu beschäftigen.
Insgeheim aber hofft die
Regierung darauf, dass dies nicht klappt
und sie 300 bis 400 Millionen Euro pro
Jahr einsparen kann. Schon empören
sich Experten und Vorsitzende von Elternvereinigungen.
Französische Paare könnten,
so die einhellige Befürchtung, es
sich künftig dreimal überlegen, Kinder zu
kriegen oder den Zeitpunkt dafür weit
nach hinten verschieben.
Charles de Gaulle würde sich im Grab
umdrehen. Der erste Präsident nach dem
Zweiten Weltkrieg hatte die Geburtenförderprogramme
doch eingeführt, damit
viele, viele Franzosen nie wieder von den
Deutschen überrannt würden.
Karin Finkenzeller ist Frankreich-
Korrespondentin der WirtschaftsWoche.
BERLIN INTERN | Nicht Politik verdirbt den Charakter,
sondern Charaktere verderben die Politik. Beim
Journalismus ist es nicht anders. Von Henning Krumrey
Kohle mit Kohl
Der politische Kampf war sein
Lebenselixier, nichts Menschliches
war ihm hier fremd, etliche
Intrigen hat er erlitten, mindestens
genauso viele angezettelt. Auf seine
alten Tage wird Helmut Kohl aber noch
Hauptperson eines Eifersuchtsdramas.
Als enttäuschter Liebhaber drängt der
Journalist Heribert Schwan ins Rampenlicht,
den Kohl als Geistschreiber für seine
Memoiren angeheuert hatte. Zwischen
2001 und 2002 trafen sich der abgewählte
Geht doch Kanzlerin Merkel hat die Gabel
– anders als Kohl damals klagte – im Griff
Bundeskanzler und der auserwählte Autor
zu 105 Sitzungen, meist im Hobbykeller
des berühmten Oggersheimer Bungalows.
Schwan zeichnete die Gespräche auf
Tonkassetten auf. Danach ging’s an die
Produktion der ersten drei Bände; ab 2004
verzichtete Schwan auf Hausbesuche, um
Kohls neuer Partnerin Maike Richter aus
dem Weg zu gehen. 2009 erhielt er Hausverbot,
just als er mit der ersten Hälfte des
vierten Bandes aufwarten wollte.
Wut und Rache müssen Schwan treiben,
wenn er die bösesten Kommentare und klaren
Einordnungen des Einheitskanzlers veröffentlicht
– ohne Absprache. Gleichwohl
sieht sich Schwan berechtigt, die besonders
klingenden Sprüche in ebensolche Münze
umzuwandeln. „Ich bin der, der das Vermächtnis
verwalten kann, so habe ich mich
empfunden.“ Diese Rolle beansprucht inzwischen
freilich auch Maike Kohl-Richter.
Schwans Partner in der Aufbereitung und
Vermarktung der Kohl’schen Tiraden ist der
Autor und Filmemacher Tilman Jens. Ihm
gelingt das Kunststück, bereits zum dritten
Mal mit dem (Ab-)Leben eines Menschen
ein Geschäft zu machen. Als „Stern“-Reporter
war er nach dem Tod des Schriftstellers
Uwe Johnson in dessen Haus in England
eingedrungen, um Material zu sammeln.
Nach der illegalen Recherche endete seine
Karriere bei der Illustrierten. Zwischen 2008
und 2010 konnte er aus der Alzheimer-
Erkrankung seines Vaters, des Germanisten,
Moralphilosophen und -apostels Walter
Jens, Aufsehen und Kapital schlagen. Und
nun also Kohls „Vermächtnis“. Gemein haben
alle drei Objekte von Jens’ Neugier, dass
sie sich nicht mehr selbst wehren können.
Kein Zweifel: Kohl wird all die süffigen
Beschimpfungen so gesagt haben. Sie decken
sich mit vielen, die er bei vertraulichen
Gesprächen im Büro, am Vorabend von
Parteitagen, in kleiner Runde oder bei arrangierten
Abendessen in der pfälzischen
Heimat mit Wonne unter die Journalisten
brachte. Kein Geheimnis beispielsweise ist,
dass der frühere Fraktionsvorsitzende
Friedrich Merz sich vom CDU-Patriarchen
wie ein dummer Junge behandelt fühlte
und sich Kohls gönnerhaft-herablassendes
DuSie („Merz, gib mal ...“) verbat. Ihn beschimpft
der Senior als „politisches Kleinkind“.
Den späteren Minister- und Bundespräsidenten
Christian Wulff hatte er vor
dessen Aufstieg so oft und vernehmbar als
Niete charakterisiert, dass Wulff sich am
Abend seines niedersächsischen Wahlsieges
im Frühjahr 2003 kurz nach 18 Uhr bei
Kohl telefonisch mit den Worten meldete:
„Hier spricht der Loser aus Hannover.“
Als wollte er die Brisanz seines Vertrauensbruchs
herunterspielen, sagt Schwan:
„Wer Kohl ein bisschen kennt, für den bietet
das Buch nichts Neues.“ Da hat er recht.
Schwan behauptet, Kohl würde ihm auf
die Schulter klopfen und ausrufen: „Volksschriftsteller,
Gratulation!“ Doch wer Kohl
kennt, der ahnt, dass er Schwans Verhalten
zwar eindeutig, aber anders werten würde.
Er würde einfach den einen Vokal in dessen
Namen durch zwei andere ersetzen.
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 39
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Der Volkswirt
KOMMENTAR | In ihrem Herbstgutachten bestätigen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute
den Abwärtstrend der deutschen Wirtschaft. Zugleich warnen
sie davor, die geldpolitischen Schleusen weiter zu öffnen und breit angelegte
öffentliche Investitionsprogramme aufzulegen. Von Malte Fischer
Ende der Kuschel-Konjunktur
War es nicht ein tolles
Gefühl, als uns
vor wenigen Monaten
noch fast
täglich Nachrichten von einer
kräftig wachsenden Wirtschaft,
neuen Beschäftigungsrekorden
und steigenden Einkommen
das Gefühl vermittelten: Es
geht uns gut – und morgen
wird es uns noch besser gehen?
Während um uns herum
in Europa Krise angesagt war,
wähnten wir uns in Deutschland
auf einer Insel der Wirtschafts-Glückseligen.
Die Krise
nahmen wir allenfalls televisionär
wahr oder – mit einem
Schuss Ferienlaune gepaart –
als Urlauber am Mittelmeer.
SCHLUSS MIT LUSTIG
Doch jetzt ist es mit der bundesdeutschen
Kuschel-Konjunktur
vorbei. Im Tagesrhythmus prasseln
Horrormeldungen aus der
Wirtschaft auf uns nieder. Im
August brachen die Aufträge in
der Industrie ein, die Produktion
sank, und auch im Export – der
Paradedisziplin der deutschen
Wirtschaft – ging es steil bergab.
Daran mag die ungewöhnliche
Lage der Sommerferien eine
Teilschuld tragen. Doch auch
der mittelfristige Trend der Konjunktur
zeigt nach unten. Das
bestätigten in der vergangenen
Woche die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute
in ihrem
Herbstgutachten. Darin
prognostizieren sie für dieses
Jahr nur noch ein Wachstum
des realen Bruttoinlandsprodukts
(BIP) von 1,3 Prozent, im
nächsten Jahr dürfte die Rate
auf 1,2 Prozent sinken. Ausschlaggebend
für das unsanfte
Bremsmanöver ist die erlahmende
Weltwirtschaft. In den
Ländern der Euro-Zone, die den
wichtigsten Absatzmarkt für die
deutschen Unternehmen bilden,
stagniert die Wirtschaft; in den
Schwellenländern hat sie erheblich
an Dynamik eingebüßt. Nur in
den USA und in Großbritannien
dreht sich der Konjunkturmotor –
künstlich angekurbelt durch
Niedrigzinsen – etwas schneller.
Die trüben Absatzaussichten und
die internationalen Konflikte
(Ukraine, Irak) liegen wie Mehltau
auf den Investitionsplanungen der
Unternehmen. „Kaum etwas
spricht dafür, dass sich die Investitionszurückhaltung
bald legen
wird“, schreiben die Institute in
Weniger Wachstum, mehr Arbeitslose
Bruttoinlandsprodukt und Arbeitslose in Deutschland
4
3
2
1
0
ihrem Gutachten. Die Folgen werden
auch auf dem Arbeitsmarkt
zu spüren sein. Die Institutsökonomen
rechnen für nächstes Jahr
mit einem Anstieg der Arbeitslosenzahl
um 56 000 (siehe Grafik).
KEIN AKTIONISMUS
Angesichts der konjunkturellen
Tristesse kann es nicht verwundern,
dass in den Büros der Europäischen
Zentralbank (EZB) und
der Berliner Ministerien die
Alarmglocken läuten. Während
man in Frankfurt erwägt, die Geldschleusen
noch weiter zu öffnen,
Bruttoinlandsprodukt 1 Arbeitslose 2
2010 2011 2012 2013 2014 3 2015 3
1 Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent; 2 in Millionen; 3 Prognose;
Quelle: Gemeinschaftsdiagnose
3,3
3,1
2,9
2,7
2,5
terkarieren die Bestrebungen der
Bankenunion, Eigentümer und
Gläubiger der Banken im Krisenfall
die Verluste tragen zu lassen.
Zudem reizten die Käufe die Banken
zu noch riskanteren Finanzgeschäften
an. Zu den an den Finanzmärkten
heiß diskutierten
Käufen von Staatsanleihen durch
die EZB schweigen die Institute
jedoch. Dieses Instrument stünde
„derzeit aus politischen Gründen
nicht zur Verfügung“, heißt es im
Gutachten. Diese Einschätzung ist
naiv. Die Erfahrung hat gezeigt,
dass sich die EZB über alle politi-
sinniert man in Berlin über punktuelle
Entlastungen für die Wirtschaft.
Zu Recht warnen die Institute
daher davor, in der Geld- und
Finanzpolitik nun in blindem Aktionismus
zu verfallen. Ausgesprochen
kritisch gehen sie mit der
Geldpolitik der EZB ins Gericht.
Sie habe ihre Möglichkeiten zur
Stimulierung der Konjunktur ausgeschöpft.
Weiter gehende Maßnahmen
richteten mehr Schaden
an, als sie Nutzen stiften. Die von
der EZB angekündigten Käufe von
forderungsbesicherten Wertpapieren
stellen nach Ansicht der Institute
eine „Altlastenbereinigung
der Bankbilanzen“ dar und konschen
Einwände hinwegsetzt
und selbstermächtigend ihren
geldpolitischen Handlungsspielraum
über die gültigen Rechtsnormen
hinweg ausweitet, wenn
ihr dies opportun erscheint. Hier
hätte man sich ein kritisches
Wort der Institute gewünscht.
Blieb dies aus, weil es keinen
Konsens in der Sache gab?
FEHLENDER MUT
Den Finanzpolitikern empfehlen
die Institute, auf groß angelegte
Konjunkturprogramme zu verzichten,
wie sie von Politikern
aus Frankreich, Italien und den
USA immer wieder gefordert
werden. Stattdessen sollte die
Regierung die sich abzeichnenden
Budgetüberschüsse nutzen,
um die Steuerbelastung etwa
durch den Abbau der kalten
Progression zu reduzieren. Auf
der Ausgabenseite sollte die Regierung
mehr Geld für die Bildung
und die punktuelle Verbesserung
der öffentlichen
Infrastruktur ausgeben. Statt
derartiger etatistischer Reflexe
hätten die Institute sich allerdings
besser Gedanken darüber
machen sollen, wie man diese
für das Wachstum der Wirtschaft
wichtigen Bereiche stärker
für private Investoren öffnet.
Immerhin haben die Institute
erkannt, dass eine wachstumsfördernde
Finanzpolitik nicht
zuvorderst im Geldausgeben
besteht. Daher fordern sie mehr
Deregulierung und Entbürokratisierung.
Zudem kritisieren
sie den Mindestlohn, der faktisch
ein Arbeitsverbot für
gering Qualifizierte darstellt.
Doch für die Forderung, auf
dessen Einführung ganz zu
verzichten, fehlte den Instituten
leider der Mut.
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
40 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
KONJUNKTUR DEUTSCHLAND
Der Aufschwung kommt
erst im nächsten Jahr
Kaum ist die Produktion in der
deutschen Industrie gesunken,
da grassiert auch schon wieder
das hässliche R-Wort: Rezession.
Die deutsche Wirtschaft, so
unken Analysten, könnte im
dritten Quartal erneut geschrumpft
sein. Nach dem Minus
von 0,2 Prozent im zweiten
Quartal wäre es der zweite
Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts
(BIP) in Folge.
Damit wäre die Definition einer
Rezession erfüllt. Auch für das
Jahresschlussquartal deutet
sich kein Ende des Abwärtstrends
an. Wichtige Frühindikatoren
wie der ifo-Geschäftsklimaindex
und die Einkaufsmanagerindizes
befinden sich
auf Talfahrt, die Bestelleingänge
bei den Unternehmen sinken.
Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer,
dass die konjunkturelle
Durststrecke
nächstes Jahr zu Ende geht. Er
kommt vom Earlybird, dem
Frühindikator, den die Commerzbank
monatlich exklusiv
für die WirtschaftsWoche berechnet.
Anders als andere
Frühwarnsignale beruht der
Earlybird außer auf Stimmungsumfragen
auch auf der
Messung des monetären und
des außenwirtschaftlichen Umfelds
der deutschen Wirtschaft.
Gegenüber dem ifo-Geschäftsklima
weist er daher einen Vorlauf
von etwa einem Jahr auf.
Im September setzte der Earlybird
mit einem Plus auf 0,49
Punkte seinen Aufwärtstrend
fort, den er Anfang 2014 begonnen
hatte. Ausschlaggebend dafür
war die Abwertung des Euro.
Gegenüber den wichtigsten
Handelspartnerwährungen verlor
die Gemeinschaftswährung
im Vorjahresvergleich real ein
Prozent an Wert. Dagegen hat
sich das weltwirtschaftliche
Umfeld, das ebenfalls in den
Earlybird eingeht, eingetrübt.
Das gilt vor allem für die
Schwellenländer. Die Ökonomen
der Commerzbank rechnen
daher für dieses und das
nächste Jahr nur mit einem
Wirtschaftswachstum von je 1,3
Prozent.
Der Earlybird macht Hoffnung
Bruttoinlandsprodukt und Earlybird-Konjunkturbarometer
1,00
0,75
0,50
0,25
0
–0,25
–0,50
–0,75
–1,00
Earlybird 2
malte.fischer@wiwo.de
Bruttoinlandsprodukt
1
1993 1996 1999 2002 2005 2008 2011 2014
1
zum Vorquartal (in Prozent); 2 gewichtete Summe aus kurzfristigem realem Zins, effektivem
realem Außenwert des Euro und Einkaufsmanagerindizes; Quelle: Commerzbank
4,0
3,0
2,0
1,0
0
–1,0
–2,0
–3,0
–4,0
Produktion
bricht ein
Die aktuelle Konjunkturschwäche
trifft den Kern der deutschen
Wirtschaft. Im verarbeitenden
Gewerbe brach die
Produktion im August um 4,8
Prozent ein. Im Durchschnitt
der Monate Juli/August lag sie
um 0,5 Prozent unter dem
Schnitt des zweiten Quartals.
Auch im Baugewerbe ging der
Output zurück (minus 2,0 Prozent).
Dagegen steigerte die
Energiewirtschaft ihre Erzeugung
leicht um 0,3 Prozent. Das
Minus im gesamten produzierenden
Gewerbe betrug somit
4,0 Prozent. Zwar drückte die
späte Lage der Sommerferien
die wirtschaftliche Aktivität im
Bundesgebiet im August nach
unten. Auch die Auftragseingänge
der Industrie sanken, das
Minus belief sich auf 5,7 Prozent.
Doch mittlerweile zeigt
auch der Trend von Aufträgen
und Produktion nach unten.
Keine guten Aussichten also.
Volkswirtschaftliche
Gesamtrechnung
Real. Bruttoinlandsprodukt
Privater Konsum
Staatskonsum
Ausrüstungsinvestitionen
Bauinvestitionen
Sonstige Anlagen
Ausfuhren
Einfuhren
Arbeitsmarkt,
Produktion und Preise
Industrieproduktion 1
Auftragseingänge 1
Einzelhandelsumsatz 1
Exporte 2
ifo-Geschäftsklimaindex
Einkaufsmanagerindex
GfK-Konsumklimaindex
Verbraucherpreise 3
Erzeugerpreise 3
Importpreise 3
Arbeitslosenzahl 4
Offene Stellen 4
Beschäftigte 4, 5
2012 2013
Durchschnitt
0,4
0,8
1,0
–4,0
–1,4
3,4
3,2
1,4
2012 2013
Durchschnitt
–0,9
–4,2
0,1
3,3
105,0
46,7
5,9
2,0
1,6
2,1
2896
478
29355
0,1
0,9
0,4
–2,4
–0,2
3,0
0,9
1,5
–0,2
2,5
0,2
–0,2
106,9
50,6
6,5
1,5
–0,1
–2,5
2950
458
29722
II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14
Veränderung zum Vorquartal in Prozent
0,8
0,6
0,0
2,3
3,0
0,0
1,4
1,3
Juni
2014
0,4
–2,5
1,1
1,0
109,7
52,0
8,6
1,0
–0,8
–1,2
2913
482
30233
1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in
Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;
alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters
0,3
0,7
0,6
–0,5
1,8
0,2
0,7
1,7
Juli
2014
1,6
4,9
–1,1
4,8
108,0
52,4
8,9
0,8
–0,8
–1,7
2902
484
30263
0,5
–0,8
–0,1
2,1
0,7
0,2
1,7
0,7
Aug.
2014
–4,0
–5,7
2,6
–5,8
106,3
51,4
8,9
0,8
–0,8
–1,9
2905
494
–
0,7
0,8
0,4
2,1
4,1
1,2
0,0
0,5
Sept.
2014
–
–
–
–
104,7
49,9
8,6
0,8
–
–
2918
500
–
–0,2
0,1
0,1
–0,4
–4,2
0,1
0,9
1,6
Okt.
2014
–
–
–
–
–
–
8,3
–
–
–
–
–
–
Letztes Quartal
zum Vorjahr
in Prozent
0,8
1,0
1,0
2,1
0,7
1,6
2,5
4,1
Letzter Monat
zum Vorjahr
in Prozent
–5,9
–4,2
0,1
–1,0
–3,1
–2,3
16,9
–
–
–
–1,6
9,7
1,8
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 41
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Der Volkswirt
NACHGEFRAGT Leon Louw
»Ammenmärchen der Linken«
Wir sollten die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen feiern, statt sie zu beklagen,
sagt der vom Marxisten zum Libertären gewandelte frühere Anti-Apartheid-Aktivist.
Herr Louw, das in diesen
Tagen in deutscher Sprache
erschienene Buch des französischen
Ökonomen Thomas
Piketty „Das Kapital im 21.
Jahrhundert“ hat weltweit eine
Diskussion um die Einkommens-
und Vermögensverteilung
ausgelöst. Wie groß ist
die Lücke zwischen Arm und
Reich wirklich?
In den vergangenen 25 Jahren
sind dank des kräftigen Wirtschaftswachstums
weltweit
rund zwei Milliarden Menschen
der Armut entronnen.
Da die Einkommen in unterschiedlichem
Maße gestiegen
sind, ist die Verteilung ungleicher
geworden. Das sollten wir
aber nicht beklagen, sondern
feiern. Denn die Ungleichheit
spiegelt den Erfolg bei der Armutsbekämpfung
wider. Ökonomen
wie Thomas Piketty,
die die Ungleichheit beklagen,
blenden das aus. Statt sich Gedanken
darüber zu machen,
wie diejenigen, die noch immer
arm sind, ihre Einkommen
verbessern können, trachtet
Piketty mit seinen Umverteilungsforderungen
den Reichen
nach deren Vermögen.
Wäre es nicht besser, die Einkommen
stiegen gleichmäßig?
Warum? Die Menschen sind
mit unterschiedlichen Fähigkeiten
ausgestattet. Einige arbeiten
und sparen mehr als andere,
einige bauen Kapital auf
und werden Unternehmer, andere
wiederum werden Angestellte.
In einer freien Gesellschaft
entwickeln sich die
Einkommen und Vermögen
der Menschen unterschiedlich,
weil sie unterschiedliche Begabungen
haben. Wer das bekämpft,
hindert die Menschen
DER KÄMPFER
Louw, 66, leitet die Free Market
Foundation, eine der einflussreichsten
Denkfabriken Afrikas.
Louw, vom Marxisten zum Libertären
gewandelt, hat als Anwalt
aufseiten des ANC gegen die
Apartheid gekämpft und wurde
zwei Mal für den Friedensnobelpreis
nominiert.
daran, ihren Status quo entsprechend
ihren Fähigkeiten
zu verbessern.
Was sind die entscheidenden
Faktoren, um die Armut zu
überwinden?
Die Erfahrung zeigt:Der beste
Weg aus der Armut sind marktwirtschaftliche
Reformen wie
Deregulierung, Privatisierung
und die Freigabe von Preisen.
Beispiele dafür sind die Reformen
in Indien nach 1993, die
Sonderwirtschaftszonen in
China und die Privatisierungspolitik
in Afrika. Ginge es Verteilungsökonomen
wie Piketty
darum, den Armen zu helfen,
müssten sie mehr Marktwirtschaft
statt mehr Umverteilung
fordern.
Piketty fürchtet, die Ungleichheit
könne die Gesellschaft
auseinanderreißen...
...wofür es keine Belege gibt.
Der Ökonom Thomas Sowell
hat gezeigt, dass Gesellschaften
mit großer Ungleichheit
weniger von sozialen Spannungen
und Gewalttaten betroffen
sind als Gesellschaften,
in denen die Einkommen näher
beieinander liegen. Ein
Beispiel ist die Entwicklung in
Südafrika. Die Einkommen der
Schwarzen und der Weißen haben
sich seit dem Ende der
Apartheid zunehmend angeglichen.
Gleichzeitig haben die
sozialen Spannungen im gesamten
Land zugenommen. Jeder
weiß aus eigenen Erfahrungen:
Die Missgunst ist unter
ähnlich entlohnten Kollegen
meist größer als gegenüber
dem besser bezahlten Vorgesetzten.
Die Vorstellung der
politischen Linken, die Armen
trachteten den Begüterten
nach deren Reichtum, ist ein
Ammenmärchen, eine Neuauflage
der längst widerlegten
Klassenkampftheorie des
Marxismus. Die Realität sieht
anders aus. Die Menschen
sind stolz darauf, wenn sie bei
erfolgreichen Unternehmen
arbeiten, auch wenn sie nur
einen Bruchteil dessen verdie-
»Die Armen
entscheiden mit
ihren Käufen,
wer reich wird«
nen, was der Unternehmensinhaber
erhält.
Heißt das, wir sollten uns über
Einkommensungleichheit
keine Gedanken machen?
Grundsätzlich sollten wir Einkommensungleichheiten
ebenso akzeptieren wie die
Tatsache, dass einige Menschen
blonde, andere hingegen
schwarze Haare haben.
Allerdings gibt es Ungleichheit,
die auf Betrug, Diebstahl und
Vetternwirtschaft beruht. Sie
ist nicht akzeptabel, denn der
Reichtum der einen geht hier
zulasten des Eigentums der
anderen. Die meisten Reichen
aber sind reich, weil sie Produkte
und Dienstleistungen
anbieten, mit denen sie ihre ärmeren
Mitmenschen glücklich
machen. In einer Marktwirtschaft
entscheiden die Armen
mit ihren Käufen darüber, wer
reich wird.
Muss der Staat nicht für mehr
Chancengleichheit sorgen?
Studien zeigen, dass die Lebenschancen
der Menschen in
erster Linie von ihren Genen
bestimmt werden. Diese lassen
sich ebenso wie andere wichtige
Einflussgrößen, etwa die Familie
und die Sozialstruktur,
in die die Menschen hineingeboren
werden, von staatlicher
Seite nicht ändern, es sei denn,
man will einen totalitären
Staat. Die Politiker sollten daher
aufhören, Sozialingenieure
zu spielen und die Menschen
zu manipulieren, als seien sie
Figuren auf einem Schachbrett.
In einer freien Gesellschaft gibt
es nur eine Form der Gleichheit,
für die der Staat sorgen
muss: die Gleichheit vor dem
Gesetz.
malte.fischer@wiwo.de
FOTO: FINANCIAL MAIL/ARNOLD PRONTO
42 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Der Volkswirt
DENKFABRIK | Die Kritik an den Anleihenkäufen der Europäischen Zentralbank ist
unberechtigt. Die Ausfallrisiken der Papiere sind geringer als befürchtet. Zudem
steigern die Zinseinnahmen daraus den Gewinn der Zentralbank. Davon profitieren
auch die deutschen Steuerzahler. Von Holger Schmieding
Das Märchen von der Schrottbank
Oh, Kassandra. Im
deutschen Elfenbeinturm
hättest du dich
wohlgefühlt. Dort
reißt der Strom der Schauergeschichten
nicht ab. Im Jahr
2005 machte die düstere
These die Runde, Deutschland
würde zu einer Basar-Ökonomie
verkommen. Stattdessen
begann bei uns damals dank
der Reformen des Jahres 2004
eine industrielle Renaissance,
um die uns die Welt bis heute
beneidet. Und trotz schriller
Warnungen deutscher Ökonomen
der letzten fünf Jahre,
dass die Politik der Europäischen
Zentralbank (EZB) unweigerlich
zu Inflation führen
müsse, ist der Auftrieb der
Verbraucherpreise heute so
verhalten wie selten zuvor.
ANFÄNGERFEHLER
Jetzt hat sich auch Hans-Werner
Sinn, Chef des ifo Instituts,
dem Chor der Kritiker angeschlossen,
die die EZB als „Bad
Bank“ verunglimpfen (WirtschaftsWoche
40/2014). Durch
die avisierten Käufe fragwürdiger
Anleihen würde sie Banken
deren Bilanzschrott abnehmen
und den Steuerzahlern unverantwortliche
Risiken aufbürden.
Genauso wie einst die Fehlprognose,
die EZB führe uns in die
Inflation, beruht die „Bad
Bank“-Anklage auf einem volkswirtschaftlichen
Anfängerfehler.
Denn Einkommen und Wohlstand,
Arbeitsplätze und
Risiken sind keine fest vorgegebenen
Größen, die nur umverteilt
werden können, sei es zwischen
Arm oder Reich oder
zwischen Geschäfts- und Notenbanken.
Nein, diese Größen
werden entscheidend durch die
Wirtschaftspolitik gestaltet. Eine
falsche Geldpolitik erhöht die Risiken,
eine angemessene Geldpolitik
mindert die Risiken.
Rezessionen sind teuer. Gemessen
am Anstieg unserer Staatsschulden,
hat die Mega-Rezession
nach der Lehman-Pleite im Herbst
2008 die deutschen Steuerzahler
über 250 Milliarden Euro gekostet.
Im Sommer 2012 stand Deutschland
erneut am Rande einer Rezession.
Erst mit seiner Ansage,
der grassierenden Spekulation auf
einen Zerfall des Euro notfalls
energisch entgegenzutreten, hat
EZB-Präsident Mario Draghi die
Panik gestoppt. Er hat uns damit
Rezessionskosten von mehreren
»Die Geldpolitik
der EZB ist angemessen,
sie
schmälert das
Risiko einer
Rezession«
Milliarden Euro erspart. Seit Mai
haben der russische Feldzug gegen
die Ukraine und andere geopolitische
Risiken die deutsche
Konjunktur erneut aus dem Tritt
gebracht. Der jüngste Einbruch
der ifo-Geschäftserwartungen
zeigt, dass eine Rezession nicht
mehr auszuschließen ist. Die EZB
hat die Aufgabe, den Preisauftrieb
bei knapp zwei Prozent pro Jahr zu
halten. Mit nur noch 0,3 Prozent
verfehlt sie dieses Ziel derzeit erheblich.
Die aktuelle Schwäche
gerade auch der deutschen Konjunktur
spricht gegen ein spürbares
Anziehen der Euro-Inflation in
den kommenden Jahren. Das ein-
deutige Mandat der EZB verpflichtet
sie zum Gegensteuern. Da sie
die Leitzinsen nicht mehr senken
kann und den Spielraum für konventionelle
Refinanzierungsangebote
bereits ausgereizt hat, ist der
Ankauf von Anleihen der nächste
naheliegende Schritt. Die EZB wird
Zinstitel in Form von Pfandbriefen
und verbrieften Kreditbündeln
kaufen. Sie tut dies im Tausch gegen
Zentralbankgeld, das sie nahezu
kostenlos schöpfen kann. Die
zusätzlichen Zinseinnahmen erhöhen
ihren Gewinn. Diesen Zusatzgewinn
reicht sie anteilig an den
deutschen Steuerzahler weiter,
der über die Bundesbank zu 27
Prozent Eigentümer der EZB ist.
Natürlich könnten dem Zusatzgewinn
auch Verluste gegenüberstehen,
wenn die gekauften Titel
ausfallen. Aber wie groß ist dieses
Risiko? Die Ausfallrate für die Gesamtheit
der Papiere, die die EZB
kaufen will, lag von Mitte 2007
bis Herbst 2013 bei 1,5 Prozent.
Trotz der Weltfinanzkrise und der
Euro-Krise, die in diese Zeit fielen,
war die Ausfallrate sehr gering.
Denn die europäischen Papiere
sind von anderer Qualität als
amerikanische ABS-Anleihen einschließlich
der berüchtigten „Subprime-Papiere“,
deren Ausfallrate
in jener Zeit bei 18,4 Prozent lag.
Die EZB will sich bei ihren Käufen
auf die hochwertigen Segmente
des Marktes konzentrieren. Für
diese Segmente lagen die Ausfallraten
selbst in der Finanzund
Euro-Krise vielfach nur bei
0,1 Prozent oder darunter. Die
Wahrscheinlichkeit ist gering,
dass Einzelverluste der EZB aus
solchen Papieren ihre zusätzlichen
Zinsgewinne aufzehren.
RISKANTES NICHTSTUN
Noch wichtiger aber ist, dass
die EZB mit einer angemessenen
Geldpolitik das Risiko
einer Rezession schmälert.
Damit verringert sie die Ausfallgefahr
für Wertpapiere innerhalb
und außerhalb ihrer
Bilanz. In einem banalen Sinn
haben die Kritiker natürlich
recht: Menschliches Handeln
birgt immer Chancen und Risiken.
Aber Nichtstun wäre weit
riskanter. Eine Zentralbank,
die keine Geldpolitik betriebe,
könnte mit einer Minibilanz
weder einen Gewinn machen
noch ein Risiko eingehen. Aber
der Schaden, den sie durch
den Verzicht auf Geldpolitik
anrichtete, wäre katastrophal.
Die Welle von Insolvenzen,
Arbeitsplatzverlusten sowie
Steuer- und Kreditausfällen
würde nahezu alle Bürger teuer
zu stehen kommen. Nur
auf hypothetische Risiken zu
schauen greift zu kurz. Die Notenbank
muss eine angemessene
Geldpolitik betreiben.
Indem sie dies tut, mindert sie
die Risiken für alle Beteiligten,
auch für die deutschen Steuerzahler.
Schmieding ist Chefvolkswirt
der Berenberg Bank in London.
Zuvor hat er unter anderem für
Merrill Lynch gearbeitet.
FOTOS: PR, WESTEND61/MARTIN MOXTER
44 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Finale furioso
FIAT | Vorstandschef Sergio Marchionne verwandelt den traditionsreichen Autobauer
aus Turin in den Wurmfortsatz einer seelenlosen italo-amerikanischen Holding.
Die einstige Ikone lebt künftig von putzigen Winzlingen aus heimischer Produktion und
US-Importen mit Fiat-Aufkleber – und von der vagen Hoffnung, mit Alfa Romeo und
Maserati vielleicht einmal zu VW oder BMW aufzuschließen.
Der 13. Oktober soll in die Geschichte
der Autoindustrie
eingehen. An diesem Montag
wird der Konzern Fiat Chrysler
Automobiles an der Wall
Street in New York gelistet. Das Datum ist
mit Bedacht gewählt. Denn am zweiten
Montag des Monats feiern Amerikaner ihre
Entdeckung 1492 durch den gebürtigen
Italiener Christoph Kolumbus, dessen
Landsmann Amerigo Vespucci dem Kontinent
später sogar noch seinen Namen gab.
Entsprechend groß ist das Pathos, mit
dem Konzernchef Sergio Marchionne auf
beide Seiten des Atlantiks blickt und
spricht. „Für uns wird der Columbus Day
der Beginn einer neuen Welt, einer neuen
Ära sein.“
Eine neue Ära, eine neue Welt – daran
schmiedet der 62-jährige Italo-Kanadier
seit 2009, als er an der Spitze von Fiat 20
Prozent des damals insolventen US-Autobauers
Chrysler erwarb. Der Coup war nur
ein erster Schritt. Anfang dieses Jahres sicherte
sich Marchionne für 3,2 Milliarden
Euro die restlichen Anteile des drittgrößten
US-Autobauers, die bis dahin die nordamerikanische
Autogewerkschaft UAW indirekt
gehalten hatte. Auf diese Weise entstand
das Gebilde Fiat Chrysler Automobiles,
kurz: FCA, das nun an der Wall Street
notiert.
Auf dem Papier schickt Marchionne in
New York einen Autoriesen aufs Parkett:
Mit 4,4 Millionen verkauften Fahrzeugen
und 300 000 Mitarbeitern steht das italienisch-amerikanische
Paar auf Position sieben
der größten Autohersteller der Welt.
Gleichwohl ist der Wall-Street-Neuling mit
einer Marktkapitalisierung von rund 9,3
Milliarden Euro zum Börsenauftritt in der
Branche ein Zwerg. Daimler etwa kommt
auf 64 Milliarden und BMW auf 54 Milliarden.
Einzig gegenüber dem französischen
Wettbewerber PSA Peugeot-Citroën kann
Marchionne Staat machen. Der angeschlagene
Konzern ist mit 8,1 Milliarden Euro
noch weniger wert.
Die Anleger hat Marchionne auf Superlative
eingestimmt:Sieben Millionen Autos
der Marken Fiat, Alfa Romeo, Chrysler,
Dodge, Ram, Jeep, Maserati und Ferrari
will er bis 2018 verkaufen, 40 Prozent mehr
als heute. Zudem soll FCA vom Massenzum
Premiumanbieter aufsteigen. Die Arbeitsteilung
steht fest:Ferrari, Maserati, Alfa
Romeo und Jeep sorgen für Wachstum
und Rendite, Chrysler, Ram und Dodge für
das nötige Volumen und Fiats Miniflitzer
für eine gute CO 2 -Bilanz.
Für den Anfangsechziger wird die endgültige
Verschmelzung von Fiat und Chrysler
der letzte Akt seiner Karriere in dem
Doppelkonzern. Denn Ende 2018 will er,
wie er am vergangenen Dienstag verlauten
ließ, das Unternehmen verlassen und etwas
Neues anfangen. Für Fiat inszeniert
Marchionne damit ein Finale furioso einer
ebenso wechselvollen wie tragischen Geschichte.
Ein Stoff, wie gemacht für eine
italienische Oper – mit dem Triumphalismus
in Giuseppe Verdis Nabucco und der
schonungslosen Vorhaltung in Wolfgang
Amadeus Mozarts Don Giovanni. Ein Stoff
voller Emotionen, großer Hoffnungen und
gebrochener Versprechen.
Fiats Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
– als Opera seria, eine ernste Oper,
mit Ouverture, drei Akten und am Ende einer
melodramatischen Erlösung.
Die Ouverture
Marchionne steht auf einem Säulensockel
mit der Inschrift „Fabrica Italia“,
zu Deutsch: Fabrik Italien. Er trägt wie
üblich einen schlammbraunen Pullover,
darunter ein weißes Polo-Shirt. Ein
goldener Lorbeerkranz bedeckt seinen
Kopf. Marchionne gestikuliert wild.
Links vor ihm steht eine Gruppe Arbeiter
in Fiat-Werkskleidung. Sie schwenken rote
Fahnen und Transparente mit politischen
Kampfparolen aus den Sechzigerjahren
des 20. Jahrhunderts wie „Avanti
popolo“ (Vorwärts, das Volk) und „Lotta
continua“ (der Kampf geht weiter).
Rechts vor Marchionne streichelt ein
Arbeiter einen Fiat 500, daneben pinselt
ein anderer Arbeiter das Fiat-Logo auf
die Motorhaube eines Dodge Journey. Auf
einem Stuhl vor Marchionne sitzt Volkswagen-Chef
Martin Winterkorn im
dunkelblauen Zweireiher und blickt mit
skeptischer Miene ins Publikum, umgeben
von mehreren Herren in dunklen Businessanzügen,
die dem Publikum den Rücken
zuwenden. Das Orchester spielt auf.
Marchionne ist in Hochstimmung. Er greift
zu der Leier, die er mit sich trägt, und richtet
sich an die Arbeiter: Seht, ich bringe
euch gute Nachricht. Hoch lebe Fiat, hoch
die Fabrik Italien, zu der ich euer Heimatland
mache.
Die Arbeiter drehen sich zu Marchionne,
der euphorisch fortfährt:Chrysler war pleite
2009, da sind wir eingestiegen. Seit
»
»»
ILLUSTRATION: EDWIN FOTHERINGHAM
46 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 47
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»
Kurzem haben wir die Mehrheit. Wir
machen was draus. Wir werden ein Riese,
wir werden global. Unser Sitz ist London,
um Steuern zu spar’n. Unser Motor heißt
Chrysler, dort drüben, über dem Teich. Unser
Herz aber, ganz klar, bleibt hier in Italien.
Heut ist der Tag an der Börse, ihr werdet
sehen. Viva Fiat, Fabrica Italia!
Doch noch bevor Marchionne von der
Leier lässt, geht sein Gesang unter im Chor
der Arbeiter. Mit anklagender Stimme
wenden sie sich an Marchionne: Zu oft, zu
viel hast du uns versprochen. Fabrica Italia
– pah! Alles nur Phrasen, gebrochenes
Wort. Wo sind die 20 Milliarden, die du uns
verheißen? Kurzarbeit in Pomigliano, kein
Licht in Mirafiori, 5400 Kollegen seit drei
Jahren in Angst.
Marchionne verzieht keine
Miene. Als der Chor der Arbeiter
endet, will er etwas erwidern.
Doch die Herren in den dunklen
Businessanzügen kommen ihm
zuvor und schmettern ihm in
hartem Sprechgesang entgegen:
Einst war Fiat Mirafiori Europas
Musik
In unserer App-
Ausgabe hören
Sie hier die
passenden Opern
zum Text
größte Autofabrik, heut schafft sie mit
Glück nur halb so viel, wie sie könnt: lächerliche
390 000 Fiat im Jahr.
Da reißt Marchionne der Geduldsfaden.
Er zeigt auf den grauhaarigen Herrn vor
ihm am Rande der Bühne: Seht ihn euch
an, das ist der Feind: Martin Winterkorn,
Chef von VW! Ein Blutbad bringt sein Wirken,
Rabatte auf alles. Das zerstört unsere
Margen, den Gewinn obendrein. Will uns
womöglich auch Alfa Romeo nehmen.
Für kurze Zeit gelingt es Marchionne,
Gehör bei den Arbeitern zu finden: Versprech
euch fünf Milliarden für Alfa Romeo.
Glaubt mir, 2018 ist es so weit. Neben
jedem BMW wird bald ein neuer Alfa erstrahl’n.
Damit überrollen wir sie alle, ob
Audi, Mercedes, VW und BMW.
Der Umsatz wird hoch geh’n, ich
führe Ferrari, persönlich und sicher
zum ganz großen Sieg.
Doch Marchionnes Stimme
geht unter in den Anklagen der
Herren in den Businessanzügen
und dem Chor der Arbeiter, die
schimpfend die Bühne verlassen.
»»
Erster Akt
Die Auslese
Links auf der Bühne befindet sich ein
Schrottplatz mit einem Kran, in dessen
Zangen ein Lancia Delta hängt, ein
Fahrzeug jener Fiat-Tochter, deren Modelle
Marchionne künftig nicht mehr europaweit,
sondern nur noch in Italien
verkaufen will. Daneben stehen zwei
Arbeiter mit großen Vorschlaghämmern
und zertrümmern einen Fiat Punto. Auf
einer Kanzel am rechten Rand der Bühne
steht Marchionne im schlammbraunen
Pullover mit Lorbeerkranz und kontrolliert
die Arbeiter. Hinter dem Vorhang
und noch nicht zu sehen steht ein
großgewachsener, glatzköpfiger Herr mit
schwarzgerahmter kantiger Designerbrille
und betrachtet die Szene.
Marchionne lehnt sich über den Rand der
Kanzel und gibt mit den Händen Anweisungen.
Die Arbeiter halten inne und
ILLUSTRATION: EDWIN FOTHERINGHAM
48 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
schauen angstvoll zu ihm auf. Marchionne
blickt in die einzelnen Gesichter und wendet
sich fast flehentlich an die Arbeiter:
Lasst das Weinen, lasst das Klagen! Wir
bauen nur noch, was der Käufer bezahlt.
Schluss mit dem Lancia, den uns außer
hier keiner mehr abnimmt. Schluss mit
dem Punto ab kommendem Jahr. Höret
mir zu, wir zahlen nur drauf. Jeder Fiat kostet
uns Geld: 224 Euro im Schnitt im vergangenen
Jahr. Lasst es euch sagen, wie
mies es hier läuft. 2,2 Cent blieb’n zuletzt
übrig vom Euro Umsatz. Das, im Konzern,
ist zu wenig, klar.
Die Arbeiter haken sich unter und wiederholen
im Chor: Wir haben verstanden,
wie mies es hier läuft. Also Schluss mit dem
Lancia. Schluss auch mit dem Punto im
kommenden Jahr. Nur noch Cinquecento,
Panda und Ypsilon – nichts anderes mehr.
Marchionne blickt zufrieden, die Arbeiter
gehen zurück an ihren Platz und hantieren
mit Akkuschrauber, Zange und Werkzeugschlüssel.
Da tritt der Herr mit der schwarzgerahmten
Designerbrille hinter dem Vorhang
hervor und wendet sich an das Publikum.
Werte Gesellschaft, gestatten Tumminelli.
Freunde nennen mich Paolo, bin
Italiener, einer von hier. Die Menschen, die
mich kennen, die schätzen mich sehr. Früher,
vor Jahren, hab ich hier gebrütet, für
Alfa, im Stilzentrum, gleich um die Ecke,
nicht weit weg von hier. Heut bin ich Professor
für Design in Germania, an einer
Hochschule in Colonia, nicht weit weg
vom Rhein, und berate Unternehmen zu
Marken und Design.
Werte Gesellschaft, lasst uns nicht vergessen:
Fiat war das industrielle Herz Italiens,
Italien war Fiat. Drei von fünf Autos
im Lande, die kamen von hier. Heute ist’s
anders, ganz traurig zu sagen. Nicht einmal
mehr jeder Dritte fährt mehr Fiat. Vorbei
sind die goldenen Zeiten. Die Marke ist
heut eine Molekularversion ihrer selbst.
Auf den Kern reduziert, den kleinsten Nenner
gebracht, molekularer bald noch als
heute, ohne Punto und Lancia. Doch mutig
war der Schritt, einer musste ihn wagen.
Italien, es ehrt und fürchtet Marchionne,
als Retter von Fiat und harten Patron.
»»
Zweiter Akt
Das Geheimlabor
Auf der Bühne steht ein Schild mit der
Aufschrift „Da Giorgio“, zu Deutsch: bei
Giorgio: So heißt das vertrauliche Projekt,
in dem Marchionne neue Modelle
entwickeln lässt. Im Hintergrund stehen
in weißen Tüchern verhüllte Autos. Auf
einem Werktisch liegt ein Automotor, an
dem ein Mann in weißem Kittel arbeitet.
Daneben steht Marchionne, wieder im
braunen Pullover, diesmal aber mit
dunkler Sonnenbrille. Das Orchester
spielt das Lied der Gefangenen aus
Nabucco, der Chor hinter der Bühne
singt: „Flieg, Gedanke, auf goldenen
Schwingen, flieg, umschwebe die Hügel,
die Höhen, wo die Linden, die fächelnden
Lüfte süß und weich in sich tragen der
Heimaterde Duft.“
Von links und von rechts nähern sich Frauen
und Männer in weißen Kitteln,
»
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 49
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»
schwarzen Hüten mit tiefen Krempen
und dunklen Sonnenbrillen. Jeder tippt einen
Code in ein Gerät vor der Tür, die sich
sodann öffnet. Der Raum füllt sich. Marchionne
richtet sich an die Eingetroffenen.
Wir planen Rekorde, Autos viel leichter,
auf ganz neuer Plattform, für Alfa Romeo.
Dazu neue Motoren, mit Ferrari und Maserati.
Besseres auf der Welt habt ihr bestimmt
nicht gesehen. 600 Leute, all’samt
Ingenieure, hab’n wir hier, all’samt von Fiat
und Maserati, von Ferrari sowieso. Schon
bald sind wir fertig, im Juni nächsten Jahres.
Dann wird er da stehen, der neue Alfa,
elegant wie einst Giulietta, sportlich wie
unser 4C-Coupé. Acht neue Modelle in vier
Jahren, mehr Premium geht nicht, wir beweisen
es hier.
Die Mitarbeiter lauschen, Marchionne
fährt fort: Statt 74 000 Alfas heute werden
es 400 000 sein. Dazu 1,9 Millionen Jeeps
aus Melfi, das Werk dort wird gefüllt dadurch.
Und auch Mirafiori wird aufleben,
mit Coupés und SUVs. Und Ferrari, oh
glaubt mir, wird doppelt gut geh’n. Hoch lebe
Fiat, hoch Autofabrica in unserem Land.
»»
DRITTER AKT
Die Entzauberung
Auf der Bühne steht ein Tisch mit den
Männern in Businessanzügen, die ins
Publikum blicken. Sie sind langjährige
Kenner der Automobilbranche: der
Amerikaner John Murphy, der jährlich in
seiner Studie „Car Wars“ den US-Automarkt
analysiert; der Italiener Maurizio
Landini, Chef der linken italienischen
Metallgewerkschaft Fiom; Stefan Bratzel,
Professor für Automobilwirtschaft und
Leiter des Center of Automotive Management
an der Fachhochschule der Wirtschaft
in Bergisch Gladbach bei Köln;
Jochen Siebert von der Unternehmensberatung
JSC Automotive in Shanghai;
Clemens Wasner von der auf Automotive
spezialisierten Unternehmensberatung
EFS in Wien; Design-Professor Tumminelli.
Vor dem Tribunal sitzt Marchionne,
den Rücken zum Publikum.
Einer der Herren in den Businessanzügen
schaltet einen Projektor an, der eine Liste
von Vorwürfen an die Adresse Marchionnes
an die Wand wirft. Dies ist der Katalog,
beginnt der Herr im Businessanzug an
Marchionne gewandt. Betrachten Sie ihn,
und lesen Sie ihn mit uns.
Als Erster erhebt sich Auto-Professor
Bratzel und beginnt: Fiat hat ein Qualitätsproblem,
2013 bei Rückrufen auf dem zweitschlechtesten
Platz weltweit; bei Antrieben
weit abgeschlagen, obwohl sich die Zukunft
im Autobau hier entscheid’t; nur 1000 Patente
2013, gegenüber 3000 bei Ford und
6000 bei General Motors. Und Alfa Platz 33
im Ranking der Besten, weit abgeschlagen
von Premium à la Mercedes, Audi, BMW.
Sodann wechseln sich die anderen am
Tisch der Reihe mit der Kritik ab. ESF-Berater
Wasner betont: Ohne einzigartige Technologie
keine Chance zum Aufstieg, die Japaner
haben’s versucht, es aber nie richtig
geschafft! Designer Tumminelli wirft ein:
Mit schickem Design allein seid ihr mit Alfa
Romeo zur Exoten-Nummer verdammt.
Gewerkschafter Landini sagt skeptisch: Wir
ILLUSTRATION: EDWIN FOTHERINGHAM
50 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
wollen wissen, woher das Geld für die Pläne
stammt; nie haben wir konkrete Pläne
für Investitionen in die Fabriken gesehen.
Die Herren in den Businessanzügen am
Tisch werden immer angriffslustiger. Berater
Siebert aus Shanghai hält Marchionne
vor: In China kennt niemand Alfa. Woher
soll da der Erfolg kommen? 30 000 verkaufte
Alfa bis 2018, wenn’s gut geht und ihr
Glück habt, das Höchste der Gefühl’. Und
der Amerikaner Murphy blafft Marchionne
an: Eure Wachstumsprognosen sind nichts
als Luftschlösser, bald ist die Luft raus!
Da fährt Marchionne von seinem Stuhl
auf, dreht sich zum Publikum und schreit
außer sich vor Wut: Wenn ich nicht an die
Ziele glaubte, hätte ich sie nicht gemacht.
In Italien haben wir Dinge getan, die jeder
ökonomischen Vernunft widersprachen –
gezwungen dazu aus Tradition, verhaftet,
es den Gewerkschaften recht zu tun. Wir
müssen uns von Zwängen befreien, die der
Marktwirtschaft nur überflüssige Bremsen
Auf Traumfahrt
Wie sich Fiat-Chrysler in den kommenden
fünf Jahren entwickeln soll (produzierte
Autos in Millionen Stück)
0,8
0,7
0,02
2013
4,4
0,9
1,5
0,1
0,4
Jährliche Wachstumsraten
Fiat, Abarth +5 %
Alfa Romeo +40 %
Chrysler +15 %
Fiat Professional, RAM
Quelle: Unternehmensangaben
+6 %
0,08
0,7
1,9
Jeep
Dodge
2018
7,0
1,9
1,2
+22 %
–3 %
0,4
0,8
Maserati, Ferrari +32 %
Raus aus den Schulden
Wie sich Umsatz, Überschuss und Schulden
bis 2018 entwickeln sollen (in Mrd. Euro)
150
120
90
Umsatz
Nettoverschuldung
Jahresüberschuss
60
0
2013 2014 2016 2018
Quelle: Unternehmensangaben Fiat-Chrysler
12
10
8
6
4
2
sind. Meine Strategie war und ist nichts für
Herzkranke, ich bleibe dabei! Seht ihr
nicht, wie Maserati es macht? 16 Prozent
Rendite zu Ende des vergangenen Jahrs.
Alfa Romeo und Jeep werden ebenfalls
zweistellige Margen bringen. Ferrari bietet
uns jede Technologie, gemeinsam mit
Chrysler sind wir so gut wie nie!
Marchionne schleudert den Lorbeer in
eine Ecke und verlässt mit stolzer Haltung
die Bühne.
Die Erlösung
Das Bühnenbild zeigt das Fiat-Werk in
Melfi in der süditalienischen Provinz Basilikata.
Fabrikneue Jeeps der Modellreihe
Renegade und des neuen Fiat 500X reihen
sich aneinander, dazu ein Ferrari-Geländewagen
und ein futuristisch anmutender
Alfa Romeo Crossover. Marchionne steht
mit dem Rücken an einem Fiat 500 und
lächelt. Zwischen den Autos spaziert
Elkan Agnelli, Enkel des Fiat-Gründers
Giovanni Agnelli und Sprecher der Familie,
die heute noch 30 Prozent am Konzern
hält. Süditalienische Sonne taucht die
polierten Karossen in gleißendes Licht. Auf
die Bühne tritt der Chor der Investoren.
Das Orchester intoniert das melodramatische
Vorspiel aus La Traviata.
Du hast uns die Taschen voll gemacht,
Marchionne! Dafür danken wir sehr. Die
Börse preist dich für deine Vision. Doch
warum nur, warum willst bald geh’n?
Machst dich vom Acker, hast selbst gut verdient,
deinen Abschied versüßt. Was soll
mit Fiat-Chrysler gescheh’n?
Agnelli stoppt den Chor der Investoren
und wendet sich an Marchionne: Du hast
deine Schuldigkeit getan, du darfst gehen.
Genug Nachfolger stehen bereit: Rochard
Tobin, Chef unsrer Tochter CNH Industrial;
Alfredo Altavilla, hat Fiat in Europa und
dem Mittleren Osten regiert; auch Jeep-
Chef Mike Manley und Harald Wester, der
Maserati in Germania für uns heute lenkt;
dazu Cledorvino Belini von Fiat in Brasilien.
Gehe nur, geh, arrivederci und ciao!
Marchionne dreht sich dem Publikum
zu, die Hand auf dem Herzen: Ich habe Fiat
einmal gerettet, ein zweites Mal will ich es
nicht. Er nimmt den Lorbeerkranz ab, legt
in auf ein rotes Samtkissen und tritt ab. n
rebecca.eisert@wiwo.de, martin seiwert | New York,
ulrike sauer | Rom, franz rother, reinhold böhmer
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 51
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»Auf der Bugwelle«
INTERVIEW | Keith Block Der Präsident der US-Softwareschmiede
Salesforce will SAP überholen und Primus in der Cloud werden.
Mr. Block, Sie sind gerade unter die zehn
größten Softwarehäuser der Welt vorgestoßen.
Wo wollen Sie hin?
Ganz klar, wir konzentrieren uns ganz darauf,
SAP aus Deutschland zu überholen.
Wieso nicht erst einmal ihren langjährigen
Arbeitgeber und SAP-Rivalen Oracle?
Natürlich wollen wir am Ende alle überholen
und zum größten Softwareunternehmen
der Welt aufsteigen.
(Lacht.) SAP ist derzeit Marktführer
bei Anwendungssoftware für
Unternehmen, also unserem Kernmarkt.
Da ist es doch klar, dass
wir uns konkret SAP vornehmen.
Wie wollen Sie das
schaffen, obwohl SAP
fast fünfmal so viel
Umsatz macht?
Unter anderem mit
internationaler Expansion.
Wir investieren
kräftig in Europa.
Deutschland
ist dabei besonders
wichtig. Wir bauen
unsere Niederlassung
in München aus, haben
gerade ein zusätzliches
Büro in Berlin eröffnet
und stellen Mitarbeiter
ein. Im Geschäftsjahr
2015 wollen
wir in Europa rund 500
neue Stellen schaffen. Wir
erhoffen uns hier viel von unserer Partnerschaft
mit der Deutschen Telekom. Wir
werden die Rechenkapazitäten ihrer IT-
Tochter T-Systems nutzen und über sie unsere
Angebote im deutschsprachigen
Raum vertreiben.
Wer sollte denn statt zu SAP zu einem viel
kleineren US-Anbieter gehen?
Wir denken, dass gerade der deutsche
Mittelstand, der ja besonders
flexibel im weltweiten Wettbewerb
sein muss, ein riesiges Potenzial
für unsere moderne Anwendungssoftware
bietet...
...ein Potenzial, das SAP auch –
lange vergeblich – zu heben
versucht.
Ich sage nicht, dass es leicht
wird. Wir wissen, wie wichtig
es ist, eine lokale Präsenz
zu haben, also wie ein
deutsches Unternehmen
zu agieren. SAP ist ein
großartiges Unternehmen,
fußt aber auf traditioneller
Unternehmenssoftware,
die vor Ort installiert
wird. Der Trend
geht eindeutig zum
Cloud-Computing, also
zur Software aus dem Internet,
die sich schneller
und flexibler an den Kunden
bringen lässt. Wir sind
der Pionier. Das ist unser
Wettbewerbsvorteil.
SAP hat US-Cloud-Anbieter wie zuletzt für
8,3 Milliarden Euro den Reisesoftwareanbieter
Concur gekauft. Glauben Sie
SAP-Chef Bill McDermott nicht, dass er
weltweit die meisten Cloud-Kunden hat?
SAP macht noch immer das Gros des Umsatzes
mit traditioneller Software. Ich
denke, dass die meisten Leute wissen,
dass Salesforce das größte Cloud-Softwareunternehmen
der Welt ist. Das zeigen
die Zahlen des US-Marktforschungsunternehmens
Gartner. Wir treiben die
Bugwelle im Markt. Ein Unternehmen,
das sein Geschäft ausweitet oder neu organisiert,
baut nicht mehr eigene Datencenter
aus, sondern setzt auf die Cloud.
Deshalb wächst Salesforce um mehr als
30 Prozent im Jahr.
Sind nicht nach den Enthüllungen von
Edward Snowden über die Spionagepraktiken
der US-Regierung immer mehr
Unternehmen und Verbraucher gegen die
Auslagerung ihrer Daten in die Cloud?
Damit haben wir nichts zu tun. Ich verstehe
die Reaktionen. Aber wir tun alles, um
das Vertrauen der Kunden sicherzustellen.
Es ist unsere Geschäftsgrundlage.
Wo liegen die Daten der deutschen Salesforce-Kunden?
Nach den Grundsätzen des Safe-Harbor-
Abkommens mit der EU, das das Übertragen
personenbezogener Daten in die USA
regelt, liegen diese Daten in den USA. In
diesem Monat eröffnen wir allerdings unser
erstes europäisches Rechenzentrum in
Großbritannien. Deutsche Kunden können
sich dann auch für die dortige Speicherung
entscheiden. Uns ist wichtig, dass unsere
Kunden entscheiden können. Deshalb
bauen wir gerade in Kooperation mit der
Deutschen Telekom ein Rechenzentrum in
Deutschland auf, das voraussichtlich 2015
in Betrieb geht.
matthias.hohensee@wiwo.de | Silicon Valley
FOTO: JAMIE TAKANAKA FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
DER HIMMELSSTÜRMER
Block, 53, ist seit Juni
2013 Präsident des Cloud-
Softwareanbieters Salesforce
in San Francisco.
Zuvor hatte er zwei Jahre
als Unternehmensberater
und seit 1986 für die
US-Datenbankschmiede
Oracle gearbeitet. Salesforce
gilt als Pionier bei
Computerprogrammen aus
dem Internet und Rivale
von SAP und Oracle.
Verkehrte Welt
Top 10 der Softwareunternehmen nach Umsatz und Wachstum 2013
Umsatz (in Mrd. $)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Microsoft
Oracle
IBM
SAP
Symantec
EMC
HP
VMware
CA Technologies
Salesforce.com
29,6
29,1
18,5
6,4
5,6
4,9
4,8
4,2
3,8
* gegenüber Vorjahr; Quelle: Gartner, März 2014
Wachstum (in Prozent)*
65,7 1. Salesforce.com
33,3
2. VMware 14,1
3. SAP 9,5
4. Microsoft 6,0
5. EMC 4,9
6. Oracla 3,4
7. IBM 1,4
8. Symantec –0,8
9. CA Technologies –2,6
10. HP –2,7
52 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Blut in der Bilanz
BANKEN | Maue Schiffskredite in Milliardenhöhe
schlummern seit Jahren in den Büchern der
Banken. Beim Stresstest der EZB werden sie für
manches deutsche Institut zur Überlebensfrage.
Letzte Geldquelle
Die Verschrottung
von Frachtkähnen
wie hier in Indien
bringt immerhin
zwischen vier und
acht Millionen Euro
Anfang des Jahres war das Wetter in
Australien so schlecht, dass nur wenig
Kohle für den Export verladen
werden konnte. Die Krise in der Ukraine
hat die Seetransporte über die Krim fast
zum Erliegen gebracht. Und China importiert
zwar fleißig, aber doch nicht ganz so
viel Eisenerz und Rohöl wie gedacht.
Es sind schlechte Nachrichten, vor allem
für Oliver Faak. Der leitet bei der Nord/LB
in Hannover das Geschäft mit Schiffsfinanzierungen
und ist Kummer gewöhnt. Seit
gut sechs Jahren steckt die Sparte in der
Krise, etliche Schiffe fahren so wenig ein,
dass ihre Reeder nicht mal die Zinsen für
ihre Kredite zahlen können. Auf absehbare
Zeit dürfte sich das kaum ändern. Bis Ende
2015 rechnet das Institut mit einem schwachen
Markt und auch danach bestenfalls
mit einer leichten Erholung.
Skepsis ist derzeit besonders angebracht.
Über Jahre haben die Banken an den Krediten
festgehalten und auf eine Erholung
des Marktes gesetzt. Die Taktik könnte sich
jetzt rächen. Denn die Europäische Zentralbank
(EZB) schaut sich bei ihrem aktuellen
Stresstest die Schiffsfinanzierungen
besonders kritisch an. Wenn sie am Sonntag,
dem 26. Oktober, die Ergebnisse präsentiert,
drohen einige deutsche Institute
deshalb durchzufallen. Für sie stellt sich
anschließend die Existenzfrage.
BEDROHLICHE DIMENSION
In den vergangenen Monaten haben die
Banken Kredite verkauft und ihre Risikovorsorge
deutlich erhöht. Doch noch immer
sitzen HSH Nordbank, Nord/LB und
Commerzbank auf Finanzierungen von
zusammen fast 50 Milliarden Euro. Wie
dramatisch die Lage ist, zeigt die Selbsteinschätzung
der Commerzbank. Mit 6,4 Milliarden
Euro sind bei ziemlich genau der
Hälfte ihrer Kredite die Schuldner bereits
in Verzug oder kurz davor.
Vor allem bei den beiden norddeutschen
Landesbanken haben die Finanzierungen
im Verhältnis zur Größe der Institute eine
bedrohliche Dimension. Über die sind
deutsche Aufseher schon lange besorgt,
selbst der Internationale Währungsfonds
warnte vor weiteren Abschreibungen.
Die konnten die Banken bisher vermeiden.
Sie bewerten ihre Kredite vor allem
aufgrund von Prognosen über die künftigen
Erträge der Schiffe. Die Daten dafür
stammen von spezialisierten Brokern. Da
in der Schifffahrt alles mit allem zusammenhängt,
sind die Modelle ungemein
komplex, aber letztlich Kaffeesatzleserei.
Jede politische Krise macht sie zunichte.
Die EZB ist denn auch wenig begeistert
von dem Ansatz. Sie schockte die Banken
mit der Idee, Schiffe nach dem aktuellen
Verkaufspreis und nicht nach den vermuteten
Frachterlösen zu bewerten. Tatsächlich
schwanken die Marktpreise der Schiffe
immens. Sie liegen aber deutlich unter den
Modellrechnungen der Banken.
Denn die Branche hat einen beispiellosen
Preisverfall bei Frachtschiffen erlebt.
Weltweit laufen auf den Werften unver-
»
FOTO: LUZPHOTO/FOTOGLORIA
54 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»
Dunkle Wolken
HSH-Chef
Constantin von
Oesterreich
muss den Stresstest
der EZB
fürchten
ändert viele neue Exemplare vom Stapel,
obwohl die Nachfrage deutlich geringer
ist. Neue Kähne kosten deshalb heute
30 Prozent weniger als vor der Krise.
Technische Umbrüche beim Bau von
Containerschiffen verschärfen den Verfall.
Über Jahrzehnte tuckerten die Frachter
weitgehend unverändert über die Meere,
Spritverbrauch war keine wesentliche Größe.
Das hat sich fundamental geändert.
Um Transportkosten zu senken, sind neue
Schiffe deutlich sparsamer und oft auch
größer. Die Älteren fahren heute langsamer,
als sie könnten, um Sprit zu sparen.
Konkurrenzfähig sind sie dennoch nicht.
Dummerweise haben deutsche Banken
vor allem diese Problemfälle finanziert.
Nach einigem Ringen haben sich EZB
und Banken auf einen Kompromiss geeinigt,
nach dem die EZB einen pauschalen
Abschlag auf die Schiffswerte vornimmt.
Weitere Gespräche zwischen Aufsehern
und Banken liefen in der vergangenen Woche.
Denn auch der veränderte Ansatz der
EZB trifft die Banken empfindlich.
Daran sind sie nicht unschuldig. Denn in
den Jahren vor 2008 glaubten sie an einen
ewig wachsenden Welthandel. Da der vor
allem über Schiffe stattfinden sollte, vergaben
sie nahezu unbegrenzt Kredite und
missachteten sämtliche Vorsichtsregeln.
Zumal es über Jahrzehnte so gut wie keine
Ausfälle gegeben hatte. So verlangten die
Institute oft weniger als 30 Prozent Eigenkapital,
und wenn einem Reeder die Mittel
fehlten, finanzierten sie diese vor. Viel verdienten
sie dabei nicht. Ihre Margen lagen
teilweise unter einem Prozent.
Besonders großzügig zeigte sich die HSH
Nordbank. Die Landesbank plante 2008
den Gang an die Börse und warb für sich
als „weltgrößter Schiffsfinanzierer“. Den Titel
hat sie verteidigt, heute ist er jedoch ein
schwerer Makel. Seit Monaten geistern Untergangsszenarien
durch die Finanzwelt.
Sollte die Bank beim EZB-Test durchfallen,
müssten wohl die Länder Hamburg und
Schleswig-Holstein als Eigentümer mit
Steuergeld einspringen. Da sie die Bank
schon mal gerettet haben, könnte der zuständige
EU-Wettbewerbskommissar in
Brüssel die Abwicklung anordnen.
RADIKAL RAUS
Mit der Holzvertäfelung und den grünen
Ledersesseln wirkt der Konferenzraum im
Erdgeschoss des Instituts am Gerhart-
Hauptmann-Platz unweit der Alster wie eine
schon etwas abgewetzte Kapitänskajüte.
Hier wollen die HSH-Banker Claus Ganter
und Insa Bergmann zeigen, dass ihre
Lage ernst, aber nicht aussichtslos ist. Dass
sie nicht verzweifelt Löcher stopfen, während
ihr Schiff längst sinkt.
Tatsächlich tut die HSH viel, um Kredite
über Wasser zu halten. So unterstützt sie
Zäher Abschied
Schiffsfinanzierungen deutscher Banken
(in Milliarden Euro)
30
HSH Nordbank
25
Commerzbank
20
Nord/LB
15
10
2010 2011
Quelle: Unternehmensangaben
2012 2013 2014
Reeder dabei, ihre Schiffe so zu modernisieren,
dass die mit neuen Modellen mithalten
können. Für eine gewisse Zeit stundet
sie Zahlungen und hilft bei der Suche
nach neuen Investoren. „Wir wollen gemeinsam
mit den Eigentümern erreichen,
dass die Schiffe im laufenden Betrieb genug
Geld für Zinsen und Raten erzielen“,
sagt Banker Ganter.
Konkret heißt das oft: Die Eigner müssen
Kapital nachschießen. Das klappt oft,
wenn es sich um Großunternehmen oder
wohlhabende Reederfamilien handelt.
Kompliziert wird es dagegen, wenn das Kapital
wie oft in Deutschland von privaten
Fondsanlegern kommt. Die sind schon
enttäuscht, dass die versprochenen Renditen
ausgeblieben sind, und wollen erst
recht nichts nachzahlen. Etliche haben gegen
die Banken geklagt.
Seit 2010 hat die HSH ihr Engagement bei
Schiffen um immerhin zehn Milliarden Euro
reduziert. Die meisten Kredite sind planmäßig
zurückgeführt worden. Der Verkauf
an durchaus interessierte Finanzinvestoren
liegt nicht im Fokus der Bank. „Wir wollen
das Erholungspotenzial selbst realisieren“,
sagt Bankerin Bergmann. Zudem muss die
Bank die Garantie der Länder vor unnötigen
Verlusten schützen. Daher sind Verkäufe
zum Sparpreis schwierig.
Wegen der niedrigen Marktpreise hielten
sich die Banken mit Verkäufen lange zurück.
Die Commerzbank geht mittlerweile
anders vor. Mitte 2012 hat sie das Neugeschäft
mit der Finanzierung von Schiffen
eingestellt, seitdem stehen die Zeichen auf
beschleunigter Abwicklung. Kürzlich erst
hat sie neun Containerschiffe an den Finanzinvestor
KKR und die britische Borealis
Maritime verkauft.
Die Frankfurter Bank muss keine Angst
mehr haben, künftige Geschäftspartner zu
verprellen, jede der beiden Landesbanken
schon. So will HSH-Chef Constantin von
Oesterreich in diesem Jahr für 1,4 Milliarden
Euro neue Schiffe finanzieren.
Doch die Lasten der Vergangenheit engen
den Spielraum der Banken ein. Oft
bleibt den Reedern mitunter nur ein Ausweg.
Zwar liegt die mittlere Lebenserwartung
eine Schiffs bei gut 25 Jahren. Doch
inzwischen treten auch viele deutlich jüngere
Kähne die letzte Reise an – zu den Abwrackwerften
an den Stränden Indiens
oder Chinas. Die Rohstoffe, die bei der
Ausweidung anfallen, bringen zwischen
zwei und acht Millionen Euro. Das ist nicht
viel, aber besser als nichts.
n
cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt
FOTO: LAIF/HENNING BODE
56 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märktet | Dossier
Vorbilder
Treue zu Prinzipien
Muhammad Ali? Udo Jürgens?
Helmut Kohl? Derlei
Idole passen nicht zum Chef
der auf Nüchternheit bedachten
Allianz. Selbst der
sonst stets genannte verstorbene
Apple-Chef Steve Jobs
ist da wohl zu flippig. Stattdessen
müssen zwei garantiert
Unverdächtige als berufliche
Vorbilder herhalten.
Zum einen ist das Marvin
Bower, der die Unternehmensberatung
McKinsey
Disziplinierter Denker
McKinsey-Ikone Bower
mehr als 60 Jahre lang prägte
und als ihr eigentlicher
Gründervater gilt. Bower
verordnete ihr noch heute
gültige Standards und Prinzipien
wie Disziplin und
Kundenorientierung. Zweites
Vorbild ist Wolfgang
Schieren, der als Allianz-
Chef die weltweite Expansion
vorantrieb. Gleichzeitig
avancierte er über Konzernbeteiligungen
zum Mittelpunkt
der sogenannten
Deutschland AG. Die wird
Bäte sicher nicht wiederbeleben
und so lange wie Schieren,
der von 1971 bis 1991
an der Spitze stand, wird er
auch nicht bleiben. Es sei
denn, der Aufsichtsrat kippt
die anachronistisch wirkende
Vorstands-Altersgrenze
der Allianz von 60 Jahren.
Gekommen, um zu
bleiben Künftiger
Allianz-Chef Bäte
Sprinter auf der Langstrecke
Allianz | Chefs des Versicherungskonzerns halten sich oft zehn Jahre. Oliver
Bäte hat gute Chancen auf eine erfüllte Amtszeit – wenn er sich bremst.
Opulente Arbeitsplätze mag Oliver Bäte
nicht so. „Manager lieben es, in komfortablen
Büros in der Nähe der Oper zu arbeiten“,
schimpfte der frische Allianz-Vorstand
2009 bei einer Konferenz. Das sei viel zu
teuer und drücke die Produktivität.
Im Mai zieht der 49-Jährige nun in das
beste Büro der größten europäischen Versicherung
mit Sitz am Englischen Garten
in München. Seit Bäte Anfang 2008 von der
Unternehmensberatung McKinsey in den
Allianz-Vorstand wechselte, hat er dort eine
Art Top-Trainee-Programm absolviert. Sein
Förderer und künftiger Vorgänger Michael
Diekmann betraute ihn nacheinander mit
den Ressorts Organisation, Finanzen und
Westeuropa. Dabei ist bei der Allianz eigentlich
Kontinuität angesagt. In ihrer fast
125-jährigen Geschichte gab es erst neun
Chefs. Zu Bätes Start steht der Konzern
stark da, Turbulenzen um die US-Töchter
Pimco und Fireman’s Fund stören, sind
aber beherrschbar. Die strukturellen
Herausforderungen jedoch sind gewaltig.
Niedrigzinsen drücken die Erträge, Geschäft
wandert ins Internet ab. Bäte muss
schnell umbauen, ohne zu viel einzureißen.
cornelius.welp@wiwo.de, matthias kamp
58 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Vorlieben
Ruf der Ferne
In seiner Karriere ist Bäte viel
herumgekommen, als Westeuropa-Chef
der Allianz ständig
in Frankreich und Italien
unterwegs. Seinen Wohnsitz
in Köln hat der Spross des
Nachbarorts Bensberg aber
bis jetzt behalten. Hier hat
er nach einer Lehre bei der
WestLB Betriebswirtschaft
studiert, der Uni ist er als Lehrbeauftragter
verbunden. Als
Allianz-Chef wird der Vater
von drei Kindern mit der Familie
nun aber doch nach
München umziehen. Noch bei
McKinsey war Bäte für eine
Hang zur Heimat
Bäte-Wohnort Köln
Weile in Elternteilzeit, mittlerweile
unternimmt er mit seinem
Anhang gern Fernreisen.
In seiner knappen Freizeit reitet
er und interessiert sich für zeit-
genössische Kunst. Und beim
Fußball steht er auf der Gewinnerseite.
Passend zur Allianz-Arena
ist er Bayern-München-Fan.
Stärken &
Schwächen
Ungestüm nach oben
Mit intellektueller Brillanz
Zusammenhänge blitzschnell
erfassen und vor allen
anderen die richtigen
knallharten Schlüsse ziehen
– schon als Unternehmensberater
war Bäte einer der
Schnellsten unter lauter
ganz Schnellen. Das sah er
auch selbst so und machte
sich damit nicht nur Freunde.
Im hierarchischen Alli-
FOTOS: AGENTUR FOCUS/THOMAS DASHUBER, BILDAGENTUR HUBER, IMAGO (2), GETTY IMAGES/BLOOMBERG, BLOOMBERG
Freunde & Gegner
Wenig verwurzelt
Bäte war der Wunschkandidat
von Allianz-Chef Diekmann,
der ihn persönlich in den Konzern
holte. Außerhalb des Unternehmens
ist der Neue dicke
mit Henkel-Boss Kasper Rorsted
und Tidjane Thiam, dem
Chef des britischen Versicherers
Prudential. Mit beiden
trifft er sich regelmäßig zum
Austausch. Auch E.On-Vormann
Johannes Teyssen und
Jörg Schneider, Finanzvorstand
des Rückversicherers
Munich Re, zählen zu seinem
Sympathischer Konkurrent
Prudential-Chef Thiam
engsten Kreis. Ein offener Widersacher
ist nicht bekannt.
Eine Perspektive muss Bäte
Markus Rieß bieten. Der Chef
des deutschen Versicherungsgeschäfts
galt auch als Kandidat
für den Top-Job, rückt nun
aber nicht mal in den Konzernvorstand
auf. Bäte kommt
gut an bei Analysten und Investoren,
die rund 9000 selbstständigen
Allianz-Vertreter
respektieren ihn aber allenfalls.
Sie hätten sich einen
Chef gewünscht, der tiefere
Wurzeln in der Allianz hat.
Geschlagener Kollege Allianz-
Deutschland-Manager Rieß
Ziele &
Visionen
Digital ist besser
Noch kommen die meisten
Kunden über traditionelle
Vertreter zu ihrer Versicherung,
doch die Bedeutung
des Internets und vor allem
der Online-Vergleichsportale
wächst unaufhaltsam.
Hier hat die Allianz Nachholbedarf.
Aus Bätes Umfeld
stammt das Ziel einer „digitalen
Allianz, die die PS der
Vertreter auf die Straße
bringt“. Die vage Vision soll
das Verbindende zwischen
alter und neuer Versicherungswelt
betonen. Wie die
konkret funktionieren kann,
hat Bäte in Italien vorgemacht.
Dort schließen die
Kunden ihre Policen auch
beim Vertreter digital ab,
dank Baukastensystem geht
das einfach, günstig und vor
allem aus einer Hand. Das in
Italien erfolgreiche Modell
will Bäte so ähnlich auf den
ganzen Konzern ausdehnen.
Wegweiser zur Spitze
Bäte mit Förderer Diekmann
anz-Konzern eckte er mit
seiner ungestümen Art erst
recht an. Wo an sich kommunikative
Zurückhaltung
angesagt ist, äußerte sich Bäte
in rasender Geschwindigkeit
ungewohnt deutlich und
nicht immer schmeichelhaft.
Mittlerweile hat er allerdings
dazugelernt und sich dem
Tempo der anderen angepasst.
Er erklärt Mitarbeitern
mehr und hört ihnen auch
mal zu. Seine fachliche Kompetenz
ist unumstritten,
dank seiner McKinsey-Jahre
in New York und der Leitung
des Allianz-Geschäfts in
Westeuropa kennt er sich international
gut aus. Was ihm
am meisten hilft ist die ehrliche
Begeisterung für das
Produkt Versicherung. „Für
ihn gibt es wirklich nichts
Spannenderes“, sagt ein
Weggefährte verwundert.
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 59
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
»Kollektive Naivität«
INTERVIEW | Ulrich Spiesshofer Der deutsche Chef des Schweizer Anlagenbauers
ABB gesteht Fehler im Geschäft mit Windstrom auf hoher See ein
und verteidigt sein umstrittenes Aktienrückkaufprogramm.
DER ERNÜCHTERTE
Spiesshofer, 50, leitet seit September vergangenen
Jahres den ABB-Konzern mit
Hauptsitz in Zürich, der in Deutschland rund
10 000 Mitarbeiter beschäftigt und 2013
gut 32 Milliarden Euro Umsatz machte.
Herr Spiesshofer, sagt Ihnen die
Zahl 21,34 etwas?
(Überlegt lange.) Nein.
Das war der Aktienkurs von ABB
bei Ihrem Amtsantritt als
Vorstandschef am 15. September
2013. Sagt Ihnen die Zahl
21,53 etwas?
Ja, das war unser gestriger Aktienkurs.
In dem Jahr unter Ihrer Führung
stagnierte der Aktienkurs von
ABB, während er bei Ihren
Konkurrenten Siemens um zwölf
und bei General Electric um
neun Prozent zulegte. Was machen
Sie falsch?
Bis Januar ist der Aktienkurs gestiegen,
danach hat er sich korrigiert.
Damals haben wir die großen
Probleme der Sparte Energietechniksysteme
erkannt und
sofort transparent gemacht. Das
war natürlich kein idealer Einstieg
für mich als neuer Vorstandschef.
Da der Großteil unserer
Geschäfte gut läuft, ist der Aktienkurs
dabei nicht völlig in den
Keller gegangen. Wir haben nicht
komplett das Vertrauen der Anleger
verloren, das war mir wichtig.
Aber die Anleger sagen heute:
Wir sind vorsichtig und warten erst mal ab,
ob ABB das wieder hinbekommt. Ich habe
für die Reaktion der Aktionäre Verständnis.
Da muss man auch realistisch und bescheiden
sein.
Warum haben Sie soeben die langfristigen
Ziele für Umsatz und Gewinn kassiert, die
bei Ihrem Amtsantritt galten?
Ich messe Ziele immer am aktuellen Stand
der Dinge, nicht an der Vergangenheit. Die
Weltwirtschaft wächst mit 3,0 bis 3,5 Prozent,
und wir haben momentan massive
Unsicherheiten – ich nenne nur Ebola, die
Auseinandersetzungen im Mittleren Osten,
die noch nicht ausgestandene Finanzkrise
oder den Kampf um die Energiehoheit.
Daran gemessen sind unsere neuen
Ziele noch immer extrem ambitioniert:Wir
wollen schneller wachsen als das Bruttosozialprodukt
und schneller als unsere Märkte.
Wir wollen also Marktanteile gewinnen.
Wie realistisch die Ziele der Vergangenheit
angesichts der jetzigen wirtschaftlichen
und politischen Lage waren, das überlasse
ich Ihrer eigenen Beurteilung.
Wieso kommt Ihre Sparte Energiesysteme
nicht in die Gänge?
In der Sparte sind 80 bis 85 Prozent des Geschäfts
absolut in Ordnung. Aber wir haben
uns auch die Bücher gefüllt mit langfristigen
Aufträgen, die wir nicht
hätten annehmen sollen. Der Bau
einer Offshore-Windkraftanlage
kann bis zu acht Jahre dauern.
Wenn in der Mitte Probleme auftauchen,
kann man nicht einfach
sagen: Ich schreibe das ab und
höre auf. Man muss es durchziehen.
Auch wenn es viel kostet, wir
werden den Kunden zufriedenstellen.
Wie konnte es so weit kommen?
Das ist in der Tat enttäuschend.
Wir haben uns mit dem Plattformbau
eine Bürde auferlegt, die wir
nicht beherrschten. Das Risikomanagement
hat bei der Annahme
der Aufträge nicht angeschlagen.
Wir haben jetzt massive Änderungen
in den Prozessen, im
Geschäftsmodell und bei den Ressourcen
durchgeführt, damit das
nicht mehr passiert. Aber es wird
eine Weile dauern, bis wir diesen
unprofitablen Auftragsbestand
abgearbeitet haben. Die Probleme
gehen wir zielstrebig an, wegzaubern
kann ich sie nicht.
Siemens hat den gleichen Fehler
gemacht. Warum sind bei
Ihnen nicht die Alarmglocken
losgegangen?
In dem Moment, als die Probleme
bei Siemens auftauchten,
sind bei uns die Alarmglocken
durchaus losgegangen. Aber da
war es zu spät. Es war vielleicht
eine kollektive Naivität, mit der
man überhaupt in diese Geschäfte
eingestiegen ist.
Warum haben Sie im Übernahmekampf
um Ihren französischen
Wettbewerber Alstom nicht mitgeboten,
obwohl Sie im vergangenen Jahr
Akquisitionen angekündigt hatten?
Weil Alstom nicht zu uns passt. Wir waren
schon mal im Energieerzeugungsgeschäft,
das haben wir 1999 verkauft – ein großer
Teil von Alstom sind ja ehemalige ABB-Teile.
Dahin wollen wir nicht zurück. Wir haben
uns klar auf Energieübertragung und
-verteilung fokussiert. 80 Prozent des weltweiten
Elektrizitätsmarktes unterliegen
dem Verbot, dass ein Energieerzeuger
auch in der Energieübertragung und -verteilung
tätig ist. Und dieser Trend nimmt
noch zu.
Sie haben die Konzernleitung auf zwölf
Mitglieder erweitert. Nach jedem
Lehrbuch sind das viel zu viele.
FOTO: RENÉ RUIS
60 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Die Lehrbücher haben wir alle gelesen,
aber das sind Lehrbücher, das ist keine Praxis.
Wir haben weiterhin die Gruppenfunktionen
und fünf Divisionsleiter, und in Zukunft
haben wir drei Regionalleiter. Diese
haben – ebenso wie die Länderchefs – die
oberste Aufgabe, sich portfolioübergreifend
um den Kunden zu kümmern. Alles
andere, der Einkauf beispielsweise, geht in
die Sparten. So ist die Konzernleitung sehr
viel näher am Kunden als früher.
ABB hat ein Aktienrückkaufprogramm
über knapp dreieinhalb Milliarden Euro
angekündigt. Fällt Ihnen nichts Besseres
ein, was Sie mit Ihrem Geld machen könnten,
etwa eine Akquisition?
Wir generieren jedes Jahr sehr viel Cash
aus dem laufenden Geschäft. Außerdem
haben wir Randbereiche abgestoßen und
daraus rund eine Milliarde Dollar erlöst.
Aber wir haben auch die bereits erwähnten
Probleme in der Sparte Energiesysteme.
Auch die Integration unserer Großeinkäufe
Thomas & Betts sowie Power One ist noch
nicht vollkommen abgeschlossen. Und wir
machen einen Organisationsumbau. Auf
diese vier Themen zusätzlich noch eine
große Akquisition zu packen wäre mir zu
viel. Jetzt beteiligen wir erst mal die Shareholder
durch das Aktienrückkaufprogramm
an unserem Erfolg. Für Akquisitionen
haben wir noch immer genügend finanziellen
Spielraum. Ab 2015 denken wir
wieder darüber nach.
Ein Viertel der zurückgekauften Aktien
wird an die Mitarbeiter verteilt im Rah-
»Die Probleme gehen
wir zielstrebig
an, wegzaubern
kann ich sie nicht«
men eines Bonusprogramms. Auf der vergangenen
Hauptversammlung haben die
Aktionäre eine Kapitalerhöhung abgelehnt,
die das gleiche Ziel gehabt hätte.
Jetzt führen Sie das Bonusprogramm
durch die Hintertür trotzdem ein.
Den Vorwurf mit der Hintertür weise ich
entschieden zurück. Es geht um die Finanzierung
der seit vielen Jahren bestehenden
Aktienprogramme, das haben wir voll
transparent gemacht. Die Aktionäre wollten
keine Verwässerung ihrer Anteile hinnehmen,
deshalb haben sie die Kapitalerhöhung
abgelehnt.
Halten wir fest: Sie wollten zusätzliche
Boni ausschütten, in Form von Aktien.
Die Aktionäre haben das – ungewöhnlich
genug – abgelehnt. Jetzt besorgen
Sie sich die Aktien an der Börse, um
die Boni dennoch ausschütten zu
können. Sie missachten den Willen der
Aktionäre.
Jetzt dürfen wir zwei Dinge nicht verwechseln:
20 000 unserer Angestellten erhalten
einen Teil ihres Lohnes in Aktien oder investieren
im Rahmen ihres Sparprogrammes
in ABB-Titel. Dafür kaufen wir Aktien.
Das geht bis weit unter die Konzernleitung.
Ich finde es extrem wichtig, dass möglichst
viele Mitarbeiter am Aktienkapital der Firma
beteiligt sind, damit sie ein gemeinsames
Interesse haben an der Weiterentwicklung
der Firma. Die Boni für das Top-Management
machen in diesem Programm
nur einen Bruchteil aus.
Marc Kowalsky | Bilanz
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Fahrt ins Blaue Tengelmann-Chef Haub
droht mit dem Verlust von 16 000 Jobs
Die Schlecker-Keule
TENGELMANN | Der Verkauf der Supermarktsparte wird
zum Duell zwischen Unternehmenschef Karl-Erivan Haub
und Wettbewerbshüter Andreas Mundt.
Umden Widrigkeiten des deutschen
Wettbewerbsrechts zu trotzen,
schwört Karl-Erivan Haub auf ein
einfaches Mittel: rein in die Laufschuhe,
raus in die Natur und los. „Wie oft standen
wir in den Verhandlungen mit dem Kartellamt
in einer Sackgasse“, sinnierte der Tengelmann-Chef
vor einem Jahr in einem Interview
über den Verkauf der Discounttochter
Plus. „Beim Laufen habe ich darüber
nachgedacht:Wie kommen wir da weiter?
Da ist mir im Wald ziemlich häufig etwas
eingefallen.“
Der Tengelmann-Chef wird auch in den
kommenden Monaten wieder reichlich
Zeit an der frischen Luft verbringen müssen.
Er will die Supermarktsparte seines
Konzerns verkaufen. Bis Sommer 2015 soll
der Hamburger Handelsriese Edeka die
451 Kaiser’s-Tengelmann-Märkte übernehmen.
Die Verträge sind unterzeichnet, der
Deal ist eigentlich perfekt – wären da nicht
nicht die Beamten um Bundeskartellamtschef
Andreas Mundt, die bereits Widerstand
signalisiert haben.
Die Konfliktlinien sind klar: Wettbewerb
gegen Marktmacht, Prinzipien contra Arbeitsplätze,
Kartellamtspräsident Mundt
versus Unternehmenspatron Haub. Der Fall
Tengelmann hat das Zeug, zur Machtprobe
zwischen Konzern und Amt zu werden. Ein
Fernduell bahnt sich an, das die Handelszunft
über Monate in Atem halten wird.
ÄRGER MIT ANSAGE
Für seinen Eröffnungszug wählte Haub das
vertraute Terrain der Konzernzentrale in
Mülheim an der Ruhr. In einem holzgetäfelten
Saal aus der Wirtschaftswunder-Ära
erklärte er am Dienstag seine Sicht der
Dinge. Wuchtige Kronleuchter illuminieren
den Raum. An den Wänden prangen
Kupferstiche italienischer Bauten. In einem
Regal im Vorraum reihen sich ein paar
Marktmacht im Blick Behördenchef Mundt
muss Gegenwind der Öffentlichkeit fürchten
ledergebundene Klassiker. „Dramen in
Versen“, steht auf einem Einband. Das
passt zum Mülheimer Trauerspiel.
Vorn im Saal saß Haub im schwarzen
Anzug und fühlte sich nach eigenem Bekunden
„ein bisschen wie bei einer Beerdigung“.
Trotzdem, seine Entscheidung stehe
fest, sagte Haub. 15 Jahre habe der Konzern
die Supermärkte alimentiert. Nun sei
Schluss. Die Läden würden verkauft.
Und das Kartellamt?
Der drahtige 54-Jährige nickt kurz, als
wolle er sich für das Stichwort bedanken,
und antwortet: „Es muss eine Lösung geben.“
Im Zweifel riskiere er auch Ärger mit
dem Bonner Amt.
Der kam prompt. Während Haub in
Mülheim noch Fragen beantwortete, vermeldeten
die Nachrichtenagenturen schon
die erste Reaktion der Behörde. Die Nachfragemacht
des Lebensmitteleinzelhandels
sei bereits heute ein Problem, gab Kartellamtschef
Mundt zu Protokoll. Das Kartellamt
werde den Tengelmann-Verkauf daher
„intensiv prüfen“.
Was nach Amtsroutine klingt, ist in
Wahrheit eine Kampfansage. Nur selten
äußert der Chef einer Bundesbehörde
öffentlich seine Bedenken zu einem Verfahren,
das gerade erst begonnen hat.
Dabei gilt Mundt nicht als Mann, der sich
allzu forsch aus der Deckung wagt. Seit fünf
Jahren residiert der Jurist im Chefbüro eines
strahlend weißen, landschlossartigen Gebäudekomplexes
in Bonn. Ein nobles Umfeld
– das färbt ab. Durchaus eitel genießt
der 54-Jährige die öffentlichen Auftritte und
die Machtfülle seines Amtes. Mundt ist ein
Karrierebeamter, der auch eine große Stadtsparkasse
oder eine Industrie- und Handelskammer
leiten könnte, nicht aber Unternehmer
sein, der auf eigenes Risiko investiert.
Der Mittfünfziger braucht im Gegenteil den
zuverlässigen Handlungsrahmen, um damit
Handlungsspielräumen von Unternehmern
Grenzen zu setzen. Das ist sein Job.
Gleichwohl weiß Mundt, dass er sich –
wie jetzt auch bei Tengelmann – nicht im
politikfreien Raum bewegt. Er habe verstanden,
dass er bei heiklen Themen auch
die Öffentlichkeit auf seine Seite ziehen
muss, sagt ein Berliner Kartellrechtler.
Im Fall Tengelmann gilt das ganz besonders.
Sollten Mundts Beamte den Deal
stoppen, droht Haub unverhohlen mit der
Schlecker-Keule. Die Pleite der Drogeriekette
hatte zum Verlust von 23 000 Jobs ge-
FOTOS: WAZ FOTOPOOL/MATTHIAS GRABEN, COLOURBOX, CARO/ZENSEN
62 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
führt und Zwietracht in
die damalige christlichliberale
Bundesregierung
getragen. „Im
schlimmsten Fall“ werde
er Tengelmann komplett
abwickeln, so
Haub an Mundts Adresse,
16 000 Arbeitsplätze
wären dann in Gefahr,
ohne dass es dadurch
mehr Wettbewerb geben
werde. Denn seine Supermärkte hätten
im Lebensmittelhandel einen Marktanteil
von nur 0,6 Prozent und damit eine
verschwindend geringe Bedeutung.
BESORGNISERREGENDER TREND
Das war nicht immer so. Früher, als der Besprechungssaal
in Mülheim noch Vorstandskasino
hieß, war Tengelmann das
Maß aller Dinge in der Branche. 1971 übernahm
das Unternehmen den Rivalen Kaiser’s
und stieg zum größten Lebensmittelhändler
des Landes auf. Haubs Vater expandierte
in zusätzliche Geschäftsfelder –
und verzettelte sich. Erst als der Senior seine
Söhne ranließ – allen voran Karl-Erivan
1,8
Milliarden
Euro Umsatz
erzielte Kaiser’s
Tengelmann
2013
Haub – stabilisierte sich
die Gruppe.
Der frühere McKinsey-Berater
stutzte das
Konglomerat auf eine
Handvoll Kernbeteiligungen
zurecht. Seither
lautet ein Credo des
Clans, nie zu lange an
Verlustbringern festzuhalten.
Ende 2010 wurde
der amerikanische
Discount-Ableger A&P in die Insolvenz geschickt.
Drei Jahre zuvor hatte Haub den
Billigheimer Plus ausgemustert und an
Edeka verkauft.
Doch kaum hatten die Hamburger den
Zuschlag erhalten, grätschten die Bonner
Kartellwächter dazwischen. Die Behörde
gab den Deal nach monatelangem Gezerre
zwar frei, doch nur unter strikten Auflagen.
Hunderte Plus-Filialen musste Tengelmann
an Edekas Rivalen abtreten.
Noch wichtiger: Das Amt untersagte
auch eine geplante Einkaufskooperation
zwischen Edeka und der Tengelmann-Supermarktsparte.
Nun geht es um deutlich
mehr. Selbst wenn Mundt wollte, könnte er
sich über das damalige Verbot jetzt nicht
einfach hinwegsetzen.
Gerade erst hat sein Haus zudem eine
Branchenanalyse zum Lebensmittelhandel
veröffentlicht. Auf 400 Seiten dröseln
die Kartellwächter die Hackordnung im
Handel auf. Branchenprimus Edeka, Rewe,
die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland
sowie Aldi beherrschen demnach 85 Prozent
des Marktes. Die Entwicklung sei „besorgniserregend“,
konstatiert Mundt.
Dass er dem Deal ohne Auflagen zustimmt,
halten Experten damit für nahezu
ausgeschlossen. Doch auch die Rolle als
Arbeitsplatzvernichter, in die ihn Haub im
Falle eines Verbots drängen wird, dürfte
dem Kartellwächter kaum zusagen. Ein
Kompromiss könnte letztlich ähnlich wie
bei Plus aussehen. Tengelmann müsste einen
Teil der Filialen an Konkurrenten abtreten.
Doch wie ein solcher Zuschnitt der
Standorte ausfallen müsste, ist unklar.
Vielleicht hilft Mundt ja der Haub’sche
Ansatz bei der Lösung des Problems:
Mundt ist zwar kein Läufer, aber begeisterter
Skifahrer. Und klare Bergluft hat schon
immer den Blick geweitet.
n
henryk.hielscher@wiwo.de, harald schumacher
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Signor Segafredo
Hinter Kaffeemultis
wie Nestlé und Kraft
ist der Familienkonzern
weltweit die
Nummer fünf
Der Ketzer aus dem Veneto
SEGAFREDO | Der Eigentümer des italienischen Espressoherstellers, Massimo Zanetti, will an
die Börse. Der Gewinner der Globalisierung tickt anders als die meisten seiner Kaste.
Um die Menschheit auf den italienischen
Kaffeegeschmack zu bringen,
ist Massimo Zanetti kein Weg zu
weit. Er verfrachtet Espresso nach Ulan Bator
in der Mongolei, ins Herz Asiens, um
ihn, wenn es sein muss, bei minus 25 Grad
auszuschenken. Am Ende der Welt, in Ushuaia
im argentinischen Patagonien, der
südlichsten Stadt der Welt, kommt das
schwarze Lebenselexier aus seinen Maschinen.
Und im 30. Stock des Shinjuku
Grand Tower mitten in Tokios Shoppingparadies
Nishi-Shinjuku eröffnete er vor
wenigen Wochen die 327. Filiale seiner
Kette Segafredo Zanetti Espresso Café.
Nun hat sich der Kaffeehersteller aus
dem Hinterland Venedigs zu einem neuen
Ziel aufgemacht – an die Börse. Anfang November
sollen die Aktien seiner Holding
Massimo Zanetti Beverage Group (MZB
Group) aus dem norditalienischen Treviso
in Mailand in den Handel gehen.
Vom Firmensitz bis in die lombardische
Finanzmetropole sind es zwar nur 240 Kilometer.
Vielen italienischen Familienunternehmern
aber ist das eine unüberbrückbare
Entfernung. Für Börsenaspirant Zanetti
gilt das nicht. „Signor Segafredo“, wie
er in Italien genannt wird, tickt anders als
die meisten seiner Kaste.
Der hochgewachsene Veneter verbindet
Bodenständigkeit mit Zukunftsdrang. Mit
weißem Haarschopf und bunter Brille sitzt
er entspannt in einem Clubsessel in seinem
Büro in der Villa Zanetti, in der er vor
66 Jahren als Sohn und Enkel von Kaffeehändlern
zur Welt kamt. Neben dem gediegenen,
lederbezogenen Schreibtisch hängt
ein riesiger Flachbildschirm an der Wand.
»Die Größe von
Starbucks ist
allein eine Frage
des Geldes«
Segafredo-Eigentümer Massimo Zanetti
Vor dem Heiligenbild gegenüber steht das
Modell des Privatjets, mit dem er durch
sein Firmenimperium jettet.
„Kaupé“ taufte der umtriebige Unternehmer
das Flugzeug, was in der Sprache
des südamerikanischen indigenen Mapuche-Volkes
„sich zu Hause fühlen“ bedeutet.
In dem Zimmer, in dem Zanetti geboren
wurde und aufwuchs, speisen heute
die Mitarbeiter der Firmenzentrale. Seine
Mutter war zur Geburt in den abgelegenen
Raum gezogen. „Mein Vater wollte die
Schreie nicht hören“, erzählt er. Vor vier
Jahren kehrte Zanetti an seinen Ursprung
zurück und bezog mit seiner Holding die
frisch restaurierte Villa aus dem 17. Jahrhundert
bei Treviso. Im Seitenflügel, wo er
als Kind im Lager zwischen Kaffeesäcken
spielte, ließ er einen modernen Veranstaltungssaal
einrichten. „Hierhin werde ich
die Analysten einladen“, eröffnete er beim
Einzug in das grauweiß getünchte architektonische
Schmuckstück einem Mitarbeiter.
Der Patrone hielt Wort. Es ist Mitte September.
Zanetti tritt vor die versammelte
FOTO: PR
64 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Schar Aktienprofis und rattert seine Story
herunter: Mit 3,5 Millionen verkauften Kaffeesäcken
pro Jahr ist er die Nummer fünf
weltweit hinter großen Multis wie Nestlé
und Kraft, die den Markt beherrschen; er
besitzt 50 Tochterfirmen mit vielen bekannten
Auslandsmarken, macht eine Milliarde
Euro Jahresumsatz, Tendenz: steigend,
er schafft einen Auslandsanteil von
90 Prozent; und er betreibt eigene Plantagen,
handelt mit den grünen Kaffeebohnen,
röstet sie, stellt Espressomaschinen
her und besitzt Kaffeebars.
ENTTÄUSCHT VON BERLUSCONI
Jenseits der Kaffeewelt lief es für den Erfolgsunternehmer
nicht so glatt. 1994 ließ
er sich von Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi
mitreißen. Zanetti zog im Glauben
an das Versprechen einer liberalen Revolution
für die frisch gegründete Rechtspartei
Forza Italia in den italienischen Senat ein.
Nach zwei Jahren hatte er jedoch genug
vom Polit-Gezänk in Rom.
Von den einheimischen Kaffeedynastien
Lavazza und Illy hebt sich Zanetti nicht nur
durch seine internationale Ausrichtung ab.
Er ist, und das in Italien, kein Missionar des
Espressokults. Espresso bleibe eine Nische,
sagt er trocken und spöttelt: „Nur die Italiener
kamen auf diese Idee und haben dazu
auch noch eine Maschine erfunden.“
Kaffee, darauf besteht Zanetti fast ketzerisch,
das sei Filterkaffee. Mit ihm macht er
70 Prozent des Umsatzes. Dabei passt er
sich den jeweiligen lokalen Trinkgewohnheiten
an, indem er Markenhersteller rund
um den Globus übernahm und an 14
Standorten produziert. Auch Barack Obama
ist sein Kunde. Im Weißen Haus wird
die Marke Kauai von den Hawaii-Inseln getrunken,
der Heimat des US-Präsidenten.
Mit dem Premium-Label Kauai übernahm
Zanetti auf Hawaii auch 1500 Hektar
Kaffeeplantagen. In Skandinavien ist er mit
der finnischen Kaffeemarke Meira auf dem
Markt. In die Tassen der niederländischen
Königsfamilie kommt sein Kaffee Tiktak. In
Nossa Senhora da Guia, im Herzen Brasiliens,
gehört Zanetti die nach eigenen Angaben
mit 2000 Hektar größte private Kaffeeplantage
der Welt.
Das lateinamerikanische Land hat für
Zanetti besondere Bedeutung. In seiner
Villa in Treviso liegt der Prachtband „Mein
Paradies – Bilder und Emotionen aus Brasilien“
auf dem Tisch. Er ist Zanettis großer
Leidenschaft gewidmet, der grünen Bohne.
Damit aber erregte er bei den Analysten
Argwohn. Sie drängten ihn erfolgreich,»
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 65
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Unternehmen&Märkte
Edle Setzlinge Die Segafredo-Top-Kaffeesorte
Kauai wird von US-Präsident Obama getrunken
und wächst in dessen Heimat Hawaii
Von der Bohne bis zur Tasse Auch die
Plantagen auf Hawaii für die Kaffeesorte
Kauai gehören Segafredo
Klasse und Masse Bei den Kaffeetrinkern
steht die Marke Segafredo für Durchschnitt,
Ware aus Hawaii für gehobene Ansprüche
»
die Firmenbeteiligungen in Anbau und
Handel aus seiner Holding auszugliedern.
Dieses Geschäft sei zu sehr den Schwankungen
von Rohstoffpreisen und Devisenkursen
unterworfen. Also bringt Zanetti
nun ein geschrumpftes Unternehmen mit
750 Millionen Euro Umsatz an die Börse.
Die Wachstumsstrategie des umtriebigen
Italieners ist schnell erzählt. Zanetti
setzt darauf, ferne Absatzmärkte von innen
aufzurollen. Dazu steigt er durch Übernahmen
ansässiger Unternehmen in neue
Länder ein und exportiert anschließend
italienische Lebensart in Form von Espresso
Segafredo. In insgesamt 500 Läden weltweit
serviert und verkauft er die Kaffeespezialitäten
inzwischen. „Wir sind sehr flexibel
in der Nutzung der im Konzern vorhandenen
Kompetenzen“, sagt Zanettis Generaldirektor
Pascal Héritier, ein Schweizer.
Barista numero 6
Die zehn größten Kaffeebarbetreiber Europas
Quelle: FoodService
Costa Coffee 1923
McCafé 1856
Starbucks 1698
Tchibo 820
Caffè Nero 618
Segafredo
Shokoladnitsa
Coffeeright
Coffee Republic
Coffee House
Kaffeebars
2013
500
408
252
250
225
GROSSER COUP MIT 25 JAHREN
Beispiel Neuseeland: Im Februar übernahm
Zanetti die Firma EspressoWorkz in
Auckland, die in dem Inselstaat Kaffee und
Kaffeemaschinen vertreibt. Dann schob er
Segafredo ins Sortiment. Im Mai schlug er
in Thailand zu und kaufte den alteingesessenen
Kaffeehersteller und Barausrüster
Boncafé, Marktführer in Südostasien und
den Golfstaaten. Damit stellt Zanetti sich
auf Januar 2016 ein: Dann senkt das neue
Asean-Freihandelsabkommen die Zölle für
Importe aus der Region auf fünf Prozent.
Den Sprung in die Weltliga des Kaffees
hat Zanetti in dritter Familiengeneration
geschafft. 1973, mit 25 Jahren, kaufte er den
Röster Segafredo aus Bologna. Das Traditionsunternehmen
war in Schwierigkeiten,
aber gut etabliert im Geschäft mit der Gastronomie.
Zanetti erkannte, dass das Geheimnis
des Erfolgs weniger in der Kaffeeherstellung
als im Kundenservice liegt. Er
konzentrierte sich auf das Verhältnis zu
den Profis, kümmerte sich um die Betreiber
der Espressobars, kaufte weitere Röstereien
und übernahm den Espressomaschinen-Hersteller
La San Marco im Friaul.
Dann griff Zanetti im Filterkaffee trinkenden
Europa an. In Frankreich legte er
sich den drittgrößten Produzenten Vaudour
Danon zu. Seinem deutschen Geschäftspartner
J.J. Darboven nahm er eine
Rösterei in Salzburg ab. Gleichzeitig baute
er eine Café-Kette auf, um die Marke Segafredo
im Ausland populär zu machen. Der
Startschuss fiel 1985 im französischen Rouen.
Deutschland hat heute 90 Filialen.
In seiner Botschaft an neue Aktionäre
zielt Zanetti vor allem auf die unterentwickelten
Märkte. „In armen Ländern ist der
Kaffeekonsum niedrig. Je stärker sie wachsen
und je reicher sie werden, desto erstrebenswerter
wird das Kaffeetrinken für die
Bürger“, sagt er. Das Vordringen der Kaffeekultur
sorgte im vergangenen Jahrzehnt für
einen Anstieg des globalen Konsums von
90 Millionen auf 142 Millionen Säcke Kaffee.
Die Zukunft des Geschäfts sieht Zanetti
in Teeländern wie Russland, Japan, Indien
und China. Im Internet-Fernsehen im
Reich der Mitte liefen gerade 15 Folgen der
Seifenoper „Funny Coffee“ an, die in einem
Segafredo-Café spielen. Die Schleichwerbung
funktioniert. 41 Millionen Zuschauer
hätten die ersten Episoden gesehen, berichtet
Generaldirektor Héritier.
Zanetti ist Globalisierungsgewinner.
Gleichwohl verpasste er vor gut 25 Jahren
eine große Chance. Damals ließ sich ein
gewisser Howard Schultz von ihm durch
die Segafredo-Rösterei bei Bologna führen.
Den Amerikaner faszinierte die italienische
Barkultur, er kannte auch das Segafredo-Café
in Rouen. Nach seiner Rückkehr
aus Italien gründete er die Kaffeekette Starbucks,
die heute mehr als 20 000 Filialen
hat. Ärgert Zanetti das? „Die Größe ist allein
eine Frage des Geldes“, sagt er. „Starbucks
Erfolg liegt in der Börse begründet.“
Zanetti selbst zieht es an die Börse, um das
Unternehmen fit für die Zukunft zu machen.
Denn der Veneto, Zanettis Heimat,
leidet besonders stark unter verpatzten Generationswechseln
und ruinösen Familienfehden.
„Ich will klare Verhältnisse für
die vierte Generation schaffen.“ Die beiden
Kinder Laura und Matteo sind bereits im
Unternehmen tätig. Zanetti schickt sich an,
35 Prozent der Aktien abzugeben und über
eine Kapitalerhöhung 150 Millionen Euro
in die Konzernkasse zu holen.
Damit schafft er Raum für Wachstumsfantasien.
„Ich schaue nach Afrika“, sagt Zanetti.
Öffneten sich die Länder dort, gebe es
einen ganzen Kontinent zu erobern. n
ulrike sauer | Rom, unternehmen@wiwo.de
FOTOS: PR (3)
66 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Spezial | Mittelstand
Im Schatten der Giganten
ERFOLGSFAKTOREN | Trotz Globalisierung und Kostenvorteilen durch Größe behaupten
sich Mittelständler gegenüber Konzernen. Wie schaffen sie das?
Der Mittelstand ist die „secret
weapon“, die Geheimwaffe
Deutschlands. Zu diesem Befund
kam der US-Journalist
Peter Ross Range, nachdem er
sich wochenlang bei Konzernen, Familienunternehmen
und mittelständischen Betrieben
zwischen Flensburg und dem
Schwarzwald umgesehen hatte. Der Ex-
Korrespondent des „Time Magazine“ wollte
auf seiner Deutschland-Reise ergründen,
warum die deutsche Wirtschaft der
weltweiten Finanzkrise 2008/09 und der
aktuellen Rezession im Euro-Raum trotzte.
Die Antwort des Amerikaners: Es ist „the
German Mittelstand“.
Hinter dem Mythos, den die rund 3,7
Millionen kleinen und mittleren deutschen
Firmen verbreiten, verbirgt sich keine Metaphysik,
sondern ein Bündel betriebswirtschaftlicher
Erfolgsfaktoren. Mittelständische
Unternehmen sind in der Regel flexibler
als Konzerne, weil sie sich schneller neu
organisieren, das Personal besser anpassen
und neue Techniken vielfach auf kurzem
Dienstweg einführen. Denn ihre Entscheidungsstrukturen
sind einfacher und die
Hierarchien flacher. Zudem spielen langfristige
Beziehungen und vielfach informelle
Kontakte zu Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten
oder Banken eine wichtige Rolle.
Daraus hat sich in Deutschland etwas
entwickelt, was wie ein Turbo für die
»
FOTO: LAIF/OLIVER RÜTHER
Spezial | Mittelstand
Zwischen Prinzipien und
Betriebswirtschaft
Alnatura-Chef Rehn
schwört auf die
eigene Firmenkultur
und ständig neue
Produkte
68 Erfolgsfaktoren Was deutsche
Mittelständler so stark macht
70 Alnatura Biodiscount schlägt die
klassischen Ökoläden
72 Germania Fluggesellschaft auf
niedrigem Kostenniveau
76 Tobit Softwareschmiede mit Lust
am schöpferischen Zerstören
78 Eugen Trauth & Söhne
Schokoküsse direkt ab Fabrik
80 Abeking & Rasmussen Schwimmende
Rolls Royce für Betuchte
68 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Spezial | Mittelstand
»
einzelnen Mitteständler wirkt:sogenannte
Cluster, also Ansammlungen von Firmen,
in denen sich im Umkreis weniger Kilometer
viele erfolgreiche Unternehmen zum gegenseitigen
Nutzen zusammengefunden haben.
Mal sind es Schneidewarenhersteller wie in
der Klingenstadt Solingen bei Düsseldorf,
mal Wälzlagerspezialisten in Schweinfurt in
Unterfranken oder Schließtechnik in Velbert
im Bergischen Land.
BARRIEREN FÜR WETTBEWERBER
Im Extremfall knubbeln sich Weltmarktführer
auf engstem Raum, etwa im Hohenlohischen,
wo der Montagetechnik-
Champion Reinhold Würth residiert, oder
in Ost- und Südwestfalen mit dem Pumpen-
und Ventilhersteller Hora oder dem
rund um den Globus geschätzten Küchenbauer
Siematic. Diese Unternehmen sind
zugleich regional verwurzelt und international
sehr aktiv. Die meisten konzentrieren
sich auf Nischen, haben sich in engem
Kontakt mit ihren Kunden hochgradig
spezialisiert und den Sprung in alle Herren
Länder geschafft. Um sich unersetzlich
zu machen, schicken viele ihre Servicekräfte
gleich mit, um bei Problemen –
ob technischer oder organisatorischer Art
– helfen zu können. Zugleich sind dies
Barrieren für Wettbewerber, die ins gleiche
Geschäft einsteigen wollen.
Auf diese Weise müssen mittelständische
Champions auch nicht zwingend Großunternehmen
fürchten. Wer es geschickt anstellt,
findet ein gedeihliches Leben in Nischen,
die für Konzerne uninteressant sind.
So behauptet sich der Schokoladenhersteller
Halloren aus dem ostdeutschen Halle
erfolgreich gegen Schokoriesen wie Mondelez
(Milka), Storck (Merci) oder Ritter.
Oder die deutsche Minifluggesellschaft
Germania jettet erfolgreich im Windschatten
von Lufthansa und Air Berlin.
Die Geschäftsmodelle überzeugen inzwischen
auch Finanzinvestoren. BWK in
Stuttgart etwa wird zum Januar 2015 vom
Lebensmittelriesen Nestlé dessen Babykostmarken
Alete und Milasan samt einer
Fabrik übernehmen. Damit treten die
Schwaben gegen den französischen Nahrungsmittelmulti
Danone an, der mit Milupa
und Aptamil auf dem Markt ist, sowie
gegen Drogeriemarktketten wie dm oder
Rossmann, die ihre umsatzstarken Eigenmarken
in die eigenen Regale drücken.
Die WirtschaftsWoche stellt die Erfolgsrezepte
von fünf Mittelständlern aus unterschiedlichen
Branchen vor.
n
mario.brueck@wiwo.de
Grüner Preisbrecher
ALNATURA | Die Biodiscountkette macht mit günstiger gesunder
Ware klassischen Ökoläden das Leben schwer.
Wenn Götz Rehn von seinem Unternehmen
spricht, klingt das, als ginge es um einen
mildtätigen Verein. Lohnkosten bezeichnet
er als Mitarbeitereinkommen,
Fragen nach „seiner“ korrigiert er konsequent
in „unsere“ Firma. Und wirtschaftliches
Handeln ist für ihn ein Akt der Solidarität:
„Man muss erkennen, dass Arbeitsteilung
auch bedeutet, für andere tätig
zu sein. Das ist tatsächlich selbstlos;
dann ist Wirtschaft eigentlich zutiefst altruistisch.“
So abgehoben das Prinzip wirkt, so erfolgreich
ist es bei der Biodiscountkette Alnatura:
mehr als eine halbe Milliarde Euro
Jahresumsatz, Wachstumsraten von zehn
Prozent im Lebensmittelmarkt, zehn neue
Filialen allein 2014, Expansion in die
Schweiz. So liest sich die wirtschaftliche Bilanz
von Alnaturas Selbstlosigkeit. Details
zum Ende September abgelaufenen Geschäftsjahr
nennt Alnatura-Frontmann
Rehn nicht. Nur so viel: „Unsere Marge ist
auskömmlich, das reicht.“
Damit das so bleibt, setzt Alnatura auf einen
Ansatz, der sich sonst eher bei Textilketten
wie Hennes & Mauritz (H&M) oder
Zara besichtigen lässt. Ähnlich wie die Modeunternehmen
ist Alnatura Händler und
Hersteller zugleich. Die Hausmarke Alnatura
gilt als wichtigstes Label in Bioläden.
Bei der Vermarktung seines Vorzeigelabels
geht Alnatura-Gründer und -Chef
Rehn noch weiter. Er verkauft Alnatura-
Produkte nicht nur in eigenen Läden, sondern
auch in denen von Partnern wie der
Drogeriekette dm. Das macht die Marke
bekannter und mindert das Absatzrisiko.
Alnatura beliefert 3600 Verkaufsstellen
in 14 Ländern. Filialgeschäft und Produkthandel
tragen je die Hälfte zum Umsatz
bei. Dieser lag im Geschäftsjahr 2012/13
bei rund 593 Millionen Euro, 15 Prozent
mehr als im Vorjahr. Für das abgeschlossene
Geschäftsjahr geht Rehn erneut von
zweistelligem Wachstum aus.
Gegründet hat er das Unternehmen vor
30 Jahren. „Hätte ich gewusst, wie schwierig
es ist, ein Filialgeschäft aufzubauen,
hätte ich es wohl gelassen“, erzählt Rehn.
Unterstützung kam vom damaligen dm-
Chef Götz Werner. „Er sagte ganz klar:
Wenn, dann jetzt“, so Rehn. „Ich war
schließlich schon 35 Jahre alt.“ Werner
zeigte Rehn, worauf es im Filialgeschäft ankommt,
und nahm die Alnatura-Produkte
ins dm-Sortiment auf. Bis heute ist dm
Rehns wichtigster Vertriebspartner. Dane-
FOTO: DDP IMAGES/THOMAS LOHNES
70 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
en werden Alnatura-Produkte auch von
Lokalmatadoren wie der in Osthessen und
Thüringen vertretenen Supermarktkette
Tegut oder von der in Hamburg aktiven
Drogeriekette Budnikowsky verkauft.
„Alnatura kennt die Anforderungen des
Lebensmitteleinzelhandels genau“, sagt
Handelsexperte Thomas Roeb von der
Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und liefert
damit eine Erklärung für den Erfolg.
80 NEUE PRODUKTE PRO JAHR
Ein weiterer Faktor ist die Kundennähe. Direktkontakte
sind für Rehn essenziell. So
veranstaltet er regelmäßige Frage-Antwort-
Runden mit Kunden. Im Gegenzug arbeitet
Alnatura weder mit Marktforschern zusammen,
noch gibt es teure Produkttests.
Rehn: „Manche würden sagen: Wir sind
vollkommen unprofessionell aufgestellt.“
Rehns Konsumentenforschung scheint
aber aufzugehen: Alnatura führt circa 80
neue Produkte pro Jahr ein, davon floppen
nach eigenen Angaben nur zehn Prozent.
Für die Branche ein Spitzenwert. Nach Angaben
des Nürnberger Marktforschers GfK
fallen im Handel mehr als 60 Prozent aller
Produktneueinführungen durch.
ALNATURA
Umsatz: 593 Millionen Euro
Gewinn: Hoher einstelliger Millionenbetrag
(Schätzung)
Beschäftigte: 2200
Erfolgsrezept: Verkauf von ausgewählten
Produkten auch über Wettbewerber
Jeweils neueste verfügbare Daten: hier Stand 2012
Während Wettbewerber auf Zahlen setzten,
bekommt Alnatura laut Rehn durch
direkten Kontakt mit den Konsumenten
ein gutes Gefühl für den Markt. Handelsexperte
Roeb sieht den Erfolg schlicht darin,
dass Alnatura einen kleineren Markt
bedient: „Rewe oder Edeka könnten diesen
Ansatz nicht übernehmen, weil sie eine
größere und differenziertere Kundschaft
haben.“
Allen Aussagen über Kundennähe und
Altruismus zum Trotz:Kleine Bioläden klagen,
sie könnten mit den niedrigen Preisen
von Alnatura nicht mithalten. Zudem
musste sich das Unternehmen vor einigen
Jahren rechtfertigen, warum es teilweise
unter Tariflohn zahlte, etwa in Berlin.
Damals sagte Rehn, er wolle deutschlandweit
die gleiche Bezahlung für gleiche Stellen
– und nicht nach Standort verschiedene
Löhne. Außerdem gebe es für die Belegschaft
zusätzliche kostenlose Leistungen wie
Kunst- und Sportkurse. Die Presse höhnte
daraufhin „Yoga statt Lohn“ oder „Ein Ökokapitalist
sahnt ab“. Der öffentliche Druck
war groß, Alnatura passte die Gehälter an.
In der Zentrale im südhessischen Bickenbach
erinnern hohe Schiefertafeln an
die Grundsätze des Unternehmens: ganzheitlich
denken, kundenorientiert handeln,
selbstverantwortlich sein. „Der Unterschied
von Alnatura liegt in der Haltung
unserer Mitarbeiter: Die haben Interesse
an den Dingen, die wir machen, und wollen
mit der Geschäftsführung zusammenarbeiten“,
so Rehn.
Dies werde vor allem in schwierigen Situationen
deutlich. Kürzlich stellte Alnatura
seine komplette Software um. Rehn:
„Das war eine Riesenleistung. Andere Unternehmen
werden durch so etwas tagelang
stillgelegt.“
»
katharina matheis | unternehmen@wiwo.de
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Spezial | Mittelstand
Unter dem Radar
GERMANIA | Die Fluggesellschaft aus Berlin steuert mit
konkurrenzlos niedrigen Betriebskosten weiter auf Erfolgskurs.
Andreas Wobig orientiert sich mit
Germania an den klassischen Erfolgsrezepten
seiner Branche: Er
sieht sie sich an – und tut meistens das Gegenteil.
Mögen Berater und Chefs führender
Gesellschaften wie Lufthansa den Vorteil
der Größe predigen sowie den Fokus
auf Vielflieger und den Heimatmarkt legen.
Germania aus Berlin meidet Großstädte,
fliegt Urlauber und Geschäftsleute, aber
auch Emigranten aus Osteuropa und dem
Nahen Osten in ihre Heimat. Dabei bedient
sie fast keine Route täglich und hat gleich
zwei Tochterlinien im Ausland, davon als
einzige Linie Europas eine Mehrheitsbeteiligung
in Afrika.
Der Erfolg gibt Wobig Recht. Zwar wollen
sich der 49-Jährige und die Eigentümerfamilie
um die Nachkommen des Gründers
Hinrich Bischoff in bester Mittelständler-
Manier nicht näher zu den Früchten ihres
Tuns äußern. Doch laut der im August veröffentlichten
Bilanz bleiben Germania
2012 im Verbund mit der ebenfalls von Wobig
geleiteten Schwester SAT Fluggesellschaft,
der das Gros der 23 Germania-Jets
gehört, von 260 Millionen Euro Umsatz gut
acht Millionen Gewinn nach Steuern. Das
ist das Dreifache der Lufthansa-Marge.
Das verdankt die mit sechs Millionen
Passagieren nach Lufthansa und Air Berlin
GERMANIA
Umsatz: 230 Millionen Euro/mit
Schwester SAT 260 Millionen Euro
Gewinn: 1 Million Euro/mit Schwester
SAT 8,5 Millionen Euro
Beschäftigte: 850
Erfolgsrezept: Kleine Märkte besetzen
und große Konkurrenten abschrecken
Jeweils neueste verfügbare Daten: hier Stand 2012
drittgrößte deutsche Fluglinie vor allem einer
Stärke: „Sie kann kleine Märkte so
schnell besetzen, dass sie für die Großen
kaum noch attraktiv sind“, heißt es in einer
Analyse des Centre for Aviation, eines auf
die Branche spezialisierten Marktforschers
mit Hauptsitz in Sydney.
Dafür sorgen klassische Mittelstandstugenden,
allen voran die in der extrem
schwankungsanfälligen Fliegerei besonders
wichtige Sparsamkeit. „Germania hat
die wohl niedrigsten Betriebskosten auf
dem Kontinent“, lobt der Hamburger Luftfahrtexperte
Heinrich Großbongardt.
Gründe sind vor allem eine schlanke Verwaltung,
die vergleichsweise bescheidenen
Gehälter und die gute Auslastung der
Flugzeuge.
Knauserigkeit ist das wichtigste Erbe von
Gründer Bischoff. Der 1936 in Erfurt geborene
promovierte Jurist kaufte 1979 die marode
Fluggesellschaft SAT und entdeckte
eine Marktlücke: den Verleih von Flugzeugen
an Fluglinien und andere Unternehmen
mit oder ohne Personal.
Lufthansa-Schreck Germania-Chef
Wobig arbeitet profitabler als der
Marktführer
»
FOTO: MICHAEL HANDELMANN
72 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Spezial | Mittelstand
»
Dabei ging der wegen seiner Vorliebe für
Pullover und großzügig geschnittene Hosen
anfangs unterschätzte Unternehmer
nicht selten rabiat vor: Wollte ein Großer
wie Lufthansa keine Maschinen abnehmen,
drohte er kurzerhand, ihm auf wichtigen
Strecken Konkurrenz zu machen. „Und
das war mehr als glaubhaft, weil er schon
immer die niedrigsten Kosten hatte, nicht
zuletzt, weil er an sich keine Flugzeugmiete
zahlen musste“, so ein Insider. So brachte
Bischoff seine Flieger nebst Besatzung
auch bei den Konkurrenten Air Berlin, TUI
und Condor unter.
Später reüssierte Germania auch beim
Geschäft mit Flügen für Unternehmen und
Behörden. Als Erstes schnappte sich die Linie
in den Neunzigerjahren den Beamten-
Knausrigkeit
gehört zum
Erbgut der Fluggesellschaft
shuttle, der nach dem Regierungsumzug
von Bonn nach Berlin vor allem Mitarbeiter
des Verteidigungsministeriums hin und
her flog. Später folgte der Werksverkehr
zwischen den beiden großen Fabriken des
Flugzeugherstellers Airbus in Hamburg
und dem südfranzösischen Toulouse.
Weil das Modell nach dem Tod des
Gründers Ende 2005 immer weniger trug,
erfand sich die Linie neu. „Wir können
auch ein paar Dinge, die andere nicht können“,
erzählt Chef Wobig nicht ohne Stolz.
Dazu zählt eine ungewöhnliche Zurückhaltung.
Mögen andere Linien auch ihre
Flotte häufig auf Verdacht aufstocken: „Wir
haben nur so viele Flugzeuge, wie wir das
ganze Jahr über gut und profitabel füllen
können“, sagt der Manager mit markantem
Kinn und Pfadfinder-Haarschnitt.
Zudem streut die Gruppe das Risiko. Neben
der Fliegerei betreibt sie das Wartungsgeschäft,
aber auch Hotels wie das Usedom
Palace an der Ostsee und das Waldhaus
Prieros bei Berlin – ehemals Wohnsitz des
DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck.
Die Vielfalt macht Germania extrem flexibel.
Sollte überraschend ein Reiseveranstalter
ein paar Extraflüge nach Mallorca ordern,
kann sich Wobig – auch dank der Kontakte
der Leasing-Schwester SAT – fast über
Nacht zusätzliche Maschinen besorgen und
diese nahtlos in den Flugplan einfügen. Das
funktioniert nicht zuletzt deshalb, weil Germania
ihre eigenen Jets anders als etwa
Lufthansa und Air Berlin ohne große Besonderheiten
so einrichtet wie das Gros der
im Leihmarkt üblichen Maschinen.
Noch mehr hilft Germania diese Antrittsschnelligkeit,
wenn die Linie künftig
wie geplant vor allem das Geschäft mit Flügen
auf eigene Rechnung ausbaut und dabei
Marktlücken entdeckt. „Und die gibt es
reichlich, wenn man nur genau hinsieht“,
sagt Wobig.
Diese findet er beispielsweise bei Flügen
aus Kleinflughäfen wie Erfurt oder Bremen.
Aus diesen Märkten haben sich Lufthansa
und Air Berlin entweder bei ihrem
Schrumpfkurs zurückgezogen – oder waren
waren nie präsent, wie etwa in Kassel.
Hier finden sich nicht nur kleine Reiseveranstalter
oder Privatkunden, die für einen
bequemen Abflug vor ihrer Haustür gerne
einen Aufpreis zahlen. „Diese Airports sind
dann auch bei Starthilfen wie niedrigeren
Gebühren oder Marketinghilfen so großzügig,
dass für eine Airline mit geringen
Kosten das Risiko gering ist“, weiß der Chef
eines größeren deutschen Airports.
Germania hat auch ein Geschäft aufgebaut,
das sonst fast niemand betreibt: Flüge
für in Europa lebende Emigranten, die
in ihren Heimatländern Geschäfte abwickeln
oder Verwandte und Freunde besuchen
wollen. Im Rahmen dieses „ethnischen
Verkehrs“ steuert Germania aus
mehreren Ländern Europas selten angeflogene
Länder an. Dazu zählen das Kosovo,
Irak, Libanon, der Osten der Türkei sowie –
bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs – Syrien.
„Es ist ein komplexes Geschäft, das für
viele Fluglinien zu aufwendig und am Ende
oft zu klein ist“, sagt Wobig.
MODELL FÜR DEN EXPORT
Für Germania lohnt sich der Aufwand. Die
Berliner verfügen über die nötigen Partner
für den meist abseits in Agenturen oder
über Privatleute laufenden Verkauf der Tickets.
Außerdem haben sie die nötigen
Fachleute im Unternehmen für die in selten
angeflogenen Ländern oft schwierigen
Verhandlungen über die Landerechte.
Inzwischen exportiert Germania ihr Erfolgsmodell.
So fliegt sie für britische Reiseveranstalter
aus Norwich, Manchester
sowie London ans Mittelmeer. „Obwohl
wir Flugbegleiter aus Großbritannien einsetzen,
haben angesichts unseres Namen
anfangs vor allem Weltkriegsveteranen ein
74 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FOTO: ACTION PRESS/ANDREAS DUNKER
wenig die Nase gerümpft“, erzählt ein Unternehmens-Insider.
„Doch inzwischen
haben wir mit unseren im Vergleich zu anderen
britischen Linien relativ großzügigen
Sitzabständen sogar ein paar Fans gewonnen.“
Von Skandinavien aus bietet Germania
im Rahmen des ethnischen Verkehrs
sogar Verbindungen zu zwei Städten
im Nordirak.
Der bislang größte Sprung war die Gründung
der Fluglinie Gambia Bird im westafrikanischen
Gambia, die vor zwei Jahren
ihren Erstflug hatte. Wobig wundert sich,
dass bislang keine andere europäische Gesellschaft
den Schritt gewagt hat. Zwar ver-
Besondere Klientel Germania fliegt in Europa
lebende Emigranten in deren Heimat
dient die in Banjul ansässige Linie, die zu
30 Prozent afrikanischen Investoren gehört,
noch kein Geld. Aber das soll sich –
nicht zuletzt dank kräftiger Hilfe der deutschen
Partner in Sachen Flugmanagement
– bald ändern. Wobig: „Der Kontinent ist
einer der Wachstumsmärkte der Branche,
und Gambia ist eines der politisch stabilsten
Länder mit einer guten Infrastruktur.“
Aus Wobigs Sicht profitiert Germania
von den Erfahrungen der afrikanischen
Tochter beim Aufbau neuer Strecken, besonders
wenn diese – wie die Routen von
Banjul nach London – über bisher ungewohnt
lange Distanzen gehen.
Der Erfolg hat Wobig zu einem weiteren
Schritt ins Ausland ermuntert. Im Frühjahr
2015 soll eine Schweizer Tochter mit zwei
Maschinen an den Start gehen. Sie soll von
Zürich aus für den Veranstalter Hotelplan
fliegen und Ziele im Kosovo und anderen
südosteuropäischen Staaten anbieten.
Trotz des Erfolgs will Wobig auch künftig
vorsichtig wachsen. „Ich kann mir vorstellen,
unsere Flotte auf 40 Flugzeuge zu erweitern“,
so Wobig. Den Umsatz noch in
diesem Jahrzehnt auf 400 Millionen Euro
pro Jahr zu verdoppeln, sei denkbar.
Eine deutlich sichtbare Nummer drei in
Deutschland werden „ist nicht unser Ziel“,
sagt Wobig. Er verweist darauf, dass der
Höhenflug von Air Berlin endete, als diese
Linie durch die Konkurrenz zu Lufthansa
zwischen Hamburg und Frankfurt zu sichtbar
wurde – und Deutschlands größte
Fluglinie mit Kampfpreisen reagierte.
In diesem Fall befolgt Wobig ausnahmsweise
die Gesetze der Flugbranche.
»
ruediger.kiani-kress@wiwo.de
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Spezial | Mittelstand
Selfmademan Am Ende der Debatte
entscheidet bei Tobit-Vorstandschef Groten
den „jungen Wilden unter 25“, wie er sie
nennt. Wer bei Tobit gearbeitet hat, muss
nicht lange nach einem neuen Job suchen,
der Mittelständler gilt als eines der innovativsten
deutschen IT-Unternehmen.
Groten führt sein Unternehmen wie ein
Start-up, das aber bereits seit 28 Jahren. Er
ist überzeugt: „Sobald man etabliert wird,
hat man verloren!“ Im Alter von zwölf Jahren
begann er, Software für Unternehmen
zu programmieren, 1986 gründete er im Alter
von 18 Jahren Tobit. Kurze Zeit später
brach er die Schullaufbahn ab und widmete
sich ganz dem Unternehmen.
Angefangen hat Tobit mit der Kommunikationssoftware
David für Unternehmen.
Diese bündelt alle Informationsflüsse wie
Fax, E-Mail, SMS, Chatfunktion und Voice-
Mail und packt Inhalte relevanter Internet-
Seiten dazu. Inzwischen baut Tobit auch
Informations-Apps für Unternehmen und
Vereine – von der lokalen Feuerwehr über
die Betreiber von YouTube-Kanälen bis zu
Größen wie dem Fußballbundesligisten
Schalke 04. Rund 200 solcher Miniprogramme
fürs Handy produziert das Unternehmen
jeden Tag. „Bisher haben wir
50 000 Apps erstellt, die insgesamt acht
Millionen Menschen nutzen“, sagt er.
Flexibel und verrückt
TOBIT AG | Das innovative Softwareunternehmen vom Niederrhein
setzt auf häufige Wechsel in einer jungen Belegschaft.
Geht es nach Vorstandschef Tobias
Groten, dürften bei Tobit Software in
Ahaus am Niederrhein 75 Prozent
der Mitarbeiter nicht länger als fünf Jahre
bleiben. Wer ein Leben in geregelten Bahnen
will, sollte das Unternehmen nach dieser
Zeit verlassen. Die anderen 25 Prozent,
so die Philospie des Firmenchefs, müssen
möglichst flexibel und verrückt genug sein,
um länger zu bleiben.
„Ständige Zellerneuerung ist das Geheimnis
des Ladens“, sagt Groten, der 89
Prozent der Anteile hält. Der Rest gehört einem
engen Freund sowie Entwicklungschef
Franz-Josef Leuders. Frisches Blut holt
er mit Auszubildenden ins Unternehmen,
UNABHÄNGIGKEIT ÜBER ALLES
Das Geschäft läuft offenbar gut, auch wenn
Groten beteuert, dass es „nie Ziele in Sachen
Umsatz oder Gewinn“ gegeben habe.
2013 habe das Unternehmen rund vier Millionen
Euro Gewinn gemacht und werde
im laufenden Jahr ähnlich abschließen.
2011 setzte Tobit laut Bundesanzeiger
knapp 16 Millionen Euro um und erzielte
einen Nettogewinn von fast zwei Millionen
Euro. Bis Juni 2015 will Groten 100 000
Apps auf den Markt gebracht haben, mit
dann insgesamt 25 Millionen Nutzern.
Der 47-Jährige mit dem zerzausten lockigen
grauen Haar, dem zerknitterten Hemd
über der Jeans und den Turnschuhen
– weiß oder gerne auch in Neon-Orange –
gibt den Nonkonformisten aus dem Bilderbuch.
Knapp 90 Prozent der Aktien hält er
selbst. Kein Kunde kommt auf einen Anteil
von mehr als ein Prozent des Umsatzes.
Das verschafft dem Unternehmer viel Freiheit
bei seinen Entscheidungen. „Unabhängigkeit
steht über allen Dingen“, sagt
Grote, „es ist die Grundlage, um etwas
Neues zu machen.“
FOTO: DOMINIK ASBACH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
76 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
TOBIT
Umsatz: 16 Millionen Euro (2011)
Gewinn: 4 Millionen Euro (2013)
Beschäftigte: 250
Erfolgsrezept: Eine permanente
Frischzellenkur; vieles wird ausprobiert,
vieles aber auch verworfen
Jeweils neueste verfügbare Daten
So kritisiert der Vorstandschef, „wer in
Deutschland eine Idee hat, wird als Allererstes
gefragt: Ist das erlaubt?“. Bei Tobit
frage niemand, was erlaubt sei, und auch
nicht, ob etwas wirtschaftlich sei. Ideen
würden einfach ausprobiert. „Es darf keine
Regeln beim Denken geben“, sagt Grote.
Seine Ideen setzt der IT-Unternehmer im
Entwicklungslabor in Ahaus um. Dort arbeitet
Entwickler Benjamin Gahle. „Tobias
bringt die Idee, wir setzen das um“, sagt der
47-Jährige, der gerade an einem Projekt arbeitet,
bei dem E-Bikes mithilfe des
Smartphones gesteuert werden. Groten
und seine Leute sind zwar „per Du“. Dennoch
„ist der Laden alles andere als demokratisch“,
betont Groten. Einer müsse am
Ende entscheiden.
Dass sich manche Idee als Sackgasse erwies,
stört den Unternehmer nicht. Wenn
etwas nicht funktioniert wie gedacht, dann
stoppt das Enfant terrible die Entwicklung.
Auch Tobit hatte mal eine Nachrichten-
App, noch vor WhatsApp. Dass daraus kein
kommerzieller Erfolg wurde, enttäuscht
Groten nicht: „Man muss sein eigener
Feind und in der Lage sein, auch eigene Sachen
kaputt zu machen.“ Man müsse disruptiv
denken, also in technologischen
Sprüngen.
Grotens unternehmerischer Drang beschränkt
sich nicht auf IT. So hat er den Kinofilm
„Stromberg“ mitfinanziert, ein
Dschungel-Restaurant und einen Nachtclub
eröffnet. Einmal im Jahr veranstaltet
er in Ahaus die Winter-Kirmes Stattalm, die
in sechs Wochen bis zu 200 000 Besucher
anlockt. Seine Partys auf der Computermesse
Cebit in Hannover sind wegen lauter
Musik, Freibier und leicht bekleideten
Tänzerinnen berühmt bis berüchtigt.
Grotens einzige Konstante in seinem Leben
ist die Heimatverbundenheit. In der
30 000-Einwohner-Stadt Ahaus ist er geboren,
hat hier sein Unternehmen und seine
Familie gegründet. Dort will er auch bleiben.
„Ich war noch nie länger als zwei
Wochen aus Ahaus weg“, gesteht er.
In der digitalen Welt gibt sich Groten unangepasst.
So nutzt er Facebook nicht für
die Kontaktpflege oder zum Netzwerken.
Er findet es aber praktisch, sich über dieses
soziale Netzwerk bei vielen Web-Seiten anmelden
zu können, ohne jeweils ein eigenes
Benutzerkonto anlegen zu müssen.
Groten besitzt auch ein Smartphone, ruft
damit aber niemanden an, weil er es als
aufdringlich empfände. Lieber hinterlässt
er eine Textnachricht. Im Sommer hat er es
abgelehnt, sich bei der Ice Bucket Challenge
Wasser mit Eis über den Kopf zu schütten.
Stattdessen spendierte er den Bürgern
von Ahaus 14 000 Kugeln Eis.
Seine Hauptziele habe er schon erreicht,
sagt Groten: „Einen Sohn gezeugt, einen
Baum gepflanzt, ein Haus gebaut.“ Der Rest
sei Bonus, Spaß und Leidenschaft. Tobit zu
verkaufen, komme nicht infrage, Angebote
habe er abgelehnt: „Ich bin keiner für Exits,
eher der nachhaltige, handfeste Typ.“
»
fabian kurmann | unternehmen@wiwo.de
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Spezial | Mittelstand
Mitbringsel aus Amerika Unternehmerin
Trauth erfuhr von der Idee des Fabrikverkaufs
auf einer Rucksacktour durch die USA
Von Mund zu Mund
EUGEN TRAUTH & SÖHNE | Der Pfälzer Schaumkusshersteller überzeugt
Kunden mit Qualität und Direktverkauf in der Fabrik.
Marie-Luise Trauth lehnt an der Verkaufstheke
im Erdgeschoss ihrer
Fabrik und zuckt mit den Achseln.
„Mithalten kann ich mit den Großen nicht“,
sagt die Chefin von Eugen Trauth & Söhne,
„aber das will ich auch nicht.“
Die 62-jährige ist Schaumkusskönigin.
Niemand in ihrer Region im rheinlandpfälzischen
Herxheim bei Landau produziert
und verkauft so viele Schokoküsse wie
Eugen Trauth & Söhne. Der Absatz der luftigen
Süßigkeiten läuft wie geschmiert. Das
Unternehmen sei gesund, der Jahresumsatz
von knapp 619000 Euro im Jahr 2003
auf rund rund 1,1 Millionen Euro 2013 geklettert,
berichtet die Chefin.
Das Königreich der Pfälzerin ist winzig
gegenüber dem Markt, den ihre größten
Konkurrenten Storck und Grabower Süßwaren
mit ihren Marken Dickmann’s und
Topkuss dominieren. Dem Marktforscher
Nielsen zufolge aßen die Deutschen 2013
Schokoküsse im Wert von 87,6 Millionen
Euro. Der Absatz legte zuletzt um 3,7 Prozent
auf 15400 Tonnen zu. Gerade mal 1,2
Prozent davon stammen aus Herxheim.
Dass Trauth sich damit behaupten
kann, liegt am Geschäftsmodell. Sie verkauft
nicht an Händler oder Budenbesitzer,
sondern bietet ihre Schokoküsse im
Direktverkauf an. 200 bis 500 Kunden
kommen täglich vorbei. Dafür musste
Trauth sogar den Parkplatz erweitern.
Manchmal fahren Reisebusse voller
Schaumkussfans vor.
Inhaberin Trauth stammt aus einer Unternehmerfamilie.
Urgroßvater und Vater
waren Bäcker, die den Großhandel mit
Lebkuchengebäck belieferten. In den Siebzigerjahren
wurde der Preiskampf durch
das Vordringen der Supermärkte immer
härter. Als Trauth 1986 die Leitung des Betriebs
übernahm, stellte sie die Firma auf
ein Produkt mit niedrigen Stückzahlen und
hoher Qualität um – auf Schokoküsse.
Wie sie diese verkaufen sollte, lernte die
Einsteigerin auf einer Rucksacktour durch
TRAUTH
Umsatz: 1,1 Millionen Euro
Gewinn: Mehrere Zehntausend Euro
(Schätzung)
Beschäftigte: 13
Erfolgsrezept: Verkauf ausschließlich
in der Fabrik
Jeweils neueste verfügbare Daten: hier Stand 2012
die USA. Dort entdeckte sie Factory Outlets.
Vom Fabrikverkauf „war ich fasziniert.
In Deutschland gab es so etwas nicht. Da
wusste ich, das will ich auch machen.“
Also ließ sie die alte Garage der Fabrik
neu gestalten, eine breite Fensterfront einbauen,
Rohre sichtbar an der Decke anbringen
und moderne Kunst an die Wände
hängen. 1991 eröffnete sie den Fabrikladen.
Leicht sei der Wandel nicht gewesen,
finanziell wie emotional, erzählt die
62-Jährige: „Es war ein schmerzhafter Prozess.“
Zunächst fehlten Aufträge der bisherigen
Großabnehmer. Doch dank Mundpropaganda
finden heute Kunden aus ganz
Süddeutschland den Weg nach Herxheim.
Schnelles Wachstum komme für sie
nicht infrage, sagt Trauth: „Ich möchte lieber
Bestehendes kultivieren.“ Zum Gewinn
will sich die Chefin ebenso wenig äußern
wie die großen Wettbewerber. Lieber zeigt
sie Besuchern ihren Betrieb.
Eine Wendeltreppe führt in die erste Etage.
8000 Schaumküsse pro Stunde spucken
die Maschinen aus, fast fünf Millionen im
Jahr. Neffe Daniel Trauth, von Beruf Lebensmitteltechniker,
überprüft gerade einen
Kühltunnel, in dem sich der flüssige
Schokoüberzug langsam glätten soll. Der
30-jährige Familienspross will den Betrieb
übernehmen, wenn seine Tante in drei Jahren
in den Ruhestand geht. Der Neffe hat
bereits als Jugendlicher mitgearbeitet.
BEIM PREIS KULANT
Unternehmerin Trauth kennt jeden ihrer
13 Mitarbeiter. Eine Arbeiterin steht am
Fließband, packt Schaumküsse in rote
Schachteln und stellt diese in den Lastenaufzug,
der in den Verkaufsraum führt.
Weil die Verpackung nicht die Konkurrenzprodukte
im Regal ausstechen muss, begnügt
sich Trauth mit schlichten roten Kartons
mit weißem Schriftzug. Auf teure Werbung
verzichtet der Kleinbetrieb: „Den
Kunden schmeckt das Produkt so gut, dass
sie es weiterempfehlen.“
Offenbar verfängt auch diese Art der
Mundpropaganda. Im Verkaufsraum stehen
Kartons sortiert nach Schoko, Kokos,
Mokka und Rum. 25 Stück kosten 4,80 Euro.
„Beim Preis sind die Kunden kulant“,
sagt Trauth und schmunzelt: „Doch wehe,
wenn ich an der Rezeptur etwas ändere.“
»
katharina kistler | unternehmen@wiwo.de
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA
78 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Spezial | Mittelstand
Steuermann A&R-Chef Schaedla hält
die Werft mit zivilen und militärischen
Aufträgen auf Kurs
Rolls-Royce fürs Meer
ABEKING & RASMUSSEN | Die niedersächsische Werft bedient eine
zahlungskräftige Klientel mit individuell entwickelten Yachten.
Bevor er in See stach, musste der Millionär
aus Amerika aufs platte Land
nach Germany. Dort, in der Wesermarsch
mitten in der niedersächsischen
Provinz, hatte der US-Filmunternehmer
Alexander Dreyfoos seine 41 Meter lange
Motoryacht in Auftrag gegeben: bei Abeking
& Rasmussen (A&R) in Lemwerder.
Mit dem Schiff wollte er sich endlich seinen
Traum erfüllen: eine Reise über die
Weltmeere.
Dass der Amerikaner den Edelkahn im
Wert eines mittleren zweistelligen Millionenbetrags
letztlich bei A&R orderte, lag an
seiner Frau Renate. Denn die wird leicht seekrank.
Um Passagiere wie sie bei Laune zu
halten, haben die Niedersachsen eine Technologie
im Programm, die Yachten bei hohen
Wellen ruhig im Wasser liegen lässt. Das
können sonst nur Arbeitsschiffe, die etwa
Windparks auf hoher See anfahren. „Für einen
stolzen Preis“, sagte Dreyfoos, als er den
Kaufvertrag unterschrieb, „aber die Scheidung
von meiner Frau wäre viel teurer.“
Mit Sonderanfertigungen wie Dreyfoos’
Silver Cloud, die vor sechs Jahren vom Stapel
lief, ist es den Niedersachsen gelungen,
aus A&R ein Synonym für mondäne
Superyachten und elegant-schnittige
Schiffe made in Germany zu machen. Das
mittelständische Unternehmen gehört
zum handverlesenen Kreis von Werften
ABEKING
Umsatz: 170 Millionen Euro
Gewinn: 20 Millionen Euro
Beschäftigte: 430
Erfolgsrezept: Technologie aus
anderen Feldern nutzen
Jeweils neueste verfügbare Daten: hier Stand 2012
weltweit, die für gutes Geld eine zahlungskräftige
Klientel mit individuellen hochseetüchtigen
Motor- und Segelyachten
der Spitzenklasse ausstatten.
„Rolls-Royce unter den Schiffen“ nennen
Branchenkenner die noblen Wassergefährte
aus Lemwerder. Neben Yachten
baut die Werft auch Lotsenfähren, Arbeitsschiffe
für Forschungsexpeditionen
und den Offshore-Windparkservice sowie
Minen- und Patrouillenboote für die Bundeswehr.
Schon seit Kaisers Zeiten ist die
Marine Kunde.
„Obwohl das sehr unterschiedliche Felder
sind, gibt es in der Entwicklung immer
wieder Synergieeffekte“, sagt Technikvorstand
Karsten Fach. Soll heißen: Das Unternehmen
kann eine Innovation für ein
bestimmtes Schiff auch in anderen Modellen
einsetzen und damit die Kosten auf
mehrere Exemplare umlegen. Minenräumboote
zum Beispiel müssen besonders
leise sein, weil Sprengladungen auf
akustische Reize reagieren. Mit der Technik
für solche Schiffe rüstet A&R auch geräuscharme
Privatyachten aus.
Der Däne Henry Rasmussen gründete
die Werft 1907 mit seinem damaligen Kompagnon
namens Georg Abeking, der in den
Zwanzigerjahren aus dem Unterneh-
»
FOTO: PR
80 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Spezial | Mittelstand
Maßarbeit Bootsbauer A&R aus Lemwerder
liefert Spitzentechnik und bietet seinen
Kunden auch weltweiten Notfall-Service
»
men ausstieg. Baute die Werft anfangs
nur kleine Segeljollen, kamen zunehmend
auch größere Schiffe und schließlich Segelyachten
sowie Spezialanfertigungen hinzu,
die den internationalen Ruf des Unternehmens
begründeten.
Den Drang zu ständigen Innovationen
brachte Gründer Rasmussen mit, der seine
Mitarbeiter ständig neue Ideen ausprobieren
ließ. So baute A&R als erste Werft in
den Sechzigerjahren eine vollgeschweißte
Yacht aus Aluminium. Auch die in Seglerkreisen
legendäre Yacht Germania VI aus
dem Jahr 1967 für den letzten familieneigenen
Chef der einstigen deutschen Waffenschmiede
Krupp, Alfried Krupp von
Bohlen und Halbach, stammte von A&R.
Weitere prominente Kunden waren auch
der Multimilliardär Karim Aga Khan sowie
der 2003 verstorbene Fiat-Patriarch Giovanni
Agnelli.
Mehr als 50 Jahre lang war es Rasmussens
Enkel Hermann Schaedla, der für einen
steten Fluss neuer Ideen im Unternehmen
sorgte. Er wuchs in Kalifornien
auf und studierte in Stanford. Nach einem
Besuch bei seinem Großvater blieb er in
Deutschland und absolvierte eine Lehre
zum Bootsbauer. Als Henry Rasmussen
1959 starb, übertrug er den Betrieb seinem
Enkel.
Anders als sein Großvater hatte er zwar
nicht als Unternehmensgründer reüssiert,
Von 170 Millionen
Euro Umsatz bleiben
gut 20 Millionen
Euro Gewinn
sondern kam als Quereinsteiger ins Unternehmen.
Gleichwohl entwickelte Schaedla
den Betrieb geschickt weiter. So brachte er
Ende der Neunzigerjahre das alte,
schon in Vergessenheit geratene
Bootskonzept des „Small Waterplane
Area Twin Hull“ (kurz:
Swath) zur Marktreife.
Schiffe, die einen solchen
„Doppelrumpf mit wenig Angriffsfläche
im Wasser“ besitzen,
liegen vor allem bei stürmischer
Fotos
In unseren App-
Ausgaben sehen
Sie Luxusyachten
von Abeking &
Rasmussen
See stabiler im Wasser. Das ist etwa für Lotsenschiffe
wichtig – aber auch für Kunden
wie den Filmunternehmer Dreyfoos und
dessen Gattin. A&R gilt in diesem Bereich
als Weltmarktführer.
Für Kontinuität in Lemwerder sorgt die
Konstanz der Familie als Eigentümer. 1987
trat Hermann Schaedlas Sohn Hans in die
Firma ein. Er ist heute Vorstandsvorsitzender
der nicht börsennotierten Aktiengesellschaft.
Um das operative Geschäft kümmern
sich drei Vorstände. „Die Chefs gehen
noch durch die Werkshallen und kennen
den Großteil der langjährigen Mitarbeiter.
Denn wir arbeiten in flachen
Hierarchien“, sagt Technikvorstand
Fach. „Wer eine Idee
hat, stellt sie vor. Und wenn sie
trägt, wird sie umgesetzt.“
Anders als bei einer Konzernwerft
können Kunden individuelle
Änderungswünsche auch direkt
mit der Unternehmensfüh-
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
ung besprechen. A&R bietet nicht nur
Spitzentechnologie, sondern verkauft auch
den Service mit. Hat ein Kunde auf einem
Törn eine Panne, fliegen die Mitarbeiter
des Kundendienstes im Notfall rund um
die Welt, um ihn aus seiner misslichen Lage
zu befreien.
Das zahlt sich für A & R aus. 2012 haben
die 430 Mitarbeiter, von denen 100 Ingenieure
sind, laut Bundesanzeiger bei einem
Umsatz von rund 170 Millionen Euro
gut 20 Millionen Gewinn nach Steuern eingefahren.
Und im Jahr 2013 – die Bilanz erscheint
frühestens zum Jahreswechsel – lief
es ebenso gut.
Während der großen Schiffbaukrise 2008
lag der Umsatz sogar bei 240 Millionen Euro,
aber der Gewinn sackte auf knapp vier
Millionen Euro. Damals gingen reihenweise
Unternehmen der maritimen Industrie
pleite, wie die P+S Werft in Stralsund. Oder
sie mussten wie die Meyer Werft in Papenburg
Spar- und Sanierungsprogramme
auflegen. Zu lange hatten mittlere und größere
Konkurrenten versucht, mit falschen
Produkten wie Containerschiffen oder
Fähren auf dem hart umkämpften Weltmarkt
mitzuhalten.
AUCH DAS MILITÄR BESTELLT
Eine Besonderheit sind bei A&R Kriegsschiffe
– etwa Minensuchboote für die
Bundeswehr und Patroullienboote für die
Türkei, Südafrika und Lettland. Die Bestellungen
der Militärs stabilisieren das Geschäft,
weil diese Aufträge in der Regel
langfristiger vergeben werden als Bestellungen
von zivilen Kunden. „Da es bei öffentlichen
Ausschreibungen zunehmend
auf technische Anforderungen und nicht
mehr allein auf den Preis ankommt, haben
auch Premiumhersteller wie wir eine
Chance“, sagt dazu Technikvorstand Fach.
Derzeit sind allerdings eher die Yachten
die Umsatzbringer. In der Werkshalle stehen
unter den Baunummern 6498 und
6499 zwei riesige Rümpfe, so groß wie
Wohnblöcke. Während Arbeiter die
Schweißnähte mit Spachtelmasse überziehen,
trocknet anderswo der Lack. Bis die
80-Meter-Motoryachten aus den Hallen
bugsiert und auf der Weser zu Wasser gelassen
werden, dauert es noch. Und wem
sie gehören, ist Betriebsgeheimnis. Auftraggeber
schätzen es nicht, wenn zu viel
über ihren schwimmenden Reichtum bekannt
wird. Die Eheleute Dreyfoos, die mit
der Silver Cloud über die Weltmeere fahren,
sind da eine Ausnahme.
n
annkathrin frind | unternehmen@wiwo.de
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 83
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Spezial | Stichwort
Heiße Geschäfte
Mittelständler – hier Stahlbearbeitung
bei Wuppermann – erleben im Osten
manche Überraschung
Milka und Gummibärchen
Wie Mittelständler Probleme bei Firmenübernahmen in Osteuropa und Asien überwinden, schildert
der vierte Teil der Serie in Kooperation mit der Unternehmensberatung Deloitte.
Es sollte ein Weg in neue Zeiten sein, in neue
Märkte, kurz: in die Globalisierung. Doch dieser
Weg führte Carl Ludwig Theodor Wuppermann
über altes Kopfsteinpflaster. Klar, die Kapelle
zu seiner Linken und die Weite der Felder zur Rechten
waren malerisch. Aber als sein Auto wie ein Fischerboot
bei Wellengang durch die Landschaft
schaukelte, fragte sich Wuppermann: „Wie in aller
Welt sollen hier unsere Laster mit Tausenden Tonnen
Stahl langfahren?“
Das Ziel des Stahlunternehmers hieß Malomice,
ein verschlafenes polnisches Dörfchen wenige Kilometer
hinter der deutschen Grenze. Losgefahren war
er in Leverkusen, wo die Wuppermann AG ihren Sitz
hat, ein Mittelständler mit 1300 Beschäftigten und einem
Jahresumsatz von mehr als 500 Millionen Euro.
Unternehmer Wuppermann wollte auf den polnischen
Markt, indem er dort ein Werk kaufte, statt wie
zuvor einen eigenen Vertrieb in Rumänien oder eine
eigene Fertigung in Tschechien neu aufzuziehen.
Nach Jahren des Zauderns und Abwartens ist „Outbound-M&A“,
wie Fusionen und Firmenübernahmen
im Ausland auch heißen, im deutschen Mittelstand
wieder in Mode gekommen. Noch bis 2013
ging es abwärts, wie eine Auswertung der „M&A Database“
der Universität St. Gallen zeigt. Doch 2014
haben die Unternehmen die Scheu, die seit der Fi-
SERIE
Mittelstand
Fit for Future
Fusionen & Übernahmen
Der richtige Partner (I)
Finanzinvestoren (II)
Finanzierung (III)
Osteuropa/Asien (IV)
Integration (V)
Interview (VI)
nanzkrise 2008 grassierte, überwunden. Sie wagen
vermehrt wieder den Sprung ins Ausland, etwa nach
Osteuropa und Asien.
„Deutsche Übernahmen haben in China zuletzt
massiv zugenommen“, sagt Mike Braun, China-Experte
des Prüfungs- und Beratungsunternehmens
Deloitte. Aber nicht nur dort, ergänzt Martin Petsch
von der Volks- und Raiffeisenbank-Tochter VR Corporate
Finance, die sich auf Übernahmen und Fusionen
spezialisiert hat: „In Polen ist zurzeit richtig Musik
drin.“
Ein besonders engagierter Vertreter der neuen Ostgänger
ist der Mittelständler Edelmann in Baden-
Württemberg, der mit Verpackungen im vergangenen
Jahr mehr als 220 Millionen Euro Umsatz erzielt hat.
Dierk Schröder, Geschäftsführer und Chef von 2200
Mitarbeitern, brachte es in den vergangenen zehn
Jahren auf rund 30 Unternehmensübernahmen. Er
ging nach China und nach Polen, und immer Knall
auf Fall. Wenn seine Abnehmer ihre Produktion gen
Osten verlagern, ist für Schröder klar: Er muss mitziehen,
sonst kaufen die Unternehmen seine Faltschachteln
bei der Konkurrenz. „Bei uns“, sagt der
Unternehmer, „gehören Unternehmensübernahmen
zur Philosophie.“
Aus Sicht von Markus Reichel liegen die Vorteile
von Übernahmen durch Mittelständler auf der Hand.
FOTOS: PR (2)
84 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Mit Unterstützung von Deloitte*
»Unternehmen
sollten
sich ein
hässliches
Entlein
zum Aufpolieren
suchen«
China-Experte
Mike Braun von Deloitte
Go east
Firmenübernahmen und
-fusionen deutscher
Unternehmen in Osteuropa
und Asien
(2004–2013)
Osteuropa
(ohne Russland)
Asien
(ohne China)
China
Russland
Quelle: Universität
St. Gallen
53
139
122
102
„Mit einer Akquisition kaufen Sie sich einen Markt, eine
Marke, Kunden und Kontakte“, sagt der Vertreter
des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft in
Polen. „Das geht gerade im Ausland viel schneller, als
selbst zu bauen.“
Doch wie auf die Schnelle ein geeignetes Unternehmen
finden? Im Inland ist das kein Problem, da
kennen Unternehmer wie Faltschachtelproduzent
Schröder Wettbewerber, Zulieferer und Abnehmer.
Aber im Ausland?
Schröders Problem ist Brauns Geschäft. Der Deloitte-Berater
vermittelt Firmen Partner wie Ehestifter
Gatten oder Gattinnen. „Mittelständisches Unternehmen
sucht attraktive chinesische Partnerin“, so und
ähnlich lauten die Kontaktanzeigen in seinem Business.
Braun erzählt von Unternehmern, die ihre
Branche bei Alibaba eingeben – und hoffen, dass die
chinesische Online-Handelsplattform ein passendes
Unternehmen auswirft. Andere Mittelständler suchten
das perfekte Unternehmen zum niedrigsten Preis
– als sei China der Wühltisch im globalen Unternehmenskaufhaus.
Braun geht lieber systematisch vor und beginnt mit
der „Primärdatenerhebung“, wie er sagt. Dazu verlässt
er seinen Schreibtisch, spricht mit Außenhandelskammern,
Verbänden, Lieferanten und Kunden.
„Unternehmen sollten keinen eleganten Schwan suchen,
sondern ein hässliches Entlein, das sie aufpolieren
müssen“, rät Braun. Allerdings gehöre dazu
auch der Blick für faule Eier: Hinterzieht das Unternehmen
Steuern? Gehört ihm tatsächlich der gesamte
Grund? Müssen europäische Sicherheitsstandards
erst teuer umgesetzt werden? Solche Probleme seien
in China Alltag, sagt der Experte.
Unternehmen Wuppermann ist vor drei Jahren
fündig geworden und berichtete vergangenes Jahr auf
dem Mittelstandstag der FOM-Hochschule in Essen
vom Geschäftsalltag im Osten. Gemein sei Polen und
China das große Wirtschaftswachstum, dozierte der
Mittelständler, aber sonst trenne sie vieles. Während
Polen etwa Rechtssicherheit biete, zuckten Chinesen
da oft nur mit den Achseln.
So schwärmte Wuppermann auf der einen Seite
davon, wie er das polnische Stahlwerk der insolventen
Alpos-Gruppe in Malomice ersteigerte. Das habe
sich gelohnt, weil das polnische Insolvenzrecht in solchen
Fällen jegliche Folgekosten von vornherein ausschließe.
Andererseits musste Wuppermann viele
Fragen beantworten: Was sollte er mit dem Klärwerk
anfangen, das auch zur Stahlfabrik gehörte? Und wie
sollte er in der polnischen Provinz genügend Fachkräfte
finden?
„Wir hatten einfach Glück“, sagt Wuppermann heute.
Aber er hatte auch ein paar gute Ideen: Schon vor
der Auktion fragte er den ehemaligen Werksleiter, ob
dieser nicht Lust habe, das Werk wieder ans Laufen zu
bringen – der Mann hatte. Schon vor der Auktion verhandelte
Wuppermann mit der Gemeinde, ob sie
nicht das Klärwerk für einen symbolischen Zloty kaufen
wolle – sie wollte. Am Ende brachte die Kommune
auf dem Kopfsteinpflaster sogar eine Teerdecke auf.
Längst nicht so glatt ging es 840 Kilometer westlich,
am Edelmann-Firmensitz in Heidenheim an der
Brenz. Firmenchef Schröder verhandelte mit den Managern
des chinesischen Verpackungsherstellers Beijing
Theis Pharmaceutical Packaging and Printing
aus Peking. Einer der neuralgischen Punkte war die
Frage nach dem in China illegalen Dreischichtbetrieb.
Die chinesischen Manager lächelten freundlich,
auch als sie im Laufe der Verhandlungen einräumen
mussten, dass Teile des Grundstücks dem Unternehmen
gar nicht gehörten.
Als Schröder daraufhin einen Preisnachlass raushandeln
wollte, lächelten die Chinesen nicht mehr.
Sechs Stunden musste er neben dem Kaufpreis über
mögliche Abfindungen für die jetzigen Manager streiten
oder darüber, wer künftig welchen Dienstwagen
fahren darf. Am Ende war Schröder zufrieden und
kam zu seinem Werk für Medikamentenschachteln in
China.
Dabei beherzigte der Schwabe offenbar, was Experten
Mittelständlern bei Übernahmen in Ländern wie
China und Polen empfehlen. Sie sollten sich bei Verhandlungen
auf keinen Fall ausschließlich auf den
Preis konzentrieren, sondern ein umfassendes Paket
schnüren. So empfehle es sich, die persönliche Situation
des veräußernden Eigentümers und der Eigentümerfamilie
zu berücksichtigen, meint Deloitte-Berater
Braun: „Das besondere Verständnis der Situation
außerhalb der rein kaufmännischen Denkweise führt
in diesen Ländern oft erst zu einem Zuschlag und darüber
hinaus zu einem angemessenen Kaufpreis.“
Oft fängt die eigentliche Arbeit erst nach der Einigung
an. „Der Vertragsabschluss ist nicht das Ende einer
Übernahme, sondern der Anfang“, sagt Stahlunternehmer
Wuppermann. Denn es gelte, ein fremdes
Unternehmen in die eigenen Strukturen einzupassen,
den Spagat zwischen Hierarchie und Autonomie
der neuen Tochter zu schaffen und die fremde Belegschaft
mitzunehmen. Seine immerhin 70 neuen Mitarbeiter
in Polen etwa sprachen kaum Deutsch.
Östlich der Neiße wollten die Arbeiter nicht verstehen,
wieso sie unter ihrem neuen Eigentümer schneller
arbeiten sollten. „Sozialistische Altlasten“, vermutet
Wuppermann als Ursache: „Das wird sich schon
lösen.“ Er setzt darauf, dass sein neuer Ableger das
Problem lösen wird: „Wir sind eine Unternehmensgruppe
mit vielen kleinen Standorten, mit Zentralismus
haben wir wenig zu tun.“
Verpackungshersteller Schröder hat seine neue Fabrik
in Peking zum „Klein-Heidenheim“ umgestaltet,
wie er sagt. Dazu habe er den Maschinenpark auf Vordermann
gebracht – und die Mitarbeiter mit Gummibärchen
und Milka-Schokolade aufgemuntert. n
victor gojdka | unternehmen@wiwo.de
* Die Inhalte auf diesen Seiten wurden von der
WirtschaftsWoche redaktionell unabhängig erstellt.
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 85
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen
Meister des Augenblicks
FOTOGRAFIE | Sie sind schnell, lichtstark und extrem kompakt. Mit einer neuen
Generation von High-End-Kameras gewinnen Nikon, Canon und Co.
neue Käufer – und finden endlich eine Antwort auf den Boom der Smartphones.
Elf Stunden war Bernd Ritschel
Anfang Oktober auf dem Oltroggeweg
überm Tiroler Ötztal unterwegs
– seine Kamera ständig
im Anschlag. Was den Profifotografen
durch die steilen Bergflanken in bis
zu 3000 Meter Höhe trieb, war nicht Lust an
herbstlichen Alpenpanoramen, sondern
der Auftrag eines Kunden: Für den lokalen
Tourismusverband sollte der 50-jährige
Bayer eine Bilderserie übers hochalpine
Bergwandern und Bergsteigen schießen.
„Mit den üblichen Profikameras wäre die
Zwölf-Kilometer-Tour ein echter Kraftakt
geworden“, sagt Ritschel, der statt zur klassischen
Spiegelreflex zur handlichen Fujifilm
X-T1 griff. „Die liefert selbst für Werbeposter
eine vergleichbare Qualität wie eine
Große – und ist nicht mal halb so schwer.“
Klein, aber fein, dieser Trend erfasst
nicht nur Profis. Auch Amateure begeistern
sich für die Kombi aus erstklassiger Bildqualität
und handlichem Kameraformat.
Sie sind der mitunter lausigen Ergebnisse
klassischer Kompakter überdrüssig – und
haben zugleich keine Lust, sich bei kreativen
Fototouren die Schulter an klobigen
Spiegelreflex-Boliden zu verheben.
Deshalb greifen immer mehr Fotofreunde
zu einer neuen Produktgattung, für die
weder Handel noch Hersteller bisher einen
griffigen Namen gefunden haben: Sie sprechen
von Edel-Kompakten, Kreativkameras
oder schlicht von der neuen Ein-Zoll-
Klasse. Sie ist benannt nach ihren Fotosensoren,
die mit meist einem Zoll Diagonale –
gut zweieinhalb Zentimetern – vier- bis
fünfmal größer sind als die bisher üblicherweise
in Kompaktknipsen verbauten Bildchips
(siehe Grafik).
1,2
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
Lieber kleiner
In der Oberklasse wächst die Nachfrage nach
handlichen Kameratypen (in Mio. Stück)
1,2
1,0
0,8
0,6
0,4
0,2
Klasse statt Masse
Die Umsätze mit hochwertigen Kameratypen
steigen (in Mrd. Euro)
0
0
Spiegelreflex, Systemkameras
Systemkameras
2010
Optische Sensibelchen
Größenvergleich aktueller Fotosensoren
(typische Kameraklassen)
Profikameras
Spiegelreflex
Systemkameras
Edel-Kompakte
Kompaktkameras
Top-Smartphones
Spiegelreflex
2011 2012 2013 2014*
Vollformat
Ein Zoll
* Prognose; Quelle: GfK, ProPhoto, eigene Berechnung
Kompaktkameras
2010 2011 2012 2013 2014*
Ob Canon, Nikon oder Sony – fast jeder
wichtige Hersteller startet in diesen Tagen
mit einer entsprechenden Kamera ins umsatzstarke
Weihnachtsquartal. Und fast alle
neuen Modelle vereint – neben den deutlich
empfindlicheren Sensoren und der
kompakten Bauform –, dass sie in der Regel
mit wesentlich lichtstärkeren Objektiven
ausgerüstet sind (siehe Seite 88).
Weil sich zudem von der Blende übers
Scharfstellen bis zur Belichtungszeit sämtliche
Einstellungen auch per Hand steuern
lassen, eröffnen die Kameras alle Möglichkeiten
kreativer Bildgestaltung.
WACHSTUM IN DER NEUEN MITTE
Die neue High-End-Kompaktklasse ist ein
Lichtblick für die von sinkenden Umsatzund
Stückzahlen gebeutelte Fotobranche:
Denn während der Boom der Smartphones
das Geschäft mit traditionellen
Kompaktkameras hat kollabieren lassen
und die Nachfrage nach Spiegelreflexkameras
sinkt, entpuppen sich die Edel-
Kompakten als neuer Wachstumsmarkt.
Trotz ihrer, verglichen mit klassischen
Kompakten, merklich höheren Preise von
500 bis 1000 Euro zieht deren Absatz an
(siehe Grafiken). Und das, obwohl so mancher
Händler fürs gleiche Geld auch respektable
Spiegelreflexmodelle offeriert.
„Die Käufer sind inzwischen offenbar
bereit, auch bei Kompaktkameras für langlebigere
und höherwertige Modelle tiefer
in die Tasche zu greifen“, freut sich Sun
Hong Lim, Kamera-Vertriebschef beim koreanischen
Elektronikriesen Samsung.
„Die Verkaufszahlen der edlen Kompakten
haben im Vergleich zum Vorjahr um rund
die Hälfte zugelegt.“
FOTO: CORBIS IMAGES/OCEAN/CHRIS TOBIN
86 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Edle Blickfänger Immer
mehr Fotofans greifen
unterwegs zu High-End-
Kompaktkameras
Der Trend schlägt sich auch deutlich im
Durchschnittspreis aller verkauften Kameras
nieder. Allein in den vergangenen fünf
Jahren stieg der um rund ein Drittel auf
heute knapp 280 Euro. Dadurch sind die
Folgen des Strukturwandels in der Branche
weniger dramatisch, als es zunächst
scheint: So kauften die Deutschen 2013
zwar gut 13 Prozent weniger Kameras als
im Vorjahr, doch der Branchenumsatz fiel
nur um fünf Prozent.
Weil die Marge der teureren Kameras
meist deutlich größer ist als bei den Billig-
modellen für den Grabbeltisch im Elektronikmarkt,
steigt bei vielen Herstellern sotive
Fotografieren wie etwa das Spiel mit
entdeckt haben und die sich jetzt fürs kreagar
die Profitabilität. „Manchem Manager der Tiefenschärfe begeistern“, sagt Profifotograf
Ritschel.
kommt die Entwicklung also durchaus gelegen“,
sagt Ralf Spoerer, mit Ralfs-Foto- Auch darum kritisiert er scharf, wie die
Bude.de einer der bekanntesten deutschen Produktstrategen der traditionellen Fotoriesen
bisher auf die Handykonkurrenz
Fotoblogger.
Vor allem aber belegt die neue Produktklasse,
dass der Boom der Smartphones er Kompakter im Halbjahrestakt, mit im-
reagierten: „Die Antwort war eine Flut neu-
nicht zwangsläufig das Ende traditionellen mer neuen Pixelrekorden statt einem klaren
Fokus auf die Bildqualität“, moniert Rit-
Kamerabaus bedeuten muss. „In meine
Workshops kommen zunehmend junge schel. Jetzt aber mache sich in der Industrie
endlich die Erkenntnis breit, dass Leute, die übers Handy ihre Liebe zum Bild »
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 87
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen
»
sich Fotoapparate nur durch Qualität
und kreative Aufnahmemöglichkeiten von
den Smartphones absetzen können, so
der Fotoprofi. „Das braucht auch deutlich
größere Bildsensoren, als die
auf schlanke Baugröße getrimmten
Handys sie bieten
können.“
NX
Samsung
mini
Inzwischen sehen
das auch prominente
Vertreter der traditionellen
Fotowelt so.
„Erst hat die Branche
Smartphones als Konkurrenz
ignoriert und
dann zu lange als Gegner
betrachtet“, sagt etwa Canons
Europachef, der Niederländer
Rokus van Iperen. „Ein Irrtum, liefert
uns die Handyfotografie doch gerade
die Kunden, die morgen unsere Kameras
und Serviceangebote nutzen sollen.“
Nur, wie erreichen die Hersteller die
neuen potenziellen Käufer? Sicher nicht
mit den Konzepten traditionellen Fotomarketings:
„Leuten, die via Handy bisher
vor allem Gebrauchsfotos fürs schnelle Teilen
in sozialen Netzen geschossen haben,
die begeisterst du nicht mit Regalen und
Messeständen voller Riesenobjektive“, sagt
Fotoblogger Spoerer.
Der nur zwei Zentimeter
dicken Kamera gelingt der
Spagat zwischen schlichter
Gestaltung und bemerkenswert
guter Bildqualität. Wer will,
kann – über einen Adapter –
selbst Samsungs Profi-
Objektive anschließen.
499 Euro
RADIKALER UMBAU
Auch für Canon-Europachef van Iperen ist
klar: „Die neue Generation der kreativen
Fotografen begeistert sich nicht mehr für
Technik um ihrer selbst willen. Sie ist ihnen
nur Mittel zum Zweck, Emotionen aufs Bild
zu bannen.“
Entsprechend radikal bauten die Japaner
gerade erst auf der Photokina in
Köln, der Leitmesse der Branche,
ihren Auftritt um: Statt
der üblichen Neuheitenflut
zeigten sie dieses Jahr als
Ankerprodukte nur eine
neue Spiegelreflexkamera
– und mit der Power-
shot G7 X einen Neuling
aus der aufstrebenden
Ein-Zoll-Klasse. Was die etwa
in fast völliger Dunkelheit
noch ohne Blitz an Details auf
den Fotosensor bannt, konnten die
Messebesucher anhand von Dioramenszenen
in nahezu unbeleuchteten Testräumen
am Rand des Standes gleich selbst
ausprobieren.
Gerade bei solchen Szenen,
etwa Aufnahmen in der späten
Dämmerung, am Grillfeuer
oder auch bei Feiern
in Räumen, geraten selbst
die besten Smartphones
an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit.
Bilder ohne
Blitz werden verrauscht
oder verwackelt. Durch die
Mikrolinsen fällt schlicht
nicht genug Licht auf deren winzige
Fotosensoren, um ein klares,
farbstarkes Bild zu erzeugen. Und wer den
Aufheller dazuschaltet, sieht nach der Aufnahme
allzu oft in kalkweiß-überblitzte
Gesichter.
Und weil die bei herkömmlichen Kompaktkameras
der Einstiegs- und
Sony
RX 100 Mark III
Kaum größer als eine Packung
Zigaretten, doch bei
der Bildqualität fast auf dem
Niveau guter Systemkameras.
So fasziniert Sonys Edel-Kompakte,
in der sogar ein elektronischer
Sucher
steckt.
Mittelklasse eingesetzten
Sensoren ebenfalls nicht
viel größer sind als ein
halber kleiner Fingernagel,
ist auch da
kaum mehr Bildqualität
zu holen – und
der Qualitätsunterschied
zu Handys
kaum mehr erkennbar.
849 Euro „Die Industrie war zu
lange nicht wirklich innovativ“,
sagt Haruo Ogawa, Chef der
Kamerasparte bei Olympus. Seine Antwort
ist, „große Qualität klein zu machen.
Kompaktere Bauformen, weniger Gewicht,
das kommt bei den Kunden an.“
Ogawa wagte mit seinen Pen- und OM-
D-Systemkameras und deren noch ober-
halb des neuen Ein-Zoll-Formats angesiedelten
Fotochips vor gut vier Jahren erste
Schritte ins Segment handlicher Qualitätskameras.
Inzwischen haben Fotofans mit Hang
zur Kreativität die Wahl zwischen zahlreichen
kompakten Kamerakonzepten.
Wie etwa Samsungs extrem flache NX
mini. Sie paart einen großen Bildsensor
mit (zumindest für Fotopuristen) gewöhnungsbedürftigen
Gehäusefarben wie
Mintgrün, Zartrosa oder Schokobraun sowie
einem nach vorne klappbaren Display.
Selfie-Fotografie auf höchstem Niveau sozusagen.
„Mehr Qualität, pfiffige Optik,
das“, glaubt Samsung-Manager Lim,
„spricht speziell Frauen an, die sich nicht
für lange Ausstattungslisten begeistern,
sondern gute Bilder machen wollen und
Wert auf Lifestyle legen.“
Zugleich adaptiert die Kamerabranche
einen Bildertrend aus der
Smartphone-Welt: eine Art
Nikon 1
AW1
Die Nikon-1er-Serie verbindet
handliches Format mit
einem breiten Objektivangebot.
Dazu sind die Systemkameras
mit bis zu 60 Bildern pro
Sekunde extrem schnell und
im Fall der AW1 sogar wasserdicht.
759 Euro
soziale
Gebrauchsfotografie.
Schnappschüsse
aus dem Handy,
die der Nutzer umgehend
via Mobil-
funk in sozialen Online-Welten veröffentlicht
– von Facebook bis Pinterest.
Daher ermöglichen die Kamerahersteller
inzwischen auch ihren Einzöllern den
Zugang ins Netz. Module für den schnurlosen
Computerfunk WLAN sind Standard.
Mithilfe des Kurzstreckenfunks NFC – etwa
in Canons G7 X, der Fujifilm X30 oder Sonys
RX 100 – lassen sich die Kameras sogar
durch bloßes Berühren mit Handys koppeln.
Die dienen dann als Funkbrücke zu
sozialen Netzwerken, als Megadisplay für
die schnelle Bildkontrolle, als Fernauslöser
für die Kamera – oder auch zum direkten
FOTOS: PR
88 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Upload der Aufnahmen
in Fotoportale und
Cloud-Speicher im Internet.
Denn der Bildertausch
übers Netz, die Diskussion
in Online-Communities,
aber auch die Sicherung der
Aufnahmen gegen Datenverluste
sind kein Privileg mehr von Smartphone-
Fotografen, deren Telefone jede Aufnahme
auf Wunsch gleich im Hintergrund im Internet
archivieren.
Im Gegenteil, die Hersteller treten mit eigenen
Netzdiensten in direkte Konkurrenz
zu Online-Angeboten wie Flickr oder
Dropbox (siehe Kasten Seite 90). Canon
etwa startete sein Irista-Portal – eine Mischung
aus Fotoarchiv und Diskussionsplattform
– im Frühsommer, auch um „die
neue Fotografengeneration da zu erreichen,
wo sie aktiv ist – im Netz, in Communities
und über Apps“, so Europachef van
Iperen. Und folglich findet sich nun in der
G7 X die Option, neue Bilder via Handy in
die Irista-Sammlung zu laden.
Sogar noch etwas konsequenter verknüpft
Panasonics Neuling, die Lumix
CM1 die Bilder- und Online-
Welten. Denn im Grunde ist
der Fotohybride eine Ein-
Zoll-Kamera mit integriertem
Smartphone,
eine Edel-Kompakte
mit direktem Netzzu-
Fujifilm
X30
Canon
G7 X
Klein, schwarz,
stark: Sie ist kaum größer als
eine Billigknipse, glänzt aber
mit Lichtstärke 1,8 bis 2,8 beim
24–100-Millimeter-Zoom
(umgerechnet auf Kleinbildfilm)
und einem extrem
gang. Denn trotz der augenfälligen Verwandtschaft
zum Handy ermöglicht es
auch die Lumix dem Fotografen, alle Kamerafunktionen
manuell zu steuern.
Nur beim Leica-Elmarit-Objektiv muss
der Käufer Abstriche machen: Das ist
zwar mit Blende 2,8 sehr lichtstark,
hat aber eine 28-Millimeter-Festbrennweite.
Statt eines optischen
gibt es nur einen Digitalzoom.
Das ist
durch den zwangsläufigen
Auflösungsverlust
beim Zoomen,
gemessen am Qualitätsanspruch
der Kamera,
nicht mehr als ein
Kompromiss.
Wegbereiter des Ein-Zoll-Segments
war 2011 Nikon mit den ersten Modellen
seiner 1er-Serie, Systemkameras mit
Wechselobjektiven und wegen der kompakten
Bauform extrem schneller
schnellen Autofokus.
650 Euro
Optik und Bedienung
kopieren klassische Analogkameras,
doch bei Lichtstärke
und Rauschverhalten bietet die
X30 klassengemäße Digitalqualität,
auch wenn der Sensor
nicht ganz Zollformat
hat.
549 Euro
Bildfolge von bis zu 60 Aufnahmen
pro Sekunde.
Wegen der zugleich
aber – gemessen an
Spiegelreflexkameras
Panasonic
Lumix CM1
Ist die Lumix eher Edel-
Kompakte mit Smartphone
oder High-End-Fotohandy?
Wie auch immer: Ihr Leica-Objektiv
und der Ein-Zoll-Sensor
liefern Top-Fotos. Nur der
Digitalzoom passt nicht
ins Bild.
899 Euro
– merklich leistungsschwächeren
Bildchips
gab es von Testern
und Fotoprofis
zunächst Kritik an
Rausch- und Schärfewerten
der ersten Modelle.
„Dabei hatten wir sie ja im
Grunde nicht als Spiegelreflex-Ersatz
konzipiert, sondern als ,die bessere
Kompakte‘, und das kam beim
Kunden an“, sagt Nikons deutscher
Chef fürs Handelsmarketing,
Wolfgang Göddertz.
Binnen weniger
Wochen schossen die
Neulinge an die Spitze
der Verkaufs-Charts bei
Systemkameras. Und sie
wurde zur Blaupause für
die neue Generation der
Qualitäts-Kompakten.
Zu denen zählt inzwischen
auch Nikons neues – trotz Wechseloptik
–, wasserdichtes Modell AW1. Das
übersteht Tauchtiefen bis 15 Meter schadlos
und ist mit Weitwinkelobjektiv nicht viel größer
als eine Packung Long-Size-Zigaretten.
„Die Leute sind den Plastikkram leid“,
sagt Fotograf Ritschel. „Wer sich fürs Fotografieren
begeistert, will wieder Wertigkeit,
erfreut sich an Haptik und will auch aktiv in
die Bildgestaltung eingreifen“, erklärt der
Experte den Trend zu stabilen Metallkomponenten
in Rahmen und Gehäusen der
Edelklasse, zu mehrheitlich traditionellem
Kameradesign und zu klassischen Stellrädern
für die wichtigsten Bildeinstellungen.
Blendensteuerung, Zeitvorwahl, Belichtungskorrektur,
all das sind Funktionen,
die Fotografen mit Faible fürs Kreative bei
Smartphones zumeist vergeblich suchen.
Wer gerne mit dem Fokus arbeitet, mit Unschärfen
in Vorder- und Hintergrund oder
Wischeffekten beim Mitziehen sich schnell
bewegender Objekte, der muss nach Alternativen
suchen. Selbst die jüngste Generation
von Foto-Fonen, mit hohem Aufwand
auf die Simulation von Tiefenschärfeeffekten
getrimmt, schafft das eher schlecht als
recht (siehe WirtschaftsWoche 31/2014).
GRENZEN DER PHYSIK
Das ist nicht Unvermögen der Entwickler,
sondern schlichte Physik. Die erschwert
es ihnen schon bei einfachen
Kompaktkameras massiv,
Kreativfunktionen zu integrieren.
Die Designer der
Handys haben’s noch
schwerer. Denn für gute,
lichtstarke und möglichst
scharfe Aufnahmen gilt der alte Entwicklerspruch:
Am Ende zählt nur die Größe –
mehr Raum für Linsen und Sensor. Und
zwar in gleich mehrfacher Hinsicht:
n Bildchip Je größer die Pixel genannten
helligkeits- und farbempfindlichen Punkte
auf dem Bildchip sind, desto mehr Licht
können sie aufnehmen, und desto eher liefert
die Kamera auch ohne Blitz und Stativ
scharfe, rauscharme Bilder.
Dummerweise hat die Jagd nach Auflösungsrekorden
bei Kompaktkameras dazu
geführt, dass die Pixel der einfacheren Kameras
immer winziger wurden – und damit
lichtschwächer. »
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 89
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen
BILDERSPEICHER
Safe im Netz
Was einst der Schuhkarton für Negative
war, ist heute das Internet: das
persönliche Bildarchiv im Digitalzeitalter
– und mehr. Ein Überblick.
Für Thorben Hess war es der GAU, als die
Festplatte seines PCs im Frühsommer
plötzlich den Geist aufgab. Denn auf der
hatte der zweifache Vater aus Mühlheim
alle Familienfotos archiviert. „Plötzlich
verschwanden alle Erinnerungen im digitalen
Nirvana“, sagt der 45-Jährige, der
am Ende mehrere Hundert Euro für die
Datenrettung zahlte, um zumindest einen
Teil der Aufnahmen wiederherzustellen.
Seither sichert er die Bilder in seinem
Online-Album bei der Yahoo-Tochter
Flickr. So wie er machen das schon Millionen
Fotofans weltweit. Teils laden sie die
Bilder – direkt nach der Aufnahme vom
Kamerahandy – in reine Datenspeicher
wie Dropbox. Teils überspielen sie die
Hort der Erinnerungen
Fotos vom PC in Web-Alben, die sie per
Mausklick für Freunde oder Verwandte
freigeben können. Mancher Anbieter ermöglicht
sogar einfache Bildbearbeitungen
wie Rote-Augen-Korrekturen oder
Helligkeitsausgleich direkt übers Netz.
BIS ZU 15 GIGABYTE GRATIS
Gemein ist fast allen Angeboten, dass das
Basispaket gratis ist – aber im Speichervolumen
auf 2 bis 15 Gigabyte limitiert.
Das reicht für Gelegenheitsfotografen.
Wer aber das komplette Bildarchiv im
Netz sichern will, womöglich gar Fotos im
unkomprimierten RAW-Format, muss
zukaufen. Je nach Anbieter kostet das
monatlich zwei bis zehn Euro extra für
100 Gigabyte (siehe Tabelle).
Und das sind nicht die einzigen Kosten,
die der Speicher im Netz verursacht: Weil
der Upload aller Bilder seinen bisherigen
DSL-Anschluss wochenlang blockiert
hätte, hat Fotograf Hess auch das Tempo
seines Internet-Zugangs vervierfacht – für
zehn Euro mehr im Monat. Die Sicherheit
seiner Familienbilder war ihm das wert.
Immer mehr Internet-Anbieter und Kamerahersteller stellen Fotofans Bilder-Speicher
und Online-Alben im Netz bereit. Die Funktionen der Dienste reichen vom puren Fotoarchiv
in der Wolke über Bilder-Communitys bis zu einfachen Programmen, mit denen
sich Fotos im Browser optimieren und kleinere Bildfehler beheben lassen.
Web-Speicher
Dropbox Basic
Dropbox Pro
Strato HiDrive Media 20
Strato HiDrive Media 100
Web.de Fotoabum
Web.de Club
Online-Foto-Communitys
Adobe Revel
Adobe Revel Premium
Canon Irista Basis
Canon Irista Value
Fujifilm X World
Yahoo Flickr
PC-Cloud-Kombiangebote
Apple Photos + iCloud
Apple iCloud Erweiterung
Google Picasa + Webalben
Google Drive Erweiterung
Microsoft Fotogalerie + Onedrive
Microsoft Onedrive Erweiterung
Kosten
im Monat
0,00 €
9,99 €
1,49 €
4,90 €
0,00 €
4,99 €
0,00 €
5,49 €
0,00 €
4,99 €
0,00 €
0,00 €
0,00 €
0,99 €
0,00 €
1,99 €
0,00 €
1,99 €
Speichervolumen
(in Gigabyte)
2
1000
20
100
2–10
100
2, 50 Bilder pro
Monat
unbegrenzt
10
50
5
1000
5
20
1
100
15
100
Beschreibung des Angebotes
Speicher mit Ordnerfreigabe
Speicher mit Ordnerfreigabe
Fotoarchiv mit Albumfreigabe
Fotoarchiv mit Albumfreigabe und einfacher
Bildbearbeitung
Kein Upload-Limit
Fotoarchiv mit Facebook- und Flickr-Import
sowie Bilderfilter
Fotoarchiv mit Diskussionsforum
Globale Plattform mit Millionen Nutzern
Fotoverwaltung und -bearbeitung für Mac,
Online-Fotoarchiv mit Albumfreigabe
Fotoverwaltung und -bearbeitung für PC und
Mac, Online-Fotoarchiv mit Albumfreigabe
Fotoverwaltung und -bearbeitung für PC,
Online-Fotoarchiv mit Albumfreigabe
n Blende Es ist immer
wieder überraschend,
welch Objektivrüssel
beim Einschalten aus
mancher Westentaschenknipse
herausfährt.
Die Entwickler
wollen mit dem langen
optischen Rohr
Extra
Die Technikdaten
der vorgestellten
Kameras sowie
Testbilder finden
Sie in der App
einen möglichst großen Zoombereich
abdecken, vom starken Weitwinkel bis zum
großen Tele. Doch das geht wieder zulasten
der Lichtstärke. Denn zum einen
schlucken die einfachen Linsensysteme
viel Helligkeit. Zum anderen dringt durch
die winzigen Öffnungen kaum noch Licht.
Damit kommt so manche Kompakte im
Weitwinkelbereich auf maximal Blende
3,6, mitunter gar nur auf Blende 4,0. Und
versucht sich der Fotograf an einer Tele-
Aufnahme, halbiert oder drittelt sich die
Lichtstärke oft genug. Edel-Kompakte wie
Canons G7 X oder Sonys RX 100 III sind dagegen
mit Einstiegsblende 1,8 doppelt so
lichtstark.
Die Folge: Romantische Aufnahmen in
der Dämmerung oder bei Kerzenschein
sind nicht mehr grässlich verrauscht oder
hoffnungslos überblitzt, sondern landen
knackscharf und emotionsstark im Kameraspeicher.
n Beugung Bei einfacheren Kompaktkameras
und Smartphones müssen die Lichtstrahlen
auf ihrem Weg durchs Objektiv eine
oft nicht einmal streichholzkopfgroße
Blende passieren. Dabei werden sie durch
die kleine Öffnung so zusammengestaucht,
dass es zu einem gefürchteten
physikalischen Effekt kommt: der Beugung.
Die Strahlen produzieren nicht mehr
sauber einen Bildpunkt neben dem anderen.
Sie fallen stattdessen teils auf mehrere
angrenzende Pixel und sorgen so für die
ungeliebte Unschärfe.
Völlig vermeiden lässt sich der Effekt nie.
Aber auch hier gilt, je größer Objektiv und
Bildsensor sind, desto besser. Ein Plus
mehr für die Edel-Kompakten.
Und noch etwas spricht für die Abkehr
von den Billigknipsen: „Die Lebenszyklen
der Modelle werden wieder merklich länger,
der Gerätekauf wieder eine Investition
von Dauer“, verspricht Yoshiyuki Nogami,
der bei Sony das weltweite Marketing der
Fotosparte verantwortet.
Für Bilderprofi Ritschel ist es auch eine
Rückbesinnung auf alte Werte: „Die Kameras
sind heute so gut, die kannst du wieder
an deine Kinder vererben.“
n
thomas.kuhn@wiwo.de
90 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Moderne Gladiatoren
Das Spiel League
of Legends lockt
die Massen –
wie hier in Paris
FOTO: BESTIMAGE/HUGO WINTREBERT
Helden der Maus
COMPUTERSPIELE | Daddeln am Rechner hat sich längst zum Profisport
entwickelt – und wird zum Rivalen für Fußball und Formel 1.
Michael Ballack und Oliver Kahn waren
im Sangam-Stadion von Seoul
Heroen. Vor 67000 Zuschauern besiegten
sie hier bei der Fußballweltmeisterschaft
2002 mit der deutschen Mannschaft
Gastgeber Südkorea – und schafften so den
Einzug ins Finale gegen Brasilien.
Wenn sich am kommenden Sonntag
(19.10.) wieder die Ränge des Stadions für
eine WM füllen, werden Deutsche nichts
zu melden haben. Denn bei diesem Sportereignis
geht es nicht um Fußball, sondern
um das Echtzeit-Strategiespiel League of
Legends (LoL). Mit mehr als 85 Millionen
Hobbyspielern ist es eines der erfolgreichsten
Computergames der Welt – und wird
von asiatischen Spielern dominiert.
Wie im Fußball treten zwei Mannschaften,
Clans genannt, gegeneinander an. Die
fünfköpfigen Teams sitzen auf einer Bühne
vor einem riesigen Bildschirm. Gebannt
verfolgen Zehntausende Fans auf den Rängen
und Millionen Zuschauer zu Hause jede
Attacke, mit der die Spieler den Nexus
des Gegners erobern wollen, ein virtuelles
Gebäude. Den umjubelten Siegern winkt
ein Preisgeld von einer Million Dollar.
Für die E-Sport-Szene sind die LoL-Weltmeisterschaften
das größte Ereignis des
Jahres. Längst ist das professionelle Daddeln
ein Massenphänomen geworden. Sicher,
seit es PCs gibt, spielen Menschen an
und mit den Computern. Jetzt aber hat sich
eine Profiszene herausgebildet, die vom
einstigen Hobby-Vergnügen leben kann, ja
sogar reich damit wird. Entstanden ist ein
Milliardengeschäft mit Sponsoring, Live-
Daddeln total
Fans verbringen weltweit immer mehr Zeit vor
dem Bildschirm, um Profis beim Computerspielen
zuzuschauen (in Mrd. Stunden)
7
6
5
4
3
2
1
0
2010 11 12 13 14 15 16 17 18
ab 2014 Prognose; Quelle: IHS Technology
Übertragungen und stadionfüllenden Mega-Events
wie das Finale der WM.
E-Sport entwickelt sich allmählich zum
ernst zu nehmenden Konkurrenten für
Fußball, Formel 1 oder Tennis. Die Fans
verbringen immer mehr Zeit vor dem Bildschirm,
um die Kämpfe ihrer Helden zu
verfolgen: Bis 2018 sollen sie insgesamt 6,6
Milliarden Stunden lang Videos von Spielen
betrachten, fast eine Verdreifachung
gegenüber 2013 (siehe Grafik). Das entspricht
der Zeit, die alle Frankfurter aufbringen
müssten, um ein Jahr lang ununterbrochen
Computerspielern zuzuschauen.
Folgerichtig beginnen sich die Internet-
Konzerne für den E-Sport zu interessieren.
So schnappte vor Kurzem der Online-
Händler Amazon dem Suchmaschinenriesen
Google Twitch.tv vor der Nase weg, die
wichtigste Sendeplattform der Szene. Stolzer
Kaufpreis: fast eine Milliarde Dollar.
GROSSKONZERNE SIND SPONSOREN
„Wir sind die Zukunft des Entertainments“,
verkündet Alexander Müller selbstbewusst.
Er ist als Managing Director so etwas
wie der Sportchef von SK Gaming aus Köln,
der einzige deutsche Clan, der es zu den
LoL-Weltmeisterschaften nach Südkorea
geschafft hat. Er ist seit 16 Jahren in der
Branche aktiv und weiß, wovon er redet. In
Asien und den USA sind Meisterschaften
wie die jetzt in Südkorea längst Großereignisse.
Aber auch in Europa locken Live-
»
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 91
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen
»
turniere auf der Kölner Spielemesse
Gamescom oder eigene Veranstaltungen
wie die Pariser All-Star Challenge im Mai
die Massen. Viele Unternehmen nutzen
das Umfeld, um für sich zu werben. Ob Intel,
AOL, Acer, Samsung – die Trikots der
Teams sind übersät mit den Namen großer
Konzerne.
„Was die Zuschauerzahlen und unsere
Reichweite betrifft, sind wir attraktiver als
ein Zweitligaverein im Fußball“, versichert
Müller. Eine Mannschaft wie SK Gaming
zählt 500 000 Follower bei Facebook und
nochmal 70 000 bei Twitter – der 1. FC Köln
hat nur wenig mehr. Der deutsche Computeranbieter
Medion nutzt die Popularität
des Clans bereits für sich. Der Hauslieferant
von Aldi und seit einiger Zeit Teil des
chinesischen IT-Riesen Lenovo ist Hauptsponsor
von SK Gaming. Mit den Gesichtern
der Spieler versucht Medion eine junge,
männliche, technikaffine Zielgruppe zu
erreichen. Beim Fußball kaufen die Fans
die Schuhe ihrer Stars – im E-Sports ist das
mit Tastatur und Maus nicht anders.
„Unsere Spieler verdienen mindestens
50 000 Dollar im Jahr. Je nachdem wie erfolgreich
sie sind, sind es auch 100 000 oder
mehr“, erzählt Müller. Zudem zahle SK Gaming
die Reisen, die Hardware, die Lebenshaltung
während der drei bis sechs Jahre einer
Profikarriere. In Südkorea verdienen
manche Stars das Zehnfache. Zudem ist
das Ansehen der Profi-Gamer im Ausland
besser. Ein Grund für viele, in die USA, nach
China oder Südkorea zu wechseln.
JEDER VIERTE DEUTSCHE DADDELT
Immerhin gehört die deutsche Spielerszene
zu einer der größten weltweit. Schätzungen
gehen von gut 40 000 E-Sport-
Clans in Deutschland aus. Laut Bundesverband
Interaktive Unterhaltungssoftware
(BIU) spielen hierzulande mehr als 20 Millionen
Menschen regelmäßig Computerspiele.
„League of Legends und Dota 2 dominieren
klar in Bezug auf die Nutzung“,
sagt David Cole vom US-Marktforscher
DFC Intelligence. Für 2014 erwarten die
Experten einen Umsatz von 25 Milliarden
Dollar auf dem Markt der PC-Spiele.
Die Electronic Sports League (ESL), betrieben
von der Kölner Turtle Entertainment
und so etwas wie ein Pendant zum
Deutschen Fußball-Bund (DFB), spricht
von immerhin 1,4 Millionen aktiven LoL-
Spielern hierzulande. Die wenigstens sind
Profis, aber für die meisten ist das Spiel
mehr als eine gelegentliche Freizeitbeschäftigung.
Der DFB zählt zwar knapp sieben
Millionen Mitglieder und etwa 25 000
Clubs. In die Bundesliga schafft es aber
auch hier nur ein Bruchteil der Aktiven.
Nun ist der DFB bald 115 Jahre alt. League
of Legends gibt es erst seit 2009, und
die Spieler- und Zuschauerzahlen wachsen
ständig weiter. „Es ist großartig, zu sehen,
wie weit E-Sport in der kurzen Zeit
gekommen ist“, sagt Dustin Beck, bei Riot
Games verantwortlich für das Thema. Die
US-Firma in chinesischem Besitz hat LoL
entwickelt und bietet es kostenlos an. Umsätze
macht sie mit virtuellen Zusatzinhalten,
etwa besonderen Avataren für die
Spieler.
Längst ähneln die Gepflogenheiten im
E-Sport denen im Profifußball. Hohe Ablösesummen
bei Spielertransfers, mehrtägige
Sperren für schlechtes Benehmen,
ein ausgebildeter Trainerstab und sogar
Sportpsychologen sind nicht mehr ungewöhnlich.
Viele ehemalige Gamer werden
zu Kommentatoren, Trainern oder Managern.
Wie in der Bundesliga gibt es bei
Wettbewerben eine ausführliche Vorberichterstattung
auf den Videoplattformen
im Netz. Die stellen Spieler vor, küren Favoriten.
Einspieler und O-Töne der Profis
stimmen das Publikum auf die große
Show ein.
Das deutsche
LoL-Team ist fast
so populär
wie der 1. FC Köln
Virtuelles real Fans von League of Legends
kleiden sich gern wie die Helden des Spiels
Wichtiger virtueller Treffpunkt der Fans
ist Twitch Die Plattform bietet im Unterschied
zu YouTube die Möglichkeit, die
Spiele live zu erleben. Auch außerhalb der
Profiwettbewerbe tummeln sich hier täglich
gut 70 000 Zuschauer – und das nur bei
LoL. Fans und Profis kommen sich hier so
nah wie sonst nirgends. „80 Prozent des Inhalts
bei Twitch ist reiner E-Sport, und wieder
50 Prozent davon ist nur LoL“, sagt Müller.
Dass Amazon zuschlage, könne er angesichts
des Wachstumspotenzials verstehen,
erklärt er die überraschende Übernahme
durch den US-Konzern, der zunehmend
ins Mediengeschäft expandiert.
KOMMENTATOR IN VOLLZEIT
Twitch hat auch die Selbstvermarktung der
Spieler auf eine neue Stufe gehoben. Das
Stichwort lautet Letsplay: Profis spielen
quasi vor laufender Kamera und erklären
per Videostream ihre Taktiken und Strategien.
Viele haben sich so auf eigene Faust
eine treue Fangemeinde aufgebaut, manche
mit Millionen Mitgliedern. Bei Twitch
wird aber nicht nur zugeschaut, Spieler
und Fans diskutieren per Chat – manchmal
dürfen ein paar Glückliche sogar mit ihren
Stars zusammen spielen.
Einer der bekanntesten Streamer in
Deutschland ist Maxim Markow aus Berlin.
Sein Kanal bei Twitch hat 50 000 Abonnenten.
Er besitzt mittlerweile ein eigenes Studio,
professionelle Ausrüstung, Gäste, Interviews,
Analysen – er ist zum Vollzeit-
Kommentator geworden, der sein Hobby
zum Beruf gemacht hat. Seinen Lebensunterhalt
verdient er durch Werbeverträge,
Sponsoren und Spender. Von den Weltmeisterschaften
in Südkorea berichtet er
live zusammen mit einigen Kollegen –
nicht vor Ort, sondern dank Streaming aus
dem eigenen Studio.
Noch ist E-Sport für Alexander Müller
von SK Gaming ein Hidden Champion. So
wie die vielen unbekannten Weltmarktführer
aus dem heimischen Mittelstand. Die
Professionalität, das Wachstumspotenzial
und all die kleinen und großen Erfolgsgeschichten
des Computersports sind längst
vergleichbar. In der breiten Öffentlichkeit
ist das bisher noch nicht angenommen.
Ändern wird sich das wohl erst, wenn ein
deutsches Werksteam von Siemens, Deutscher
Telekom oder SAP bei den Leagueof-Legends-Weltmeisterschaften
antritt –
so wie es der Elektronikkonzern Samsung
vormacht: Er ist mit gleich zwei eigenen
Clans im Sangam-Stadion am Start. n
thiemo bräutigam | technik@wiwo.de
FOTO: BESTIMAGE/HUGO WINTREBERT
92 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
VALLEY TALK | Warum die Aufspaltung von
Hewlett-Packard entscheidende Schwächen hat.
Von Matthias Hohensee
Mit sich selbst beschäftigt
FOTO: JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Über Hewlett-Packard ließe sich
ein Standardwerk der Managementlehre
schreiben. Nicht die
übliche Erfolgsgeschichte über
das erste richtige Garagen-Start-up des
Silicon Valley, das sich mit Produkten wie
Taschenrechnern und Tintenstrahldruckern
mehrmals neu erfand und Legionen
von Gründern inspirierte.
Nein, HP ist vielmehr ein klassisches Fallbeispiel,
wie Top-Manager und deren Berater
unter der Flagge der Profitmaximierung
einen traditionsreichen Konzern in den
Niedergang trieben und ihm vor allem seine
Identität raubten.
Als ich im Herbst 1998 ins Silicon Valley
übersiedelte, war Hewlett-Packard noch
ein stolzer Konzern und für seine Managementphilosophie
berühmt, den HP Way.
Dessen Grundprinzipien lauteten: langfristiges
Denken statt schnellen Profit und der
respektvolle Umgang mit den Mitarbeitern.
Der damalige Chef Lew Platt hatte innerhalb
von nur drei Jahren den Umsatz nahezu
verdoppelt. Doch an der Wall Street war
er umstritten, weil er mit seiner unaufgeregten
Art angeblich das Internet verschlief.
Deshalb löste ihn 1999 Carly Fiorina ab.
Statt eines Ingenieurs stand nun eine von
kurzfristigen Ergebnissen getriebene Vertrieblerin
an der Spitze, die vor allem in Skaleneffekten
dachte. Mit der Begründung,
Kunden kauften am liebsten alles aus einer
Hand, drückte sie gegen den Willen der Belegschaft
den Kauf des texanischen Computerherstellers
Compaq durch. Es folgten
zahlreiche Reorganisationen, bis Sparkommissar
Mark Hurd Fiorina ersetzte, der den
Forschungsetat von HP rigoros kürzte.
Es schloss sich die kurze Chaos-Periode
mit dem ehemaligen SAP-Chef Léo Apotheker
an, die zu Aktionärsklagen wegen der
überteuerten Übernahme des britischen
Softwareunternehmens Autonomy führte.
Schließlich übernahm vor drei Jahren die
ehemalige Ebay-Chefin Meg Whitman das
Ruder. Sie stabilisierte das Unternehmen
finanziell, setzte aber zugleich Massenentlassungen
durch.
Turbulente Zeiten, aber mit einer Konstanten:
An den vielen Übernahmen haben
die beteiligten Manager, Berater und Banker
gut verdient. Diese Tradition setzt Whitman
mit der jetzt verkündeten Aufspaltung
fort. Künftig soll sich ein Konzernteil auf
Drucker und PCs für Privatkunden konzentrieren,
der andere soll sich um Firmenkunden
kümmern. Ob die getrennten Bereiche,
wie versprochen, wirklich agiler sind, darüber
lässt sich debattieren.
VERSPIELTES VERTRAUEN
Die früher vom Management immer so betonten
Skaleneffekte durch den gemeinsamen
Einkauf von Komponenten sind jedenfalls
dahin. Und der ärgste Herausforderer
Lenovo geht den umgekehrten Weg. Als
größter PC-Hersteller der Welt und gestärkt
durch die Übernahme von IBMs Servergeschäft
wollen die Chinesen aggressiv ins
Geschäft mit Firmenkunden vorstoßen.
Derweil ist HP wieder einmal mit sich
selbst beschäftigt. Schwer wiegt der Vertrauensverlust
von Whitman. Sie soll das Firmenkundengeschäft
führen und den Hardwarehersteller
überwachen. Noch bis vor
Kurzem hatte sie die Belegschaft in dem
Glauben gelassen, sie werde eine Aufspaltung
verhindern. Nun sollen sich die Mitarbeiter
aussuchen, ob sie bei einem Computerhersteller
arbeiten wollen, der gegen
Apple und Samsung antritt und bis heute
keine überzeugende Strategie für Handys
oder Tablets hat. Oder bei einem Firmenkundenspezialisten,
der seine Cloud-Computing-Sparte
erst noch etablieren muss.
Das ist die große Schwäche des neuen
Konzepts. Wer will bei einem Konzern arbeiten,
der sich ständig umstrukturiert? HP
braucht engagierte Mitarbeiter, um sich
neu zu erfinden. Warum die kommen oder
bleiben sollen, darauf gibt Whitmans Plan
keine überzeugende Antwort.
Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent
im Silicon Valley und beobachtet
von dort seit Jahren die Entwicklung der
wichtigsten US-Technologieunternehmen.
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 93
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Management&Erfolg
Inselhopping in der
Werkshalle
INDUSTRIE 4.0 | Neue Jobprofile, mehr Verantwortung, flachere Hierarchien: Wie die
Digitalisierung nicht nur die Automatisierung der Produktion beschleunigt,
sondern auch die Arbeitsorganisation revolutioniert. Was Mitarbeiter in den Werkshallen
künftig können müssen – und wer wem etwas zu sagen hat.
Immer wenn morgens um sieben zu
Schichtbeginn Not am Mann ist, legt
Werksmeister Giuseppe Dolce selbst
Hand an. Streift den grauen Arbeiterkittel
über sein kariertes Hemd,
schnappt sich ein Smartphone vom Organisationsbrett
und geht in die Werkshalle zu
einem großen Bildschirm, der dort an der
Wand hängt. Mit seinem Telefon scannt
Dolce einen auf der Mattscheibe eingespielten
QR-Code ab – nun hat er alle digitalen
Daten für Bauplan, Größe und Stückzahl
der Zahnräder geladen, die er gleich
produzieren wird. Daten, die er auch auf
seinem Bildschirm über seiner Fräsmaschine
parat hat. Fehlt Material, benachrichtigt
er mit einem kurzen Wischen über sein
Diensttelefon den Transportwagen. Der
schlägt ihm die beste Route ins Materiallager
vor, aus dem Dolce das fehlende Material
besorgt. Zurück in der Werkshalle setzt er
mit leichtem Fingertippen schließlich die
Maschine in Bewegung, die mit dem Fräsen
der gewünschten Zahnräder beginnt –
wohlabgeschirmt hinter Plexiglas.
„Faszinierend, wie Produktion heutzutage
läuft“, sagt Dolce. Seit Januar 2014 baut
der 53-Jährige ein Team von 20 Facharbeitern
auf, in dem jeder mehrere Arbeitsplätze
beherrschen soll. Ihre Aufgabe: das Metall
für die Produktion von Zahnrädern und
Getrieben in der digital gesteuerten Werkshalle
des mittelständischen Maschinenbauers
Wittenstein in Fellbach bei Stuttgart
in Form zu bringen. Natürlich: Die Zähne
der silbernen oder goldenen Räder werden
noch immer gefräst und geschliffen. Aber
das leise Rauschen, wenn Wasser und Öl
die Maschinen automatisch temperieren
und schmieren, ist wohl die letzte Reminiszenz
an die traditionelle industrielle Fertigung.
Statt sich beim eigenhändigen Fräsen
und Drehen den Rücken zu ruinieren
oder die Finger schmutzig zu machen,
kontrollieren die Facharbeiter heute den
Gang der Maschinen durch Tippen und
Wischen über interaktive Bildschirme.
Statt auf Weisungen zu warten, entscheiden
sie selbst, in welcher Reihenfolge sie
ihre Aufträge abarbeiten – der Bildschirm
zeigt ihnen alle Optionen. Türmen sich bei
einem Teammitglied die Zahnrad-Aufträge
im Rechner, kann ein Kollege sich in die
Aufträge einklinken und die Maschine mit
im Auge behalten.
„Wer 15 Jahre dieselben Handgriffe gemacht
hat, mag zuerst nicht glauben, dass
es für jeden leichter wird, wenn alle mehr
können“, sagt der gelernte Industriemechaniker
und Elektrotechniker Dolce, der
Lernen, denken, reden
Welche Kompetenzen die vernetzte Fabrik
von Produktionsmitarbeitern verlangt
(in Prozent)
91
81
79
79
78
75
74
71
64
63
Lebenslanges Lernen
Interdisziplinäres Denken
Aktive Problemlösung
Höhere IT-Kompetenz
Austausch mit vernetzten Systemen
Kenntnis des Gesamtprozesses
Beherrschung komplexer Arbeitsinhalte
Steuerung der Kommunikation
Mitwirken am Innovationsprozess
Koordination von Arbeitsabläufen
Quelle: Fraunhofer IAO/Ingenics, Befragung unter 518
Produktionsverantwortlichen deutscher Unternehmen;
Mehrfachnennung möglich
vor seinem Wechsel zu Wittenstein 2013
selbst 30 Jahre lang im Schichtsystem an
Spritzpumpen geschafft hatte, bevor er begann,
dank Doppelqualifikation, Meisterschule
und seiner kommunikativen Art bei
Wittenstein die Einführung der digitalen
Fertigung zu begleiten. „Jetzt sieht jeder,
dass die Belastung gerechter verteilt wird.“
RADIKALES UMDENKEN
Pilotprojekte wie in Fellbach weisen den
Weg in die digitale Produktion, die derzeit
unter dem Schlagwort Industrie 4.0 diskutiert
wird. Den Schlüssel nicht nur für die
bestmöglichen technologischen Lösungen,
sondern auch für die dafür nötige Qualifikation
und Organisation ihrer Mitarbeiter
wird in der nächsten Dekade für deutsche
Unternehmen existenzieller Erfolgsfaktor.
Allein bei Bosch laufen derzeit 50 Projekte,
mit denen das Unternehmen untersucht,
wie Internet und Maschinen zusammenwachsen
und für mehr Produktivität sorgen.
Voraussetzung für diesen neuerlichen
Effektivitäts- und Effizienzschub: radikales
Umdenken, am Schreibtisch wie in der
Werkshalle. Die Folge: Abteilungs- und
Fachgrenzen werden eingerissen, Jobprofile
ändern sich, gewohnte Arbeitsabläufe
werden auf den Kopf gestellt.
„Die Digitalisierung reduziert die Monotonie
vieler Arbeitsabläufe und schafft Zeitsouveränität“,
sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann.
„Auf der anderen Seite kommt es
aber zu einer enormen Beschleunigung
des technologischen Wandels. Dadurch
sinkt die Halbwertzeit von Qualifikation
dramatisch. Wer jetzt seine Ausbildung
oder seinen Hochschulabschluss macht,
muss sich darauf einstellen, dass in zehn
FOTO: REINER PFISTERER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
94 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Jahren gut 50 Prozent seines Wissens veraltet
ist“ (siehe WirtschaftsWoche 41/2014).
Das gilt auch für lang gediente Facharbeiter
wie Dolce und sein Team. Es ist weniger
der einzelne Handgriff, der sich ändert,
es trifft die gesamte Struktur der Arbeitsplätze,
ja, das Selbstverständnis der Mitarbeiter.
Steht doch nicht mehr das Beherrschen
einzelner Maschinen, sondern das
Steuern komplexer, fach- und gruppenübergreifender
Prozesse im Mittelpunkt ihrer
wachsenden Verantwortung. Sie koordinieren
Arbeitsabläufe eigenverantwortlich,
Wischen statt buckeln
Teamleiter Giuseppe Dolce vor einer
vernetzten, per Bildschirm gesteuerten
Fräsmaschine in der digitalen Pilotfabrik
des Maschinenbauers Wittenstein
müssen sich mit Kollegen und Managern
außerhalb der eigenen Abteilung abstimmen
und Arbeitsprozesse mitgestalten.
Statt ihren Mitarbeitern von oben herab zu
diktieren, was sie zu tun haben, diskutieren
Führungskräfte Entscheidungen im Team
und fordern vom Azubi bis zum Ingenieur
Input zum Lösen von Problemen ein. Softwareentwickler
wiederum müssen stärker
als bisher ökonomische Zusammenhänge
berücksichtigen und agieren als Dienstleister,
die ihre digitalen Informationen in die
Produktion einfließen lassen.
„Eine breite Grundausbildung, lebenslanges
Lernen, Flexibilität, Projekt- und
Teamarbeit sind die Schlagwörter für das
Arbeiten in der digitalen Welt von morgen“,
sagt Manfred Wittenstein, Aufsichtsratsvorsitzender
des gleichnamigen Unternehmens
und langjähriger Präsident des Maschinenbauverbands
VDMA. „Uns erwartet
eine Revolution der Arbeitsgestaltung.“
»
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 95
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Management&Erfolg
Kombination von Mensch und Technik
noch einmal bis zu 30 Prozent rausholen.“
Bei SEW wird jeder Auftrag eingescannt.
Sind die Daten digital erfasst, fahren dann
Arbeitstische, bei SEW Assistenten genannt,
wie von Zauberhand gesteuert, zwischen
fünf digitalen Produktionsinseln mit
Material von einem Platz zum anderen.
»
Das bestätigt auch eine Studie des
Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft
und Organisation IAO im Auftrag des Beratungsunternehmens
Ingenics, für die mehr
als 500 Entscheider aus deutschen Produktionsunternehmen
befragt wurden. Demnach
rechnet jeder der Befragten ausnahmslos
mit einem Effizienzschub durch
die Digitalisierung – und verlangt von seinen
Mitarbeitern aus Fertigung, Montage
und Logistik vernetztes Denken (siehe
Grafik Seite 94). „Die Digitalisierung der
Produktion wird die Arbeitsorganisation
ebenso grundsätzlich verändern wie viele
Jobprofile“, sagt IAO-Forscher Sebastian
Schlund. „Denn es geht um weit mehr als
reine Technologienutzung.“
GENERATION WISSENSARBEITER
Was im ersten Moment nach Überforderung
klingt, hält Unternehmer Wittenstein
für „realisierbar, wenn wir den Mitarbeitern
klarmachen, dass sie das Neue schaffen
werden, weil gleichzeitig alte, überflüssige
Dinge wegfallen“. In seinem eigenen Unternehmen
werden jetzt staatlich anerkannte
Produktionstechnologen ausgebildet, die
Prozesse an den Anlagen analysieren, simulieren
und optimieren. „Jeder Facharbeiter
wird zum Wissensarbeiter, der seine Sichtweise
auf den Prozess lenken muss“, sagt Jochen
Schlick, der die digitale Fabrik für Wittenstein
aufbaut. „Der Mensch wird zum informierten
Entscheider, der aufgrund seines
Erfahrungswissens Handlungsoptionen
zum optimalen Betrieb der Maschine gegeneinander
abwägt und auswählt.“
Digitale Dauerbaustelle
Kfz-Mechaniker Patrik Hausknecht von
SEW-Eurodrive hat seinen teildigitalisierten
Arbeitsplatz mit entwickelt und spart
beim Getriebebau ein Drittel Arbeitszeit
Am besten funktioniert das, wenn die
Belegschaft beim Umbau der Arbeitsplätze
vom Start weg mitmischt – so wie im SEW-
Eurodrive-Werk in Graben-Neudorf im
Landkreis Karlsruhe. Beim Hersteller von
Getrieben und Motoren für die Auto- und
Getränkeindustrie wirkt die Werkshalle wie
eine Dauerbaustelle: Schritt für Schritt
werden hier alle Produktlinien zu digitalen
Inseln umgebaut – ganz nach den Vorstellungen
der Arbeiter, die in Workshops erarbeiten,
wo welches Werkzeug oder Getriebe
für den nächsten Arbeitsschritt optimal
angebracht ist. „Wer die Insel nach seinen
Bedürfnissen mit baut und erlebt, dass die
Veränderung die Arbeit erleichtert, der
macht seinen neuen Job gerne und mit voller
Präzision“, sagt SEW-Eurodrive-Geschäftsführer
Johann Soder. „Wir haben in
den Neunzigerjahren durch Lean Management
35 Prozent an Effizienz gewonnen,
jetzt können wir durch die intelligente
»Digitalisierung
wird die Arbeitsorganisation
grundlegend
ändern«
Sebastian Schlund, Fraunhofer-Institut
EIN DRITTEL ZEIT GESPART
„Diese Assistenten stoppen genau dort, wo
ich eine Schraube oder ein Zahnrad ins
Getriebe einbauen muss, und fahren in die
richtige Höhe“, sagt Kfz-Mechaniker Patrik
Hausknecht. Sich nach dem Werkzeug bücken
fällt ebenso weg wie schweres Heben
und Drehen des Getriebes. War der 28-Jährige
früher für nur eine Getriebeart zuständig
und stand fast 20 Meter vom nächsten
Arbeiter weg, arbeitet er jetzt mit zwei Kollegen
im Team und beherrscht den Umgang
mit bis zu zehn Maschinen – weil er
dank der Digitalisierung rund ein Drittel
Zeit spart. Freie Tage, Urlaub, schwankende
Auftragslage sind für Manager wie Mitarbeiter
unkomplizierter zu lösen. Inselhopping
in der Werkshalle – also immer
wieder an anderen Arbeitsplätzen zu arbeiten
– bringt niemanden mehr zum
Schwitzen: Rote Leuchten und der selbstfahrende
Assistent vereinfachen den Griff
zum richtigen Radsatz und zur passenden
Ritzelwelle. Noch gibt es den Auftrag mit
seinen vielen Materialkennziffern zur Kontrolle
zusätzlich auf Papier, aber bald wird
nur noch der Bildschirm Auskunft geben.
„Wir lernen schnell um“, sagt Hausknecht,
„das müssen wir auch, denn das
Einzige, was gleich bleibt, ist die Veränderung.“
Dieses Motto gilt auch bei Borgwarner.
Der Ludwigsburger Automobilzulieferer
sucht IT-Fachleute, die über ihren Bildschirm
hinaus denken, in gruppen- und
fachübergreifenden Teams arbeiten können
und flexibel einsetzbar sind: Borgwarner
arbeitet an einem virtuellen System zur
selbst organisierten Personaleinsatzplanung.
Ziel ist es, immer nur genau so viele
Mitarbeiter im Werk zu haben, wie laut
Auftragslage nötig sind. Mitarbeiter sollen
per App und Chat ihre Verfügbarkeit mit
Vorgesetzten und Kollegen diskutieren.
„Die Frage ist nicht, ob Maschine und
Mensch zusammenwachsen, sondern
wann“, sagt auch Wittenstein-Aufsichtsratschef
Manfred Wittenstein. „Die Digitalisierung
der Produktion ist die einzige
Chance, im Weltmarkt mitzuhalten.“ n
ruth lemmer | management@wiwo.de
FOTO: HARDY MÜLLER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
96 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Management&Erfolg
Spielplatz in der Chefetage
PLANSPIELE | Mitarbeiter einstellen, das Marketingbudget kürzen, die Preise erhöhen:
In virtuellen Szenarien können sich angehende Manager am Computer mit den Grundregeln der
Unternehmensführung vertraut machen, ohne Schaden anzurichten. Ein Selbstversuch.
PHASE 1
Erst mal aus dem Bauch
Seit mehr als 30 Jahren ist das Unternehmen
am deutschen Markt etabliert,
überzeugte mit innovativer
Technik zu moderaten Preisen. Größter Erfolg
des Fahrradherstellers Settler: das Citybike,
von dem er jährlich 25 000 Stück
verkauft. Mit zehn Millionen Euro Umsatz
und knapp 800 000 Euro Gewinn kann sich
der Mittelständler mit seinen 50 Mitarbeitern
behaupten – zumindest noch. Seit
zwei Jahren stagniert der Verkauf, technisch
könnte das Citybike aufgefrischt werden,
steigende Energie- und Materialkosten
sowie die Wirtschaftskrise erschweren
Produktion und Absatz. Die Expansion ins
Ausland könnte helfen.
Was bedeutet das für die Organisation
von Produktion und Vertrieb? Wie viel
Geld muss das Unternehmen in die Hand
nehmen? Welches Personal ist dafür nötig?
Fragen, die mir im Kopf herumschwirren
– mir, dem Chef von Settler, dem CEO per
Mausklick, für vier virtuelle Geschäftsjahre.
Fragen, die ich in diesem Online-Simulationspiel
des E-Learning-Anbieters Tata Interactive
Runde für Runde beantworten
will – um zu sehen, ob ich das Zeug zum
Chef hätte.
Fragen, die ab 22. Oktober auch Sie beschäftigten
könnten – als Teilnehmer des
ManagementCups, den WirtschaftsWoche
und Tata Interactive zum dritten Mal ausrufen
(siehe Kasten Seite 99).
„Diese Simulationsspiele entwickeln gerade
innerhalb eines Unternehmens oft eine
Eigendynamik“, hat Tata-Manager Florian
Gaspar beobachtet. „Da lässt sich online
der reale Intimfeind in der Abteilung
überflügeln, und der Trainee steht im Ranking
plötzlich besser da als sein Chef.“
Um konkurrenzfähig zu bleiben, will ich
das Citybike technisch weiterentwickeln
und im Ausland die sinkende Nachfrage im
Inland kompensieren. Ob ich mir beide
Schritte leisten kann? Eine Recherche im
Infoboard des Online-Spiels – hier kann ich
auf Presseberichte und Marktprognosen,
Infos zu Materialkosten, gesamtwirtschaftlicher
Entwicklung und Auslastung der
Fertigung zugreifen – zeigt mir: Das Ausland
muss warten, ich muss meine Ausgaben
in den Griff kriegen. Mein Vorgänger
hatte Gehälter erhöht, und ich muss meine
veraltete Produktionsanlage aufrüsten. Zusätzliche
Mitarbeiter sind da nicht drin.
Dabei liegt ihre Auslastung bereits bei 93
Prozent. Stemmen die noch mal 1000
Räder mehr? Weil ich die Daten auf die
Schnelle nicht finde, entscheide ich aus
dem Bauch: Die Fertigung bekommt doch
eine Stelle zusätzlich, ich stecke 400 000
Euro in die Werbung und erhöhe das Produktionsziel
auf 26 000 Räder.
Aber zu welchem Preis kann ich sie anbieten?
Auch dazu liefert das Infoboard
Daten: wie stark der Preis den Verkaufserfolg
eines Produkts beeinflusst. Oder wie
viel Prozent Nachlass die Nachfrage wie
stark steigen lässt. In letzter Sekunde senke
ich den Verkaufspreis um fünf Euro – also
genau um den lächerlich geringen Betrag,
vor dem mich das Infoprogramm gewarnt
hatte. Eine Kurzschlusshandlung – aber ich
will das Geschäftsjahr abhaken und lasse
den Computer rechnen.
In zwei Minuten, die mir endlos erscheinen,
jagt der Rechner meine Entscheidungen
durch diverse Szenarien: Macht zu hohe
Arbeitsbelastung meine Mitarbeiter unzufrieden,
liebäugeln sie mit der Konkurrenz.
Investiere ich zu wenig in mein Produkt,
meckern die Kunden, der Verkauf
bricht ein. Auch das Verhalten meiner drei
virtuellen Konkurrenten fließt ein.
Das Ergebnis meines ersten Geschäftsjahres:
mehr Umsatz, weniger Marktanteil.
Und weniger Gewinn.
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS
98 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
PHASE 2
Auf ins Ausland
Mein Gewinn ist zwar rückläufig, aber die
Konkurrenz steht noch schlechter da. Bestes
Ebit, höchste Kundenzufriedenheit,
bester Technologieindex, höchster Gewinn
– schön, schön, schön. Aber ich habe
Marktanteile verloren und hatte Lieferengpässe.
Immerhin: Meine Kasse ist dick gefüllt.
Aber ist das ein Vorteil? Oder haben die
anderen das Geld schon sinnvoll investiert?
Und was will mir der hohe ROCE-
Wert sagen und was ist das überhaupt?
Schnell aufs Glossar geklickt und im Internet
recherchiert – aha: vergleichbar mit
dem ROI, der Rendite aufs eingesetzte Kapital.
Mein EVA, also mein Kapitalerlös
abzüglich der Kapitalkosten, ist im Vergleich
zu den Wettbewerbern auch hoch.
Auch in Sachen Planung überflügle ich
die Konkurrenz deutlich. Welch ein Triumph
– dabei spiele ich nur gegen den
Computer.
Ich wage also den Gang ins Ausland.
Dort will ich die Räder etwas günstiger anbieten,
um Boden gutzumachen. Wie viel
Umsatz ich dort im laufenden Jahr erwarte,
will der Computer wissen. Sagen wir 1,2
Millionen? Oder 1,8 Millionen? Die Euro
werden zum Spielgeld. Auf jeden Fall
brauche ich eine neue Fertigungsanlage:
Ich wähle das Luxusmodell – die Standardmaschine
kommt zu schnell an die
Kapazitätengrenze für meine großen Pläne.
Außerdem brauche ich mehr Vertriebler
und Produktioner und berücksichtige
die Transportkosten ins Ausland. Meine
internationalen Handelspartner bitten um
einen Werbekostenzuschuss. Meiner Entwicklungsabteilung
lege ich auch noch
was drauf. Die Millionen schwinden – gut
so! Gut so? Mal schauen, was der Computer
sagt: Was? Der Gewinn ist zurückgegangen,
meine Kunden sind unzufrieden,
meine Mitarbeiter überlastet, und jetzt
wollen sie auch noch mehr Geld. Puh – ich
mach jetzt Feierabend.
PHASE 3
Wie soll das klappen?
Ich habe ehrgeizige Ziele: Ich will meine
Marktposition verbessern und mich wieder
von der Konkurrenz absetzen. Dafür
investiere ich in Personal: stelle mehr Mitarbeiter
für die Produktion ein, spendiere
dem Team diverse Weiterbildungen, erhöhe
die Betriebsrente und stecke mehr
Geld in Werbung. Gleichzeitig erreicht
mich die Nachricht, dass die Energiekosten
gestiegen sind und sich auch die Materialkosten
verteuern. Wie soll ich das alles
wuppen? Ich klicke hier und da, schiebe
Regler pi mal Daumen von links nach
rechts und wieder zurück – noch stehe ich
ja an zweiter Stelle im Ranking, alles halb
so wild. Das Support-Team empfiehlt mir,
die Produktforschung im Blick zu haben,
sonst würden mich die Wettbewerber abhängen.
Einer nervt mich mit aggressiver Hochpreispolitik
– wahrscheinlich setzt er auf
High-Tech-Designräder mit nachhaltig gefertigten
Bambus-Bauteilen und Ledersattel.
Oder der Hersteller mit den Kampfpreisen
– irgendwie vulgär. Okay, er verkauft
gut, verdient aber nichts. Bleibt hoffentlich
so. Im dritten Wettbewerber sehe ich einen
Verbündeten: ein Durchwurschtler ohne
Wagemut, aber hoch solide.
Weil ich deutlich besser dastehe als er,
leiste ich mir Wertpapiere. Maschinen und
Mitarbeiter sind bis zum Anschlag ausgelastet,
da darf keiner krank werden. Stelle
schnell noch vier neue Mitarbeiter ein, das
System warnt mich: Gute Fachkräfte sind
derzeit knapp. Ich hoffe, ich habe die richtigen
erwischt, setze noch ein paar Schulungen
an und beschließe das Geschäftsjahr
mit einem Klick.
PHASE 4
Das Ruder rumreißen
Die Krise hat mich voll erwischt. Auch die
Konkurrenz musste Federn lassen, aber
bei mir sieht es am übelsten aus: Selbst der
Billigheimer hat mich überflügelt. Jetzt
heißt es Ruder rumreißen: Ich verkaufe
meine Aktien wieder, leere mein Materiallager
und stecke dafür mehr Geld in Werbung,
Training und Sozialausgaben. Und
stelle weitere Mitarbeiter für Produktion
und Forschung ein. Das muss doch noch
klappen!
Aber das Urteil des Computers ist ernüchternd:
Ich war zu knauserig. Die Kasse
ist gefüllt, aber meine Leute mussten
schuften bis zum Umfallen – drei haben gekündigt.
Und auch technisch konnte mein
Fahrrad nicht mithalten. Das Rennen hat
ausgerechnet der Konkurrent mit den Nobelrädern
gemacht. Na warte – morgen
spiele ich noch mal von vorn!
n
jenny niederstadt | management@wiwo.de
MANAGEMENT CUP
Sie sind der
Boss!
Auf den Sieger wartet ein Opel
Adam Rocks für bis zu 20 000 Euro.
DIE STORY
Wir schreiben das Jahr 2018: Die mobile
Kommunikation steht vor dem nächsten
großen Schritt, die Grenze zwischen
Smartphone und Tablet schwindet. Als
international tätiger Hersteller von Laptops
und Desktopcomputern steht Ihr
Unternehmen vor einer fundamentalen
strategischen Neuausrichtung. Konfrontiert
mit den rasanten Entwicklungen im
Tablet- und Smartphone-Markt, ist Ihr
Geschäftsmodell mittelfristig in Gefahr.
Ihr Hoffnungsträger: das Hochleistungs-
Tablet Durablet mit 24-Monats-Akku.
IHRE MISSION
Sie steuern ein Jahr lang den Erfolg des
Durablet – von der Etablierung im Markt
bis zum Eintritt in die Gewinnzone.
RUNDE 1: 22.10.–18.11.
Sie managen das erste Jahr, unterteilt
in vier Quartale – für jedes Quartal
haben sie jeweils eine Woche Zeit.
RUNDE 2: 19.11.–9.12.
Sie kümmern sich um die Weiterentwicklung
der kommenden drei Jahre,
für jedes Geschäftsjahr haben Sie eine
Woche Zeit.
DIE PREISE
In jeder Runde winken Sonderpreise –
darunter Uhren von Nomos Glashütte,
eine Reise nach Fuerteventura oder
Fahrertrainings. Der Spieler mit der
höchsten Gesamtpunktzahl der Finalrunde
gewinnt den Hauptpreis: einen
Opel Adam Rocks für bis zu 20 000 Euro.
ANMELDUNG
Bis 18. November, 12 Uhr,
unter wiwo.de/managementcup
ManagementCup
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 99
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse
Die richtige Zeit ist –
jetzt!
GELDANLAGE | Wer Geld übrig hat, kennt das Problem: Wohin damit? Bei Aktien droht
der Crash, bei Gold war er schon da, auch Immobilien scheinen überteuert.
Die Lösung: breit streuen. Wie Sie jetzt 15 000 oder 50 000 Euro am besten anlegen und
später einfach nachjustieren. Die Strategie ist erprobt, wer sie über Jahre durchzieht,
muss weder Nullzins noch Aktiencrash fürchten.
Früher“, sagt Margarethe Klein, 69,
da habe sie sich immer gefreut
auf den Brief von der Bank im Januar.
Der enthielt den Depotauszug
fürs Jahr davor, und Frau
Klein las zufrieden, dass sie wieder ein paar
Tausend Mark Zinsen bekommen hatte.
„Da hatte ich das Gefühl, dass ich belohnt
werde für mein Sparen.“ Freundinnen gingen
drei Mal im Jahr auf Flusskreuzfahrt;
Klein sparte. Weil sie muss: eine Ausbildung
zur Modeschneiderin hat sie gemacht,
aber auch drei Kinder großgezogen.
Vollzeit gearbeitet hat sie daher nur kurz –
und so kaum Rentenansprüche. Sie lebt
von den Zinsen, die das gemeinsam mit ihrem
Mann aufgebaute Vermögen abwerfen
soll, und von einer kleinen Witwenrente.
Die Auswirkungen der aktuellen Niedrigzinsen
sieht Klein schwarz auf weiß auf ihrem
Depotbericht: „Die Weihnachtsgeschenke
für die Enkel fielen in den letzten
Jahren schon ’ne Nummer kleiner aus.“
KEIN ZINS, NIRGENDS
Anhaltende Niedrigzinsen sind für Anleger
mehr als ein Luxusproblem. Sie schmälern
nicht nur die Erträge der Spargroschen;
auch Wertpapiere wie Staatsanleihen, in
die zum Beispiel Lebensversicherungen einen
Großteil ihrer Einlagen investieren
müssen, werfen kaum noch Rendite ab,
Versicherungen schütten ihrerseits immer
weniger an die Anleger aus. Das merken
die spätestens als Rentner. Wenn die Zinsen
20 Jahre lang im Schnitt auch nur 1,5
Prozentpunkte unter der Teuerungsrate
liegen, schrumpft die Kaufkraft eines Vermögens
von 100 000 Euro auf 74 000 Euro.
Dennoch legen die Deutschen weiter zinslastig
an. „Kaum jemand bringt
so viel Geld zur Bank wie wir, obwohl
die Zinsen noch niedriger
sind als im Rest Europas“, sagt
Aktien spielen keine Rolle
Wie die Deutschen ihr Geld investieren
(in Prozent)*
Investmentfonds
Zertifikate
2,0
Rentenpapiere
2,6
Aktien
6,3
9,1
Sonstiges
10,6
Gesamt:
5226
Mrd. Euro
29,6
Ansprüche gegen
Versicherungen
* ohne Immobilien; Stand: Dezember 2013;
Quelle: Bundesbank
39,8
Mehr zur Geldanlage
2015 bietet
unsere Konferenz:
www.wiwo-invest
mentgipfel.de/
Bankeinlagen
Allianz-Chefvolkswirt Michael
Heise. 5226 Milliarden Euro haben
wir in Summe an Privatvermögen
(ohne Immobilien) angehäuft;
mehr als 70 Prozent davon
liegen in Bankeinlagen wie
Tagesgeld und Festgeld, und in
Ansprüchen gegen Versicherungen
(siehe Grafik unten).
Nur jeder zehnte Deutsche ist Aktionär,
direkt oder über Fonds, in den USA jeder
zweite. „Die Börsen-Allergie ist nachvollziehbar,
zwei Mal konnten Anleger dort in
zehn Jahren die Hälfte ihres Einsatzes verlieren“,
sagt Joachim Paul Schäfer, einer der
dienstältesten deutschen Vermögensverwalter,
„viele haben Angst, schon
wieder zu spät zu kommen.“
Und es stimmt: Vor zwei Jahren
waren Aktien billiger. Nur
nutzt diese Erkenntnis wenig,
wenn man hier und heute Geld
anzulegen hat. Wohin also damit,
wenn sichere Zinsen nicht
mal die Inflation ausgleichen
und Aktien so teuer sind, dass
man fürchten muss, direkt in den
nächsten Crash zu laufen?
Die Lösung liegt in der richtigen
Mischung. Ein Depot aus je 30 Prozent
Aktien und Anleihen, 25 Prozent Gold und
15 Prozent Tagesgeld hat Anlegern seit
2000 5,6 Prozent Rendite pro Jahr eingebracht.
Seit Januar 2000 liegt es insgesamt
123 Prozent im Plus – trotz verheerender
Aktiencrashs und Niedrigzinsen. Wie Anleger
sich ein Depot bauen, was sie dabei beachten
müssen und mit welchen Aktien
und Fonds es bestückt werden kann, steht
auf den folgenden Seiten: einmal für 15 000
Euro und einmal für 50 000, die angelegt
werden sollen (siehe Tabelle Seite 103).
DIE ZINSEN BLEIBEN UNTEN
Eins vorweg: Einfacher wird es nicht werden.
Um in der Finanzkrise seit 2008 eine
Depression mit Banken- und Staatspleiten
zu verhindern, haben die Notenbanken die
Märkte mit Geld geflutet und die Zinsen
auf nahe null gesenkt. „Damit haben sie
damals Schlimmeres verhindert, doch nun
haben wir die Folgen dieser Geldpolitik zu
tragen“, sagt Daniel Stelter, Ex-Berater bei
Boston Consulting und Gründer des Krisen-Thinktanks
BTO. „Tagesgeld und Lebensversicherungen
werden durch die
»
FOTO: LAIF/MARTIN LEISSL
100 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Nichts wie weg Private
flohen von der Börse–
auf lange Sicht unklug
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse
30 % AKTIEN
»
unter der Inflationsrate liegenden Zinsen
entwertet, und für Aktien und Immobilien
müssen Anleger so hohe Preise bezahlen,
dass die Renditeaussichten auf Jahre
mau sind.“ Denn die Geschäftsbanken
nutzten das Notenbankgeld weniger, um
damit Kredite an Start-ups oder Mittelständler
zu vergeben. Sie verliehen es weit
großzügiger an Großinvestoren wie Hedgefonds.
Die kauften davon Anleihen, Aktien,
Immobilien. Folge: Alles ist teuer. Privatanleger,
die nicht früh mit auf den Trend
sprangen, haben das Nachsehen.
Dass die Zinsen bald wieder substanziell
steigen, ist sehr unwahrscheinlich. Schuld
daran sind die noch immer viel zu hohen
Schulden der Staaten; sie wurden seit Beginn
der Krise keineswegs abgebaut. Würden
die Zentralbanken jetzt die Zinsen erhöhen,
riskierten sie einen Rückfall in
schlimmste Krisenzeiten. „Die derzeitige
Ruhe trügt; die Schulden können nach wie
vor nicht auf normalem Wege zurückgezahlt
werden“, sagt Schäfer. Der anormale
Weg wären galoppierende Inflation oder
ein Schuldenschnitt, die Zinspapiere entwerten.
NUR KEINE PANIK
Viele fallen nun von einem Extrem ins andere:
„Im Moment fließt viel in Immobilien“,
weiß Uwe Wiesner vom Vermögensmanager
Hansen & Heinrich, „die Risiken
blenden viele komplett aus.“ Dort, wo Menschen
Wohnraum weiter nachfragen, sind
die Preise oben: In München etwa kletterten
sie seit 2008 um 56 Prozent. Zinshäuser
in guten Lagen kosten 25 Netto-Jahreskaltmieten
– zu viel.
Ein anderer Vermögensverwalter berichtet
von einem Kunden, Abteilungsleiter bei
einem Dax-Konzern, der aus einem Depot
Mehr Schub fürs Depot
ABB
21
19
17
15
ABB
in Euro
13
12 2013 2014
baut Antriebs- und
Automatisierungstechnik,
etwa Steuersysteme
für Schiffsschrauben.
Vom
Zwang zu mehr Energieeffizienz
profitieren
auch Anleger
von 500 000 Euro 100 000 machte, weil er
2012 fast alles in Gold und Goldminenaktien
investierte – in der festen Überzeugung,
der Euro gehe kaputt, und nur Gold
rette Vermögen.
Besser als solche Hauruck-Umschichtungen
ist es, das Depot zu streuen und regelmäßig
an die für die einzelnen Anlageklassen
festgelegten Quoten anzupassen.
Den Kern sollten Aktien, Anleihen, Cash
und Gold bilden. Sie sind schnell verfügbar,
ihre Preise sind transparent, und Gebühren
halten sich im Rahmen.
Aktien, Anleihen, Cash, Gold
Wie ein Vermögen von 50000 Euro angelegt
werden sollte (in Prozent)
Cash
20
30
Anleihen
Gold
(physisch) 20
50000
Euro
30
Aktien
Akzeptable Renditen sind ohne Aktien
kaum zu schaffen. „Nur die Privatwirtschaft
geht genügend unternehmerische
Risiken ein, um Renditen zu erzielen, die
auf Dauer über der Inflation liegen“, sagt
der Finanzmarktforscher Andreas Beck.
Der Aktienanteil am langfristig angelegten
Depot sollte mindestens 30 Prozent betragen.
Schwankungen müssen Anleger in
Kauf nehmen. Aktuell liegt die Befürchtung
nahe, dass der Dax schon zu weit gelaufen
sein könnte. Mehr als 9100 Punkte
scheinen angesichts von eskalierenden
Krisen in aller Welt, rekordhoher Verschuldung
der Staaten und schwächelnder
Konjunktur ambitioniert, vor allem,
weil die meisten Unternehmen zuletzt
kein Gewinnwachstum mehr erzielt haben
und die Kurse ihrer Aktien nur dank
des renditesuchenden Anlegergeldes weiter
stiegen.
LANGER ATEM ZAHLT SICH AUS
„Aktien sind nicht mehr billig, aber ihr
Preis muss relativ zu den anderen Anlageklassen
gesehen werden“, sagt Maik Bolsmann,
Co-Chef des Kölner Geldmanagers
B&K Vermögen. Berechnet man – analog
zur häufigsten Preisfindungsgröße für Aktien,
dem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV)
– das Preis-Gewinn-Verhältnis von Anleihen
oder Immobilien, sind Aktien immer
noch günstig. Das KGV der 30 Konzerne
im Dax liegt aktuell bei 13,7, über dem
langjährigen Durchschnitt von 11,5. Ein
Sechs-Parteien-Mietshaus in guter Lage
Hamburgs kostet gut drei Millionen Euro
und wirft jährlich Mieteinnahmen von
knapp 97 000 Euro netto ab, Nebenkosten
abgezogen. Damit hat es ein Preis-Gewinn-Verhältnis
von 32. Und deutsche
Staatsanleihen mittlerer Laufzeit bringen
0,2 Prozent Rendite, ihr KGV beträgt mehr
als 500.
Die Crash-Gefahr lässt sich minimieren:
Die Wahrscheinlichkeit eines Fehlstarts
wird kleiner, je länger man investiert. Seit
1949 endeten laut Wirtschaftsprofessor
Max Otte nur 16 von 64 Börsenjahren in
Deutschland mit Verlust. Wer fünf Jahre
durchhielt, konnte mit Pech seit 1949 neun
Mal mit Verlust aus der Börse gehen, dem
stehen 50 Perioden gegenüber, nach denen
Anleger ihre Aktien mit Gewinn verkauft
hätten. Bei zehn Jahren Haltedauer
sind es nur noch drei Verlustphasen, bei 15
Jahren gab es keine Anlageperiode mehr
mit einem negativem Ergebnis. Selbst
»
FOTO: PR
102 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Hinlegen und abwarten
Ein Mix aus Aktien, Anleihen, Cash und Gold bringt Anlegern auf lange Sicht stabile Erträge bei
überschaubarem Risiko. Bei 15 000 Euro lohnen sich nur Fonds, bei 50 000 dürfen es auch Einzeltitel sein
15 000 Euro werden investiert in:
40 % Aktien
Investment
Aktien-Indexfonds iShares Dax
Aktien-Indexfonds iShares MSCI
World
40 % Anleihen
iShares Euro Corporate Bond Large
Cap ETF
DB x-Trackers Souvereign Debt
20 % Cash
zum Beispiel: Tagesgeld bei der
ING Diba, 1822 Direkt oder Comdirect
50 000 Euro werden investiert in:
30 % Aktien
Aktien/Branche/Land
ABB
AB InBev
AT &T
Baidu
Google
Roche
SAP
Total
30 % Rentenfonds
Investment
Starcapital Winbonds plus 1
Acatis ifk Value Renten
20 % Gold
Anlage-Münzen, zum Beispiel:
1 Unze Krügerrand
20 % Cash
zum Beispiel: Tagesgeld bei der
ING Diba, 1822 Direkt oder Comdirect
ISIN
DE0005933931
DE000A0HGZR1
DE0002511243
LU0378818131
entfällt
ISIN
CH0012221716
BE0003793107
US00206R1023
US0567521085
US38259P5089
CH0012032048
DE0007164600
FR0000120271
ISIN
LU0340592095
DE000A0X7582
entfällt
entfällt
Kurs Depotanteil
(in Euro) (in Prozent)
80,54 20
27,85 20
133,82 20
214,92 20
Zins (in Prozent)
0,7 bis 0,8 4 20
Kurs Depotanteil
(in Euro) (in Prozent)
16,78 3,75
83,74 3,75
27,62 3,75
169,89 3,75
454,16 3,75
222,13 3,75
54,10 3,75
46,31 3,75
Kurs Depotanteil
(in Euro) (in Prozent)
1730,72 15
54,00 15
958,00 3 20
Zins (in Prozent)
0,7 bis 0,8 4 20
Kommentar
günstige Gebühren; kauft die 30 Aktien aus dem Dax
entsprechend ihrer Indexgewichtung, bildet den Dax daher
1:1 ab
günstige Gebühren, streut die Anlagesumme weltweit sehr
breit auf die 1612 Aktien des Index MSCI World
kostengünstig, investiert in viele europäische Unternehmensanleihen
mit überdurchschnittlich guter Bonität
kostengünstig, investiert weltweit in solide Staatsanleihen
verschiedener Währungen
täglich kündbar; deutsche Einlagensicherung
Börsenwert
(in Milliarden Euro)
40,09
137,95
181,29
60,79
281,14
199,98
68,47
113,69
Kommentar
Kurs-Gewinn-
Verhältnis 2014 2
16,9
18,5
13,2
30,1
21,5
18,5
16,1
10,1
hält 80 Prozent Anleihen, Rest solide Aktien und Cash
hält mindestens 66 Prozent Anleihen, Rest Aktien
Dividendenrendite
(in Prozent)
3,7
3,1
5,3
keine
keine
3,0
2,0
5,4
Gold sollten Anleger physisch in Anlagemünzen oder in
kleinen Barren halten. Keine Papier-Derivate auf Gold
als Goldersatz kaufen
täglich kündbar; deutsche Einlagensicherung; hohe Beträge
dennoch auf zwei bis drei Banken verteilen
Chance/
Risiko 1
7/6
6/5
5/4
4/3
2/1
Chance/
Risiko 1
8/6
8/6
7/6
7/6
7/6
6/5
7/6
7/6
Chance/
Risiko 1
4/3
5/4
7/6
2/1
1 1 = niedrig, 10 = hoch; 2 geschätzt; 3 Preis Feinunze (31,1 Gramm); 4 für alle Kunden; Neukunden bis 1,4 Prozent p. a.; Quelle: Bloomberg, Proaurum; Stand: 9. Oktober 2014
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 103
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse
»
wer kurz vor dem Jahrtausendcrash in
Aktien gegangen wäre, läge heute wieder
im Plus.
30 % ANLEIHEN
Voll im Tritt
GOOGLE
500
450
400
350
300
Google
in Euro
250
12 2013 2014
Anleihenkurse laufen oft umgekehrt zu denen
von Aktien, sodass Kursgewinne einen
Teil der Aktienverluste ausgleichen. Wichtiger
noch ist ihre Pufferfunktion: So hätte
ein Depot aus 50 Prozent Aktien und 50
Prozent kurz laufenden Anleihen sicherer
Schuldner auch im Jahrtausendcrash von
2000 bis 2002 schlimmstenfalls ein Drittel
an Wert verloren; ein reines Aktiendepot
bis zu 75 Prozent. Anleihen werden oft
falsch eingesetzt: Ihre primäre Aufgabe ist
es nicht, den Rendite-Kick fürs Portfolio zu
liefern, sondern Verluste zu begrenzen.
„Viele Anleger verlieren, je länger das Niedrigzinsumfeld
anhält, den Sinn für den Zusammenhang
von Chancen und Risiken;
sie kaufen riskante Papiere, etwa von Mittelständlern
mit nur einem Produkt, nur
weil die zwei Prozentpünktchen mehr Rendite
bieten als die Papiere seriöser Schuldner“,
sagt Portfoliomanager Wiesner.
Die Wahrscheinlichkeit, dass diese ausfallen,
ist aber unkalkulierbar höher als bei
Anleihen seriöser Schuldner. „Privatanleger
sollten den Fokus auf die Bonität des
Schuldners legen und nicht auf die – derzeit
ohnehin schwache – Rendite“, so Wiesner.
Gute Schuldner erkennen Anleger an
den Noten der Ratingagenturen und am
Kurs: Normalerweise werden Anleihen
zum Ende ihrer Laufzeit zu 100 Prozent ihres
Ausgabepreises zurückgezahlt. Viele
Anleihen sind derzeit teurer, was die jährliche
Rendite (Verzinsung/Kurs) drückt.
Sind Anleihen trotzdem weit unter 100
Prozent zu haben, signalisiert das sehr hohes
Risiko. „Wo viel Rendite ist, ist auch viel
Risiko, jeder, der Anlegern etwas anderes
erzählt, der lügt“, sagt Schäfer.
20 % BARGELD
Tagesgeld oder Geld auf dem Girokonto
eignet sich als Notfallreserve. Auch Anleihen
unterliegen Kursschwankungen, sodass
sie nicht jederzeit vorteilhaft verkauft
werden können. Für die Barreserve gilt
analog zu Anleihen: nicht für Zehntelprozentpünktchen
mehr Zins ein höheres Risiko
eingehen. Nur seriöse Banken mit Sitz
in der Europäischen Union, die in einen
Einlagensicherungsfonds einzahlen, kommen
infrage. Kracht das System, bietet
auch die EU-Einlagensicherung keinen
Komplettschutz; wer sehr viel Cash hat,
sollte es auf mehrere Banken verteilen.
20 % GOLD
zieht immer mehr
Werbegelder an
und investiert das
Geld geschickt in
Zukäufe für neue
Geschäftsfelder. Die
Aktie gehört in jedes
Depot
Gold wird in unserer Musterstrategie als
Versicherung eingesetzt, nicht primär als
Geldanlage. Denn es bietet vor allem
Schutz vor Extremsituationen wie hoher
Inflation, Währungsreformen, Aktiencrashs.
Unter dem Eindruck des damals
drohenden Systemzusammenbruchs
empfahl die WirtschaftsWoche 2009 bis zu
25 Prozent Goldanteil im Depot. Die Gefahr:
Verflüchtigen sich solche elementaren
Gefahren und steigen Wirtschaftswachstum
und Zinsen wieder, kann Gold
massiv an Wert verlieren und dann jahrzehntelang
vor sich hindümpeln; dies war
Anfang der Achtziger so. Auch seit 2012 fiel
der Goldpreis in Euro 30 Prozent zurück,
obwohl die Krisen in aller Welt weiter
schwelen. Trotzdem ist ein substanzieller
Goldanteil im Depot sinnvoll, derzeit bis zu
20 Prozent. Gold sollten Anleger immer in
Form von Münzen halten, nicht als Zertifikate:
„Sie kaufen keine Schneeketten und
legen sich eine Bescheinigung dafür, dass
Sie welche besitzen, in den Kofferraum“,
sagt Geldmanager Bolsmann, „Gold erfüllt
seinen Zweck als Rettungsanker in der Krise
nur, wenn Sie es physisch besitzen.“ Ob
Anleger in einer chaotischen Krisensituation
den ihnen auf dem Papier zugebilligten
Gegenwert in Gold wirklich von den Emittenten
der Papiere ausgeliefert bekämen,
ist zweifelhaft.
WIE LEGE ICH 15 000 EURO AN?
Für kleinere Depots sind Fonds erste Wahl.
Über sie kann auch mit weniger Geld auf
ausreichend viele Einzeltitel gestreut werden.
Indexfonds (ETFs) bilden einen Index
1:1 ab, etwa den Dax oder den weltweiten
Aktienindex MSCI World. Sie sind wesentlich
günstiger als gemanagte Fonds, der
Ausgabeaufschlag entfällt, die jährlichen
Kosten liegen meist bei nur 0,15 bis 0,5 Prozent.
Bei den von Investmentprofis aktiv
gemanagten Fonds fällt schon beim Kauf
eine Ausgabegebühr von bis zu fünf Prozent
der Investition an; die laufenden Verwaltungskosten
liegen bei rund 1,5 bis 2,0
Prozent. Für den Anleihenteil können auch
aktiv gemanagte Fonds eingesetzt werden,
da deren Gebühren deutlich unter denen
von Aktienfonds liegen. Im 50 000-Euro-
Portfolio können Anleger die Aktienkomponente
auch über Einzeltitel abdecken,
zum Beispiel durch die acht folgenden Titel,
alle von solide bilanzierenden und finanzierten
Konzernen und aussichtsreich.
ABB Mehr Energie
ABB baut Automatisierungs- und Energietechnik,
setzte 2013 43 Milliarden Dollar
um. Wegen technischer Schwierigkeiten,
etwa bei der Anbindung von Offshore-
Windparks ans Stromnetz, fiel der Gewinn
im zweiten Quartal schwächer aus als im
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA/SPATA, DDP IMAGES/BASHTA
104 Nr. 42 13.10.2014 WirtschaftsWoche
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Vorjahr (netto: minus 17 Prozent, auf 636
Millionen Dollar). Langfristig sollte ABB
aber vom Zwang zum Energiesparen und
Kostendruck in der Industrie profitieren:
ABB ist führend bei verlustreduzierender
Stromübertragung und in der Robotik. Die
Aktie ist konjunktursensibel, doch die Fokussierung
auf zwei Geschäftsfelder, die
von langjährigen Trends profitieren, macht
sie attraktiv. Das Management will bis 2020
den Gewinn um 10 bis 15 Prozent pro Jahr
steigern, der Umsatz soll um sieben Prozent
pro Jahr wachsen. Vier Milliarden Dollar
werden bis September 2016 in ein Aktien-Rückkauf-Programm
fließen, die Dividendenrendite
ist bereits jetzt mit 3,4 Prozent
attraktiv, sie sollte mit der Reduzierung
der Aktienanzahl weiter zulegen.
AB InBev Noch Durst
Mit umgerechnet fast 33 Milliarden US-
Dollar Jahresumsatz und einem globalen
Marktanteil von 20 Prozent ist die brasilianisch-amerikanische
AB InBev der weltweit
zweitgrößte Getränkekonzern (nach
Coca-Cola). Zum Portfolio gehören mehr
als 200 Marken. Obwohl in einer konservativen
Branche, konnte AB InBev seinen
Nettogewinn in den vergangenen fünf Jahren
um 216 Prozent auf 3,70 Euro je Aktie
steigern. Berühmt bei Anlegern und berüchtigt
bei Mitarbeitern ist die Kostendisziplin,
die das Management trotz des Expansionskurses
nie aus den Augen verliert.
Seit 2008 hat Ab InBev den freien Cash-
Flow von 2,1 auf 10 Milliarden Dollar pro
Jahr gesteigert. Das Geld kommt auch Aktionären
zugute: Die Dividende pro Aktie
stieg seit 2009 von 0,38 Euro auf 2,05 Euro.
AT & T Mobile Daten
Profitiert vom steigenden Volumen mobil
übertragener Daten: Nach Telefonie (via
Handy) und dem Internet (via Smartphone
oder Tablet) dürfte mit dem Auto bald der
nächste Massenmarkt für mobilen Datenverkehr
aufkommen. AT & T ist der Marktführer
für Mobilfunk und Festnetz-Telefonie
in den USA mit insgesamt 117 Millionen
Kunden. Für 67 Milliarden Dollar will
AT & T nun den Satelliten-TV-Betreiber DirecTV
übernehmen. Ein stolzer Preis, aber
AT & T kann dann Internet, Telefon, Mobilfunk
und Bezahlfernsehen aus einer Hand
bieten und gewinnt 32 Milliarden Dollar
Jahresumsatz und 20 Millionen Kunden.
Dank des üppigen Cash-Flows kann der
Konzern den Kaufpreis problemlos stemmen.
Für 2014 schätzen Analysten 133 Milliarden
Dollar Umsatz – neuer Rekord. »
STRATEGIE
Diszipliniert
umschichten
Ein regelmäßig neu justierter Mix
aus Aktien, Anleihen, Cash und Gold
schützt vor Verlusten. Wie geht das?
Es gibt eine einfache Methode, sein Geld
halbwegs sicher durch Krisen zu bringen
und noch eine annehmbare Rendite zu
behalten. Einzige Bedingung: Man muss
sie diszipliniert durchziehen. Immer.
Die von der WirtschaftsWoche erstmals
in Heft 27/2009 vorgestellte Mix-Strategie
hat seither 8,2 Prozent Rendite pro
Jahr gebracht. Rückgerechnet bis 2000,
läge das empfohlene Mischdepot aus je
30 Prozent Aktien und Anleihen sowie 25
Prozent Gold und 15 Prozent Bargeld
schon 123 Prozent im Plus – trotz anhaltender
Minizinsen und mehrerer verheerender
Aktiencrashs, wie 2008/09 und
2000 bis 2002.
Und so geht’s: Anleger verteilen ihr
Vermögen zu Beginn auf die vier Anlageklassen.
Aktien sollten mindestens 30
Prozent des Depots ausmachen, sie bringen
auf Dauer am meisten Rendite. 20
Prozent Gold sichern das Depot gegen
Hyperinflation und Finanz- und Staatsschuldenkrisen,
20 Prozent Bargeld dienen
als Liquiditätsreserve. Der in früheren
Ausgaben empfohlene Goldanteil von 25
Prozent hätte seit 2000 zwar eine etwas
höhere Rendite gebracht, bei einem späteren
Start aber etwas Rendite gekostet.
Letztlich sind die Unterschiede nicht gravierend:
Mit 20 Prozent Gold schlugen
seit 2000 vor Steuern 5,2 Prozent Rendite
pro Jahr oder 111 Prozent Gesamtplus
zu Buche, mit 25 Prozent Gold waren es
5,6 Prozent pro anno. Die Quoten der Anlageklassen
beim Start können Anleger
individuell festlegen: Wer mehr Risikorendite
will, packt mehr in Aktien und Gold
und weniger in Anleihen und Cash.
DURCHHALTEN!
Viel wichtiger ist: Die Strategie muss
konsequent durchgezogen und die
Ursprungszusammensetzung regelmäßig
wieder hergestellt werden: Sind etwa
Aktien gestiegen und machen deswegen
nach einem Jahr schon 40 Prozent des
Depots aus statt der vorgesehenen 30
Prozent, muss man Gewinne mitnehmen
und ein Viertel seiner Aktien verkaufen;
der Aktienanteil im Depot sinkt so wieder
auf 30 Prozent. Das frei gewordene Geld
investiert man in die anderen Anlageklassen,
am meisten in die am stärksten zurückgebliebene,
bis das Depot wieder die
alte Zusammensetzung hat. In unseren
Rechenbeispielen gehen wir von einer
Anpassung alle zwölf Monate aus.
Die regelmäßigen Zwangsanpassungen
sind eine wichtige psychologische Hilfe,
sie schützen vor dem gefährlichen Herdentrieb:
vor Käufen, wenn Börse oder
Goldpreis oben sind, weil dann ja stets alle
Experten sagen, dass die Kurse weiter
steigen werden. Und vor Verkäufen im
Kurstief, wenn alle Welt in Panik aus Aktien
raus will. Letztlich kaufen Anleger,
die sich einer so starren Regel unterwerfen,
billiger ein und verkaufen teurer als
Bleibt immer Gold als Versicherung gegen
Systemkrisen und Papiergeldentwertung
solche, die mit der Herde laufen. Auf lange
Sicht jedenfalls zahlt sich regelmäßiges
Anpassen nachweislich aus: Es hat
die Renditen pro anno, je nach Startjahr,
um 0,3 bis 0,9 Prozentpunkte pro Jahr
gesteigert. So wäre etwa der Goldanteil
eines 2008 gestarteten Mischdepots bis
Anfang 2013 ohne regelmäßiges Anpassen
von 20 auf 33 Prozent gestiegen. Der
folgende Gold-Preisrutsch hätte den Anleger
zehn Prozent seines Depotwerts gekostet.
Weil die Ausgangsverteilung aber
jedes Jahr wieder hergestellt wurde,
konnte etwas Gold zu Spitzenpreisen verkauft
werden; das Goldminus 2013 kostete
nur sechs Prozent des Depots; die Anstiege
der übrigen Posten glichen das
mehr als aus. Der Charme: Wer dieser
Strategie über Jahre folgt, braucht sich
keine Gedanken mehr zu machen, ob
etwa Aktien zu weit gelaufen sind und er
auf einen Rücksetzer warten muss.
niklas.hoyer@wiwo,de, stefan hajek
WirtschaftsWoche 13.10.2014 Nr. 42 105
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse
Werbebudgets (2014: eine halbe Billion
Dollar weltweit in allen Kanälen) immer
mehr ins Netz transferiert. Noch geht die
Hälfte des Gesamtetats in TV-Werbung;
doch das Internet holt auf, schon 2017 soll
mehr Geld in digitale als in traditionelle
Medien fließen. Es müsste Unvorhersehbares
passieren, sollte Google sich nicht einen
Großteil des Kuchens sichern.
Baidu Netz komplett
Baidu ist in China mit 71 Prozent Marktanteil
die unangefochtene Nummer eins bei
der Internet-Suche; ähnlich wie Google
baut sich Baidu zudem ein komplettes
Ökosystem aus Produkten und Dienstleistungen
um die Web-Suche herum auf:
Routenplaner, Musik, Videos, Spiele und
nützliche, kleine Programme (Apps) sowie
Speicherdienste im Web (Cloud) runden
das Angebot ab. Ende 2013 stammten 20
Prozent der Umsätze schon aus den neuen
Diensten, ihr Umsatzanteil wächst schnell.
Insgesamt wird Baidu 2014 rund 4,3 Milliarden
Euro Umsatz machen, 2013 waren es
3,9 Milliarden, 2006 erst 84 Millionen Euro.
Baidus größter Trumpf im Kampf um rund
500 Millionen chinesische Internet-Nutzer
ist seine starke Position im mobile Web (Internet-Nutzung
auf Handys und Tablets):
Auf fast jedem chinesischen Smartphone
ist die Baidu-App installiert, so stellen die
Chinesen sicher, dass sie erste Anlaufstelle
für Web-Nutzer bleiben.
BAT Unter Dampf
Dem politischen Druck auf Raucher zum
Trotz (Steuererhöhungen und Werbeverbote)
erzielten die Briten 2012 und 2013 je
rund fünf Milliarden Euro Nettogewinn.
Den schleichenden Absatzschwund in den
Industrieländern gleicht BAT durch Preiserhöhungen
fast aus. In den Schwellenländern
steigt die Zahl der Raucher noch; der
Glimmstängel einer westlichen Marke ist
dort Statussymbol. Die Schwellenländer
sind inzwischen der wichtigste Absatzmarkt
für BAT. In turbulenten Börsenzeiten
bieten solide bilanzierende, gut geführte
Konzerne mit globalem Geschäft (BAT: 162
Länder) und vielen bekannten Marken einen
Stabilitätsanker innerhalb des Aktienteils
im Depots. Anleger sollten auf solche
Schluck aus der Pulle
ANHEUSER-BUSCH INBEV
90
85
80
75
70
AB InBev
65
in Euro
60
12 2013 2014
braut mehr als 399
Millionen Hektoliter
Bier im Jahr für seine
über 200 Weltmarken,
wie hier Budweiser
in Tschechien.
Der starke Cash-flow
fließt in Dividenden.
Aktien nicht verzichten, zumal BAT eine attraktive
Dividendenrendite von aktuell 4,3
Prozent pro Jahr vor Steuern abwirft.
Google Digitaler Gewinner
Der Suchmaschinen-Gigant gehört zu den
Gewinnern des digitalen Wandels und damit
in jedes Depot. Auf die passenden
Kaufgelegenheit (Rücksetzer) zu warten
ist bei solchen Papieren schwierig, viele
Anleger bekommen so nie einen Fuß in die
Tür. Lieber bei kleinen Rückschlägen sukzessive
aufbauen. Noch ist kein Ende der
Erfolgsgeschichte absehbar. Global werden
Fonds und Cash
Wie ein Vermögen von 15000 Euro angelegt
werden sollte (in Prozent)
Cash
20
40
Anleihen-ETF
15000
Euro
40
Aktien-ETF
Roche Krisensicher
Die Schweizer sind stark bei Krebsmedikamenten.
In den kommenden Jahrzehnten
wird Krebs weltweit zunehmen, weil er bevorzugt
ältere Menschen trifft und die
Weltbevölkerung altert. Ein Investment in
Roche ist nicht zynisch; Forschung durch
kapitalstarke Medikamentenentwickler ist
bitter nötig. Die Zahl der Patienten in
Schwellenländern, die sich Medikamente
leisten können, nimmt zu. Die Aktie ist mit
einem KGV von 17 für 2015 nicht günstig.
Doch solide Unternehmen ohne Schulden
mit krisensicherem Geschäft rechtfertigen
einen Preisaufschlag gegenüber dem
Durchschnitt der Börse. Die Dividendenrendite
von derzeit 2,9 Prozent dürfte Roche
in den kommenden Jahren eher steigern
als kürzen, was der Aktie zusätzlich
Charme als Langfristinvestment verleiht.
Total Gut geölt
Ölaktien leiden unter dem zuletzt schwachen
Ölpreis und eingetrübten Konjunkturaussichten
weltweit, hohe Fixkosten
machen ihnen das Leben zusätzlich
schwer. Das ließ die Aktien 2012 und 2013
dem Rest der Börse hinterherlaufen. Total
hat sich rigide Sparprogramme auferlegt;
schwach rentable Assets im Wert von zehn
Milliarden Dollar sollen bis 2017 verkauft
werden, ein Sparprogramm soll den Cash-
Flow um 1,7 Milliarden Dollar pro Jahr steigern.
Total kann in Afrika und Südamerika
auf Quellen in sicheren Förderregionen zurückgreifen
– angesichts politischer Unruhen
im Nahen Osten und der Drohung
Russlands, seine Gasexporte zu drosseln,
ist das ein nicht zu unterschätzendes Argument
für die Aktie. Der Schiefergasboom in
den USA und der Einsatz erneuerbarer
Energien haben die Ölnachfrage etwas gedrückt,
langfristig aber sollte die steigende
Nachfrage aus Asien dies überkompensieren.
Anleger bezahlen für die Aktie rund
den zehnfachen Nettogewinn eines Jahres,
das ist nicht teuer. Die Dividendenrendite
von fünf Prozent (vor Steuern) versüßt ihnen
die Wartezeit auf Kursgewinne. n