Wirtschaftswoche Ausgabe vom 03.11.2014 (Vorschau)
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45<br />
3.11.2014|Deutschland €5,00<br />
4 5<br />
4 1 98065 805008<br />
Gefährliches Vertrauen<br />
Die Pillenmafia schleust gefälschte Medikamente<br />
in den Markt. Jetzt auch in Ihrer Apotheke?<br />
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-<br />
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Einblick<br />
Ein Hauch von Separatismus durchweht die EU. Der<br />
Wunsch nach neuen Grenzen und mehr Autonomie<br />
zeigt: Europa fehlt die Idee. Von Miriam Meckel<br />
Ermüdungsbruch<br />
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Eine Grenze löst sich selten auf:<br />
Am Sonntag, dem 9. November,<br />
wird das in Berlin geschehen. In<br />
abendlicher Dunkelheit sollen<br />
viele Tausend weiß leuchtende Ballons<br />
entlang des früheren Verlaufs der Mauer<br />
in den Himmel steigen. Ein schönes Bild<br />
und ein schönes Symbol zum 25. Jahrestag<br />
des Mauerfalls: Es wuchs zusammen,<br />
was zusammengehört.<br />
Berlin wird an diesem Abend eine Insel<br />
des seligen Entgrenzens in einem Europa<br />
der neuen Sollbruchstellen sein. Jedenfalls<br />
wenn es nach den Wünschen vieler Menschen<br />
in einzelnen europäischen Regionen<br />
geht. Sie wollen nicht mehr Integration,<br />
sondern neue Grenzen. Ebenfalls am 9.<br />
November findet in Katalonien eine Abstimmung<br />
über die Abgrenzung der Region<br />
von Spanien statt. Das spanische Verfassungsgericht<br />
hat das Referendum<br />
verboten. Wie immer es nun am Sonntag<br />
heißen wird, ein Wort lässt sich auswechseln,<br />
die Motive bleiben gleich. Die Katalanen<br />
werden an die Urnen gehen, um zu<br />
zeigen: Wir wollen unabhängig werden.<br />
In vielen EU-Staaten haben separatistische<br />
oder sezessionistische Bewegungen<br />
einen Riesenzulauf. Mit dem Baskenland<br />
bekundet in Spanien gleich eine zweite<br />
nördliche Region lautstark ihre Abspaltungswünsche.<br />
Das norditalienische Veneto<br />
sammelt fleißig Spenden, um die Selbstständigkeit<br />
schon einmal finanziell<br />
vorzubereiten. Vertreter eines unabhängigen<br />
Flandern sitzen seit einigen Wochen<br />
im belgischen Parlament. Die Probe aufs<br />
Exempel ist gemacht: Die Schotten haben<br />
sich im September gegen die Unabhängigkeit<br />
ausgesprochen. Danach brachten Busse<br />
die Unterstützertrupps frustrierter Katalanen,<br />
Südtiroler, Korsen, Bretonen und<br />
Finnland-Schweden wieder in ihre jeweils<br />
falsche Heimat zurück.<br />
Es ist kein Zufall, dass es die wirtschaftlich<br />
starken Regionen sind, die sich auf die<br />
eigenen Füße stellen wollen. Die Schotten<br />
sitzen auf großen Ölvorräten in der Nordsee.<br />
Nach einer Abspaltung von Großbritannien<br />
hätten sie die Milliardeneinnahmen<br />
aus dem Ölgeschäft endlich alleine<br />
verbuchen können. Katalonien trägt etwa<br />
20 Prozent zur Gesamtwirtschaftsleistung<br />
Spaniens bei. Von jedem Steuer-Euro, den<br />
die Region zahlt, bekommt sie 57 Cent zurück,<br />
der Rest geht in den Finanzausgleich<br />
für die ärmeren Regionen Spaniens. Ein Zustand,<br />
den viele Katalanen als „Steuerplünderung“<br />
bezeichnen. Sie wollen endlich<br />
auch fiskalpolitisch unabhängig werden.<br />
EU: GRENZEN DES WACHSTUMS<br />
Die Europa-Idee schwächelt. Sie löst keine<br />
Fantasie mehr aus, nicht an den Märkten<br />
und auch nicht bei den Menschen. Die Gegenbewegungen,<br />
die wir derzeit beobachten,<br />
setzen wieder auf den Dreiklang des<br />
Nationalstaats: Volkszugehörigkeit, geografische<br />
Abgrenzbarkeit, Selbstbestimmung.<br />
Grenzen werden immer dort besonders<br />
vehement neu gezogen, wo<br />
Entgrenzung das Leben unübersichtlich<br />
macht. Man wünscht sich die Welt kleiner,<br />
nicht größer.<br />
Es wächst zusammen, was zusammengehört.<br />
Das gilt für die deutsche Einheit,<br />
aber vielleicht nicht für Europa. Denn was<br />
nicht zusammengehört, wächst auch nicht<br />
zusammen, es sei denn, es gibt dafür überzeugende<br />
Gründe. Wachstum und Wohlstand<br />
sind die Treiber für Integration. So<br />
viel europäischer Realismus muss sein,<br />
auch wenn die Gründungsväter der Europäischen<br />
Gemeinschaft es gerne idealistischer<br />
gehabt hätten. Die Finanz- und Euro-<br />
Krise haben Europa die dämpfenden<br />
Fettpölsterchen von den dürren Knochen<br />
gefressen. Jetzt liegt das Skelett ziemlich<br />
blank und offenbart Ermüdungsbrüche.<br />
Man kann versuchen, die mit Beschwörungsformeln<br />
der europäischen Integration<br />
zu heilen. Oder man setzt auf stärkere<br />
Medizin: solide Staatsfinanzen, Investitionen<br />
in Wettbewerbsfähigkeit und transparente<br />
Sanktionsmechanismen.<br />
Im Internet kursiert eine Karte, die das<br />
Bild eines Patchwork-Europa zeigt:So sähe<br />
es aus, wenn alle separatistischen Bewegungen<br />
umgesetzt würden. Es ist eine Erinnerung<br />
an das düstere Mittelalter: als ob es<br />
Tausend Grenzen gäbe und hinter Tausend<br />
Grenzen keine Welt.<br />
n<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 3<br />
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Überblick<br />
VORGESTELLT<br />
Chefredakteurin Miriam Meckel<br />
präsentiert im Video diese <strong>Ausgabe</strong>.<br />
QR-Code bitte mit dem Smartphone scannen.<br />
Sie benötigen dafür eine App wie RedLaser.<br />
Menschen der Wirtschaft<br />
6 Seitenblick Berliner Mauer-Blüten<br />
8 Mobilfunk: Mittelständler greifen an<br />
9 Uber: Fahrer subventioniert | Stasi-Akten:<br />
Kein Geld mehr für Aufarbeitung<br />
10 Interview: Payback-Chef Dominik<br />
Dommick will Apple Konkurrenz machen |<br />
Schwarzfahrer: Duisburg liegt vorn<br />
12 Amazon: Verdi drängt in Aufsichtsräte |<br />
Geldwäsche: Länder verschärfen den<br />
Kampf | Drei Fragen zum Streikrecht<br />
14 Beiersdorf:Wirbel um Asienchef | Finanzaufsicht:<br />
Geiz ist geil | SAP: Neues Logo ist<br />
noch geheim<br />
16 Chefsessel | Start-up MyBook<br />
18 Chefbüro Michael Groß, Olympiasieger<br />
und Chef der Beratung Groß & Cie.<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
20 Serie Mauerfall (I) Von Ost nach West, von<br />
West nach Ost: Porträts zweier Grenzgänger<br />
28 Interview: Christian Schmidt Der deutsche<br />
Agrarminister über die Zukunft der<br />
Biobauern – und den Nutzen von Algen<br />
30 Separatismus Droht in Europa eine neue<br />
Kleinstaaterei? | Schweiz: Die zunehmende<br />
Abschottung sorgt die Wirtschaft<br />
38 Essay Eine kleine Geschichte des<br />
Nationalismus<br />
39 USA Vor den Wahlen am 4. November buhlen<br />
die Parteien um die Gunst der Latinos<br />
41 Global Briefing | Berlin intern<br />
Der Volkswirt<br />
44 Kommentar | New Economics<br />
45 Konjunktur Deutschland Die IG Metall<br />
eröffnet die Tarifrunde 2015<br />
46 Weltwirtschaft Wie tief fällt der Ölpreis?<br />
47 Denkfabrik RWI-Vizepräsident Thomas<br />
Bauer kritisiert die Flut von ökonomischen<br />
Rankings<br />
Titel Im Visier der Pillen-Mafia<br />
Die<br />
Grenzgänger<br />
Serie Mauerfall (I) Auch<br />
25 Jahre nach dem Fall der<br />
Mauer sind Manager mit Ost-<br />
West-Biografie selten. Doch<br />
es gibt Ausnahmen wie den<br />
bayrischen Bauern Siegfried<br />
Hofreiter – er baute im Osten<br />
einen Agrarkonzern auf.<br />
Seite 20<br />
Gefälschte Medikamente tauchen nicht<br />
nur im Internet, sondern zunehmend<br />
auch in Apotheken auf. Organisierte<br />
Kriminelle erzielen damit höhere Gewinne<br />
als im Drogenhandel. Behörden<br />
und Politiker schlagen Alarm.<br />
Seite 48<br />
Auf Bewährung<br />
Adidas-Chef Herbert Hainer ist Deutschlands dienstältester Leiter<br />
eines Dax-Konzerns. Nun muss er das Unternehmen neu erfinden –<br />
andernfalls droht ein hartes Ende seiner Karriere Seite 70<br />
Unternehmen&Märkte<br />
48 Arzneimittelfälschungen Organisierte<br />
Kriminelle schleusen gestreckte und<br />
manipulierte Präparate in die Apotheken<br />
58 Osram Vorstandschef Wolfgang Dehen ist<br />
als Stratege und Führungskraft überfordert<br />
62 Goldman Sachs Ex-Manager der US-Bank<br />
besetzen immer mehr Schlüsselpositionen<br />
64 Banken Die EZB will auch nach dem Stresstest<br />
strenger prüfen als nationale Aufseher<br />
68 Internet Pro und Contra: Sollte es bald ein<br />
Zwei-Klassen-Internet geben?<br />
TITELILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
4 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Nr. 45, 3.11.2014<br />
70 Adidas Konzernchef Herbert Hainer hat bei<br />
seinen Wachstumsplänen die Innovationen<br />
vernachlässigt<br />
Technik&Wissen<br />
74 Social Media Das Foto-Netzwerk Pinterest<br />
ist eines der wertvollsten Start-ups der Welt.<br />
Kann es Facebook den Rang ablaufen?<br />
79 Energie Wer mit Windstrom <strong>vom</strong> eigenen<br />
Dach Geld verdienen will, muss genaue<br />
Regeln beachten. Sonst wird es teuer<br />
81 Valley Talk<br />
FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CHRIS GLOAG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE; ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />
Abgeschirmt<br />
Welchen Lebensversicherern<br />
Anleger noch ihr Geld<br />
anvertrauen dürfen, zeigt<br />
das große Wirtschafts-<br />
Woche-Ranking. Wann<br />
es sich lohnt, Policen zu<br />
behalten, abzuschließen<br />
oder zu kündigen, erklären<br />
fünf Fallbeispiele<br />
von Kunden. Seite 92<br />
Das größte Schaufenster der Welt<br />
Whisky, Laufschuhe oder Tattoos – 800 Millionen Fotosammlungen<br />
machen das soziale Netzwerk Pinterest zum globalen Warenkatalog.<br />
Nur wie lässt sich damit Geld verdienen? Seite 74<br />
<strong>Ausgabe</strong> 2, November 2014<br />
Karriere<br />
Veni. Digi. Vici.<br />
Welche Digitaljobs gefragt sind, was Sie wissen<br />
müssen – und wie viel Sie verdienen können<br />
WiWo Karriere Mit<br />
digitalem Daumen<br />
Karriere digital: Was Bewerber wissen<br />
müssen | Plus: Was macht ein Big Data<br />
Scientist? 13 Digitaljobs mit Perspektive |<br />
Tipps für ein perfektes digitales Profil |<br />
Interview: Philips-Deutschland-Chefin<br />
Carla Kriwet (Start auf der Rückseite)<br />
Management&Erfolg<br />
82 Best of Consulting Das sind Deutschlands<br />
beste Unternehmensberater<br />
Geld&Börse<br />
92 Lebensversicherungen Kaufen, halten<br />
oder kündigen? Welche Police sich rechnet<br />
102 Wences Casares Wie der Sohn von Schafzüchtern<br />
zum Internet-Tycoon aufstieg und<br />
nun mit Bitcoin den großen Wurf wagt<br />
104 Steuern und Recht Kreditgebühren | Maklervertrag<br />
| Bonusmeilen | Schönheits-OPs<br />
106 Geldwoche Kommentar: Politik und Altersvorsorge<br />
| Trend der Woche: Gold | Dax-<br />
Aktien: Deutsche Bank, Commerzbank |<br />
Hitliste: Neuemissionen | Aktien: Travelers,<br />
Hasbro | Anleihe: Fiat | Zertifikat: Dax<br />
Reverse Bonus | Investmentfonds: UBS Key<br />
Selection Dynamic Alpha | Chartsignal:<br />
Kupfer | Relative Stärke: BHP Billiton<br />
Perspektiven&Debatte<br />
112 Ernährung Plädoyer für das Essen,<br />
das auf den Tisch kommt<br />
116 Kost-Bar<br />
Rubriken<br />
3 Einblick, 118 Leserforum,<br />
119 Firmenindex | Impressum, 120 Ausblick<br />
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />
weltweit auf iPad oder iPhone:<br />
Diese Woche mit einem Video-<br />
Kommentar zum Ölpreis, einer<br />
Fotoreportage zum<br />
sportlichen Zweikampf<br />
zwischen Adidas und<br />
Nike sowie einem 360-<br />
Grad-Blick ins Chefbüro.<br />
wiwo.de/apps<br />
n Veganismus Ein Gespräch mit der<br />
Veganerin und Buchautorin Bettina<br />
Hennig über Milch zum Frühstück,<br />
Entschleunigung und Fleisch als<br />
Potenzprojektion. wiwo.de/vegan<br />
facebook.com/<br />
wirtschaftswoche<br />
twitter.com/<br />
wiwo<br />
plus.google.com/<br />
+wirtschaftswoche<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 5<br />
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Seitenblick<br />
25 JAHRE WENDE<br />
Mauer-Blüten<br />
Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner<br />
Mauer tobt das Leben auf dem einstigen<br />
Todesstreifen. Hier wird gegründet, geshoppt, gebaut,<br />
gelernt und gefeiert.<br />
2<br />
1<br />
FLOHMARKT IM MAUERPARK<br />
Rainer Perske<br />
Bernauer Straße 63/64<br />
Seit 2014<br />
Bis zu 40 000 Menschen strömen<br />
sonntags in den Mauerpark. Für<br />
Touristen ist der Markt längst ein<br />
Muss, so wie Alex oder Museumsinsel.<br />
Der neue Betreiber ist über<br />
zehn Jahre im Geschäft, „aber<br />
das ist mein größtes Ding“.<br />
MALL OF BERLIN<br />
Leipziger Platz 12<br />
Seit 2014<br />
Noch vor drei Jahren<br />
konnte man die Ödnis<br />
des geteilten Berlins<br />
keine fünf Minuten südlich<br />
<strong>vom</strong> Brandenburger<br />
Tor spüren. 800 Millionen<br />
Euro kostete es, die<br />
alte trostlose Brache<br />
durch neue Granittristesse<br />
zu ersetzen. Vom<br />
Kaufhaus Wertheim,<br />
das hier einst stand,<br />
künden nur historische<br />
Fotos an den Wänden.<br />
4<br />
4<br />
MEHR ZUM THEMA<br />
Die Porträts zweier<br />
unternehmerischer<br />
Grenzgänger lesen Sie<br />
ab Seite 20<br />
X-BERLIN<br />
Susanne Wiggert<br />
Sebastianstraße 14/15<br />
Seit 2012<br />
Für eine siebenstellige Summe<br />
hat die Entwicklerin das<br />
Grundstück erworben. Für<br />
eine Baugemeinschaft entstehen<br />
jetzt 27 Wohnungen.<br />
„Sein Haus auf der Mauer<br />
zu bauen – toll, oder?“<br />
5<br />
6 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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1<br />
JUGENDVERKEHRSSCHULE<br />
PANKOW<br />
Straße vor Schönholz 20<br />
Seit 1996<br />
Alles da, was man so braucht:<br />
Eine kleine Einbahnstraße,<br />
Kreisverkehr und Vorfahrtstraßen,<br />
Stoppschilder,<br />
Halteverbote, und auch die<br />
Ampeln an der Kreuzung<br />
leuchten alle einwandfrei.<br />
Früher wachten hier die DDR-<br />
Grenzer, jetzt nur noch<br />
freundliche Verkehrspolizisten<br />
über radelnde Schüler.<br />
3<br />
2<br />
3<br />
MERISIER<br />
Anna Bojic & Marc Lampe<br />
Brunnenstraße 141<br />
Seit 2013<br />
Ihre Sehnsucht nach stilvollen,<br />
edlen Geschenken<br />
konnte das Paar nirgendwo<br />
stillen im Netz. Also entwickelten<br />
die beiden mit<br />
ihrem Ersparten selbst,<br />
wonach sie immer gesucht<br />
hatten: Merisier ist ein Präsente-Service<br />
für gehobene<br />
Ansprüche. Ihr Konzept<br />
überzeugte auch in der<br />
Factory, dem Google-Gründercampus<br />
direkt an der<br />
Mauergedenkstätte. „Die<br />
Aura dieses Ortes“, sagt<br />
Lampe, „ist einmalig.“<br />
5<br />
6<br />
HENNE<br />
Angela Leistner<br />
Leuschnerdamm 25<br />
Seit 1986<br />
Das Interieur dieser Kneipe ist<br />
von 1908. Zwei Weltkriege, der<br />
Mauerbau fünf Meter entfernt,<br />
nur die Henne blieb wie immer.<br />
Obwohl, nicht ganz: So viel Englisch,<br />
sagt die Pächterin, habe<br />
sie im Laden früher nie gehört.<br />
6<br />
FOTOS: GOOGLE EARTH, ACTION PRESS/PHOTOWEB/REINER ZENSEN<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 7<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
Auf dem Sprung<br />
Liquid-Broadband-<br />
Chefin Rickert<br />
MOBILFUNK<br />
Angriff auf Telekom und Co.<br />
Deutsche Mittelständler wollen bei der<br />
Mobilfunkauktion im nächsten Jahr<br />
mitbieten. Die Idee: Die Bürger bauen<br />
ihr eigenes Mobilfunknetz.<br />
Durch die Fusion der beiden kleinen Netzbetreiber<br />
Telefónica und E-Plus hatte der deutsche Mobilfunkmarkt<br />
eigentlich seine endgültige Struktur gefunden:<br />
Die 116 Millionen im Umlauf befindlichen<br />
SIM-Karten stammen von drei Konzernen: Deutsche<br />
Telekom, Vodafone und Telefónica/E-Plus.<br />
Der Markt ist gesättigt, die besten Standorte für Mobilfunkmasten<br />
sind besetzt. Bisher galt es als unwahrscheinlich,<br />
dass ein Neuling den drei Großen<br />
den Kampf ansagt, wenn im kommenden Frühjahr<br />
Mobilfunkfrequenzen versteigert werden.<br />
Eine Reihe deutscher Mittelständler will jedoch<br />
mit einem Start-up beweisen, dass doch Platz für<br />
einen vierten, viel preiswerteren Mobilfunkbetreiber<br />
ist. Die Firma heißt Liquid Broadband und hat<br />
ihr erstes Büro in Frankfurt am Main eröffnet. Ihr<br />
Plan: „Wir bauen flächendeckend ein Volksnetz, an<br />
dem sich Bürger, Unternehmen und Kommunen<br />
direkt beteiligen können“, sagt Geschäftsführerin<br />
Beate Rickert. Möglich ist das durch ein neues<br />
Übertragungsverfahren. Liquid Broadband benötigt<br />
keine teuren Funkmasten auf Dächern. Die<br />
Technik passt in so handliche Boxen, dass sie sich –<br />
ähnlich wie WLAN-Router – auf Fensterbänken in<br />
Wohnungen oder Büros aufstellen lassen. Die Investition<br />
in den Netzausbau lässt sich damit auf unter<br />
eine Milliarde Euro drücken. Die Sendeleistung<br />
einer Box reicht aus, um ein Areal im Umkreis von<br />
bis zu 500 Metern zu versorgen. Ein Teil der Kunden<br />
wird so Mitbetreiber des Netzes und soll im Gegenzug<br />
kostenlos oder zum symbolischen Preis von<br />
fünf Euro mobil surfen und telefonieren können.<br />
Wer genau die Gründer von Liquid Broadband<br />
sind, will Geschäftsführerin Rickert noch nicht<br />
verraten. Nur so viel deutet sie an: „Hinter uns steht<br />
eine Gruppe mittelständischer Investoren.“ Mehr<br />
wissen auch das Bundeswirtschaftsministerium<br />
und die Bundesnetzagentur noch nicht. Dort<br />
kämpft die Ex-Cheflobbyistin von Kabel Deutschland<br />
für eine Änderung des Auktionsverfahrens.<br />
Nach den derzeit geltenden Regeln können die drei<br />
finanzkräftigen Mobilfunkkonzerne den Markteintritt<br />
von Liquid Broadband mit höheren Geboten<br />
verhindern. Rickert fordert deshalb, „einen Teil des<br />
Funkspektrums für einen Neueinsteiger zu reservieren“.<br />
Bisher ist das nicht geplant. Im Gegenteil:<br />
Die Bundesnetzagentur will die Mindestgebote für<br />
einen Block von zwei Mal fünf Megahertz in den<br />
Frequenzbändern 700 und 900 Megahertz von fünf<br />
auf 150 Millionen Euro anheben. Nach Ansicht von<br />
Rickert ist das ein Gesetzverstoß: Das Telekommunikationsgesetz<br />
schreibt bei Auktionen ausdrücklich<br />
vor, „die Belange kleinerer und mittlerer Unternehmen<br />
zu berücksichtigen“. juergen.berke@wiwo.de<br />
Riesen unter sich<br />
Wie sich der deutsche<br />
Mobilfunkmarkt aufteilt<br />
Kundenzahl und Marktanteil<br />
45,3<br />
Mio.<br />
(38,9%)<br />
Telefónica/<br />
E-Plus<br />
39,3<br />
Mio.<br />
(33,7%)<br />
Deutsche<br />
Telekom<br />
Stand: 30. Juni 2014;<br />
Quelle: Bundesnetzagentur<br />
31,9<br />
Mio.<br />
(27,4%)<br />
Vodafone<br />
8 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, BLOOMBERG NEWS/BRENT LEWIN, PR; JOCHEN MÜHLENBECK VG BILD-KUNST BONN 2014<br />
UBER<br />
Subventionen für Fahrer<br />
Der Taxikonkurrent Uber greift<br />
seinen deutschen Fahrern zurzeit<br />
finanziell massiv unter die<br />
Arme. Eigentlich erhält Uber eine<br />
Provision von 20 Prozent des<br />
Fahrerlohns, doch stattdessen<br />
zahlt das US-Unternehmen<br />
nach Informationen der WirtschaftsWoche<br />
bei den Fahrten<br />
drauf. So erhalten beispielsweise<br />
Wagenlenker in Düsseldorf<br />
von Uber pro Strecke zusätzlich<br />
um die acht Euro zum eigentlichen<br />
Fahrpreis. Der liegt nicht<br />
selten bei nur vier bis fünf Euro.<br />
So will Uber-Chef Travis<br />
Kalanick die UberPop-Fahrer<br />
bei der Stange halten, die per<br />
Smartphone-App gerufen werden<br />
und mit ihren Privatautos<br />
Fahrgäste durch Großstädte wie<br />
Berlin, Hamburg und München<br />
chauffieren. Denn dem Vernehmen<br />
nach läuft das Geschäft –<br />
etwa wegen anhaltender juristischer<br />
Auseinandersetzungen<br />
mit der Taxibranche – hierzulande<br />
nur mühsam an. Die Subvention<br />
soll im Laufe der Zeit<br />
reduziert werden. „Die nähern<br />
sich schrittweise dem eigentlichen<br />
Geschäftsmodell“, sagt ein<br />
Fahrer. Uber wollte sich auf Anfrage<br />
zu Vertragsdetails nicht<br />
äußern.<br />
Auch in den USA wird derzeit<br />
heftig gestritten, wie viel die<br />
Naturtrübe Aussichten<br />
Pro-Kopf-Verbrauch von Apfel- und<br />
Orangensaft in Deutschland<br />
2005<br />
12,5 l<br />
Apfelsaft<br />
2013*<br />
8,4 l<br />
2005<br />
9,5 l<br />
Mühsames Wachstum<br />
Uber-Gründer Kalanick<br />
Fahrer bei UberX (dem US-<br />
Pendant zu UberPop in Europa)<br />
wirklich verdienen. Uber behauptet,<br />
das mittlere Jahreseinkommen<br />
liege bei 90 000 Dollar.<br />
Viele Fahrer jedoch klagen, bei<br />
Vollzeitbeschäftigung nur zwischen<br />
10 000 und 41 000 Dollar<br />
zu schaffen. Bei einigen bleibe<br />
unter dem Strich deutlich weniger<br />
als der in den USA geltende<br />
gesetzliche Mindestlohn von<br />
7,25 Dollar pro Stunde übrig.<br />
Orangensaft<br />
2013*<br />
8,0 l<br />
thomas.stoelzel@wiwo.de<br />
* vorläufige Daten; Quelle: Verband der deutschen Fruchtsaftindustrie, 2014<br />
Aufgeschnappt<br />
Schreckensname In den USA<br />
tobt ein Machtkampf um das<br />
Bezahlen mit dem Smartphone.<br />
Große Händler wie Walmart und<br />
CVS boykottieren Apple-Pay, sie<br />
wollen lieber ein eigenes System<br />
aufbauen. Auch die Telekomriesen<br />
AT&T, T-Mobile und Verizon<br />
bieten eine gemeinsame Eigenlösung<br />
an: Softcard. Den Namen<br />
ihres 2010 gegründeten Joint<br />
Ventures mussten sie aber kürzlich<br />
ändern. Ursprünglich hieß<br />
der Bezahldienst Isis, so wie die<br />
Terrorgruppe in Nahost.<br />
Katzenkopfhörer Nachdem<br />
Apple die Kultkopfhörermarke<br />
Beats für drei Milliarden Dollar<br />
gekauft hatte, rätselten selbst<br />
Experten, was die Mannschaft<br />
um Designer-Ikone Johnny Ive<br />
mit der Marke plant. Die neueste<br />
Beats-Edition hätten die Fans<br />
des minimalistischen Apple-Designs<br />
aber sicher nicht erwartet:<br />
Kopfhörer im knallbunten Hello-<br />
Kitty-Look.<br />
STASI-AKTEN<br />
Kein Geld<br />
zum Puzzeln<br />
Pro-Kopf-Verbrauch an Fruchtsäften<br />
und Fruchtnektaren in ausgewählten<br />
Ländern (2013)<br />
33,0 l<br />
Das Projekt zur virtuellen Rekonstruktion<br />
zerrissener Stasi-<br />
Akten steht vor dem Aus. Der<br />
<strong>vom</strong> Fraunhofer-Institut für<br />
Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik<br />
(IPK) entwickelte<br />
„ePuzzler“ hat den Inhalt<br />
von 23 Säcken zusammengesetzt<br />
– insgesamt 700 000<br />
Schnipsel. Um die Papiere aller<br />
16 000 Säcke zu digitalisieren,<br />
bräuchten die Wissenschaftler<br />
nun einen leistungsfähigeren<br />
Scanner. Doch das bisher mit<br />
acht Millionen Euro aus Bundesmitteln<br />
finanzierte Projekt<br />
läuft zum Jahresende aus. Die<br />
zuständige Staatsministerin<br />
Monika Grütters fordert eine<br />
„grundsätzliche Entscheidung<br />
des Parlaments über die Fortführung<br />
des Projektes“. Für die<br />
nächsten drei Jahre benötigt<br />
Fraunhofer sechs Millionen Euro.<br />
„25 Jahre nach dem Mauerfall<br />
können wir die zerrissenen<br />
Stasi-Unterlagen nicht einfach<br />
wegschmeißen“, sagt CDU-Forschungspolitiker<br />
Philipp Lengsfeld.<br />
Am 13. November beraten<br />
die Abgeordneten ein letztes<br />
Mal den Bundesetat;da könnten<br />
sie noch beschließen, das<br />
Projekt fortzuführen.<br />
28,1 l<br />
24,6 l<br />
marc etzold | mdw@wiwo.de<br />
20,1 l 11,8 l<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 9<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
SCHWARZFAHRER<br />
Duisburg<br />
liegt vorn<br />
Deutschlands Schwarzfahrer-<br />
Hochburg ist Duisburg. Mehr<br />
als vier Prozent der kontrollierten<br />
Fahrgäste dort nutzten<br />
Busse und Bahnen 2013 ohne<br />
Ticket. Fast genauso hoch war<br />
die Schwarzfahrerquote in<br />
Bonn, Berlin und Bielefeld.<br />
Das ergab eine Umfrage der<br />
WirtschaftsWoche (siehe Grafik).<br />
Pro Jahr entgehen den<br />
Nahverkehrsbetrieben in<br />
Deutschland so Einnahmen in<br />
Höhe von 250 Millionen Euro,<br />
schätzt der Verband Deutscher<br />
Verkehrsunternehmen.<br />
Allein Duisburg musste<br />
2013 auf rund fünf Millionen<br />
Euro Umsatz verzichten. Seit<br />
Anfang des laufenden Jahres<br />
setzt die Stadt daher auf ein<br />
Konzept, das sich in den<br />
Nachbarstädten Mülheim und<br />
Essen bewährt hat: Der<br />
Schwarzfahrer spart das Bußgeld,<br />
wenn er noch im Fahrzeug<br />
ein Monatsticket kauft<br />
oder ein Abo abschließt.<br />
Die Verkehrsminister der<br />
Bundesländer wollen das „erhöhte<br />
Beförderungsentgelt“<br />
zudem von 40 auf 60 Euro<br />
anheben. Eine Initiative des<br />
Bundesrats läuft, angestoßen<br />
<strong>vom</strong> schleswig-holsteinischen<br />
Wirtschaftsminister<br />
Reinhard Meyer (SPD).<br />
Ohne Ticket<br />
Städte mit der höchsten Schwarzfahrerquote<br />
(in Prozent der<br />
kontrollierten Fahrgäste)*<br />
Duisburg<br />
Bonn<br />
Berlin<br />
Bielefeld<br />
Köln<br />
München<br />
Stuttgart<br />
Hamburg<br />
Bremen<br />
Dresden<br />
christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />
* unter den 20 größten Städten<br />
Deutschlands (Frankfurt: k.A.);<br />
Quelle: Nahverkehrsbetriebe<br />
4<br />
3,5–4<br />
3–4<br />
3–4<br />
3,3<br />
3<br />
3<br />
2,5–3<br />
2,5<br />
2,4<br />
INTERVIEW Dominik Dommick<br />
»Selbst Apple ist<br />
nicht stark genug«<br />
Der Payback-Chef will die Plastikkarte durch<br />
Smartphones ersetzen und Apple beim Bezahlen<br />
mit dem Handy Konkurrenz machen.<br />
Herr Dommick, die Frage nach<br />
der Payback-Karte an der Ladenkasse<br />
nervt. Gewinnen Sie<br />
so überhaupt noch Kunden?<br />
Weltweit sind wir unter anderem<br />
dank der Expansion nach<br />
Italien jetzt fast bei 75 Millionen<br />
Kunden, 2013 waren es 50 Millionen.<br />
In Deutschland haben<br />
wir über 24 Millionen aktive<br />
Nutzer, vier Millionen mehr als<br />
im Vorjahr. Natürlich nicht nur,<br />
weil an der Kasse nach der Karte<br />
gefragt wird, sondern da wir<br />
starke Partner dazugewonnen<br />
haben – wie dieses Jahr Rewe.<br />
Dafür haben Sie Obi oder<br />
Europcar verloren.<br />
Der Obi-Ausstieg war schon vor<br />
acht Jahren. Aber ja, natürlich<br />
hätten unsere Kunden und wir<br />
wieder gerne einen Baumarkt<br />
an Bord. Und mit Sixt statt Europcar<br />
fahren unsere Kunden<br />
auch nicht schlecht.<br />
Auch bei Amazon gibt es keine<br />
Payback-Punkte mehr.<br />
Amazon war nie offizieller Partner,<br />
sondern ein Affiliate-Partner<br />
im Online-Shop. Die Partnerschaft<br />
wurde übrigens nicht<br />
von Amazon beendet.<br />
Weil Amazon nicht für alle Produkte<br />
Punkte geben wollte?<br />
DER PUNKTEVERTEILER<br />
Dommick, 42, ist seit drei Jahren<br />
Geschäftsführer von Payback.<br />
Zuvor leitete er den Bezahldienst<br />
PayPal im deutschsprachigen<br />
Raum und war bei Beiersdorf für<br />
das digitale Marketing von Nivea<br />
verantwortlich.<br />
Zu den Details darf ich nichts<br />
sagen. Aber Sie bekommen weiterhin<br />
bei 600 anderen E-Commerce-Shops<br />
Punkte, wenn sie<br />
über Payback.de einkaufen.<br />
Darunter sind 80 der 100 größten<br />
Online-Händler, wie Ebay,<br />
Expedia oder Zalando.<br />
Welchen Anteil macht der<br />
Online-Handel bei Ihnen?<br />
Wir liegen im Digitalbereich<br />
über 30 Prozent. Auch im Online-Handel<br />
wird die Bindung<br />
von Bestandskunden wichtiger<br />
als die Gewinnung von Neukunden.<br />
Wann kann ich mein Smartphone<br />
statt der Karte zeigen?<br />
Wir selbst könnten es technisch<br />
sofort anbieten, aber die meisten<br />
Kassen der Partnerunternehmen<br />
können noch keine<br />
Smartphones scannen. Eines<br />
der großen Probleme ist die Suche<br />
nach einem gemeinsamen<br />
technischen Standard. Das wird<br />
sich jedoch sehr bald ändern.<br />
Weil Apple den mit seinem<br />
Bezahldienst setzt?<br />
Bislang gibt es viele Einzellösungen,<br />
aber keiner ist stark genug,<br />
sie zum Standard zu machen.<br />
Ich glaube, selbst der<br />
Marktanteil von Apple reicht<br />
dafür nicht. Wir werden daher<br />
auch in Zukunft zwei, drei oder<br />
vier Standards sehen.<br />
Und Sie docken überall an?<br />
Derzeit haben wir in Deutschland<br />
zugleich ein Technologieproblem<br />
und ein Mehrwertproblem.<br />
Mobile Payment schafft<br />
alleine nicht genug Mehrwert.<br />
Der Kunde hat erst etwas davon,<br />
wenn verschiedene Vorgänge<br />
digitalisiert werden: <strong>vom</strong><br />
Zeigen der Treuekarte bis zum<br />
Bezahlen. Ich denke, dass wir in<br />
der Lage sind, einen eigenen<br />
Payback-Standard zu schaffen.<br />
Denn wir können große Händler<br />
zusammenbringen und<br />
mehrere Nutzerschritte zusammenfassen.<br />
Wann kommt so eine Lösung?<br />
Das ist schwer zu prognostizieren,<br />
da wir uns im Verbund mit<br />
unseren Partnern abstimmen.<br />
Aber wir sind in der Testphase.<br />
Sind Sie schnell genug?<br />
In der Branche ist es das heißeste<br />
Thema, aber in der Realität<br />
noch klein. Ich glaube auch<br />
nicht, dass Mobile Payment in<br />
ein, zwei Jahren explodiert.<br />
Sind nach Polen, Mexiko und<br />
Indien weitere Märkte geplant?<br />
Ja, wir wollen in weiteren Ländern<br />
starten. Es gibt konkrete<br />
Gespräche, aber noch nichts<br />
anzukündigen. Optimal ist es,<br />
mit jeweils fünf marktführenden<br />
Unternehmen zu launchen,<br />
daher kann man schwer<br />
sagen, wann es so weit ist.<br />
Jährlich werden für Bezahlvorgänge<br />
von 15 Milliarden Euro<br />
Payback-Punkte vergeben. Wie<br />
viel bleibt bei Ihnen hängen?<br />
Wir erhalten eine fixe Gebühr<br />
und variable Beteiligungen für<br />
Marketingaktionen. Insgesamt<br />
liegt die Summe im niedrigen<br />
Hundert-Millionen-Bereich.<br />
oliver.voss@wiwo.de<br />
FOTO: THOMAS DASHUBER<br />
10 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
AMAZON<br />
Verdi drängt in Aufsichtsräte<br />
Im Tarifstreit mit Amazon erhöht<br />
die Gewerkschaft Verdi<br />
den Druck auf das Management<br />
des Netzgiganten um Deutschland-Chef<br />
Ralf Kleber. Neben<br />
Streiks im Weihnachtsgeschäft<br />
drängt die Gewerkschaft auch<br />
in die Aufsichtsräte von Ama-<br />
GELDWÄSCHE<br />
Späte<br />
Aufholjagd<br />
Die Bundesländer haben den<br />
Kampf gegen die Geldwäsche<br />
erheblich verstärkt. Gab es 2011<br />
kein einziges Bußgeldverfahren<br />
wegen Verstößen gegen das<br />
Geldwäschegesetz und 2012 gerade<br />
einmal 24, so wurden 2013<br />
bereits 244 Verfahren eingeleitet.<br />
Am Ende wurden in 137 Fällen<br />
tatsächlich Bußgelder verhängt.<br />
Im ersten Quartal dieses<br />
Jahres gab es 23 Verfahren, sieben<br />
endeten mit einem Bußgeld.<br />
Das ergibt sich aus einer<br />
Auflistung des Bundesfinanzministeriums<br />
für den Finanzausschuss<br />
des Bundestages, die<br />
der WirtschaftsWoche vorliegt.<br />
Stark ausgeweitet wurden in<br />
diesem Jahr vor allem die Vor-<br />
Neuer Ärger<br />
Amazon-<br />
Deutschland-Chef<br />
Kleber<br />
Ort-Kontrollen bei Autohändlern,<br />
Versicherungsvermittlern<br />
und Juwelieren (siehe Tabelle).<br />
Der Eifer der Bundesländer<br />
ist unterschiedlich. Rheinland-<br />
Pfalz kontrolliert relativ am<br />
häufigsten, auch Baden-Württemberg<br />
spürt intensiv nach.<br />
Bayern und Sachsen, zunächst<br />
untätig, haben seit 2013 aufge-<br />
Autohändler im Visier<br />
Geldwäsche-Kontrollen nach Branchen<br />
Branche<br />
Finanzunternehmen<br />
Versicherungsvermittler<br />
Immobilienmakler<br />
Spielbanken<br />
Kfz-Händler<br />
Immobilienhändler<br />
Juweliere (inkl. Goldoder<br />
Edelsteinhändler)<br />
Quelle: Bundesfinanzministerium<br />
2011<br />
0<br />
20<br />
230<br />
2<br />
63<br />
0<br />
2<br />
zon-Tochterunternehmen.<br />
„Ziel ist es, künftig auch über<br />
die Gremien gegen die Tarif-<br />
Blockade des Konzerns vorzugehen“,<br />
kündigt Stefan Najda<br />
an, der bei Verdi für den Online-<br />
Handel zuständig ist. So hat<br />
Verdi in den vergangenen Wochen<br />
an den Amazon-Standorten<br />
Leipzig, Graben, Koblenz<br />
und Rheinberg sogenannte Statusverfahren<br />
eingeleitet. Dabei<br />
wird gerichtlich überprüft, ob<br />
die jeweiligen Amazon-Tochterunternehmen<br />
mehr als 2000<br />
Mitarbeiter beschäftigen und<br />
entsprechend Aufsichtsräte<br />
bilden müssen, bei denen die<br />
Beschäftigten die Hälfte der<br />
Mitglieder stellen.<br />
Vorbild der Aktion ist das<br />
Amazon-Lager in Bad Hersfeld.<br />
Dort wurden Ende August zwei<br />
Verdi-Vertreter in den Aufsichtsrat<br />
gewählt. Zuvor war das<br />
Kontrollgremium über ein Statusverfahren<br />
erweitert worden.<br />
„Bad Hersfeld war der Anfang“,<br />
sagt Verdi-Vertreter Najda. Nun<br />
seien die vier anderen Standorte<br />
dran. Amazon sieht die Voraussetzungen<br />
für paritätisch<br />
besetzte Aufsichtsräte dagegen<br />
nicht erfüllt. Das Unternehmen<br />
werde an den vier Standorten<br />
„dauerhaft weniger als 2000<br />
Mitarbeiter“ beschäftigen, sagt<br />
eine Sprecherin.<br />
henryk.hielscher@wiwo.de<br />
holt. Hamburg und Nordrhein-<br />
Westfalen wollten nicht einmal<br />
mitteilen, wie die Arbeit läuft.<br />
Der Fahndungsdruck wird<br />
steigen: Das Parlament will in<br />
der Abgabenordnung den Finanzämtern<br />
erlauben, bei Verdacht<br />
von sich aus die Aufsichtsbehörden<br />
zu informieren.<br />
2012<br />
100<br />
813<br />
828<br />
21<br />
776<br />
135<br />
206<br />
henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />
Anzahl<br />
2013<br />
145<br />
673<br />
3152<br />
7<br />
1318<br />
246<br />
289<br />
1. Vj. 2014<br />
62<br />
347<br />
196<br />
0<br />
453<br />
21<br />
164<br />
DREI FRAGEN...<br />
...zum Streikrecht<br />
Gregor<br />
Thüsing<br />
43, Professor<br />
für Arbeitsrecht<br />
an der Universität<br />
Bonn<br />
n Arbeitsministerin Andrea<br />
Nahles hat am vergangenen<br />
Dienstag ihren Gesetzentwurf<br />
zur Tarifeinheit vorgelegt.<br />
Ein gelungenes Werk?<br />
Nein. Das Kernproblem sind<br />
nicht die Tarifverträge konkurrierender<br />
Gewerkschaften,<br />
sondern die ausufernden<br />
Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge,<br />
etwa im Verkehrssektor.<br />
Ich hätte mir eine<br />
Neujustierung des Streikrechts<br />
gewünscht.<br />
n Mit welchem Inhalt?<br />
Streiks sollten mehrere Tage<br />
vorher angekündigt werden<br />
und erst nach dem Versuch<br />
einer Schlichtung erfolgen.<br />
Zudem kann man erwägen,<br />
dass ein Arbeitskampf erst<br />
nach einer Urabstimmung<br />
erlaubt ist. Derzeit ist diese<br />
nur eine moralische Unterfütterung<br />
ohne arbeitsrechtliche<br />
Relevanz. Selbst wenn<br />
nur zehn Prozent der Mitglieder<br />
dafür sind, darf eine<br />
Gewerkschaft streiken.<br />
n Die Spartengewerkschaften<br />
wollen nun vor das Bundesverfassungsgericht<br />
ziehen.<br />
Wie sind ihre Chancen?<br />
Der direkte Weg nach Karlsruhe<br />
ist nur in Ausnahmefällen<br />
möglich – wenn der Instanzenweg<br />
für den Kläger nach<br />
Ansicht der Verfassungsrichter<br />
unzumutbar ist. Ansonsten<br />
gilt: Die Gewerkschaften müssen<br />
sich durch alle Instanzen<br />
kämpfen. Faktisch könnte es<br />
so laufen, dass eine Gewerkschaft<br />
für einen Tarifvertrag<br />
streikt, der nach dem neuen<br />
Gesetz nicht gilt – und sie der<br />
Arbeitgeber dafür verklagt.<br />
bert.losse@wiwo.de<br />
FOTOS: IMAGO/PLUSPHOTO, EICKE LENZ<br />
12 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
BEIERSDORF<br />
Vom Coup<br />
zum Flop<br />
Als Rauswerfer berüchtigt<br />
Beiersdorf-Chef Heidenreich<br />
Der personelle Kahlschlag von<br />
Beiersdorf-Chef Stefan<br />
Heidenreich fordert ein neues<br />
Opfer: Patrick Kaminski, bisher<br />
Corporate Senior Vice President<br />
Fernost und verantwortlich<br />
für das Geschäft in China,<br />
Thailand, Vietnam, Indonesien<br />
und Australien. Der Hamburger<br />
Nivea-Hersteller behauptet<br />
zwar, Kaminski sei noch bei Beiersdorf<br />
tätig und verantworte<br />
Projekte in Asien. Insider berichten<br />
aber, Kaminski sei freigestellt,<br />
bis seine Kündigungsfrist<br />
abgelaufen sei.<br />
Der als eigenwillig und ruppig<br />
geltende Heidenreich hat<br />
seit seinem Amtsantritt vor zwei<br />
Jahren fast den gesamten Vorstand<br />
und einen Großteil der<br />
zweiten Führungsebene gefeuert.<br />
Mit Kaminski trifft es jetzt<br />
seine eigene Akquisition: 2012<br />
hatte Heidenreich ihn von Henkel<br />
abgeworben. Die Branche<br />
wertete die Aktion als Coup und<br />
feindlichen Akt gegenüber<br />
Henkel-Chef Kasper Rorsted.<br />
Denn Kaminski war ein Eigengewächs<br />
des Düsseldorfer Konzerns.<br />
Zuletzt arbeitete der Manager<br />
für das Unternehmen in<br />
China. Heidenreichs Anwälte<br />
hatten dann mithilfe des chinesischen<br />
Rechts Kündigungsfrist<br />
und Wettbewerbsverbot ausgehebelt.<br />
mario.brueck@wiwo.de<br />
04.11. US-Wahlen Die Amerikaner wählen<br />
am Dienstag die 435 Abgeordneten<br />
des Repräsentantenhauses<br />
und 36 der 100 Mitglieder des Senats.<br />
Die Republikaner dürften<br />
ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus<br />
halten und im<br />
Senat die Mehrheit der Sitze gewinnen.<br />
Harte Zeiten für den demokratischen<br />
Präsidenten Barack<br />
Obama. Zudem stimmen die Bürger<br />
über die Parlamente in 48 der<br />
50 Bundesstaaten ab und<br />
über 36 Gouverneursposten.<br />
Arbeitgebertag Zum Jahrestreffen der Bundesvereinigung<br />
der Deutschen Arbeitgeberverbände<br />
(BDA) in Berlin kommen Bundeskanzlerin und<br />
CDU-Chefin Angela Merkel, Bundeswirtschaftsminister<br />
und SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel sowie<br />
CSU-Chef Horst Seehofer.<br />
06.11. Geldpolitik Der Rat der Europäischen Zentralbank<br />
berät am Donnerstag in Frankfurt die weitere<br />
Geldpolitik. Gleichzeitig treffen sich in Brüssel die<br />
Finanzminister der Euro-Länder.<br />
Steuer Der Arbeitskreis Steuerschätzung, ein Beirat<br />
beim Bundesfinanzministerium, prognostiziert,<br />
wie sich die Steuereinnahmen in den nächsten<br />
Jahren entwickeln.<br />
07.11. Export Das Statistische Bundesamt berichtet am<br />
Freitag über die deutschen Ausfuhren im September.<br />
Im August waren sie gegenüber dem Vormonat<br />
um 5,8 Prozent gesunken.<br />
Ärzte Die Hauptversammlung des Marburger<br />
Bundes steht unter dem Motto: „Freiheit statt<br />
Tarifdiktatur“. Die Gewerkschaft der angestellten<br />
und beamteten Mediziner lehnt das geplante<br />
Gesetz zur Tarifeinheit ab.<br />
SAP<br />
Neues Logo<br />
geheim<br />
Logos sollen leuchten, für ein<br />
Unternehmen werben. Doch<br />
davon will SAP-Chef Bill<br />
McDermott derzeit nichts<br />
wissen. Leise führt er das neue<br />
Logo des Walldorfer Softwarekonzerns<br />
ein. Statt im vertrauten<br />
Blau schimmert die Marke<br />
nun in Orange, zudem bekam<br />
das Zeichen eine andere Form.<br />
TOP-TERMINE VOM 03.11. BIS 09.11.<br />
Der Schritt ist schon deshalb<br />
bemerkenswert, weil SAP erst<br />
2011 ein neues Logo vorgestellt<br />
hatte und dieses gerade flächendeckend<br />
gegen den Vorgänger<br />
ausgetauscht hat.<br />
Äußern möchte sich SAP jetzt<br />
nicht zum neuesten Logo. Zu<br />
sehen ist es aktuell nur auf der<br />
Web-Site des Unternehmens.<br />
SAP hat es<br />
mit der Unterstützung<br />
der Branding-<br />
Agentur Siegel+Gale<br />
entworfen. Es soll in<br />
seiner Schlichtheit<br />
FINANZAUFSICHT<br />
Knapsen bei<br />
der Kontrolle<br />
Zwar hat die EU beschlossen,<br />
die Finanzmärkte künftig stärker<br />
zu kontrollieren. Aber die<br />
finanzielle Ausstattung der Aufsichtsbehörden<br />
scheint etwas<br />
zu üppig ausgefallen zu sein.<br />
Denn nun wollen EU-Kommission<br />
und Bundesregierung die<br />
Budgets für die drei beteiligten<br />
Institutionen beschneiden; betroffen<br />
sind die Europäische<br />
Bankenaufsicht (EBA), die<br />
Wertpapier- und Marktaufsicht<br />
(ESMA) und die Versicherungsaufsicht<br />
(EIOPA). Das geht aus<br />
einem Schreiben hervor, das<br />
Finanzstaatssekretär Michael<br />
Meister an den Bundestag geschickt<br />
hat.<br />
Darin weist er auf einen rasanten<br />
Anstieg der Etatmittel<br />
hin. Allein von 2011 bis 2014<br />
hätten sie sich mehr als verdoppelt<br />
und lägen in diesem Jahr<br />
bei 88,4 Millionen Euro. Darüber<br />
hinaus trage Deutschland<br />
noch einen Teil der Personalkosten.<br />
Nach Ansicht des Bundesfinanzministeriums<br />
und der EU-<br />
Kommission lässt sich bei den<br />
Institutionen der Finanzaufsicht<br />
Geld einsparen, ohne dass<br />
dadurch die Kontrollen beeinträchtigt<br />
werden.<br />
christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />
das Firmenmotto „Run Simple“<br />
unterstreichen, das McDermott<br />
Mitte des Jahres ausgerufen<br />
hat, als er dem Softwareriesen<br />
einen Umbau hin zum Cloud-<br />
Geschäft verordnete.<br />
SAP-Mitgründer und -Aufsichtsratschef<br />
Hasso Plattner<br />
war zwar vorab über den Wandel<br />
des Logos informiert<br />
worden, will<br />
aber nichts zu den<br />
Gründen und den<br />
Kosten der Aktion<br />
sagen.<br />
michael.kroker@wiwo.de<br />
FOTOS: DDP IMAGES/DAVID HECKER, REUTERS/JIM BOURG<br />
14 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
CHEFSESSEL<br />
START-UP<br />
NÜRBURGRING<br />
Robertino Wild schien<br />
aus dem Spiel zu sein, als bekannt<br />
wurde, dass der russische<br />
Milliardär Viktor Charitonin<br />
den Nürburgring kauft.<br />
Denn die Rennstrecke wollte<br />
zuvor Wild erwerben, konnte<br />
aber nicht rechtzeitig das geforderte<br />
Geld auftreiben. Tatsächlich<br />
aber ist der scheinbare<br />
Verlierer der heimliche<br />
Gewinner: Charitonin hat<br />
Wild zum stellvertretenden<br />
Aufsichtsratschef seiner NR<br />
Holding gekürt. Dies fädelte<br />
angeblich der Oligarch Roman<br />
Abramowitsch ein, eine<br />
Urlaubsbekanntschaft von<br />
Wild aus Österreich. Abramowitsch<br />
vermittelte den<br />
Kontakt zu Charitonin und<br />
stellte ein Konsortium zusammen,<br />
das das Geld für<br />
den Ring auf den Tisch legte.<br />
Abramowitsch soll sich dem<br />
Vernehmen nach finanziell<br />
beteiligt haben.<br />
SANOFI<br />
Chris Viehbacher, 54, Chef<br />
des französischen Pharmakonzerns,<br />
ist <strong>vom</strong> Verwaltungsrat<br />
gefeuert worden. Vorübergehend<br />
leitet Verwaltungsratschef<br />
Serge Weinberg, 63, Sanofi. Einen<br />
Grund für den Rauswurf<br />
nannte das Gremium nicht.<br />
Viehbacher und Weinberg sollen<br />
aber nie ziemlich beste<br />
Freunde gewesen sein. So kam<br />
intern nicht gut an, dass der<br />
Deutsch-Kanadier Viehbacher<br />
den französischen Konzern von<br />
Boston in den USA aus leiten<br />
wollte. Zudem wurden ihm Managementfehler<br />
vorgeworfen.<br />
KEMPINSKI<br />
Reto Wittwer, 65, seit 1995<br />
Präsident und Vorstandschef<br />
der Hotelbetreibergesellschaft,<br />
geht in den Ruhestand; sein<br />
Nachfolger ist der Spanier Alejandro<br />
Bernabé, der bisher das<br />
Asien-Geschäft von Kempinski<br />
führte. Bei seinem Amtsantritt<br />
verordnete Wittwer der damals<br />
defizitären Luxushotelkette, die<br />
mehrheitlich im Besitz des thailändischen<br />
Crown Property Bureaus<br />
ist, einen strikten Sanierungskurs,<br />
die Zahl der Hotels<br />
stieg von 21 auf heute 73, weitere<br />
35 Häuser kommen in den<br />
nächsten Jahren dazu. Wittwer-<br />
Nachfolger Bernabé studierte in<br />
der Schweiz, in den USA und in<br />
Frankreich und hat sein gesamtes<br />
Berufsleben bei Kempinski<br />
verbracht.<br />
WETTERBERICHT<br />
123 Millionen Euro<br />
kostet der Computer, den der britische Wetterdienst MetOffice<br />
bestellt hat. Die Supermaschine soll Ende 2015 starten, erhält<br />
einen Arbeitsspeicher von zwei Millionen Gigabyte und kann<br />
16 000 Billionen Berechnungen pro Sekunde ausführen. Dann<br />
sind auch Prognosen speziell für einzelne Stadtviertel möglich.<br />
MYBOOK<br />
Buchtipps ohne Algorithmus<br />
Im Internet stöbert Antonia Besse bislang ungern nach Büchern.<br />
„Bei Amazon kriege ich nur empfohlen, was andere Nutzer<br />
gut finden, und nicht, was mir gefällt“, sagt sie. Darum startete sie<br />
im Oktober ihr Unternehmen MyBook. Es empfiehlt ebenfalls<br />
Bücher – allerdings ohne Algorithmus.<br />
Wer den Service nutzt, muss zuerst zehn Fragen beantworten;<br />
neben den Lieblingsautoren und Genres will MyBook wissen, ob<br />
man lieber in der Natur, im Bett oder in der Badewanne liest. Soll<br />
das nächste Buch verblüffend, anspruchsvoll oder erschreckend<br />
sein? Nach rund ein bis drei Stunden verschickt MyBook online<br />
die Tipps. Sie stammen von derzeit 20 Experten, darunter frühere<br />
Buchhändler, Bibliothekare und Blogger. Dorothee Werner <strong>vom</strong><br />
Börsenverein des Deutschen Buchhandels findet die Idee clever:<br />
„Die Deutschen mögen Big Data bei Buchempfehlungen immer<br />
weniger.“ Der Umsatz im stationären Buchhandel sei 2013 um 0,9<br />
Prozent gestiegen, im Internet dagegen um 0,5 Prozent gesunken.<br />
Besse hat zuvor drei Jahre lang die Marketingabteilung der<br />
Ullstein-Verlage geleitet, die sich mehrheitlich an MyBook beteiligt<br />
haben. Innerhalb von<br />
Fakten zum Start<br />
Team derzeit 6 Mitarbeiter<br />
Finanzierung von Ullstein Buchverlage,<br />
Bonnier Media Deutschland<br />
und Etventure<br />
Kunden bisher über 2000 Nutzer<br />
mit 3000 versandten Büchern<br />
drei Jahren will die Gründerin<br />
nun knapp 150 000<br />
Kunden gewinnen. Derzeit<br />
sind 95 Prozent der<br />
Nutzer der Frauen.<br />
„Künftig wollen wir verstärkt<br />
auch Männer ansprechen.“<br />
marc etzold, mdw@wiwo.de<br />
FOTOS: ROBERT POORTEN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR, FOTOLIA<br />
16 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />
Michael Groß<br />
Olympiasieger und Chef der Beratung Groß & Cie.<br />
Ein Hauch von Exklusivität<br />
hat Michael Groß, 50, immer<br />
begleitet. Als der Ausnahmeschwimmer<br />
1991 seine Karriere<br />
beendete, hatte er drei olympische<br />
Goldmedaillen und fünf<br />
Weltmeisterschaften gewonnen<br />
sowie zwölf Weltrekorde<br />
aufgestellt. Das hat seither kein<br />
deutscher Schwimmer mehr<br />
geschafft. Heute hilft Groß Unternehmen<br />
auf dem Weg zum<br />
Erfolg. Gemeinsam mit seiner<br />
Frau Ilona Groß, einer Betriebswirtin<br />
und Managementtrainerin,<br />
führt der promovierte<br />
Philologe die Unternehmensberatung<br />
Groß & Cie. in Königstein<br />
bei Frankfurt. „Dort<br />
mache ich aber nur die Buchhaltung“,<br />
sagt Groß, „zu 90 Prozent<br />
bin ich draußen<br />
bei Kunden oder leite<br />
Seminare.“ Ein ansprechendes<br />
Ambiente<br />
sei manchmal<br />
hilfreich, „um Inhalte<br />
leichter transportieren<br />
zu können“,<br />
betont er. Deshalb<br />
360 Grad<br />
In unseren App-<br />
<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />
Sie an dieser<br />
Stelle ein interaktives<br />
360°-Bild<br />
wählt Groß für seine Seminare<br />
oft das Falkenstein Grand<br />
Kempinski Hotel in Königstein.<br />
Das luxuriöse Anwesen diente<br />
einst den Offizieren von Kaiser<br />
Wilhelm II. als Erholungsheim.<br />
Die historische Bibliothek dort<br />
nutzt Groß als Schulungsraum,<br />
um sein Kernthema Change<br />
Management zu vermitteln.<br />
Zwischen deckenhohen Mahagonischränken,<br />
Konferenztisch,<br />
Kamin<br />
und Sekretär skizziert<br />
er dann auf einem<br />
Flipchart, wie Unternehmer<br />
und Manager<br />
Neues wagen und<br />
konsequent Ziele verfolgen<br />
können. Drei<br />
Dinge braucht Groß dafür:<br />
McBook, iPhone und sein Notizbuch.<br />
Außerdem unterrichtet<br />
er an der Frankfurt School<br />
of Finance and Management<br />
Personalführung und Unternehmenskultur.<br />
Eigentlich<br />
wollte er Pilot werden. „Das ist<br />
bis heute meine Lebensvision“,<br />
sagt Groß. Gescheitert ist er<br />
an seiner Größe. „2,01 Meter<br />
waren acht Zentimeter zu viel,<br />
um die Ausbildung zu machen“,<br />
verrät er, „doch das ist<br />
Geschichte.“ So wie auch sein<br />
Spitzname „Albatros“ und der<br />
Anfeuerungsruf von Fernsehkommentator<br />
Jörg Wontorra:<br />
„Flieg, Albatros, flieg.“<br />
ulrich.groothuis@wiwo.de<br />
FOTO: DOMINIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
18 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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WE ST<br />
Leben<br />
halb<br />
DIE NETZWERKERIN<br />
Kerstin Günther (geboren<br />
1967) verbrachte ihre Kindheit<br />
in Thüringen und studierte<br />
in Polen. Heute ist sie in Bonn<br />
Bereichsvorstand Technik<br />
für alle europäischen Tochtergesellschaften<br />
der Deutschen<br />
Telekom AG<br />
FOTO: DAVID KLAMMER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
20 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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WE ST<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
MAUERFALL | Auch ein Vierteljahrhundert nach der Wende sind erfolgreiche Manager mit<br />
Ost-West-Biografie selten. Von Bayern nach Brandenburg und von Thüringen nach Bonn:<br />
Porträts zweier Grenzgänger, die es geschafft haben.<br />
und<br />
halb<br />
FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
DER FELDHERR<br />
Siegfried Hofreiter (geboren<br />
1962) zog von Bayern erst in<br />
die USA und nach Frankreich.<br />
In den neuen Bundesländern<br />
schuf er den Agrarkonzern<br />
KTG, der seine Erzeugnisse<br />
direkt in den Tank und auf den<br />
Teller der Verbraucher bringt.<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 21<br />
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WE ST<br />
An einem Sommertag des Jahres 1989 steht Kerstin<br />
Günther mit ihrem Bruder am Bahnhof in Budapest.<br />
Der Urlaub in Ungarn geht zu Ende. Vom Umbruch<br />
in der DDR hat die 22-Jährige bisher wenig mitbekommen,<br />
sie studiert Elektrotechnik im polnischen Breslau.<br />
„Die Leute haben uns gefragt, ob wir nicht in den falschen Zug<br />
einsteigen“, erinnert sich die heute 47-Jährige. Viele DDR-Bürger<br />
in der Stadt wollen in den Westen, sie fährt zurück in den Osten.<br />
„Die Frage habe ich erst gar nicht verstanden. Doch dann habe<br />
ich erkannt, dass sich Fundamentales tut.“<br />
Zum Jahresende gibt es kein<br />
DDR-Konsulat mehr in Breslau,<br />
bei dem sie sich zuvor regelmäßig<br />
melden musste. Zwischen Weihnachten<br />
und Silvester fährt sie mit<br />
ihren Eltern von Suhl über die<br />
grüne Grenze nach Bayern; in Coburg<br />
gibt es Begrüßungsgeld. „Es<br />
führte nur ein Feldweg bis zur<br />
Grenze. Dann war da eine Wiese,<br />
und auf der anderen Seite traf<br />
man auf eine Straße.“ Heute<br />
nimmt man die A 73.<br />
Im Sommer 1990, ein Jahr vor<br />
dem Studienabschluss, meldet<br />
sich die DDR noch einmal bei ihr.<br />
„Ich war vorgesehen als Dozentin<br />
an der Technischen Uni Ilmenau.“<br />
Doch rasch zerfallen der Plan und<br />
der Staat, in dem die bald diplomierte<br />
Elektroingenieurin aufgewachsen<br />
war.<br />
Für Kerstin Günther stellt der<br />
Mauerfall alles auf Anfang. Für<br />
den Neustart hat sie gute Voraussetzungen.<br />
Sie stellt sich schnell<br />
auf Ungewohntes ein. Hatte sie<br />
doch in Russland Außenwirtschaft<br />
studieren wollen und wurde<br />
zum Informatikstudium nach<br />
Warschau geschickt. Dort war<br />
kein Platz mehr, also fing sie in<br />
Breslau mit Elektrotechnik an.<br />
Am Balaton<br />
Günther beim Ausflug<br />
in Ungarn<br />
Nun begibt sich Günther auf einen langen Weg ins neue<br />
Deutschland.<br />
NEUES DEUTSCHLAND<br />
Heute arbeitet die erfolgreiche Exotin bei der Deutschen<br />
Telekom in Bonn, der früheren Hauptstadt der Westrepublik.<br />
Die Thüringerin ist Leiterin Technik und IT für alle Telekom-<br />
Tochtergesellschaften in Europa. Über ihr steht nur noch der<br />
sechsköpfige Konzernvorstand. Sie hat Verantwortung für 19 000<br />
Beschäftigte und soll das zurzeit anspruchsvollste Projekt des<br />
Konzerns zum Laufen bringen: ein einheitliches europäisches<br />
Telekom-Netz.<br />
Sie ist die einzige Frau im engeren Führungskreis der Telekom,<br />
die in der DDR aufwuchs (ihr fällt auch kein Mann ein). In der<br />
Generation um die 50, die ihr Leben halb und halb erst im<br />
getrennten und dann im vereinten Land zubrachte, scheint<br />
der Grenzgang nicht vorgesehen. Weder in der zweiten noch<br />
in der ersten Führungsriege großer Unternehmen. Unter rund<br />
180 Dax-Vorständen waren zuletzt nur vier Ostdeutsche – genauso<br />
viele wie Inder.<br />
DEN WARTBURG SELBST REPARIEREN<br />
Günther spürt stärker als ihre Umgebung, dass sie eine Ausnahme<br />
ist. Sie ist Zuwanderin aus einem fremden Land, auch wenn<br />
sie dieselbe Sprache spricht. Ihr hilft zunächst kein Netz beim<br />
Aufstieg. Kollegen haben es während des Studiums oder schon<br />
im Elternhaus gesponnen. Doch die groß gewachsene Ingenieurin<br />
verkörpert, warum sich Vielfalt für ein Unternehmen lohnt.<br />
Als gelernte DDR-Bürgerin sei sie sehr praktisch, zugewandt und<br />
schnörkellos, loben Mitarbeiter. „Ich bin eher wie ein Junge,“ sagt<br />
sie. „Ich kann Malern, Leitungen legen, all das.“ Wenn zu Hause<br />
der Wartburg kaputt gegangen<br />
sei, hätten sie ihn selbst repariert.<br />
„So bin ich aufgewachsen.“ Auch<br />
kennt sie Sprachen und Kulturen,<br />
bei denen andere nur Bratislava<br />
verstehen. Am Ende ist es naheliegend,<br />
dass gerade sie die oberste<br />
europäische Netzwerkerin der<br />
Telekom wurde.<br />
Ihr Team führt sie zupackend.<br />
Am Konferenztisch geht es an diesem<br />
Morgen um die Kunst, bisherige<br />
Telekom-Netze in Südosteuropa<br />
ohne Ausfälle und<br />
Kundenärger durch neue Infrastruktur<br />
zu ersetzen. Günther lässt<br />
berichten, tippt in ihr iPad.<br />
Manchmal gräbt sich eine steile<br />
Falte in die Stirn. Kurz pfeift sie einen<br />
jüngeren Mitarbeiter an, der<br />
verdeckt am Handy textet. Dann<br />
sitzt sie wieder aufmerksam da<br />
und knibbelt an ihren Fingern. Alle<br />
sprechen englisch, Witze zur Auflockerung<br />
sind erwünscht. Kerstin<br />
Günther lacht trocken. „Höhöhö“ –<br />
immer einen Ton treppauf.<br />
Günther startet mit 24 in dieses,<br />
1995 in Ungarn<br />
Günther verhandelt für<br />
die Telekom. Die Uhr trägt<br />
sie noch heute<br />
ihr zweites Leben. Das Studium<br />
ist vorbei, die DDR Geschichte.<br />
Aus der „Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung“ schneidet sie Annoncen<br />
aus. Sie schreibt an Siemens und<br />
die Detecon, eine Technologieberatung,<br />
die zur noch staatseigenen Deutschen Telekom gehört.<br />
Dort klappt es, sie suchen einen Ingenieur, der polnisch spricht.<br />
„Schön dumm“ sei sie gewesen, meint Günther. „Ich war viel zu<br />
billig, ich hatte ja keine Ahnung, was man verlangt.“ Zwei Monate<br />
lang lernt sie Westalltag. Der Vermieter bei Bonn fragt, ob es in<br />
der DDR Kaffee gab. Die Bank verweigert das Konto, ehe sie Arbeit<br />
und Wohnsitz nachweist.<br />
Doch der erste Job ist langweilig. „Da bot mir mein Chef an, ich<br />
solle morgen in die Ukraine fliegen.“ Russisch kann sie, in Kiew<br />
werden Mobilfunklizenzen versteigert. „Tatsächlich war gefragt,<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 24 »<br />
22 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Siegfried Hofreiter schiebt sich in den Edeka von Putlitz. Er<br />
sucht das, was er „meine liebsten anderthalb Meter“ nennt.<br />
Aufstriche, Müslis, Soßen, Backzutaten, das Biosortiment<br />
der Edeka-Märkte. Der Akazienhonig – in Kanada in die<br />
Flasche gegossen. Die Tomatensoße – der Bestseller. Er kennt alle<br />
Produkte der „Bio-Zentrale“. Weil es seine sind.<br />
Einst regierten hier die Gans Edlen Herren von Putlitz, märkischer<br />
Uradel mit dem Ort im Namen. Jetzt ist Hofreiter Herr in Putlitz.<br />
Sichtbar ist er nicht nur bei Edeka. Seine Leute beackern 7000 Hektar<br />
Land hier im Nordwesten Brandenburgs. So viel wie keiner sonst.<br />
Der 52-jährige Hofreiter ist Großbauer, sein Imperium reicht <strong>vom</strong><br />
Acker bis zum Tank und auf den Teller. Längst geht es ihm<br />
nicht mehr nur um Kartoffeln, Getreide, Mais und Soja. Er hat<br />
sich den Ökovermarkter „Bio-Zentrale“ und die Tiefkühlkost von<br />
„Frenzel“ einverleibt. Der Bayer in<br />
Preußen ist auch Energieerzeuger.<br />
In seinen Biogasanlagen gärt übers<br />
Jahr gerechnet Energie für 350 000<br />
Menschen.<br />
Der Bauernsohn aus Odelzhausen<br />
bei München kam 1993 im Osten<br />
an. Die Zukunft im Westen erschien<br />
ihm wenig golden. Den Hof<br />
hatte der ältere Bruder Josef geerbt,<br />
Siegfried brach mit dem jüngeren<br />
Bruder Werner in ein anderes Land<br />
auf. Heute bestimmt sein Konzern<br />
KTG Agrar SE, was dort wächst.<br />
Beim Aufstieg half ihm seine Herkunft,<br />
seine Erfahrung aus dem<br />
Westen, aber auch, dass er sich<br />
schnell in den Ostalltag hineinwühlte.<br />
Seine KTG bewirtschaftet im<br />
deutschen Osten heute an 18 Orten<br />
35 000 Hektar, zur Hälfte im Ökolandbau.<br />
In Litauen kommen 8000<br />
Hektar dazu. So viel hat in der EU<br />
keiner. Ein Ostlandwirt hat sonst im<br />
Schnitt 250 Hektar unterm Pflug,<br />
ein Bauer in Bayern 33. Auch bestellt<br />
Hofreiter mit Schlachthofbaron<br />
Clemens Tönnies Land in Russland<br />
und Rumänien – „ein Mann<br />
Junior und Senior<br />
Auf dem ostdeutschen<br />
aus meinem Schrot und Korn“.<br />
Acker mit Sohn Markus.<br />
Der 52-Jährige tickt anders als Der ist heute 16<br />
die Eingesessenen. Ostdeutsche im<br />
Westen versuchen eher, sich anzupassen,<br />
Hofreiter zeigt sich unverstellt. Er spricht bayrisch. Sein<br />
Wohnhaus, 100 Kilometer weiter in Oranienburg, wirkt wie aus den<br />
Voralpen gelandet – mit tiefgezogenem Dach und hölzernen Läden.<br />
Rechts der Spargelacker, links der Holzstadl mit Solarzellen. Das ist<br />
die Vergangenheit. „Heute kenne ich den Osten besser als Bayern.“<br />
Im Westen war Hofreiter der Zweitgeborene, der kaum gebraucht<br />
wird. Im Osten arbeitet er sich nach dem Mauerfall mit aller Macht<br />
zum Großbauern hoch. Seinen „Traum von großen Flächen“ kann<br />
er in den Neunzigerjahren verwirklichen. Das Ende der DDR erschüttert<br />
die Traditionen. Fort sind die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften<br />
(LPG), die die Geschicke bestimmen.<br />
bien. Heute ist er der Feldherr – kritisch beäugt von den Nachfolgern<br />
der adligen wie der sozialistischen Landwirte.<br />
Hofreiter vereint drei Eigenschaften, die ihn in der neuen Heimat<br />
erfolgreich wie umstritten machen. Er ist Bauer durch und durch –<br />
nicht nur beim Frühstück dreht sich alles um Landmaschinen,<br />
Fruchtfolge und Marktpreise. Doch wo andere erdverbunden und<br />
sesshaft blieben, zog er aus.<br />
Er ist auch Kaufmann mit Kalkül. Den Ökoanbau wählt er früh,<br />
weil er auf seinem Land nur wenig investieren kann. Heute<br />
schwimmt er auf der Biowelle, auch wenn naturnahe Bauern meckern,<br />
er halte nur das Minimum<br />
1997 in Brandenburg<br />
Hofreiter in seinem<br />
ersten Kellerbüro<br />
an Vorgaben ein.<br />
Und er ist nicht satt zu kriegen.<br />
Andere seien zu schnell zufrieden.<br />
„Das ist das Schlimmste, was uns in<br />
der Marktwirtschaft passieren<br />
kann.“ Er muss weiter: „Ich leide<br />
nicht Hunger, aber ich bin noch<br />
lange nicht satt.“<br />
Wenn es geht, klotzt der Unternehmer.<br />
30 Traktoren zu kaufen ist<br />
günstiger als nur 10. Stolpert er und<br />
fällt, steht er auf und schüttelt den<br />
Staub ab. So setzte er zum Beispiel<br />
in den Neunzigerjahren Investitionen<br />
in eine serbische Fahrradfabrik<br />
in den Sand. Der Betrieb wurde im<br />
Bürgerkrieg zerstört, Hofreiter laut<br />
KTG-Börsenprospekt der Konkursverschleppung<br />
und des Bankrotts<br />
schuldig gesprochen. Hofreiter heute:<br />
„Meine Erkenntnis war, ,Schuster,<br />
bleib bei deinem Leisten‘.“ In<br />
Rumänien war er zuerst erfolglos,<br />
mit Weizen und Mais. Heute baut<br />
er dort Sojabohnen an.<br />
DER BAUER<br />
Der junge Siegfried musste allerdings<br />
erst gen Westen, um im Osten<br />
zu landen. Während des Landwirtschaftsstudiums<br />
in den Achtzigerjahren<br />
jobbt er auf US-Farmen.<br />
„Die Unabhängigkeit und das Cowboyhafte haben mir gut gefallen.“<br />
Er scheute aber den großen Schritt. „Wir haben eine intakte Familie.<br />
Das war es mir nicht wert abzubrechen.“ Die Spielarten des<br />
Kapitalismus hat er aber in den USA gelernt und nutzt sie später im<br />
wilden Osten: „Am Ende geht’s ums Gewinnen.“ In der DDR, die gerade<br />
Teil eines anderen Staates wurde, gibt es nicht viele, die diesem<br />
Antrieb etwas entgegensetzen.<br />
Zunächst aber kaufen Siegfried und Werner 1988 in Frankreich,<br />
in der Nähe von Metz, zwei Nachbarhöfe. Land ist dort erschwinglich,<br />
der Alltag mühsam. „Die Franzosen waren nicht begeistert von<br />
Deutschen, die Fuß fassen wollten.“ Die Brüder kriegen kaum etwas<br />
aus Deutschland mit. „Die Wende haben wir in Frankreich verschlafen.“<br />
Die DDR hat er nie kennengelernt. Die Lehrjahre im Westen<br />
helfen aber später: „Wir traten nicht als Besserwessis auf.“ In<br />
Frankreich habe er Diplomatie gelernt.<br />
Noch früher walteten adlige Landjunker auf großen Gütern in Ostel- Lesen Sie weiter auf Seite 26 »<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 23<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
» Die Netzwerkerin<br />
Wodka zu trinken und den Deal zu bekommen.“ Neun Monate<br />
bleibt sie am Ende dort, ihr Team hat Erfolg. „Ich wusste, wie die<br />
Leute ticken.“ Das Gleiche soll sie dann in Ungarn schaffen. Sie<br />
schuftet ein Jahr lang in einem Team mit Engländern und Franzosen<br />
– für die Tonne. Im Sommer 1993 zieht sie enttäuscht ab<br />
nach London, um Englisch zu lernen. Das kann sie noch nicht.<br />
Im Dezember ist sie zurück in Budapest, sie bleibt insgesamt<br />
fast zehn Jahre. Die Telekom privatisiert die dortige Telefongesellschaft.<br />
Landeschef Elek Straub wird nicht nur ihr Chef, sondern<br />
auch ihr Mentor. Er lässt ihr Freiheit, berät sie. Sie ist selbstbewusst,<br />
schließlich haben Frauen in der DDR immer gearbeitet,<br />
auch in Führungspositionen. „Aber ich war nicht so aggressiv im<br />
Auftreten wie andere aus dem Westen.“<br />
Selbstbewusstsein und Selbstzweifel wechseln sich ab. Es helfen<br />
Ratgeber wie Straub und ihr späterer Mann, den sie in Ungarn kennenlernt.<br />
Mark von Lillienskiold ist 22 Jahre<br />
älter und „typischer Wessi“, wie sie sagt. Weltoffen<br />
aufgewachsen, Jurist, internationale<br />
Karriere, Telekom-Manager. Er ist ein Vorbild<br />
und hilft ihr bei Dingen, die für sie fremd<br />
sind: „Das fing bei der Kleiderordnung an.“<br />
Kurz bevor sie 30 wird, schaltet sie noch einen<br />
Gang rauf. Technisch ist sie fit, ihr fehlt<br />
kommerzielles Wissen. Also lernt sie nebenher<br />
fürs MBA-Studium. Die Urkunde der<br />
Weatherhead School of Management in Ohio<br />
hängt heute hinterm Schreibtisch in Bonn.<br />
Ihr Mann geht 2001 als Finanzvorstand<br />
zur slowakischen Telekom, auch eine Konzerntochter.<br />
Für sie ist es die Chance auf einen<br />
Vertrag bei der Deutschen Telekom,<br />
vorher war sie von der Detecon nur entliehen<br />
– zu bescheidenen Konditionen. Sie wird rechte Hand des<br />
Vorstandschefs in Bratislava. Nach zwei Jahren heißt es, es sei<br />
nicht gut, wenn sie zu nah bei ihrem Mann arbeite. „Ich habe nie<br />
für ihn gearbeitet, aber da musste ich mich umorientieren.“<br />
KEINE BEULEN MEHR<br />
In Deutschland, in der Zentrale, wartet 2003 niemand auf sie.<br />
Der Personalchef erbarmt sich. Ob sie alle Personalstellen im<br />
Unternehmen zu einem Servicecenter zusammenführen wolle?<br />
„Mir ist die Kinnlade runtergefallen, ich hatte gar keine Erfahrung<br />
in Personal- und Beamtenrecht.“ Bisher hatte der Sprung<br />
ins kalte Wasser aber immer geklappt. Und sie braucht einen Job.<br />
„2003 bin ich das erste Mal richtig in der Bundesrepublik angekommen“,<br />
erinnert sie sich. „Das war eine neue Welt.“ Freunde<br />
zweifeln, ob sie sich im geordneten Deutschland und in der noch<br />
beamtenlastigen Zentrale zurechtfindet. In Ungarn hatten Kollegen<br />
sie „hot-headed“ genannt, stürmisch und ungeduldig. Die<br />
Aufgaben in der Zentrale sind streng verteilt. Wieder berät ihr<br />
Mann. „Man braucht jemanden, der einen vor Torheiten schützt,<br />
einen bremst und ausgleichend wirkt“, sagt sie. Bald darf sie wieder<br />
raus, wird Leiterin der Telekom-Niederlassung in Frankfurt.<br />
Mittlerweile holt sie sich keine Beulen mehr. Vor zweieinhalb<br />
Jahren fragt die neue Frau im Telekom-Konzernvorstand, Claudia<br />
Nemat, ob sie die Technik- und IT-Sparte in Europa leiten<br />
will. „Mich hat ein Kollege aus Ungarn vorgeschlagen“ – Günthers<br />
Osteuropanetz funktioniert. Genauso wichtig im männer-<br />
Günther sammelt<br />
alte Telefone –<br />
schöne Modelle fand<br />
sie in Osteuropa<br />
geprägten Konzern ist, dass Nemat von außen kommt. „Sie war<br />
unvoreingenommen und hat Potenzial in mir gesehen.“<br />
Später am Tag bereitet sich Günther mit einem Netz-Spezialisten<br />
auf eine Konferenz vor, auf der sie die Telekom vertritt. „Ach<br />
du Scheiße“, rutscht ihr vergnügt auf Deutsch heraus, als sie hört,<br />
wie detailliert die Fragen des Veranstalters sind. Die Antworten<br />
hält sie aus Sicht des Publikums für nicht so spannend. Zur Sicherheit<br />
prägt sie sich doch alles ein.<br />
VERHANDELN MIT ORBÁN<br />
Ihr jetziger Job bietet ihr wieder die geschätzte Freiheit, aber erstmals<br />
auch öffentliche Aufmerksamkeit. Günther ist nicht nur für<br />
die Technik in zwölf vorrangig osteuropäischen Ländern verantwortlich.<br />
Sie sitzt im Aufsichtsrat der Telekom in Ungarn und der<br />
Slowakei. In Budapest heißt das als Chefin des Gremiums, die<br />
Beziehung zur Regierung Viktor Orbán zu verbessern. Ungarn sei<br />
extrem, findet Günther. In den Neunzigerjahren sei viel Aufbruch<br />
und Freiheit zu spüren gewesen. „Heute ist<br />
es umgekehrt.“<br />
Orbán hatte ausländischen Unternehmen<br />
zusätzliche Steuern auferlegt und sich mit<br />
nationalistischen Tönen abgegrenzt. Das<br />
traf auch die Telekom. „Es ist mein größter<br />
Erfolg, dass die Beziehungen wieder sehr<br />
stabil und gut sind“, sagt Günther. Als sie im<br />
Juni erneut in Budapest verhandelt, entlässt<br />
zeitgleich das größte ungarische Nachrichtenportal<br />
Origó.hu seinen Chefredakteur,<br />
der zuvor kritisch über einen Orbán-Berater<br />
berichten ließ. Pikant: Das Portal gehört zu<br />
Magyar Telekom, der Tochter der Deutschen<br />
Telekom. Demonstranten und Medien spekulieren,<br />
die Entlassung sei auf politischen<br />
Druck hin erfolgt. Das bestreitet Günther.<br />
„Wir haben verhandelt, aber zu keinem Zeitpunkt über Origó.“<br />
Das Thema ist Günther unangenehm. Damals wurde in Medien<br />
erstmals größer über sie berichtet – mit kritischem Ton. Die<br />
Pressefreiheit knebeln? „Mir geht so ein Vorwurf gegen den<br />
Strich, weil ich aus der DDR komme.“ Zu keinem Zeitpunkt habe<br />
sie sich verkehrt verhalten. „Aber es glaubt einem keiner, wenn<br />
man das sagt.“<br />
Als Nächstes soll sie die Technik in zwölf Tochtergesellschaften<br />
vereinheitlichen. „Das ist aus meiner Sicht das größte Projekt der<br />
Deutschen Telekom“, da ist sie ganz unbescheiden. Ein heikles<br />
dazu. „Jedes Land und jeder CEO ist wie ein Königreich. Und wir<br />
nehmen was weg.“ Sie könne durchaus Schiffbruch erleiden. Bis<br />
2020 soll das Netz eins sein. „Wenn ich das bis dahin geschafft<br />
habe, habe ich einen guten Marktwert.“ Sie lacht ihr trockenes<br />
„Höhöhö“.<br />
Dann erzählt sie <strong>vom</strong> Klassentreffen in Suhl. Sie weiß, wie unwahrscheinlich<br />
ihr Weg in die obere Führungsetage der Telekom<br />
war. Die Hälfte der Mitschüler aus ihrer Erweiterten Oberschule<br />
in der DDR war arbeitslos. Ihr eigenes Leben hätte im vereinten<br />
Land auch eine andere Wendung nehmen können, ist sie sicher.<br />
„Ich hatte ein Stellenangebot von einer kleinen Druckerei in<br />
Suhl.“ Nur weil sie schon im Ausland gewesen sei und sich dann<br />
bei einem Großunternehmen ausprobieren konnte, sei sie<br />
schrittweise gewachsen. „Wenn ich dort geblieben wäre, wäre<br />
ich Sekretärin. Oder versandet.“<br />
n<br />
cordula.tutt@wiwo.de | Bonn<br />
FOTO: DDP IMAGES/SHOTSHOP/MARC DIETRICH<br />
24 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
» Der Feldherr<br />
Im Spätsommer 1993 ruft ein befreundeter Viehhändler an. In<br />
Sachsen-Anhalt löse sich eine LPG auf. Damals sind die ersten<br />
Goldgräber auf der Suche nach Schätzen der Ex-DDR schon durch<br />
die Lande gezogen. Die Hofreiters übernehmen die 400 Hektar der<br />
LPG. In Frankreich ruht ihr Acker, die Europäische Gemeinschaft<br />
zahlt nun auch Subventionen für Brache.<br />
Hofreiter macht sich fortan bei Stendal die Hände schmutzig.<br />
„Wir haben geschuftet, sind mit den Leuten am Tisch gesessen,<br />
haben zusammen Wurst und Brot gegessen.“ Er bringt das Prinzip<br />
Familienbetrieb mit: „Der Traktorist, der keine Familie hat, feierte<br />
bei uns Weihnachten.“ Es ist seine ostdeutsche Lehrzeit.<br />
Entscheidend für die Lernkurve ist Beatrice Ams. Die Gärtnerin<br />
von der Müritz wird seine Lebenspartnerin – und Übersetzerin. Sie<br />
kann mit den Leuten. Umgekehrt erkennt sie, wie fremd man sich<br />
im nun vereinten Land fühlen kann. 1995 fährt sie mit aufs Oktoberfest<br />
nach München, später besucht sie Odelzhausen. „Ich habe<br />
niemanden in der Familie verstanden. Die sprachen richtig bayrisch<br />
und alle schnell.“<br />
Hofreiter pachtet und kauft, mal von Privatleuten, mal von der<br />
Treuhand-Anstalt, die ehemalige DDR-Betriebe privatisiert. Die<br />
Behörde bevorzugt Ostdeutsche und Jungbauern unter 30. Kein<br />
Problem für Hofreiter: Dann stehen eben Bruder Werner und noch<br />
öfter Beatrice Ams vorn als Bieter.<br />
Mit Ams und einigen Mitarbeitern zieht<br />
Hofreiter 1997 in ein Häuschen in Schönwalde<br />
bei Berlin – die neue Zentrale. Der Keller<br />
wird zum Büro. Oben leben die Brüder, Beatrice<br />
Ams und eine Handvoll Mitstreiter. Es ist<br />
nicht die einzige WG westdeutscher Männer<br />
in der Ex-DDR, wo es für Zugezogene mehr<br />
alte Häuser als moderne Wohnungen gibt.<br />
Auch der sächsische Ministerpräsident Kurt<br />
Biedenkopf startet so mit seiner Frau und<br />
seinem „Küchenkabinett“ in Dresden.<br />
„Gottlob hat Frau Ams mitgezogen, bei<br />
allem, was kam“, lobt er, der seine Lebensgefährtin<br />
vor anderen so nennt. Sohn Markus<br />
kommt zur Welt, erst zu seiner Einschulung<br />
2004 löst sich die WG auf.<br />
Beatrice Ams ist heute 43 Jahre alt, sie kümmert<br />
sich um den Spargel und die Beeren bei<br />
KTG. „Ich bin wohl die gute Seele im Haus“,<br />
sagt sie. Das trifft ihre Rolle nur unvollständig. Sie hält 43 Prozent<br />
der KTG-Anteile, ist damit Haupteignerin und Aufsichtsrätin.<br />
Hofreiter hat keine Aktien. Er sagt, hätte Ams ihm zum Börsengang<br />
Anteile abgegeben, wären zu hohe Steuern angefallen.<br />
DER KAUFMANN<br />
Zur Jahrtausendwende ist die Landwirtschaft so groß, dass er ein<br />
neues Unternehmen gründet. Es heißt KTG, ein Name<br />
muss rasch vor Jahresende her. K wie bei Sohn MarKus,<br />
T wie in BeaTrice und G in SieGfried. Spöttisch sagt<br />
Hofreiter: „Oder wie ‚Körner tun gut‘!“ Das schwierigste<br />
Jahr wird 2006, Weizen ist plötzlich billiger als der Kies<br />
für die Hofeinfahrt. Hofreiter will weg <strong>vom</strong> Weltmarkt. Er<br />
baut Biogasanlagen, die er mit eigenem Mais füttert.<br />
Wieder erkennt er schneller als andere: Für erneuerbare<br />
Energien gibt es satte Subventionen.<br />
Hofreiter verkauft<br />
Kartoffeln auch<br />
ohne Saison – dank<br />
Riesenlager<br />
Serie<br />
Mauerfall (I)<br />
Im nächsten Heft:<br />
Spurensuche –<br />
manche DDR-Staatsbetriebe<br />
sind heute<br />
blühende Unternehmen<br />
Er braucht mehr Land und Geld. „Kauft Ackerland, es wird keines<br />
mehr gemacht“, sagt er. Seinen eigenen Rat befolgt er konsequent.<br />
2007 geht Hofreiter als erster deutscher Landwirt an die Börse<br />
und wird KTG-Vorstandschef. Damals hat er erst 14 000 Hektar unterm<br />
Pflug, die meisten in Ostdeutschland, 2000 in Litauen.<br />
Die Landpreise steigen. In Ostdeutschland hat sich ein Hektar seit<br />
2009 von 10 000 Euro auf heute 25 000 Euro verteuert. Bedeutet doch<br />
mehr Wohlstand weltweit mehr Essen auf dem Teller; der Ökoboom<br />
bringt Pflanzen in den Tank. Also pachtet und kauft KTG, was das<br />
Zeug hält. Dem Geschäftsmodell helfen auch EU-Agrarsubventionen,<br />
von denen KTG heute nach Hofreiters Worten knapp 10 Millionen<br />
Euro im Jahr bekommt.<br />
Der Feldherr hält seine Leute an, schnell zu sein, wenn jemand<br />
verkaufen will. „Allein rund um Putlitz gibt es jede Woche einen<br />
Erbfall. Oder die Oma will verkaufen, weil die Kinder eine Einbauküche<br />
brauchen.“ Hat er große Flächen, sind die mehr wert als im<br />
Flickerlteppich. „Ums Land wird mit allen Waffen gekämpft, wir<br />
sind ordentlich mit drin“, sagt er, „auch mit Scheckbuchdiplomatie.“<br />
DER HUNGRIGE<br />
Obwohl sich Hofreiter traditionsbewusst zeigt, profitiert er in seiner<br />
neuen Heimat davon, dass er wenig Rücksicht auf Hergebrachtes<br />
nehmen muss. Hier guckt kein Pfarrer schräg auf Unverheiratete.<br />
Hier ist er der größte Gewerbesteuerzahler. Hofreiter testet seine<br />
Freiheit auch, wenn er bei 160 Stundenkilometern hinten links<br />
im Mercedes-Geländewagen sitzt. Der Sicherheitsgurt<br />
würde nur stören. Ängstlich – sind<br />
andere.<br />
Vor Investoren erklärt Hofreiter inzwischen,<br />
das wilde Wachstum im Osten sei vorbei.<br />
Doch noch immer kauft er Land und investiert<br />
viel in eine neue Lebensmittelmarke. „Die<br />
Landwirte“ sollen Gutverdienern Kartoffeln<br />
und Karotten aus der Region schmackhaft<br />
machen. Sein Unternehmen ist allerdings<br />
hoch verschuldet. Im ersten Halbjahr 2014<br />
lag der Umsatz der KTG bei 100 Millionen<br />
Euro, die Nettoschulden bei 424 Millionen<br />
Euro. Hofreiter beruhigt. Die Ackerpreise<br />
stiegen weiter. In den Büchern stünden nur<br />
die Kaufpreise, nicht der heutige Wert. Stillstand<br />
fürchtet er mehr als Schulden. Doch<br />
mit seiner jüngsten Anleihe konnte er Anleger<br />
wenig begeistern. Statt 50 Millionen Euro<br />
sammelte er nur 25 Millionen Euro ein.<br />
Jetzt investiert Hofreiter senior erst mal in den Junior. Sohn Markus<br />
sitzt seit Wochen irgendwo in Brandenburg auf dem Maishäcksler,<br />
übernachtet im Hotel. Von Sonnenaufgang bis -untergang<br />
jagt der 16-Jährige, der gerade die Realschule hinter sich hat, den<br />
500 000 Euro teuren und voll vernetzten Häcksler übers Feld. Für<br />
Hofreiter ist die Satellitentechnik praktisch, er kann Maschinen<br />
effizienter einsetzen. Manch altgedienten Traktoristen<br />
erinnert das eher an Stasi-Überwachung.<br />
Auf der Autobahn bei Herzsprung lässt der Senior den<br />
Fahrer abbiegen und am nahen Acker halten. Nur ein<br />
paar Sätze wechseln Vater und Sohn am Handy – jeder<br />
im Fahrzeug, aber auf Sicht. Zum Abschied gibt Hofreiter<br />
den strengen Lehrherrn. „Denk dran, dass ihr am<br />
Abend den Dreck von der Straße schippt.“<br />
n<br />
cordula.tutt@wiwo.de | Putlitz<br />
FOTO: DDP IMAGES/MEXRIX<br />
26 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»Putins Sticheleien«<br />
INTERVIEW | Christian Schmidt Der Landwirtschaftsminister über<br />
die Folgen der russischen Agrarsanktionen, die Bedeutung der<br />
deutschen Biobauern – und den Nutzen von Algen.<br />
zehn Prozent weniger als zu Beginn des<br />
Jahres. Hinzu kommt, dass im nächsten<br />
Frühjahr nach über 30 Jahren das Quotensystem<br />
für Milch endet. Wenn dann Milchviehhalter<br />
ein Produktionsfeuerwerk entzünden<br />
würden, kämen die Preise unter<br />
Druck. Es ist eine kluge Überlegung der<br />
Bauern, sich hier zurückzuhalten.<br />
Oder Sie fördern den Export.<br />
Ich bin sehr dafür, den Export in aufnahmefähige<br />
Märkte zu unterstützen, und da<br />
bin ich auch aktiv. Ich will aber nicht in den<br />
europäischen Wettbewerb eingreifen. Leider<br />
muss ich feststellen, dass es auch in<br />
einigen EU-Mitgliedstaaten wieder protektionistische<br />
Tendenzen gibt, die an Maggie<br />
Thatchers „buy british“ erinnern.<br />
Sie meinen Frankreich.<br />
Ich will in ganz Europa eine Marktteilnahme<br />
ohne Belastungen und Zwänge. Auch<br />
das Aufbauen von neuen Barrieren unter<br />
dem Deckmantel angeblicher Gesundheits-<br />
und Veterinärvorschriften halte ich<br />
für nicht akzeptabel. Hier geht es um Kernfragen<br />
der europäischen Integration. Außerdem<br />
bekenne ich mich zu verbindlichen<br />
Handelsabkommen.<br />
Sie sprechen TTIP an, das Handelsund<br />
Investitionsabkommen zwischen der<br />
EU und den USA. Sind Sie als Landwirtschaftsminister<br />
für das Chlorhühnchen?<br />
Es wird kein Chlorhühnchen in Deutschland<br />
geben. Das entspricht nicht unseren<br />
europäischen Standards. Wir versuchen<br />
schon im Vorfeld, die Entstehung von Keimen<br />
zu verhindern. Die Amerikaner behandeln<br />
die Oberfläche des Geflügels mit<br />
DER BIOJURIST<br />
Schmidt, 57, ist seit Februar 2014 Bundesminister<br />
für Ernährung und Landwirtschaft.<br />
Der studierte Jurist und CSU-Politiker war<br />
davor acht Jahre Parlamentarischer Staatssekretär<br />
im Verteidigungs- und für kurze Zeit<br />
im Entwicklungshilfeministerium tätig.<br />
Herr Minister, mit Ihrer Ansage „An apple<br />
a day keeps Putin away“ haben Sie jüngst<br />
für Aufsehen gesorgt. Haben Sie heute<br />
schon einen Apfel gegessen?<br />
Ja, zum Frühstück.<br />
Und? Dabei an Putin gedacht?<br />
Nicht heute morgen, wohl aber nach zahlreichen<br />
Gesprächen mit Vertretern der Ernährungswirtschaft.<br />
Die Marktlage ist<br />
schwierig. Bei Äpfeln kommt das aber<br />
mehr von der guten Ernte und weniger von<br />
den russischen Sanktionen gegenüber EU-<br />
Agrargütern.<br />
Wie stark greifen Putins Sanktionen?<br />
Die baltischen Staaten und Finnland sind<br />
schon stark betroffen. Für die deutsche<br />
Landwirtschaft sind Russlands Sanktionen<br />
eher eine Stichelei. Weniger als ein Prozent<br />
unseres Absatzes sind betroffen. Mit Sorge<br />
betrachte ich aber, dass einige Unternehmen<br />
versuchen, diese Lage auszunutzen<br />
und die Preise zulasten der Landwirte zu<br />
drücken. Das ist unsolidarisch.<br />
Wo geraten die Preise unter Druck?<br />
Bei Milch sind die Erzeugerpreise gegenwärtig<br />
so bei 37 Cent pro Liter, das sind<br />
Chlor, um alle Keime abzutöten. Das ist eine<br />
Frage unterschiedlicher Herangehensweisen.<br />
Wir bleiben aber aus Überzeugung<br />
bei unseren Verfahren.<br />
Sollen bei TTIP nicht die unterschiedlichen<br />
Behandlungsmethoden gegenseitig<br />
anerkannt werden?<br />
Ich respektiere die amerikanische Methode.<br />
Ich habe auch vermutlich in den USA schon<br />
mal Chlorhühnchen gegessen, unbewusst.<br />
Aber ich möchte nicht, dass die Bürger in<br />
Deutschland dies bewusst oder unbewusst<br />
tun müssen. Der Lebensmittelmarkt ist der-<br />
FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
28 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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art stark vertrauensorientiert, dass wir unsere<br />
eigenen Standards nicht zur Disposition<br />
stellen dürfen. Deswegen verhalte ich<br />
mich auch als Freihändler in diesem Punkt<br />
restriktiv, genau wie bei Hormonfleisch und<br />
gentechnisch veränderten Pflanzen.<br />
Werden die USA das akzeptieren?<br />
Das wird man sehen. Wir müssen uns als<br />
Europäer vor Augen führen, dass auch die<br />
Amerikaner mit manchen unserer Produkte<br />
Bedenken haben. Mit Rohmilchkäse...<br />
...und Salmonellenhühnchen...<br />
...auf jeden Fall kann es sein, dass wir vice<br />
versa keine vollkommene Öffnung der Lebensmittelmärkte<br />
erreichen. TTIP wird<br />
sich dennoch positiv auf unsere Landwirtschaft<br />
auswirken. Bei Milchprodukten,<br />
speziell Käse, rechne ich mit stark steigenden<br />
Exporten, da hier hohe Zölle wegfallen<br />
würden. Im Bereich von Getreide, etwa bei<br />
Weizen, kann der Wettbewerb zunehmen.<br />
Die Koalition will die Bioökonomie vorantreiben.<br />
Dazu gibt es am 3./4. November eine<br />
Konferenz. Ist das wieder etwas, das die<br />
Wirtschaft belastet, so wie Rente mit 63?<br />
Im Gegenteil, Bioökonomie stimuliert die<br />
Wirtschaft. Dafür steckt die Bundesregierung<br />
jetzt binnen vier Jahren insgesamt 2,4<br />
Milliarden Euro vor allem in die Forschung.<br />
Als federführender Minister will<br />
ich eine dauerhafte Förderung erreichen.<br />
Was ist Bioökonomie überhaupt?<br />
Das ist die Nutzung nachwachsender Ressourcen,<br />
die zu vielfältigen Produkten verarbeitet<br />
werden, für die vorher fossile Rohstoffe<br />
verwendet wurden. Neben der stofflichen<br />
Nutzung ist die Verwendung von<br />
nachhaltig erzeugter Biomasse als erneuerbare<br />
Energiequelle von Bedeutung.<br />
Provozieren Sie damit nicht wieder eine<br />
Teller-Tank-Debatte? Schließlich sind die<br />
Agrarflächen begrenzt, der größte Teil ist<br />
für die Ernährung unverzichtbar.<br />
Ernährung hat immer Vorrang. Mit der<br />
Bioökonomiestrategie will ich parallele<br />
Nachhaltigkeit schaffen. Das heißt, wir<br />
wollen sowohl die Ernährung als auch die<br />
Nutzung nachwachsender Rohstoffe auf sichere<br />
Beine stellen.<br />
Wie viel Erdöl kann die Landwirtschaft<br />
denn perspektivisch ersetzen?<br />
Im Bereich der Bioenergie liegt das Potenzial<br />
bei schätzungsweise 1640 Pikojoule im<br />
Jahr 2050. Um Ihnen eine Vorstellung zu<br />
vermitteln: Das entspricht fast einem Viertel<br />
des gesamten deutschen Energiebedarfs,<br />
also könnten wir langfristig 40 Millionen<br />
Tonnen Erdöl einsparen. Zudem hat<br />
Biomasse gegenüber Wind- oder Sonnenenergie<br />
den Vorteil, dass sie eine kontinuierlich<br />
verfügbare Rohstoffquelle ist und<br />
nicht <strong>vom</strong> Wetter abhängt. Jede Energie,<br />
die nicht aus russischen Gaspipelines importiert<br />
werden muss, ist zudem ein Beitrag<br />
zur Energiesicherung.<br />
Was ist denn Ihr großer Hoffnungsträger<br />
in der Bioökonomie?<br />
Wir wollen vor allem die Forschung vorantreiben<br />
und bessere Züchtungsmethoden<br />
erreichen. „Smart breeding“ heißt das auf<br />
Neudeutsch und ist nicht zu verwechseln<br />
mit Gentechnik, die wir in unserer Landwirtschaft<br />
nicht haben wollen. Und wenn<br />
Sie nach hoffnungsvollen Pflanzen fragen,<br />
denke ich an Algen. Die produzieren unter<br />
Sonnenlicht bis zu 20-mal mehr Biomasse<br />
als Raps oder Mais auf der gleichen Fläche.<br />
Allerdings ist der Herstellungsaufwand<br />
noch sehr hoch, womit wir wieder bei der<br />
Forschung wären.<br />
Gibt es bei dem Bemühen um eine möglichst<br />
effiziente Landnutzung überhaupt<br />
noch Platz für Biobauern, die ja nicht<br />
gerade hohe Erträge produzieren?<br />
Der ökologische Landbau hat seinen Platz<br />
in Deutschland. Die Biolandwirtschaft ist<br />
zu einem unverzichtbaren Bestandteil unserer<br />
Lebensführung geworden, für manche<br />
ist es gar ein Lebensgefühl.<br />
So sehr, dass die heimischen Bauern längst<br />
nicht die Nachfrage befriedigen können.<br />
Deshalb bin ich für eine Ausweitung des<br />
ökologischen Landbaus. Wieso sollten unsere<br />
Verbraucher auf Bioware aus nicht europäischen<br />
Ländern zurückgreifen müssen,<br />
wo gerade in der regionalen Produktion<br />
so großes Potenzial steckt? Unser Ziel<br />
muss es sein, Marktanteile deutscher Bioprodukte<br />
zu erhöhen.<br />
Was wollen Sie tun, um die heimische<br />
Bioproduktion anzukurbeln?<br />
Die Nachfrage der Konsumenten schafft<br />
Marktanreize. Dazu gehört auch, beim Einkauf<br />
auf deutsche und europäische Herkunft<br />
zu achten und nicht einfach zur<br />
günstigsten Ware zu greifen. Außerdem<br />
will ich verhindern, das der ökologische<br />
Landbau in Deutschland und Europa behindert<br />
wird. Dazu gehört leider auch der<br />
jüngste Entwurf der Brüsseler Kommission<br />
zur Revision der EU-Öko-Verordnung. Dieser<br />
Entwurf wird den Ökolandbau nicht<br />
stärken, er wird ihn schwächen. Das kann<br />
ich nicht zulassen. Der Entwurf ist ein Musterbeispiel<br />
für übertriebene Regulierung.<br />
Ökolandwirtschaft muss, wie ihre konventionelle<br />
Schwester, praktikabel und ökonomisch<br />
sinnvoll bleiben. Sonst können viele<br />
Biobauernhöfe nicht überleben.<br />
n<br />
christian.ramthun@wiwo.de | Berlin, matthias streit<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 29<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Übung in<br />
Nostalgie<br />
SEPARATISMUS | Die Misere der Wirtschaft<br />
und schlechte Politik fachen nicht nur in<br />
Katalonien den Wunsch nach regionaler<br />
Selbstbestimmung an. Doch neue Staaten<br />
können die Probleme nicht lösen.<br />
Madrid, nein danke<br />
Massendemo in<br />
Barcelona für die<br />
Unabhängigkeit<br />
Kataloniens<br />
30 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: LAIF/POLARIS/EDU BAYER<br />
Erhätte lieber ein anderes Trikot getragen.<br />
47 Mal trat Pep Guardiola,<br />
heute erfolgsverwöhnter Trainer<br />
des FC Bayern München, für die spanische<br />
Nationalmannschaft an. Aber sein<br />
wahrer Wunsch, so gestand er Jahre später,<br />
waren internationale Einsätze in den<br />
katalanischen Farben. „Katalonien ist<br />
meine Heimat“, sagt er. „Man kann Gefühle<br />
nicht unterdrücken.“<br />
Immer wieder hat er sich für die Unabhängigkeit<br />
seiner Region eingesetzt, hat<br />
an Demonstrationen teilgenommen, in<br />
New York oder wie an Pfingsten in Berlin<br />
auf dem Alexanderplatz. In einem Wahlspot<br />
der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung<br />
warb er noch Anfang September<br />
für ein Referendum.<br />
Sein Traum hat sich nicht erfüllt. Die<br />
Zentralregierung und das spanische Verfassungsgericht<br />
haben das Referendum<br />
untersagt, auf Druck aus Madrid darf der<br />
katalanische Ministerpräsident Artur Mas<br />
die Abstimmung am kommenden Sonntag<br />
nicht einmal mehr „Befragung“ nennen.<br />
Nachdem sich die Schotten im September<br />
– wenn auch knapp – für den Verbleib<br />
im Vereinigten Königreich entschieden<br />
haben, bleibt also auch diesmal das<br />
große politische Aufbruchsignal aus, auf<br />
das Separatisten in ganz Europa hofften.<br />
Die Katalanen werden trotzdem an die<br />
Urnen gehen. Und die katalanische Unabhängigkeitsbewegung<br />
wird weiter um<br />
einen eigenen Staat kämpfen.<br />
Keine Frage: Es rumort in Europa. Separatistische<br />
Kräfte setzen in mehreren<br />
Ländern auf den Rückzug in den eigenen<br />
Kleinstaat. So sammelt die norditalienische<br />
Region Veneto seit Anfang Oktober<br />
auf einem Konto Spenden, um ein Referendum<br />
über die Abspaltung von Italien<br />
abzuhalten – nachdem im März bei einer<br />
Online-Befragung bereits zwei Millionen<br />
Menschen für die Unabhängigkeit gestimmt<br />
haben. In Belgien wurde die nationalistische<br />
N-VA, die die Forderung<br />
nach einem unabhängigen Flandern in<br />
ihren Parteistatuten führt, stärkste Partei<br />
und gehört seit Mitte Oktober der Regierung<br />
an. Und auch im Baskenland, auf<br />
Korsika und in Schottland träumen viele<br />
Menschen nach wie vor von der Unabhängigkeit.<br />
BRÜCHIGE SOLIDARITÄT<br />
Das Phänomen Separatismus wird Europa<br />
in den kommenden Jahren aus gleich<br />
mehreren Gründen erhalten bleiben. Seit<br />
dem Ausbruch der Euro-Krise ist der zu<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 31<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Reichtum. Als eigener Staat käme der<br />
Veneto auf das siebthöchste Pro-Kopf-<br />
Einkommen in der gesamten EU.<br />
In Flandern ist die Unabhängigkeit im<br />
politischen Diskurs in der jüngsten Zeit<br />
zwar in den Hintergrund geraten. Aber viele<br />
Beobachter vermuten, dass N-VA-Parteichef<br />
Bart de Wever sich auf die Regierungsbeteiligung<br />
nur eingelassen hat, damit die<br />
Koalition scheitert und er den Beweis geliefert<br />
bekommt, dass Belgien als Ganzes<br />
nicht überleben kann. In der Zwischenzeit<br />
schürt seine Partei den Unmut über die<br />
Transfers aus dem reicheren flämischen<br />
Norden des Landes in den ärmeren französischsprachigen<br />
Süden. Seit der Krise seien<br />
die Zahlungen auf beinahe acht Milliarden<br />
Euro pro Jahr geschnellt, so die N-VA. Unabhängige<br />
Zahlen existieren nicht.<br />
»<br />
verteilende Wohlstand geschrumpft,<br />
was die schon vorher brüchige Solidarität<br />
zwischen unterschiedlich reichen Landesteilen<br />
strapaziert. Das Gefühl der Menschen,<br />
von der Zentralregierung schlecht<br />
regiert zu werden, wächst. Gleichzeitig erhöht<br />
die stärkere europäische Integration<br />
ungewollt die Zentrifugalkräfte, denn die<br />
EU bietet auch Kleinststaaten Sicherheit<br />
mit einem Zugang zum Binnenmarkt und<br />
Freihandel mit weiten Teilen der Welt.<br />
In der Euro-Zone, deren Wirtschaftsleistung<br />
immer noch um 2,4 Prozent unter<br />
dem Niveau vor der Krise liegt, verfangen<br />
vermeintlich einfache Lösungen wie Unabhängigkeit.<br />
In Katalonien hat der wirtschaftliche<br />
Absturz den Wunsch nach der<br />
Trennung massiv angeheizt. Im Oktober<br />
2006 sprachen sich in einer Umfrage der<br />
Regionalregierung gerade einmal 14 Prozent<br />
der Befragten für einen eigenen Staat<br />
aus. Im Oktober 2013 war diese Zahl auf<br />
48,5 Prozent hochgeschnellt.<br />
Knapp verloren Die schottischen Separatisten<br />
scheiterten mit ihrem Referendum<br />
UNGERECHTES STEUERSYSTEM<br />
Ein Punkt, der die Katalanen berechtigterweise<br />
erzürnt, ist die Steuerungerechtigkeit.<br />
„Das undurchsichtige System der<br />
Steuertransfers zwischen den spanischen<br />
Regionen ist verrückt“, sagt der spanische<br />
Ökonom Luis Garicano von der London<br />
School of Economics, der gegen die Unabhängigkeit<br />
Kataloniens plädiert. Die Regierung<br />
von Ministerpräsident Mas geht davon<br />
aus, dass Katalonien über den Länderfinanzausgleich<br />
pro Jahr 16 Milliarden Euro<br />
an andere Regionen Spaniens abtritt.<br />
Das entspricht etwa acht Prozent der katalanischen<br />
Wirtschaftsleistung.<br />
Im Veneto ist es ebenfalls die wirtschaftliche<br />
Misere, die den Ärger über die Alimentation<br />
von anderen Landesteilen anschwellen<br />
lässt. „Die Menschen wollen<br />
vermutlich auch deshalb Unabhängigkeit,<br />
weil sie sich von der Krise erdrosselt fühlen“,<br />
sagt Luca Zaia, der Regionalpräsident<br />
des Veneto. Vor allem forderten die Menschen<br />
niedrigere Steuern. Zaia gehört zur<br />
Partei Lega Nord-Liga Veneta und war unter<br />
Ministerpräsident Silvio Berlusconi italienischer<br />
Landwirtschaftsminister.<br />
Von sieben Euro, die die Region an Steuern<br />
zahlt, fließen nur fünf Euro in öffentlichen<br />
Leistungen zurück, rechnen seine<br />
Leute vor. „Ministerpräsident Renzi sollte<br />
den Mut haben zu sagen, dass die Hälfte<br />
Italiens, nämlich der Süden, bankrott ist“,<br />
fordert Zaia. In Venedig und Umgebung<br />
fantasieren sie schon <strong>vom</strong> ungeteilten<br />
KOSTEN UNTERSCHÄTZT<br />
Ein unfairer Finanzausgleich zwischen Regionen<br />
ist für den katalanischen Ökonomen<br />
Gerard Padró, der an der London<br />
School of Economics lehrt, einer der wichtigste<br />
Gründe für den Wunsch nach einem<br />
eigenen Staat: „Wer seine Regionen fair behandelt,<br />
muss Unabhängigkeitsbewegungen<br />
nicht fürchten.“<br />
Daraus ergibt sich allerdings nicht<br />
zwangsläufig, dass es den Regionen als<br />
souveränen Einheiten besser ginge. So neigen<br />
die Befürworter der Unabhängigkeit<br />
dazu, den Preis der Trennung zu unterschätzen.<br />
Die katalanische Regierung geht<br />
in ihrem Weißbuch zu einem unabhängigen<br />
Staat davon aus, dass der Handel mit<br />
Spanien kurzfristig um nicht mehr als zwei<br />
Prozent des katalanischen Bruttoinlandsprodukts<br />
einbräche, was jedoch abgefangen<br />
würde, weil keine Steuer nach Madrid<br />
mehr abzuführen wäre.<br />
Diese Sichtweise blendet jedoch völlig<br />
aus, dass die Trennung eine große Unsicherheit<br />
bei Investoren verursacht. Im<br />
zweiten Quartal 2014 flossen nur ein Drittel<br />
so viele Direktinvestitionen nach Katalonien<br />
wie im Vorjahr. Alleine die Diskussion<br />
um ein Referendum schreckt Investoren<br />
ab. Nationalisten raten mittlerweile schon<br />
offen davon ab, sich an der Privatisierung<br />
der spanischen Flughäfen zu beteiligen –<br />
weil die katalanischen Airports bald in einem<br />
anderen Staat liegen könnten.<br />
Auch das Aufteilen von Staatsbesitz und<br />
Staatsschulden wäre ein hoch komplizierter<br />
Prozess. Welchen Anteil der spanischen<br />
Staatsschuld, die sich aktuell auf 100 Prozent<br />
des Bruttoinlandsprodukts beläuft,<br />
würde Katalonien übernehmen? Ginge<br />
»<br />
FOTO: BULLS/MIRRORPIX<br />
32 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Politik auf die wahren Bedürfnisse zuschneiden<br />
könnten. Ökonomen gehen<br />
hingegen davon aus, dass große Länder öffentliche<br />
Güter wie innere Sicherheit (Polizei,<br />
Justiz) preisgünstiger bereitstellen können<br />
als kleine Länder, weil diese Bereiche<br />
nicht proportional zur Bevölkerung wachsen.<br />
„Die Pro-Kopf-Kosten öffentlicher Güter<br />
sind in großen Ländern niedriger, weil<br />
mehr Steuerzahler für sie aufkommen“,<br />
weiß Alesina. Er kam in einer Studie zu<br />
dem Ergebnis, dass kleinere Länder im<br />
Schnitt einen größeren Staatssektor haben.<br />
»<br />
es nach dem Anteil Kataloniens an Spaniens<br />
Gesamtbevölkerung, entfielen 16<br />
Prozent auf den neuen Staat. Da wären lange<br />
und zähe Verhandlungen unvermeidbar.<br />
In jedem Fall würde der Übergang zu einem<br />
neuen Staat Arbeit und Mittel binden, ganz<br />
besonders, wenn sich Katalonien einseitig<br />
verabschiedet. „Die Übergangskosten einer<br />
Scheidung in Unfrieden sind brutal“, prognostiziert<br />
Ökonom Garicano.<br />
NEUER EU-STAAT KATALONIEN?<br />
Die katalanische Regierung geht davon<br />
aus, dass ein neuer Staat in der EU verbliebe.<br />
„Die EU hat traditionell eine extrem flexible<br />
und pragmatische Haltung eingenommen,<br />
wenn es darum ging, Probleme<br />
zu lösen, die durch territoriale Veränderungen<br />
entstanden sind“, heißt es im Weißbuch<br />
zur Trennung. Bisher hat die EU-<br />
Kommission offiziell stets betont, ein neues<br />
Land müsse die Mitgliedschaft erst beantragen<br />
und den üblichen Beitrittsprozess<br />
durchlaufen. Kommissare, die Schottland<br />
vor dem Referendum besuchten, bekamen<br />
diese harte Linie auf ihren Sprechzetteln<br />
mit.<br />
Natürlich diente diese Art der Kommunikation<br />
der Abschreckung: Niemand in<br />
Brüssel wünscht sich das Chaos, das eine<br />
Abspaltung unweigerlich bringt. In der<br />
Kommission war die Erleichterung groß,<br />
als die Schotten gegen den Alleingang<br />
stimmten. Ohne es zu wollen, macht die<br />
EU die Unabhängigkeit allerdings attraktiv,<br />
sichert sie auch noch so kleinen Staaten<br />
Inländer raus Bart de Wever von der Partei<br />
N-VA will einen eigenen Staat für die Flamen<br />
die Integration der Wirtschaft in ein größeres<br />
Ganzes. Innerhalb der EU haben Unternehmen<br />
Zugang zum Binnenmarkt mit<br />
über 500 Millionen Verbrauchern und vor<br />
allem zum Weltmarkt, verfügt die EU doch<br />
über ein dichtes Netz an Freihandelsabkommen.<br />
Die Größe des Heimatsmarkts<br />
wird da zweitrangig. Und der Euro als<br />
Gemeinschaftswährung ist im Zweifel<br />
ebenfalls attraktiver als eine eigene Währung,<br />
die großen Schwankungen ausgesetzt<br />
sein könnte. „Ethnische und kulturelle<br />
Minderheiten haben das Gefühl, dass<br />
sie in einem europäischen Binnenmarkt<br />
wirtschaftlich überlebensfähig sind und<br />
sich deshalb von ihrem Heimatland abspalten<br />
können“, urteilt Harvard-Ökonom<br />
Alberto Alesina.<br />
Die Annahme, dass kleinere Staaten automatisch<br />
effizienter sind, wie etwa die katalanische<br />
Regierung argumentiert, hält<br />
Alesina für einen Irrtum. Die Katalanen betonen,<br />
dass sie in einem eigenen Land die<br />
IM ZUSTAND DER VORFREUDE<br />
Die Unabhängigkeitsbewegungen pflegen<br />
dagegen den Mythos, dass „klein“ automatisch<br />
„gut“ bedeutet, wie es schon die alten<br />
Griechen postulierten. Der Philosoph Aristoteles<br />
forderte, Stadtstaaten sollten nicht<br />
mehr als 5040 Haushalte umfassen, weil<br />
man in größeren Einheiten einander nicht<br />
mehr persönlich kenne.<br />
Bei den Unabhängigkeitsbewegungen<br />
der Neuzeit schwingt die fast schon naive<br />
Sehnsucht nach einer überschaubaren Gemeinschaft<br />
deutlich mit, etwa wenn die<br />
Katalanin Muriel Casals von ihrem neuen<br />
Staat spricht. „Unser Land wird nicht perfekt<br />
sein“, sagt die Vorsitzende des Vereins<br />
Òmnium, einer treibenden Kraft der katalanischen<br />
Unabhängigkeitsbewegung.<br />
„Aber wir leben in einem Zustand der Vorfreude,<br />
die uns hilft, besser zu sein.“<br />
Hier die Guten, dort die Bösen: Das ist<br />
ein Muster, das sich gleichermaßen durch<br />
den spanischen und katalanischen Diskurs<br />
zieht. Gerade erst hat der Cercle Català de<br />
Negocis, ein Unternehmenszusammenschluss<br />
für die Unabhängigkeit, ein prägnantes<br />
Beispiel für derartige Schwarz-<br />
Weiß-Malerei vorgelegt. Er veröffentlichte<br />
eine Studie, nach der Katalonien nur<br />
fünf Korruptionsfälle pro eine Million Einwohner<br />
zählt – wohingegen der Rest des<br />
Landes auf zwölf kommt. Wie viel sind solche<br />
Zahlen wert, wenn gegen den früheren<br />
Regionalpräsidenten Jordi Pujol und seinen<br />
Clan fünf Verfahren wegen Bestechung,<br />
Geldwäsche und Steuerhinterziehung<br />
laufen? Der Parteifreund von Mas hat<br />
Katalonien bis 2003 insgesamt 23 Jahre<br />
offenbar wie ein Feudalherrscher regiert.<br />
Lange Zeit war er trotzdem eine Galionsfigur<br />
der Katalanen.<br />
Das Recht auf Selbstbestimmung, das<br />
die Unabhängigkeitsbewegungen reklamieren,<br />
hört sich modern an; der Begriff<br />
Freiheit ist in Europa positiv besetzt. Dennoch<br />
haftet dem Separatismus etwas<br />
»<br />
FOTO: VISUM/PANOS PICTURES/DIETER TELEMANS<br />
34 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Rückwärtsgewandtes an, als könnte das<br />
Leben in kleineren Einheiten vor der Globalisierung<br />
und ihren Folgen schützen.<br />
„Wir wissen, dass manche sezessionistischen<br />
Bewegungen sich in Nostalgie üben<br />
– in der Sehnsucht nach kleineren, weniger<br />
offenen und weniger toleranten Gesellschaften“,<br />
sagt Alberto Mingardi, Direktor<br />
des liberalen italienischen Thinktanks Istituto<br />
Bruno Leoni. In einer immer komplexeren<br />
Welt verkaufen die Separatisten den<br />
Rückzug in einen überschaubaren Winkel<br />
mit selbst gezogenen Grenzen als die bessere<br />
Alternative zur chaotischen, unplanbaren<br />
Realität.<br />
Die katalanische Autorin Margarita Rivière<br />
sieht bereits die Gefahr einer „erzwungenen<br />
Homogenität“ heraufziehen,<br />
die soziale Vielfalt ersetzen soll. Für Andersdenkende<br />
bleibe kein Platz: „Wenn<br />
man weder katalanischer Nationalist noch<br />
spanischer Nationalist ist, dann befindet<br />
man sich im Niemandsland.“<br />
RÜDER TON<br />
Der rüde Ton, mit dem die Auseinandersetzung<br />
in Spanien geführt wird, deutet darauf<br />
hin, dass die reflexartige Trennung einer<br />
Gesellschaft in „die“ und „wir“ den<br />
Keim für Gewalt birgt. Kataloniens Präsident<br />
Mas bezeichnete die Zentralregierung<br />
in Madrid offen als „Feinde“. Woraufhin der<br />
Sprecher der bis 2004 regierenden konservativen<br />
Zentralregierung, Miguel Ángel<br />
Rodriguez , mit „Erschießung“ drohte.<br />
Der Ökonom und Nobelpreisträger<br />
Amartya Sen sieht in der Zuschreibung einer<br />
einzigen Identität eine gefährliche Vereinfachung.<br />
„Das Auferlegen einer angeblich<br />
einzigartigen Identität gehört oft als<br />
entscheidender Bestandteil zur Kampfkunst,<br />
sektiererische Auseinandersetzungen<br />
zu schüren“, schreibt er. „Das Gefühl<br />
der Identität mit einer Gruppe kann, entsprechend<br />
angestachelt, zu einer mächtigen<br />
Waffe werden, mit der man anderen<br />
grausam zusetzt.“ Sen, der sich selbst als<br />
Inder, Bengali, Briten und feministischen<br />
Mann bezeichnet, schildert, wie die „solitaristische“<br />
Identität, die Reduzierung des<br />
Individuums auf ein Merkmal, auf dem<br />
Balkan oder in Ruanda zu Massenmorden<br />
geführt hat.<br />
Aktuell ruft keine der Separatisten-Bewegungen<br />
in Europa zu Gewalt auf, selbst<br />
die baskische Untergrundorganisation ETA<br />
hat sich zu Jahresbeginn von ihren Waffen<br />
getrennt.<br />
Aber Gewalt beginnt im Kopf.<br />
n<br />
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />
SCHWEIZ<br />
Allein auf dem Berg<br />
Für Anhänger der Kleinstaaterei sind die Eidgenossen ein Vorbild. Dabei<br />
ist die größte Sorge der Schweizer Wirtschaft dieser Tage der boomende<br />
Nationalismus im Land.<br />
Abschied fällt schwer Tobias Erb forscht –<br />
noch – an der ETH Zürich<br />
Tobias Erbs Tage im Paradies sind gezählt.<br />
Zum 1. November tritt er eine Stelle an der<br />
Universität Marburg an, ein paar Wochen<br />
wird er noch hin- und herpendeln, bevor er<br />
sein Büro endgültig räumt. Schon jetzt ist Erb<br />
voller Wehmut, wenn er über den Campus<br />
der Eidgenössischen Technischen Hochschule<br />
Zürich schlendert. „Hier herrscht ein<br />
einzigartiger Geist, es gibt Weltklasse-Forscher<br />
und tolle Studenten“, schwärmt Erb.<br />
Hoch auf dem Hönggerberg thront die Universität<br />
über der Stadt. Erb hatte sich perfekt<br />
akklimatisiert hier oben, wissenschaftlich<br />
und privat. Er, der Leiter einer Forschungsgruppe<br />
im Fachbereich Biochemie, schon<br />
mit Mitte 30 eine Instanz auf seinem Feld.<br />
Seinen Espresso im Campus-Café bestellt er<br />
in einwandfreiem Schwyzerdütsch.<br />
Warum nun also Marburg? „Ich wäre gern<br />
in Zürich geblieben“, sagt Erb. Doch im Februar<br />
stimmten die Schweizer in einer Volksabstimmung<br />
völlig überraschend für die<br />
„Masseneinwanderungsinitiative“, die eine<br />
strikte Zuwanderungsbegrenzung fordert.<br />
Für Erb, den Biologen aus dem Schwarzwald,<br />
hat das Konsequenzen: Die Beteiligung<br />
aller Schweizer Universitäten an wis-<br />
senschaftlichen EU-Projekten war auf Eis<br />
gelegt worden. Genau so ein Projekt wollte<br />
Erb aber einreichen, Umfang zwei Millionen<br />
Euro; es sollte sein endgültiger Durchbruch<br />
werden. „Von einem auf den anderen Tag ist<br />
alles unsicher geworden“, sagt Erb.<br />
Unsicherheit – es ist ein Wort, das in Wirtschaft<br />
und Wissenschaft immer häufiger die<br />
Runde macht, wenn es um Schweizer Politik<br />
geht. Bisher machte das Gegenteil, die Sicherheit,<br />
die Verlässlichkeit, den Kern des<br />
nationalen Geschäftsmodells und patriotischen<br />
Stolzes aus. Weil die Schweizer sich<br />
von keinem etwas vorschreiben lassen, können<br />
sie so bleiben, wie sie wollen. Damit ist<br />
das Land zum beneideten Sonderfall geworden.<br />
Die Schweizer sind mittendrin in Europa<br />
und machen doch ihr eigenes Ding. Viele<br />
wünschen sich genau so einen Status. Die<br />
Katalanen, viele Schotten, manchmal sogar<br />
die Bayern. Umso erstaunlicher, dass gerade<br />
das vermeintliche Musterland dieser<br />
Tage zeigt, welche Schattenseiten zu viel<br />
Separatismus mit sich bringen kann.<br />
CHANCEN IM PROMILLEBEREICH<br />
Heinz Brand hat ein ambivalentes Verhältnis<br />
zu Übertreibungen. Er benutzt sie gern<br />
und prangert sie ebenso gern an. „Die<br />
Freunde der unbegrenzten Zuwanderung<br />
erzählen uns, dass wir sie brauchen, um<br />
wirtschaftlich erfolgreich zu sein“, sagt<br />
Brand, Nationalrat der rechtspopulistischen<br />
Schweizer Volkspartei (SVP). „Mit<br />
Verlaub gesagt, das ist absoluter Quatsch!“<br />
Brand verantwortet die Umsetzung der<br />
Masseneinwanderungsinitiative, die seine<br />
Partei erfunden hat. Bis 2017 hat das Parlament<br />
dafür formal Zeit, doch schon jetzt<br />
ist klar, dass sich die Schweizer in eine aussichtslose<br />
Situation manövriert haben. Die<br />
Bürger haben entschieden, dass die<br />
Schweiz ihre Zuwanderung über Kontingente<br />
regeln soll, so wie es früher schon mal<br />
war. Früher, das ist zwar noch nicht lange<br />
her, aber es war eine ganz andere Zeit. Seit<br />
2002 gelten zwischen der Schweiz und der<br />
EU bilaterale Verträge, mit denen die<br />
Schweiz an den vier Freiheiten im europäi-<br />
FOTO: TANJA DEMARMELS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
36 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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gen die „Masseneinwanderungsinitiative“<br />
votiert habe.<br />
Eichenberger benennt damit einen der<br />
vielen Widersprüche im schweizerischen<br />
Selbstverständnis der Gegenwart. Nicht nur<br />
in Basel fanden die Ausländerkontingente<br />
keine Zustimmung, sondern auch überall<br />
sonst, wo der Austausch mit den deutschen<br />
und französischen Nachbarn intensiv ist.<br />
Mehrheiten sammeln solche Initiativen dagegen<br />
in der Zentralschweiz, wo die Zuwanderung<br />
am geringsten ist. Dahinter steckt<br />
ein Muster, wie man es auch bei Separatismus-Bewegungen<br />
anderswo findet: Der<br />
Wunsch nach Abschottung spiegelt den<br />
Traum, die Errungenschaften der Gegenwart<br />
mit den verklärten Vorzügen der Verigelung<br />
der Schweiz. In den vergangenen<br />
Jahren hatte eine ganze Reihe von Initiativen<br />
Erfolg, die auf mehr Abschottung setzte.<br />
2013 gaben die Stimmbürger der<br />
„Swissness“-Initiative ihren Segen. Seitdem<br />
gelten deutlich strengere Regeln für Unternehmen,<br />
die ihren Produkten das Siegel<br />
made in Switzerland verleihen wollen. Es<br />
folgte die Zweitwohnungsinitiative. Die<br />
macht es Ausländern deutlich schwerer,<br />
Wohnraum in der Schweiz zu erwerben, ohne<br />
dort dauerhaft zu leben. Ende November<br />
kommt nun der radikalste Abschottungsvorschlag<br />
auf den Tisch: Sollte die „Ecopop“-Initiative<br />
Erfolg haben, würde die jährliche<br />
Zuwanderung in die Schweiz auf 0,2<br />
Prozent der aktuellen Bevölkerungszahl be-<br />
schen Wirtschaftsraum teilnimmt. Das<br />
heißt: Waren, Dienstleistungen, Personen<br />
und Kapital dürfen sich frei bewegen. Kontingente<br />
passen da schlecht hinein.<br />
SVP-Mann Brand sieht das anders.<br />
Schließlich erlaube die EU in Ausnahmesituationen<br />
eine Kontrolle der Zuwanderung.<br />
Diese Ausnahme sei gegeben, solange so<br />
viele Menschen in die Schweiz einwanderten,<br />
wie es aktuell der Fall ist. „Die Zuwanderung<br />
hat jedes erträgliche Maß überschritten,<br />
das hält unser Land nicht mehr<br />
aus“, ereifert sich Brand. 80 000 Menschen<br />
sind zuletzt pro Jahr in die Schweiz gezogen;<br />
wenn es nach Brand geht, sollen es<br />
höchstens noch 50 000 oder 60 000 sein.<br />
Die „Masseneinwanderungsinitiative“ ist<br />
ein Musterbeispiel für die wachsende Einschränkt.<br />
Momentan hieße das: auf 16 000<br />
Menschen im Jahr.<br />
Peter Eichenberger verzweifelt, wenn er<br />
solche Vorschläge hört. „30 Prozent unserer<br />
Mitarbeiter kommen aus dem Ausland“,<br />
sagt Eichenberger. „Wenn diese Initiative<br />
Erfolg hat, bekommen wir ernste Probleme.“<br />
Eichenberger leitet das Claraspital in<br />
Basel, 20 Prozent seiner Ärzte und Pfleger<br />
pendelt täglich aus Deutschland über die<br />
Grenze, weitere zehn Prozent kommen aus<br />
Frankreich. „Unsere Wirtschaft ist so verflochten<br />
mit dem Ausland, da ist es doch<br />
eine Illusion, zu glauben, dass man diese<br />
Verzahnung einfach schadlos wieder zurückdrehen<br />
könnte“, sagt Eichenberger.<br />
Wie zur persönlichen Ehrenrettung verweist<br />
er darauf, dass der Kanton Basel ge-<br />
gangenheit zu verbinden. Dass der Verlust<br />
des einen der Preis des anderen ist,<br />
wird dabei ignoriert.<br />
In der Schweiz ist das besonders augenfällig.<br />
Die Wirtschaft hat von der Integration<br />
in Europa stärker profitiert als die<br />
meisten Mitgliedstaaten. Seit der Einbindung<br />
in den Wirtschaftsraum ist das Pro-<br />
Kopf-Wachstum dreimal so hoch wie in<br />
der vorherigen Dekade. Zugleich hat sich<br />
in der Schweiz die Illusion gehalten, das<br />
eine habe mit dem anderen nichts zu tun.<br />
Dabei hat der neue Nationalismus erste<br />
negative Folgen in der Wirtschaft. Gerade<br />
schließt der schwedische Konzern Electrolux<br />
seinen Standort im Kanton Glarus,<br />
einer der Gründe sind die Auflagen der<br />
Swissness-Initiative. Der Chef des Industriekonzerns<br />
ABB gab jüngst zu Protokoll,<br />
dass der Schweizer Hauptsitz zur Disposition<br />
stehe, wenn die Zuwanderungsregeln<br />
zu restriktiv würden.<br />
Tobias Erb will mit seinem Abgang kein<br />
politisches Statement verbinden. Er kann<br />
sich vorstellen, eines Tages zurückzukommen.<br />
„Ich hoffe, dass sich hier die Erkenntnis<br />
durchsetzt, dass das Land von<br />
seiner Internationalität profitiert“, sagt<br />
Erb. Eigentlich sei eine Stadt wie Zürich<br />
„doch der beste Beleg, wie gut Weltoffenheit<br />
und Heimatverbundenheit zusammenpassen“.<br />
konrad.fischer@wiwo.de<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 38 »<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 37<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Beherrscht euch!<br />
ESSAY | Die Krise in Europa stärkt nicht seine regionale Vielfalt. Sie nährt nationale Egoismen. Das<br />
ist gefährlich. Souverän ist heute nicht, wer am Ideal staatlicher Selbstbestimmung festhält.<br />
Sondern wer sein Recht auf Autonomie einklagt – und auf Souveränität verzichtet. Von Dieter Schnaas<br />
Geschichte wiederholt sich nicht. Aber manchmal kehrt sie<br />
an ihre Schauplätze zurück. Nach Spanien und Flandern<br />
zum Beispiel, Madrid und Brüssel. Folgt man Goethe und<br />
Schiller, nahm an diesen beiden Orten, vor rund 450 Jahren, die<br />
Doppelgeschichte der bürgerlichen Freiheit und nationalen<br />
Selbstbestimmung ihren Lauf. Als „Abgeordneter der ganzen<br />
Menschheit“ barmt Schillers Marquis de Posa, der spanisch-katholische<br />
König Philipp II. möge auch dem frühkapitalistisch-calvinistischen<br />
Volk in den niederländischen Provinzen ein guter Hirte<br />
sein. Als Vollstrecker des tyrannischen Königswillens weist Goethes<br />
Herzog Alba das Ansinnen<br />
brüsk zurück: Er wolle die<br />
Andersgläubigen „zu ihrem<br />
Besten“ zwingen, ihnen „ihr<br />
eigen Heil, wenns sein muss“,<br />
aufdrängen. Man weiß, wie die<br />
Geschichte endet. Die Hoffnung<br />
auf „den Frühling, der<br />
die Gestalt der Welt verjüngt“,<br />
wird von Philipp und Alba gewaltsam<br />
unterdrückt. Aber sie<br />
stirbt nicht mit Egmont und<br />
Don Carlos. Flandern lässt sich<br />
auf Dauer nicht aus der Welt<br />
schaffen, indem es Spanien<br />
gleich, katholisch, „ein ander<br />
Etwas“ wird. Der Aufstand gegen<br />
die Krone mündet in einen<br />
Sezessionskrieg, die sieben<br />
nördlichen Provinzen (die<br />
heutigen Niederlande) sagen<br />
sich 1581 von Spanien los. Zum ersten Mal verdichten sich bürgerlicher<br />
Leistungsstolz, Empörung über religiöse Bevormundung<br />
und Fremdherrschaft zum „nationalen“ Selbstbewusstsein einer<br />
politischen Pioniergesellschaft. Zum ersten Mal besiegt die Peripherie<br />
ein scheinbar übermächtiges Zentrum.<br />
DREIERLEI NATIONALISMEN<br />
Es ist die Geburtsstunde des Nationalismus, der territorial gebundenen<br />
Identität und des kollektiven Selbstbestimmungsrechts –<br />
kraftvolle Gedanken, die den Taten damals wie Blitze dem Donner<br />
vorauseilen. Als Antwort auf die sozioökonomischen Krisen des<br />
Absolutismus entwickelt sich der frühe Nationalismus analog zur<br />
Idee der individuellen Freiheit, entfaltet sein revolutionäres Potenzial<br />
in den amerikanisch-französischen Emanzipationskämpfen.<br />
Er legitimiert die Bildung von souveränen Flächenstaaten und<br />
integriert Bevölkerungen. Er konsolidiert Herrschaft und fördert<br />
die Institutionen- und Rechtssicherheit. Er bereitet dem Handelskapitalismus<br />
dadurch buchstäblich den Boden und „bereinigt“ die<br />
europäische Landkarte. Während der Kontinent Ende des 15. Jahrhunderts<br />
in rund 450 Herrschaftseinheiten zersplittert ist, wird Europa<br />
1914 nur noch aus zwei Dutzend Staaten bestehen.<br />
Der Erste Weltkrieg bedeutet für die Geschichte des Nationalismus<br />
daher eine tiefe Zäsur: Seine Vor- und Nachgeschichte ist <strong>vom</strong><br />
Zerfall multinationaler Reiche im Südosten Europas und einem<br />
neuen, „sezessionistischen“ Nationalismus (Hans-Ulrich Wehler)<br />
geprägt, der sich <strong>vom</strong> „integrierenden“ Gründungsnationalismus<br />
(England, Frankreich, USA) der Frühzeit und <strong>vom</strong> „unifizierenden“<br />
Nationalismus zusammenwachsender Kleinstaaten (Deutschland,<br />
Italien) im 19. Jahrhundert<br />
scharf unterscheidet. Alle Nationalismen<br />
schöpfen ihr Material<br />
aus historischen Ereignissen<br />
und bedienen sich dabei<br />
derselben säkularreligiösen Legitimationsmuster<br />
– auserwähltes<br />
Volk, historische Mission,<br />
Vaterland, Muttererde... Aber<br />
der neue Nationalismus ist<br />
nicht mehr unbedingt von liberalen<br />
Grundsätzen und der Leitidee<br />
getragen, „dass die Gewalt<br />
von unten aufsteigen müsse“<br />
(Leopold Ranke). Im Gegenteil:<br />
Das „Selbstbestimmungsrecht<br />
der Völker“, das Lenin und US-<br />
Präsident Woodrow Wilson<br />
1914/18 im Chor anstimmen,<br />
Geteilte Vielfalt, geeinte Vielfalt? Europa-Karte von 1579<br />
gerät im 20. Jahrhundert in tiefen<br />
Widerspruch zu den individuellen<br />
Menschenrechten. Der Nationalismus, der immer schon eine<br />
ausgrenzende Kehrseite hatte (Indianer, Schwarzafrikaner, Juden,<br />
Polen, nichtrussische Völker), wendet sich ins Chauvinistische<br />
und verliert seinen universalistischen Wert-Anstrich.<br />
Es spricht daher heute nicht viel für eine Politik, die das Ideal der<br />
homogenen Nation in festen Grenzen verfolgt – am wenigsten übrigens<br />
dort, wo diese Grenzen einst von Kolonialmächten willkürlich<br />
gezogen wurden. Stattdessen spricht viel dafür, die Legitimitätsgründe<br />
neonationaler Anliegen – der Schotten, Iren, Waliser,<br />
Wallonen, Korsen, Bretonen, Tiroler, Venetier, Albaner, Abchasen,<br />
Osseten, Tschetschenen – an der Garantie von Sicherheit, Grundrechten<br />
und regional-kultureller Autonomie zu messen. Bezogen<br />
auf Europa, hieße das, die EU weiter zu entwickeln von einer staatenbündlerischen<br />
League of Nations zu einem souveränen Bundesstaat<br />
mit starken Eigenrechten für die Regionen. Danach sieht<br />
es im Moment nicht aus. Die Krise stärkt nicht Dezentralität, sondern<br />
nährt nationale Egoismen. Das ist gefährlich. Souverän ist<br />
heute, frei nach Carl Schmitt, wer auf Souveränität verzichtet. n<br />
FOTO: GETTY IMAGES/HERITAGE IMAGES/FINE ART IMAGES<br />
38 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Politisches Labor<br />
USA | Bei den Kongresswahlen buhlen die Parteien um die am<br />
schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe – die Latinos.<br />
Ein Besuch im besonders hart umkämpften US-Staat Colorado.<br />
gress ein. Bleiben wie bei früheren Wahlen<br />
viele Latinos zu Hause, dürfte der Ex-Marinesoldat<br />
und Kriegsveteran Coffman seinen<br />
Job in Washington zum dritten Mal erfolgreich<br />
verteidigen.<br />
„No mas excusas“, mahnt Romanoff seine<br />
Parteifreunde aus der Latino-Community<br />
ein zweites Mal. „Da vorne liegen Listen<br />
von Wählern, die wir noch besuchen<br />
müssen. Ich hoffe, jeder von euch<br />
schnappt sich eine und legt los.“<br />
WAHLKAMPFKOSTEN VERDOPPELT<br />
Colorado ist einer der am härtesten umkämpften<br />
Bundesstaaten. Als „Swing State“<br />
– ein Bundesstaat, der nicht eindeutig republikanisch<br />
oder demokratisch ist – steht<br />
er traditionell im Blickpunkt der Wahlkampfstrategen.<br />
Doch so aufgeheizt wie<br />
diesmal war die Stimmung wohl noch nie.<br />
Und noch nie war der Einfluss der Latino-<br />
Präsident Obama<br />
hat viele Latinos<br />
enttäuscht<br />
FOTO: BRAD TORCHIA FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Auf dem tischgroßen Grill brutzelt das<br />
Taco-Fleisch, daneben tollen Kinder<br />
über den Rasen, im Hintergrund dudelt<br />
der Latin Pop der Radiostation Que<br />
Bueno 1280. An die 100 Menschen haben<br />
sich um eine kleine Bühne versammelt, wo<br />
ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters<br />
in Khakis und hellblauem Hemd redlich<br />
bemüht ist, gute Stimmung zu verbreiten.<br />
Die Fiesta in Aurora, einem Vorort von<br />
Denver, mutet an wie eine mexikanische<br />
Hochzeit. Doch es ist knallharter amerikanischer<br />
Wahlkampf. „No mas excusas!“, ruft<br />
Andrew Romanoff, der Mann auf der Bühne,<br />
ins Mikrofon. Soll heißen: Es gibt keine<br />
Entschuldigung, wenn die Latinos im Distrikt<br />
6 – einem Bezirk von Denver, den Romanoff<br />
künftig im US-Repräsentantenhaus<br />
Ihre Stimmen, bitte! Der Demokrat Andrew<br />
Romanoff beim Wahlkampf in Aurora<br />
vertreten will – nicht zur Wahl gehen. Beim<br />
Urnengang am 4. November werden in<br />
Amerika das Repräsentantenhaus mit seinen<br />
435 Sitzen, ein Drittel des 100-köpfigen<br />
Senats und 36 von 50 Gouverneuren neu<br />
gewählt. Und der 48-jährige Demokrat Romanoff<br />
will den Sitz des elf Jahre älteren<br />
Republikaners Mike Coffman erobern.<br />
In Umfragen liegen die Rivalen gleichauf.<br />
Deshalb sind die überwiegend demokratisch<br />
gesinnten Latinos in dem Wahlbezirk<br />
am Fuße der Rocky Mountains nun das<br />
Zünglein an der Waage: Gehen viele zur<br />
Wahl, zieht wohl Romanoff, ein Vertrauter<br />
von Ex-Präsident Bill Clinton, in den Kon-<br />
Community größer. Über 120 Millionen<br />
Dollar, doppelt so viel wie bei der vergangenen<br />
Halbzeitwahl, werden die Parteien<br />
und ihre Unterstützer aus der Wirtschaft in<br />
Colorado investiert haben, wenn am 4. November<br />
um 19 Uhr die Wahllokale schließen.<br />
Mit den Millionen pflasterten die<br />
Wahlkampfmanager über Wochen die TV-<br />
Werbeblöcke zu und zettelten Schlammschlachten<br />
an, die selbst für US-Verhältnisse<br />
ungewöhnlich schmutzig ausfielen.<br />
Die Demokraten müssen um jeden Preis<br />
ihre Mehrheit im Senat verteidigen. Von<br />
stark umkämpften Sitzen wie dem des demokratischen<br />
Senators Mark Udall aus Colorado<br />
wird abhängen, ob das klappt. Sollten<br />
die Demokraten die Kontrolle über den<br />
Senat verlieren, hätte Präsident Barack<br />
Obama künftig das gesamte Parlament gegen<br />
sich. Denn im Repräsentantenhaus,<br />
der zweiten Kammer des Parlaments, dürften<br />
die Republikaner ihre Mehrheit verteidigen.<br />
Obama könnte dann nur noch mit<br />
präsidialen Direktiven regieren, die keiner<br />
Zustimmung der Parlamentarier bedürfen.<br />
Dass in Washington trotz des absehbaren<br />
Wahlausgangs im Repräsentantenhaus<br />
die Elite der demokratischen Partei auf das<br />
Duell Romanoff versus Coffman starrt,»<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 39<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
wie ein demokratischer Senator hinter<br />
vorgehaltener Hand erzählt, hat einen besonderen<br />
Grund. Distrikt 6 ist wegen seiner<br />
Wählerstruktur das perfekte politische Labor:<br />
So wie in dem Wahlkreis die Zahl der<br />
Latino-Wähler anstieg, wird sie künftig<br />
auch im gesamten Land wachsen. „Hier<br />
kann man siegen lernen“, sagt der Senator.<br />
Bis vor drei Jahren war Distrikt 6 eine Republikaner-Hochburg,<br />
wo die weiße Mittel-<br />
und Oberschicht lebte. Durch einen<br />
neuen Zuschnitt des Distrikts, der von der<br />
Wahlbehörde 2011 verfügt wurde, lagen<br />
mehrere weiße Wohnviertel plötzlich außerhalb<br />
der Bezirksgrenzen. Mehrere Latino-Viertel<br />
wurden stattdessen integriert.<br />
Der Latino-Anteil in der Wahlbevölkerung<br />
stieg so von 9 auf 20 Prozent.<br />
Für Coffman, der als Hardliner bei Einwanderungsfragen<br />
gilt, war das eine Katastrophe.<br />
Romanoff dagegen, der sich in sozialen<br />
Projekten für Latinos engagiert und<br />
fließend Spanisch spricht, sah die Chance<br />
seines Lebens. Schnell zog er in Distrikt 6<br />
um und brachte sich als Kandidat in Stellung.<br />
Nun freut sich Romanoff auf das letzte<br />
öffentliche Rededuell mit Coffman: Es<br />
findet am 30. Oktober statt – in Spanisch.<br />
Coffman büffelt seit Monaten Vokabeln.<br />
MACHTBLOCK LATINOS<br />
17 Prozent der Bevölkerung, gut 53 Millionen<br />
Menschen, sind den Latinos zuzurechnen.<br />
Damit sind diese nach den europastämmigen<br />
Weißen (63 Prozent) die<br />
zweitgrößte ethnische Gruppe in den USA,<br />
noch vor den Afroamerikanern (13 Prozent).<br />
Zugleich sind die Latinos die am<br />
schnellsten wachsende Gruppe – weil sie<br />
mehr Nachwuchs bekommen und jedes<br />
Jahr rund 400 000 legale und unzählige illegale<br />
Immigranten aus Lateinamerika in die<br />
USA strömen. Monat für Monat steigt die<br />
Zahl der wahlberechtigten Latinos um<br />
65 000. Wahlforscher sind sich sicher: Bald<br />
ist Distrikt 6 überall. Ohne Rückhalt bei<br />
den Latinos wird in den USA niemand<br />
mehr eine Wahl gewinnen.<br />
Bereits bei der Wiederwahl von Präsident<br />
Obama 2012 gaben die Latinos womöglich<br />
den Ausschlag. Obama holte damals<br />
vier von fünf Latino-Stimmen. Nur:<br />
Ob sich das bei der anstehenden Wahl wiederholen<br />
lässt, ist unsicher. Denn der Präsident<br />
hat seine lateinamerikanischen<br />
Freunde enttäuscht. Während seiner Amtszeit<br />
kletterte die Abschiebung illegaler Einwanderer<br />
aus Lateinamerika auf neue Rekordwerte.<br />
Zudem steht er auch sechs Jahre<br />
nachdem er eine Einwanderungsreform<br />
Wo sind die Wähler? Aktivist Rudy Garcia bei<br />
Hausbesuchen im Latino-Viertel Swansea<br />
Entscheidende Gruppe<br />
Welche Themen für die Hispanics<br />
in den USA am wichtigsten sind<br />
(Angaben in Prozent)*<br />
6<br />
13<br />
Gesundheit<br />
16<br />
* Mehrfachnennungen möglich;<br />
Quelle: Latino Decisions, Oktober 2014<br />
35<br />
51<br />
Außenpolitik<br />
Bildung Arbeitsmarkt Einwanderung<br />
und<br />
Wirtschaft<br />
versprochen hatte, mit leeren Händen da.<br />
Ein Gesetzentwurf des Senats, der elf Millionen<br />
illegalen Einwanderern den Weg zu<br />
Aufenthaltsgenehmigungen geebnet hätte,<br />
scheiterte im Sommer an der republikanischen<br />
Mehrheit im Kongress. Obama versprach<br />
daraufhin, wenigstens mit präsidialen<br />
Anordnungen das Leid illegaler Immigranten<br />
zu mildern. Doch selbst das verschob<br />
er – wohl aus Angst, einwanderungskritische<br />
Wählerschichten zu verärgern –<br />
auf die Zeit nach den Wahlen.<br />
Der karge Laden „La Abeja“ ist keine 300<br />
Meter <strong>vom</strong> Parlamentsgebäude von Denver<br />
entfernt. Und doch scheinen Lichtjahre<br />
zwischen der Bäckerei, wo es die besten<br />
Burritos der Stadt geben soll, und der Politik<br />
zu liegen. „Politik“, sagt Bäcker Alexandro<br />
Valadez, der seit Jahrzehnten in den<br />
USA lebt und trotzdem kein Wahlrecht hat,<br />
„das ist nicht meine Welt.“ Es mischt sich<br />
ein Kunde ein: „Obama hat uns im Stich<br />
gelassen“, meint der ergraute Latino. „Aber<br />
sollen wir deshalb die Republikaner wählen?“<br />
Er habe sich für die Wahl angemeldet,<br />
sei aber nicht sicher, ob er hingehe.<br />
Das ist typisch. Vielen Latinos fällt es<br />
schwer, sich für Politik zu begeistern. Bei<br />
den vergangenen Halbzeitwahlen vor vier<br />
Jahren ließen sich nur 47 Prozent in die<br />
Wählerlisten eintragen – und davon gingen<br />
nur 67 Prozent tatsächlich wählen. Unterm<br />
Strich machte also nur jeder Dritte von seinem<br />
Wahlrecht Gebrauch.<br />
Bei den nun anstehenden Wahlen könnten<br />
gleichwohl über drei Dutzend politische<br />
Duelle durch die Latinos entschieden<br />
werden, hat Matt Barreto errechnet, Professor<br />
für Politikwissenschaften an der Universität<br />
des Bundesstaates Washington. Umfragen<br />
zufolge werden 7,8 Millionen Latinos<br />
wählen, 1,2 Millionen mehr als bei den<br />
vergangenen Halbzeitwahlen. Rund 50 Latino-Organisationen,<br />
darunter die einflussreiche<br />
Hispano-Amerikanische Handelskammer,<br />
werben für die Wahlteilnahme.<br />
VERSCHLOSSENE TÜREN<br />
Während Andrew Romanoff in Aurora<br />
Hände schüttelt, ackern 15 Kilometer entfernt<br />
seine verdeckten Helfer. Im Stadtteil<br />
Swansea ziehen Mitglieder der Organisation<br />
Mi Familia Vota von Haus zu Haus, um<br />
Latinos zur Wahlteilnahme zu bewegen.<br />
Offiziell ist Mi Familia Vota eine parteiunabhängige<br />
Organisation. Doch die Gruppe<br />
ist fest im linken Spektrum verankert und<br />
weiß sehr wohl, was eine höhere Wahlbeteiligung<br />
von Latinos in aller Regel bedeutet:<br />
mehr Stimmen für die Demokraten.<br />
Am Nachmittag haben die Mi-Familia-<br />
Vota-Aktivisten mit Rollenspielen ihren<br />
Einsatz geübt und den erfolgreichsten Aktivisten<br />
des Vortags mit einem Starbucks-<br />
Gutschein geehrt. Nun ziehen sie durch ein<br />
Stadtviertel, in das viele weiße Amerikaner<br />
keinen Fuß setzen würden: 83 Prozent der<br />
Einwohner hier sind Latinos, die Armut ist<br />
groß, die Kriminalitätsrate hoch.<br />
Für Rudy Garcia, der seinen Job in einer<br />
Hotelküche an den Nagel gehängt hat, um<br />
für einige Monate Aktivist zu werden, läuft<br />
es an diesem Nachmittag trotzdem nicht<br />
gut. Es bellen Hunde in den Häusern, hinter<br />
den Fenstern flackern Fernseher – doch die<br />
Türen bleiben zu. Wenn der 20-Jährige mal<br />
jemanden antrifft, sind die Gespräche kurz.<br />
„Heute ist ein wichtiges Football-Spiel“, sagt<br />
er. Wenn das Spiel angepfiffen werde, mache<br />
erst recht keiner mehr auf. Garcia<br />
resigniert: „Ich wünschte, die Leute würden<br />
sich für die Wahl annähernd so begeistern<br />
wie für die Denver Broncos.“<br />
n<br />
martin.seiwert@wiwo.de | New York<br />
FOTO: MATT NAGER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
40 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
FOTOS: JOHANN SEBASTIAN KOPP, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, LAIF/ZENIT/PAUL LANGROCK<br />
BRÜSSEL | Belgien<br />
hat eine neue Regierung<br />
– aber kaum<br />
jemand glaubt an<br />
eine lange Amtszeit.<br />
Von Silke Wettach<br />
Steuern auf<br />
Schönheits-OPs<br />
„Das Leben ist hart“, sagt<br />
die Kundin, die sich anhört,<br />
als ob die eben gekauften<br />
Zigaretten eine<br />
ihrer wenigen Freuden<br />
seien. „Und mit der neuen<br />
Regierung wird es noch härter“, antwortet<br />
Zeitungshändlerin Pascale, dank<br />
der Schlagzeilen immer gut informiert.<br />
Keine Frage, hier in Brüssel, aber auch im<br />
Rest des Landes hält sich die Freude über<br />
den neuen Premierminister Charles Michel<br />
arg in Grenzen.<br />
Mitte Oktober, exakt 136 Tage nach der<br />
Wahl, hat Belgien eine neue Regierung<br />
bekommen. Das ist für hiesige Verhältnisse<br />
rasend schnell, dauerte es in der vorigen<br />
Legislaturperiode doch 541 Tage, bis<br />
eine Koalition stand. Doch nur zu gerne<br />
versichern sich die Menschen seitdem,<br />
sie hätten weder den liberalen Michel<br />
noch seine Koalitionspartner gewählt.<br />
Dabei ist der Reformkurs von Michel,<br />
Europas jüngstem Regierungschef, verglichen<br />
mit den Einschnitten in anderen europäischen<br />
Ländern, moderat. Ab 2030<br />
kommt die Rente mit 67, Arbeitslosengeld<br />
wird weiter unbefristet bezahlt, und<br />
wenn die Regierung beschließt, Mehrwertsteuer<br />
fortan auch auf Schönheitsoperationen<br />
zu erheben, zeigt das nur,<br />
welche absurden Ausnahmen das Steuersystem<br />
bisher duldete.<br />
Die Gewerkschaften halten den Kurs<br />
dennoch für eine Zumutung und bereiten<br />
einen Generalstreik vor. Über die Hälfte<br />
der Belgier geht davon aus, dass die neue<br />
Regierung nicht bis zur nächsten Wahl<br />
2019 durchhalten wird. Dies hätte immerhin<br />
den Vorteil, dass sich niemand<br />
mehr rechtfertigen muss, wen er denn<br />
nun gewählt hat.<br />
Silke Wettach ist Brüssel-Korrespondentin<br />
der WirtschaftsWoche.<br />
BERLIN INTERN | Wer voll öko ist, kann mit einem<br />
Reiseführer die erneuerbaren Energien der Heimat<br />
erkunden. Und landet unweigerlich im „solaren<br />
Regierungsviertel“. Von Henning Krumrey<br />
Hackschnitzeljagd<br />
Das war wirklich ein goldener Oktober<br />
– also ein schwarzer Monat<br />
für die deutschen Stromkunden.<br />
Denn weil die Sonne in den<br />
vergangenen Wochen so schön schien, lieferten<br />
die Solaranlagen im ganzen Land<br />
gleich mehrmals rekordverdächtige 18 Gigawattstunden<br />
pro Tag in die Netze. In der<br />
Spitze um die Mittagszeit stammte ein<br />
Drittel des gesamten deutschen Strombedarfs<br />
von der Sonne. Die Kehrseite des<br />
Rekords: Je mehr die Zellenbesitzer abrechnen<br />
können, desto stärker steigt die<br />
EEG-Umlage.<br />
Klassisches Kuppelprodukt Sonne plus<br />
Sendungsbewusstsein gleich Energiewende<br />
Ein Herzstück dieser Entwicklung steht<br />
mitten in Berlin, rund um das Reichstagsgebäude.<br />
Denn der Deutsche Bundestag trägt<br />
gleich doppelt zur teuren Sonnenernte bei:<br />
In den Abgeordnetenbüros und Sitzungssälen<br />
entscheiden die Mandatsträger über jede<br />
neue Kurve der Energiewende. Und<br />
oben auf dem Dach des Plenargebäudes<br />
und manches angrenzenden Bürosilos stehen<br />
große spiegelnde Kollektorenrabatten.<br />
Die Bauten des Bundestages wurden<br />
schon im Zuge des Neubaus und der Sanierung<br />
ganz auf Energiesparen getrimmt.<br />
Etwa 15 Prozent des Stromverbrauchs im<br />
Parlament kommen heute aus erneuerbaren<br />
Quellen. Neben den Solarzellen auf den<br />
Dächern gibt es unter der Erde in 50 Meter<br />
Tiefe einen Speicher, in dem winters kaltes<br />
Wasser gesammelt wird, um in Hitzeperioden<br />
die Büros zu kühlen. Weitere 250 Meter<br />
tiefer läuft das warme Wasser aus dem<br />
Sommerbetrieb zusammen, das später für<br />
die Heizung genutzt wird. Die Beleuchtung<br />
des Plenarsaals wird durch 360 Spiegel<br />
unterstützt, die Tageslicht durch die Kuppel<br />
in den Rundbau darunter leiten. Hinter den<br />
Spiegeln wiederum steigt die heiße Luft der<br />
hitzigen Debatten nach oben, der ein<br />
Wärmetauscher die Energie entzieht. Im<br />
Untergrund tuckern zwei Blockheizkraftwerke,<br />
natürlich mit Biodiesel betrieben.<br />
Für Ökofreaks ist das Politik-Revier sogar<br />
eine der herausragenden Sehenswürdigkeiten.<br />
Das „solare Regierungsviertel“ ist<br />
die klare Nummer eins der Hauptstadt im<br />
„Baedeker Deutschland – Erneuerbare<br />
Energien erleben“ (ja, den gibt’s tatsächlich).<br />
Co-finanziert von der Agentur für Erneuerbare<br />
Energien leitet der Ökoreiseführer<br />
seine Leser zu spektakulären<br />
Rotoranlagen und historischen Windmühlen,<br />
zur „Solarkirche Zernin“, deren Feldsteinbau<br />
durch ein vollflächiges Solardach<br />
verschandelt wird, zum Bioenergiedorf<br />
Jühnde, in dem die Heizung jedes der rund<br />
130 Einfamilienhäuser unterm Strich<br />
700 000 Euro kostete, oder zur Solardraisinenbahn<br />
im Odenwald. Und eben zum<br />
Reichstagsgebäude.<br />
IN DER ZUKUNFT PROBEWOHNEN<br />
Autor Martin Frey wirbt, sein Routenplaner<br />
sei „kein Reiseführer für Technikfreaks“,<br />
sondern „vielleicht der Beginn neuer Bildungsreisen.<br />
Bei Reisen zu Erneuerbaren<br />
Energien treffen wir Leute, die die Zukunft<br />
schon erkunden.“ Und nicht zuletzt könnten<br />
die Gäste in den ausgewählten umweltorientierten<br />
Hotels und Gasthöfen „auf<br />
unverbindliche Weise in der Zukunft probewohnen“.<br />
Da landet man eher im schöpfungsbewahrenden<br />
Familienbetrieb als in<br />
den uninspiriert-uniformen Häusern einer<br />
kontinentalen Hotelkette.<br />
Das Handbuch für die touristische Hackschnitzeljagd<br />
lobt die Parlamentsgebäude<br />
als „weltweit einmalig – mit besonderer<br />
Symbolik für die von Deutschland ausgehende<br />
Energiewende“. Für die Touristen aus<br />
fernen Ländern haben die futuristischen<br />
Anlagen sogar noch einen zusätzlichen<br />
Reiz: Sie müssen die EEG-Umlage nicht<br />
bezahlen.<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 41<br />
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Der Volkswirt<br />
KOMMENTAR | Die US-Notenbank<br />
beendet ihre Anleihenkäufe. Das<br />
hat Folgen für die gesamte Weltwirtschaft.<br />
Von Malte Fischer<br />
Getrennte Wege<br />
Schluss, aus, vorbei. Am<br />
Mittwoch vergangener<br />
Woche gab die US-Notenbank<br />
Fed bekannt,<br />
dass sie fortan keine Staatsanleihen<br />
und hypothekenbesicherten<br />
Wertpapiere mehr kaufen<br />
werde. Die Entscheidung<br />
der Währungshüter ist eine<br />
geldpolitische Zäsur. In drei<br />
Runden hatten sie seit der Lehman-Pleite<br />
ihre Anleihenbestände<br />
von weniger als 1000<br />
Milliarden auf rund 4500 Milliarden<br />
Dollar aufgestockt und<br />
im Gegenzug Zentralbankgeld<br />
in das Bankensystem gepumpt.<br />
Die Währungshüter argumentieren,<br />
die Geldschwemme habe<br />
die US-Wirtschaft über Wasser<br />
gehalten und Millionen<br />
neuer Arbeitsplätze geschaffen.<br />
Kritiker hingegen führen die gute<br />
Performance der US-Wirtschaft<br />
– im dritten Quartal<br />
wuchs sie um annualisiert 3,5<br />
Prozent – vor allem auf den<br />
Fracking-Boom und den Rückgang<br />
der Ölpreise zurück.<br />
MEHR UNGLEICHHEIT<br />
Klar ist, dass die Fed den Besitzern<br />
von Staatsanleihen und Aktien<br />
massive Kursgewinne beschert<br />
hat. So ist der Standard &<br />
Poor’s-500-Aktienindex seit Beginn<br />
der geldpolitischen Lockerung<br />
um 131 Prozent gestiegen.<br />
Das hat zu einer wachsenden<br />
Vermögensungleichheit in der<br />
amerikanischen Gesellschaft<br />
beigetragen und Wasser auf die<br />
Mühlen derjenigen geleitet, die<br />
in höheren Steuern für Reiche<br />
das Heil suchen.<br />
Experten rechnen damit, dass<br />
die US-Notenbanker in wenigen<br />
Monaten damit beginnen, den<br />
Leitzins zu erhöhen, zumal sich<br />
die Lage auf dem Arbeitsmarkt<br />
deutlich verbessert hat. Der<br />
erste Zinsschritt wird für Mitte<br />
2015 erwartet. Dann werden die<br />
großen Zentralbanken der Welt<br />
getrennte Wege gehen. Während<br />
die Fed und vermutlich<br />
auch die Bank von England die<br />
geldpolitischen Zügel straffen,<br />
schicken sich die Europäische<br />
Zentralbank und die Bank von<br />
Japan an, durch zusätzliche<br />
Wertpapierkäufe frisches Geld<br />
in die Wirtschaft zu pumpen.<br />
Das schwächt den Yen und den<br />
Euro. Die Gemeinschaftswährung<br />
könnte mittelfristig<br />
Kurs auf die Parität zum Dollar<br />
nehmen.<br />
HÖHERE ZINSEN<br />
Die Aussicht auf einen weichen<br />
Euro lässt bei manchen Exporteuren<br />
vor allem im Süden Europas<br />
Vorfreude aufkommen,<br />
macht er ihre Waren doch für<br />
Abnehmer aus Nicht-Euro-<br />
Ländern erschwinglicher. Doch<br />
Vorsicht! Straffen die USA die<br />
geldpolitischen Zügel, dürften<br />
Investoren viel Geld aus Schwellenländern<br />
abziehen und es zu<br />
höheren Zinsen in Amerika anlegen.<br />
Um das Kapital zu halten<br />
und die Wechselkurse ihrer<br />
Währungen zum Dollar zu verteidigen,<br />
werden die Notenbanken<br />
in den Schwellenländern dann<br />
ihre Geldpolitik straffen und den<br />
Kurs der Fed nachvollziehen.<br />
Höhere Zinsen bremsen jedoch<br />
die Konjunktur und damit die<br />
Nachfrage dieser Länder nach<br />
deutschen Produkten. Das wird<br />
hässliche Bremsspuren in der<br />
deutschen Handelsbilanz hinterlassen,<br />
die auch der schwache<br />
Euro nicht verhindern kann.<br />
Der geldpolitische Kurswechsel<br />
in Amerika hat somit immense<br />
weltwirtschaftliche Folgen,<br />
denen sich die deutsche Wirtschaft<br />
nicht entziehen kann.<br />
NEW ECONOMICS<br />
Überschätztes Mittel<br />
Haben die viel gelobten Arbeitszeitkonten die Deutschen<br />
vor Massenarbeitslosigkeit während der Rezession<br />
bewahrt? Nein, sagt eine neue Studie.<br />
Arbeitsmarktpolitiker in Frankreich,<br />
Italien und Spanien blicken<br />
seit Jahren voller Neid auf<br />
Deutschland. Während in ihren<br />
Ländern die Arbeitslosigkeit<br />
nach der Lehman-Pleite in die<br />
Höhe schnellte, blieb sie in<br />
Deutschland vergleichsweise<br />
gering. Zwar brach die Wirtschaftsleistung<br />
hierzulande in<br />
der Rezession um insgesamt 6,6<br />
Prozent ein. Doch auf dem Arbeitsmarkt<br />
hinterließ dies kaum<br />
Spuren.<br />
Viele Ökonomen haben sich<br />
seitdem mit den Gründen für<br />
das deutsche Jobwunder auseinandergesetzt.<br />
Häufig ist zu<br />
hören, vor allem die weitverbreiteten<br />
Arbeitszeitkonten hätten<br />
die Beschäftigten vor Massenentlassungen<br />
geschützt. Die<br />
Konten erlauben es, in Boomzeiten<br />
Überstunden anzusammeln,<br />
um sie in Krisenzeiten<br />
abzufeiern. Die Betriebe können<br />
so bei schwächelnder<br />
Nachfrage die Produktion und<br />
die Arbeitszeiten zurückfahren,<br />
ohne Personal zu entlassen.<br />
Mehr als jeder dritte Betrieb hat<br />
mittlerweile Zeitkonten eingeführt,<br />
Ende der Neunzigerjahre<br />
waren es erst 18 Prozent.<br />
Doch auch wenn sich die<br />
Konten steigender Beliebtheit<br />
erfreuen und die Flexibilität des<br />
Personaleinsatzes erhöhen – für<br />
das Beschäftigungswunder<br />
spielen sie offenbar keine dominante<br />
Rolle. Das ist das Ergebnis<br />
einer aktuellen Studie des<br />
Kieler Instituts für Weltwirtschaft*.<br />
Die Forscher haben anhand<br />
von Befragungsdaten des<br />
Instituts für Arbeitsmarkt- und<br />
Berufsforschung unter 16 000<br />
Managern untersucht, ob sich<br />
* Almut Balleer, Britta Gehrke, Christian<br />
Merkl: Some Surprising Facts about<br />
Working Time Accounts and the Business<br />
Cycle, Kiel Working Papers Nr. 1955<br />
die personalpolitischen Entscheidungen<br />
von Unternehmen<br />
mit und ohne Zeitkonten voneinander<br />
unterscheiden.<br />
Mithilfe von Regressionsanalysen<br />
fanden die Forscher<br />
heraus, dass ein Anstieg des<br />
Gewinns um ein Prozent die<br />
Kündigungsquote im Schnitt<br />
um 0,018 Prozentpunkte<br />
senkt. Dabei zeigte sich jedoch<br />
kein Unterschied zwischen<br />
Unternehmen mit und ohne<br />
Zeitkonten. Beide Gruppen<br />
reagierten ähnlich auf Konjunkturschwankungen.<br />
Unternehmen<br />
mit Zeitkonten meldeten<br />
in Krisenzeiten sogar häufiger<br />
Kurzarbeit an.<br />
Zeitkonten auf dem<br />
Vormarsch<br />
Anteil der Betriebe mit Arbeitszeitkonten<br />
(in Prozent)<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
1999 2011<br />
Quelle: IAB<br />
Das spricht dafür, dass Zeitkonten<br />
allein keine ausreichende<br />
Flexibilität bieten, um ohne<br />
Beschäftigungsverluste durch<br />
Krisen zu kommen. Die IfW-<br />
Ökonomen vermuten, dass andere<br />
Gründe für die stabile Lage<br />
am Arbeitsmarkt maßgeblicher<br />
waren und sind. So dürfte die<br />
Lohnzurückhaltung vor der Krise<br />
den Entlassungsdruck verringert<br />
haben. Auch spricht einiges<br />
dafür, dass viele Firmen vor der<br />
Rezession personell unterbesetzt<br />
waren – was vielerorts den<br />
Rationalisierungsdruck senkte.<br />
malte.fischer@wiwo.de<br />
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
44 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />
IG Metall eröffnet die<br />
Lohnrunde 2015<br />
Es ist ein altes Ritual in der IG<br />
Metall: Läuft der Tarifvertrag<br />
aus, trifft sich gut sechs Wochen<br />
vorher der Vorstand der Gewerkschaft,<br />
um die Leitlinien<br />
für die anstehende Lohnrunde<br />
festzuzurren. Heraus kommt<br />
dann zunächst eine „Forderungsempfehlung“.<br />
Die wird in<br />
den Bezirken diskutiert und wenig<br />
später – in der Regel unverändert<br />
– <strong>vom</strong> Vorstand als offizielle<br />
Forderung präsentiert.<br />
Genauso läuft es auch diesmal.<br />
Der Startschuss fällt am<br />
11. November, und die interne<br />
Debatte läuft auf eine „Forderungsempfehlung“<br />
zwischen<br />
fünf und sechs Prozent hinaus.<br />
Es geht der IG Metall aber nicht<br />
nur um mehr Geld für die 3,7<br />
Millionen Beschäftigten der<br />
Metall- und Elektroindustrie.<br />
Hinzu kommen „qualitative<br />
Forderungen“. Zum einen will<br />
die IG Metall eine Neuauflage<br />
der Altersteilzeit – die alten Verträge<br />
laufen wegen der von der<br />
Bundesregierung beschlossenen<br />
Rente mit 63 automatisch<br />
aus. Zum Zweiten verlangen<br />
die Metaller eine sogenannte<br />
Bildungsteilzeit. Beschäftigte<br />
sollen eine Auszeit nehmen<br />
können, wenn sie etwa einen<br />
Schul- oder Berufsabschluss<br />
nachholen oder sich weiterbilden.<br />
Die Arbeitgeber sollen die<br />
entstehenden Gehaltseinbußen<br />
zum Teil kompensieren.<br />
Unterschiede wachsen<br />
Produktion in der Metall- und<br />
Elektroindustrie* (nach Branchen)<br />
130<br />
120<br />
110<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
Maschinenbau<br />
Fahrzeugbau<br />
Metallverarbeitung<br />
Elektro/DV/Optik<br />
60<br />
2007 2009 2011 2013 14<br />
* saison- und kalenderbereinigte Quartalswerte,<br />
2010 =100; Quelle: Stat.Bundesamt;Gesamtmetall<br />
Beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall<br />
ist man angesichts<br />
solcher Ideen nicht amüsiert.<br />
„Mit einer bezuschussten Bildungsteilzeit<br />
würde letztlich der<br />
Schichtarbeiter dem Ingenieur<br />
das Masterstudium bezahlen“,<br />
ätzt Präsident Rainer Dulger.<br />
Die Tarifverhandlungen beginnen<br />
im Januar, und dass somit<br />
ausgerechnet die kampferprobte<br />
IG Metall das Tarifjahr<br />
2015 eröffnet, sorgt auch jenseits<br />
der Metallindustrie im Arbeitgeberlager<br />
für wenig Begeisterung.<br />
Denn mit ihrem Abschluss<br />
schlagen die Metaller einen<br />
Pflock für alle nachfolgenden<br />
Branchen ein, etwa für die Chemieindustrie,<br />
deren Verträge im<br />
Februar und März auslaufen.<br />
bert.losse@wiwo.de<br />
Tendenz fallend<br />
Geschäftsklima in der Metallund<br />
Elektroindustrie*<br />
60<br />
40<br />
Lage<br />
20<br />
0<br />
-20<br />
-40<br />
Erwartungen<br />
-60<br />
-70<br />
2008 2010 2012 14<br />
* Saldo der Firmenmeldungen über gute<br />
und schlechte Geschäftslage und -erwartungen;<br />
Quelle: ifo, Gesamtmetall<br />
Arbeitsmarkt<br />
trotzt der Krise<br />
Trotz dunklerer Wolken am<br />
Konjunkturhimmel bleibt die<br />
Lage am Arbeitsmarkt entspannt.<br />
Die Arbeitslosenzahl<br />
sank im Oktober um 75 000 auf<br />
2,733 Millionen. Saisonbereinigt<br />
waren 22 000 Menschen<br />
weniger ohne Job als im Vormonat.<br />
Die Quote fiel um 0,2 Punkte<br />
auf 6,3 Prozent. Frank-Jürgen<br />
Weise, Vorstandschef der Bundesagentur<br />
für Arbeit: „Die aktuellen<br />
wirtschaftlichen Unsicherheiten<br />
zeigen sich auf dem<br />
Arbeitsmarkt nicht.“<br />
Bleibt die Frage, wie lange das<br />
so bleibt: Der ifo-Geschäftsklimaindex<br />
ist im Oktober zum<br />
sechsten Mal in Folge gesunken<br />
und liegt mit 103,2 Zählern auf<br />
dem niedrigsten Stand seit Dezember<br />
2012. Die rund 7000 befragten<br />
Unternehmen bewerteten<br />
sowohl die aktuelle Lage als<br />
auch ihre Geschäftsperspektiven<br />
für die kommenden sechs<br />
Monaten pessimistischer.<br />
Volkswirtschaftliche<br />
Gesamtrechnung<br />
Real. Bruttoinlandsprodukt<br />
Privater Konsum<br />
Staatskonsum<br />
Ausrüstungsinvestitionen<br />
Bauinvestitionen<br />
Sonstige Anlagen<br />
Ausfuhren<br />
Einfuhren<br />
Arbeitsmarkt,<br />
Produktion und Preise<br />
Industrieproduktion 1<br />
Auftragseingänge 1<br />
Einzelhandelsumsatz 1<br />
Exporte 2<br />
ifo-Geschäftsklimaindex<br />
Einkaufsmanagerindex<br />
GfK-Konsumklimaindex<br />
Verbraucherpreise 3<br />
Erzeugerpreise 3<br />
Importpreise 3<br />
Arbeitslosenzahl 4<br />
Offene Stellen 4<br />
Beschäftigte 4, 5<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
0,4<br />
0,8<br />
1,0<br />
–4,0<br />
–1,4<br />
3,4<br />
3,2<br />
1,4<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
–0,9<br />
–4,2<br />
0,1<br />
3,3<br />
105,0<br />
46,7<br />
5,9<br />
2,0<br />
1,6<br />
2,1<br />
2896<br />
478<br />
29355<br />
0,1<br />
0,9<br />
0,4<br />
–2,4<br />
–0,2<br />
3,0<br />
0,9<br />
1,5<br />
–0,2<br />
2,5<br />
0,2<br />
–0,2<br />
106,9<br />
50,6<br />
6,5<br />
1,5<br />
–0,1<br />
–2,5<br />
2950<br />
458<br />
29722<br />
II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />
Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />
0,8<br />
0,6<br />
0,0<br />
2,3<br />
3,0<br />
0,0<br />
1,4<br />
1,3<br />
Juli<br />
2014<br />
1,6<br />
4,9<br />
–0,9<br />
4,8<br />
108,0<br />
52,4<br />
8,9<br />
0,8<br />
–0,8<br />
–1,7<br />
2912<br />
484<br />
30259<br />
1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />
Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />
alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />
0,3<br />
0,7<br />
0,6<br />
–0,5<br />
1,8<br />
0,2<br />
0,7<br />
1,7<br />
Aug.<br />
2014<br />
–4,0<br />
–5,7<br />
1,5<br />
–5,8<br />
106,3<br />
51,4<br />
8,9<br />
0,8<br />
–0,8<br />
–1,9<br />
2900<br />
494<br />
30257<br />
0,5<br />
–0,8<br />
–0,1<br />
2,1<br />
0,7<br />
0,2<br />
1,7<br />
0,7<br />
Sept.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
104,7<br />
49,9<br />
8,6<br />
0,8<br />
–1,0<br />
–1,6<br />
2909<br />
500<br />
–<br />
0,7<br />
0,8<br />
0,4<br />
2,1<br />
4,1<br />
1,2<br />
0,0<br />
0,5<br />
Okt.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
103,2<br />
51,8<br />
8,4<br />
–<br />
–<br />
–<br />
2887<br />
509<br />
–<br />
–0,2<br />
0,1<br />
0,1<br />
–0,4<br />
–4,2<br />
0,1<br />
0,9<br />
1,6<br />
Nov.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
8,5<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
Letztes Quartal<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
0,8<br />
1,0<br />
1,0<br />
2,1<br />
0,7<br />
1,6<br />
2,5<br />
4,1<br />
Letzter Monat<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
–5,9<br />
–4,2<br />
–0,7<br />
–1,0<br />
–4,2<br />
0,2<br />
19,7<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–2,6<br />
11,1<br />
1,6<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 45<br />
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Der Volkswirt<br />
WELTWIRTSCHAFT<br />
Streit der Scheichs<br />
Der Ölpreis ist dramatisch gesunken – Resultat des<br />
weltweit stark gestiegenen Angebots. Ob das so weitergeht,<br />
hängt vor allem von Saudi-Arabien ab.<br />
Für Autofahrer und Besitzer<br />
von Ölheizungen ist<br />
die Lage derzeit erfreulich:<br />
Der Ölpreis ist dramatisch<br />
gesunken. Das Barrel Rohöl<br />
kostete am Handelsplatz London<br />
zu Jahresanfang und auch<br />
noch Anfang Juli etwa 110 US-<br />
Dollar. Inzwischen sind es nur<br />
noch 85 Dollar, Benzin- und<br />
Dieselpreise fielen zeitweise auf<br />
den niedrigsten Stand seit drei<br />
Jahren. Das Geld, das die Konsumenten<br />
beim Tanken sparen,<br />
können sie jetzt für andere Güter<br />
ausgegeben.<br />
Trotzdem ist der aktuelle<br />
Preisverfall nicht unbedingt eine<br />
gute Nachricht für die Weltwirtschaft.<br />
Denn fallende Ölpreise<br />
sind oft die Folge einer<br />
stockenden Konjunktur und<br />
dementsprechend flauen Nachfrage.<br />
Als 2008 die Finanzkrise<br />
ausbrach, stürzte der Ölpreis in<br />
weniger als einem halben Jahr<br />
um 75 Prozent ab. Und auch in<br />
diesem Jahr reagierten die Erdölmärkte<br />
in London und New<br />
York immer wieder auf schlechte<br />
Konjunkturdaten aus Europa<br />
oder Ostasien mit überdurchschnittlichen<br />
Tagesverlusten.<br />
Trübe wirtschaftliche Aussichten<br />
allein können den Abwärtstrend<br />
der vergangenen<br />
Wochen indes nicht erklären.<br />
„Es gibt ein steigendes Angebot<br />
an den Ölmärkten, das beeinflusst<br />
die Preise derzeit stärker<br />
als die Entwicklung der Nachfrage“,<br />
sagt Carsten Fritsch,<br />
Rohstoffanalyst der Commerzbank<br />
in Frankfurt.<br />
Allen politischen Krisen zum<br />
Trotz wird weltweit immer<br />
mehr Öl produziert. So hat etwa<br />
der irakische Ölexport unter<br />
dem Vormarsch der islamistischen<br />
Terrormilizen kaum gelitten.<br />
Noch wichtiger für das<br />
Marktgeschehen im Oktober<br />
waren die Ereignisse in Libyen.<br />
Das nordafrikanische Land förderte<br />
und exportierte 2013 noch<br />
durchschnittlich fast eine Million<br />
Barrel Öl pro Tag. Dann versank<br />
Libyen im Bürgerkrieg,<br />
die Förderung sank auf etwa<br />
200 000 Barrel am Tag. Die Unruhen<br />
seitdem dauern zwar an,<br />
doch die wichtigsten Pipelines<br />
und Ölhäfen funktionieren seit<br />
September trotzdem wieder:<br />
Auch Milizenführer wollen<br />
eben am Erdöl verdienen. Mit<br />
900 000 Barrel pro Tag ist das<br />
Land mittlerweile an die Märkte<br />
zurückgekehrt.<br />
FOLGEN DES FRACKING<br />
Hinzu kommt der Fracking-<br />
Boom in den USA, der die globalen<br />
Ölmärkte durcheinanderwürfelt.<br />
2008 haben die<br />
Amerikaner pro Tag durchschnittlich<br />
6,8 Millionen Barrel<br />
gefördert und 19,5 Millionen<br />
verbraucht. Fünf Jahre später ist<br />
der Verbrauch leicht auf 18,9<br />
Millionen Barrel gesunken – die<br />
Viel Raum nach unten<br />
Das Auf und Ab des Rohölpreises<br />
seit 2008* (in Dollar)<br />
150<br />
120<br />
90<br />
93,72<br />
60<br />
30<br />
140,52<br />
35,61<br />
85,27<br />
2008 2010 2012 2014<br />
* wöchentlicher Durchschnittspreis<br />
für ein Barrel der Ölsorte Brent<br />
in London; Quelle: Bloomberg<br />
Unklare Aussichten Erdölsuche in der saudi-arabischen Wüste<br />
Produktion aber dank neuer<br />
Fördermethoden <strong>vom</strong> Fracking<br />
bis zur Querbohrung auf<br />
scheinbar erschöpften Ölfeldern<br />
auf zehn Millionen Barrel<br />
gestiegen. Die Folge: Öl aus Angola<br />
und Nigeria, das bislang in<br />
die USA floss, wird jetzt in Europa<br />
angeboten, beobachtet<br />
Commerzbank-Analyst Fritsch.<br />
Auch dies hat den für Deutschland<br />
wichtigen Marktpreis in<br />
London so stark einbrechen<br />
lassen.<br />
Weil die amerikanische<br />
Ölproduktion<br />
immer noch ungebrochen<br />
zunimmt,<br />
könnte der Preis in<br />
den kommenden<br />
Monaten weiter sinken.<br />
Es sei denn, Saudi-Arabien<br />
und seine Partner<br />
im Produzentenkartell Opec<br />
würden diese Rechnung<br />
durchkreuzen.<br />
Schon oft haben die Saudis<br />
in Zeiten fallender Ölnotierungen<br />
ihre Produktion gedrosselt<br />
und so den Weltmarktpreis<br />
wieder in die Höhe getrieben.<br />
Der Hintergrund: Nach Berechnungen<br />
der Internationalen<br />
Energieagentur (IEA)<br />
würde der saudische Staatshaushalt<br />
zusammenbrechen,<br />
wenn der Barrelpreis dauerhaft<br />
unter 80 Dollar sänke. Dieser<br />
Wert ist inzwischen in gefährliche<br />
Nähe gerückt.<br />
Warum aber hat Saudi-Arabien<br />
dann in diesem Jahr seinen<br />
Ölexport eher intensiviert<br />
als gedrosselt? Viele Experten<br />
Video<br />
In unserer<br />
App-<strong>Ausgabe</strong><br />
analysieren wir<br />
die Konflikte<br />
innerhalb der<br />
Opec<br />
sagen: Saudi-Arabien will den<br />
Aufstieg der USA zur Erdöl-Supermacht<br />
bremsen, indem sie<br />
den Preis niedrig halten. Ein<br />
Teil des heute geförderten<br />
Schieferöls in den USA verursacht<br />
mehr als 80 Dollar Produktionskosten<br />
pro Barrel,<br />
schätzt die IEA. Sinkt der Ölpreis<br />
auf Dauer unter diese<br />
Marke, würde kaum jemand<br />
noch auf den amerikanischen<br />
Ölfeldern investieren.<br />
Saudi-Arabien<br />
mit seinen niedrigen<br />
Produktionskosten<br />
bliebe die<br />
Nummer eins auf<br />
dem Weltmarkt.<br />
Die Strategie<br />
ist freilich in der<br />
saudischen Führung<br />
umstritten: Was hat das<br />
Herrscherhaus von zukünftiger<br />
Marktmacht, wenn zuvor der<br />
eigene Staatshaushalt zusammenbricht?<br />
Prinz Al-Waleed,<br />
der reichste Mann unter den<br />
vielen Neffen des Königs, hat<br />
Ölminister Ali Al-Naimi daher<br />
öffentlich aufgefordert, endlich<br />
die Ölproduktion zu drosseln.<br />
Seitdem hält der Streit unter<br />
den saudischen Scheichs an.<br />
Der Termin für einen möglichen<br />
Kurswechsel steht aber<br />
schon fest:Am 27. November<br />
tagen in Wien die Minister der<br />
Opec-Staaten.<br />
Mineralölhändler und Hausbesitzer<br />
sollten Heizöl- und<br />
Benzintanks nach Möglichkeit<br />
vorher füllen.<br />
hansjakob.ginsburg@wiwo.de<br />
FOTO: MAURITIUS IMAGES/ALAMY<br />
46 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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DENKFABRIK | Ökonomische Rankings sind allgegenwärtig. Sie haben jedoch zahlreiche<br />
Fallstricke – und häufig werden aus fragwürdigen Vergleichen weitreichende wirtschaftspolitische<br />
Forderungen abgeleitet. Die Diskussion um Deutschlands vermeintlich zu<br />
niedrige Investitionen liefert dafür ein schlagendes Beispiel. Von Thomas K. Bauer<br />
Statistisches Unkraut<br />
FOTOS: PR, PICTURE-ALLIANCE/DPA/KLAUS OHLENSCHLÄGER<br />
Wer ist der Schnellste,<br />
Beliebteste<br />
und Reichste im<br />
Land? Ranglisten<br />
sind mittlerweile allgegenwärtig<br />
– von Amazon-Rankings<br />
neuer Digitalkameras über Universitäts-Rankings<br />
bis hin zum<br />
Medaillen-Spiegel bei Olympischen<br />
Spielen. Viele Produzenten<br />
von Statistiken haben ihr<br />
Geschäftsmodell darin gefunden,<br />
die Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion<br />
mithilfe von<br />
Ranglisten zu bedienen.<br />
Leider produzieren sie oft nur<br />
inhaltsleeren Zahlenschaum.<br />
Das muss gar nicht so weit gehen<br />
wie beim ADAC, der das<br />
Auto des Jahres nach eigenem<br />
Gusto bestimmte. Oft reicht es<br />
schon, dass es überhaupt einen<br />
Sieger gibt. So wurde Friedrich<br />
der Große <strong>vom</strong> US-Militärmagazin<br />
„The Quarterly Journal of<br />
Military History“ zum größten<br />
deutschen Feldherren aller Zeiten<br />
gekürt. Der britische „Economist“<br />
meinte, London sei die<br />
attraktivste Einkaufsstadt Europas.<br />
Der Happy-Planet-Index<br />
der New Economics Foundation<br />
verkündete, in Costa Rica leben<br />
die glücklichsten Menschen.<br />
BEZUGSGRUPPE FALSCH<br />
Die Fallstricke dieser von subjektiven<br />
Einschätzungen abhängenden<br />
Ranglisten sind offensichtlich.<br />
Aber auch Rankings,<br />
die auf objektiven Zahlen beruhen,<br />
haben ihre Tücken. In dem<br />
jüngst zusammen mit Gerd<br />
Gigerenzer und Walter Krämer<br />
veröffentlichten Buch „Warum<br />
dick nicht doof macht und Genmais<br />
nicht tötet“ (Campus)<br />
geben wir einen Überblick der<br />
größten Risiken und Nebenwirkungen<br />
von „Unstatistiken“,<br />
dem wuchernden statistischen<br />
Unkraut, das die Öffentlichkeit in<br />
die Irre führt. Das geschieht oft<br />
unabsichtlich, weil den Produzenten<br />
die Risiken einer falsch angewandten<br />
Statistik nicht bewusst<br />
sind, aber mitunter auch gezielt.<br />
Ein Klassiker ist die Wahl von<br />
unpassenden Bezugs- oder Vergleichsgrößen.<br />
Auf diese Weise<br />
lässt sich aus Zahlen, die für sich<br />
genommen objektiv und präzise<br />
erhoben wurden, der größte Unsinn<br />
produzieren. Ein Paradebeispiel<br />
sind Berichte über die alljährliche<br />
Polizeistatistik. Frankfurt<br />
am Main wird dann regelmäßig zur<br />
deutschen Hauptstadt des Verbrechens<br />
erklärt, weil die in Frankfurt<br />
»Viele Produzenten<br />
von<br />
Statistiken haben<br />
in Rankings ihr<br />
Geschäftsmodell<br />
gefunden«<br />
(inklusive Flughafen) registrierten<br />
Delikte auf die dort gemeldete Bevölkerung<br />
bezogen werden (Straftaten<br />
pro 100 000 Einwohner).<br />
Eine seriöse Rangliste müsste im<br />
Nenner aber auch Pendler, Messebesucher<br />
und Touristen sowie<br />
umsteigende Reisende an Hauptbahnhof<br />
und Flughafen berücksichtigen.<br />
Denn auch die können<br />
bei ihrem Aufenthalt eine Straftat<br />
verüben oder ihr zum Opfer fallen.<br />
Zu besonders absurden Ergebnissen<br />
führt diese Unstatistik im Fall<br />
des Vatikans. Dort gibt es nur<br />
knapp 500 Einwohner, aber jährlich<br />
rund 18 Millionen Besucher.<br />
Auf Letztere entfallen rund 99<br />
Prozent der registrierten Delikte.<br />
Durch die Wahl der Einwohner als<br />
– falscher – Bezugsgruppe erscheint<br />
der Vatikan als mit Abstand<br />
kriminellster Staat der Erde.<br />
Viele ökonomische Rankings<br />
leiden an einer falschen oder zumindest<br />
erläuterungsbedürftig gewählten<br />
Vergleichsgruppe. Ein Beispiel<br />
ist der Global Wealth Report<br />
der Allianz. Auf Basis des durchschnittlichen<br />
Nettogeldvermögens<br />
pro Kopf wird ein Ranking der<br />
reichsten Länder erstellt. Laut der<br />
aktuellsten Daten für das Jahr<br />
2012 landet Deutschland auf Platz<br />
17. Das ist plausibel, solange man<br />
auch das Kleingedruckte liest.<br />
Doch oft wird nur das Ranking<br />
Hier wird investiert! Neubau der<br />
Lahntalbrücke bei Limburg<br />
selbst zitiert. Dann entsteht ein<br />
stark verzerrtes Bild, weil die Rangliste<br />
sowohl Länder mit kapitalgedeckter<br />
Altersvorsorge als auch<br />
Länder mit hauptsächlich umlagefinanziertem<br />
System der Rentenversicherung<br />
enthält. Für die erste<br />
Gruppe wird das angesparte Kapital<br />
berücksichtigt, für die zweite<br />
Gruppe die ebenfalls vermögensrelevanten<br />
Anwartschaften aber<br />
nicht. Kein Wunder, dass kapitalbasierte<br />
Länder wie die Schweiz<br />
und die USA deutlich vor umlagefinanzierten<br />
Ländern wie Frankreich<br />
und Deutschland liegen.<br />
Auch in der aktuellen Diskussion<br />
um vermeintlich zu geringe<br />
Investitionen in Deutschland<br />
spielen implizite Rankings von<br />
nationalen Investitionsquoten<br />
innerhalb Europas eine Rolle.<br />
Die gigantische Investitionslücke,<br />
die manche Ökonomen sehen,<br />
ergibt sich für Deutschland<br />
nur, wenn man erstens das<br />
Aggregat aller Investitionen (öffentlich<br />
und privat, jeweils inklusive<br />
Bau) betrachtet und zweitens<br />
auch Länder wie Spanien<br />
und Irland zum Vergleich heranzieht,<br />
die vor der Krise einen<br />
exzessiven Bauboom erlebt haben.<br />
Drittens ist beim Vergleich<br />
von öffentlichen Investitionen<br />
zu beachten, dass es in den<br />
Ländern unterschiedliche Abgrenzungen<br />
des staatlichen<br />
Aufgabengebietes gibt. Sonst<br />
vergleicht man Äpfel mit Birnen.<br />
Berücksichtigt man diese drei<br />
Aspekte angemessen, bleibt<br />
zwar ein gewisser Nachholbedarf<br />
in Bereichen wie der Verkehrsinfrastruktur<br />
übrig. Keinesfalls<br />
aber öffnet sich eine so<br />
gigantische Investitionslücke,<br />
dass jetzt massenhaft privates<br />
Kapital mit staatlichen Anreizen<br />
an der Schuldenbremse vorbeigeschleust<br />
werden sollte. Für<br />
milliardenschwere Renditeversprechen<br />
müsste langfristig ohnehin<br />
der Steuerzahler aufkommen.<br />
Dieser Vorschlag illustriert<br />
eindrucksvoll, welche ökonomischen<br />
Risiken entstehen, wenn<br />
aus fragwürdigen Vergleichen<br />
wirtschaftspolitische Forderungen<br />
abgeleitet werden.<br />
Thomas Bauer ist Vizepräsident<br />
des Rheinisch-<br />
Westfälischen Instituts für<br />
Wirtschaftsforschung (RWI)<br />
und Professor für empirische<br />
Wirtschaftsforschung an der<br />
Ruhr-Universität Bochum.<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 47<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Super-GAU mit<br />
Todesgefahr<br />
ARZNEIMITTELFÄLSCHUNGEN | Bisher waren sie die Domäne<br />
dubioser Online-Anbieter, nun tauchen gestreckte und<br />
manipulierte Präparate zunehmend in der Apotheke auf.<br />
Weil die Gewinne höher sind als im Drogenhandel,<br />
haben organisierte Kriminelle das Geschäft entdeckt.<br />
FOTOS: BERT BOSTELMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />
Der Oberarm schwoll an und begann zu<br />
schmerzen. Theresa Müller, Mitte 50,<br />
wohnhaft in einer Kreisstadt im südlichen<br />
Sauerland, spritzt sich seit Jahren das Mittel<br />
Pegasys gegen Hepatits C, eine Virusinfektion<br />
der Leber. Doch dieses Mal schlägt das<br />
Präparat des Schweizer Pharmakonzerns<br />
Roche nicht so an wie sonst. „Lokale Reaktion<br />
an der Einstichstelle mit Eibildung“, vermerkt<br />
ihr Apotheker in einem Meldebogen.<br />
Ursache unbekannt.<br />
Einen Tag später, am 7. November 2013,<br />
bringt Müller die Spritze in die Apotheke.<br />
Der Pharmazeut stutzt. Statt einer Glasspritze,<br />
wie sie Roche normalerweise verwendet,<br />
enthält die Packung Pegasys Plastikspritzen;<br />
nicht wie üblich mit grauen, sondern mit<br />
schwarzen Schutzkappen und mit weißen<br />
statt mit roten Kolben. Zudem fehlt auf der<br />
Faltschachtel der Barcode. Der Apotheker<br />
fotografiert das ungewohnte Set, schickt die<br />
Spritze sowie das Präparat an Roche.<br />
Wenig später kommt das Ergebnis: Die<br />
Packung Pegasys, 180 Mikrogramm/0,5 Milliliter,<br />
enthielt statt des Wirkstoffs gegen<br />
Hepatitis nur schnödes Wasser mit Kochsalz.<br />
Theresa Müller aus Westfalen, die in<br />
Wirklichkeit anders heißt, ihren Namen<br />
aber nicht in der Presse lesen möchte, ist<br />
das Opfer krimineller Machenschaften, die<br />
für Patienten wie für Pharmaunternehmen<br />
den Horror bedeuten: gefälschte Arzneimittel,<br />
nicht aus dunklen Kanälen im anonymen<br />
unkontrollierbaren Internet, sondern<br />
aus dem Herzen des Gesundheitssystems,<br />
der Apotheke. Nahezu jeden Monat<br />
werden neue Fälle bekannt, in denen Verdünntes<br />
und Verfälschtes in den Verkauf<br />
kommt – unter dem Siegel des Arzneikelches<br />
mit der Schlange, das für die Apotheken<br />
hierzulande steht. Die meisten Fälschungen<br />
dürften überhaupt niemandem<br />
auffallen. Viele Patienten und Ärzte kommen<br />
gar nicht auf die Idee, dass die Verschlechterung<br />
des Gesundheitszustandes<br />
von einer gefälschten Medizin herrühren<br />
könnte, die sie am Ort ihres Vertrauens, in<br />
der Apotheke, erstanden haben.<br />
RUMÄNISCHER URSPRUNG<br />
„Dass gefälschte Medikamente vermehrt<br />
in Apotheken gelangen, ist der pharmazeutische<br />
Super-GAU“, sagt der Essener<br />
Zollermittler Jürgen R., „das ist Körperverletzung<br />
mit Todesgefahr.“<br />
Deutschlands Behörden sind alarmiert.<br />
Auf „noch unter ein Prozent“ schätzt Walter<br />
Schwerdtfeger, bis Ende Juli Deutschlands<br />
oberster Arzneiprüfer beim Bonner<br />
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte<br />
(BfArM), den Anteil gefälschter<br />
Präparate in deutschen Apotheken und<br />
Kliniken. Im Klartext: Nahezu jedes 100.<br />
Medikament von hier könnte manipuliert<br />
sein. Und die Liste der bisher erkannten<br />
Fälle wird immer länger:<br />
n Im August und September 2013 tauchten<br />
Fälschungen des Pfizer-Krebsmittels Sutent<br />
in deutschen Apotheken auf. Das Präparat<br />
enthielt keinen Wirkstoff; es war ursprünglich<br />
für den rumänischen Markt<br />
produziert und <strong>vom</strong> Importeur CC Pharma<br />
aus der Eifel auf den Markt gebracht worden.<br />
Einem Patienten war aufgefallen, dass<br />
Kapseln und Pulver eine andere Farbe hatten<br />
als sonst.<br />
n Im April 2014 wurde offenbar, dass Unbekannte<br />
Zehntausende Medikamente aus<br />
»<br />
ORIGINAL<br />
FÄLSCHUNG<br />
PEGASYS<br />
Warnung an Ärzte<br />
Die Original-Spritze ist aus Glas,<br />
enthält eine graue Schutzkappe<br />
und einen roten Kolben. Im Herbst<br />
2013 tauchte eine gefälschte<br />
Pegasys-Spritze (gegen Hepatitis C)<br />
bei deutschen Importeuren und in<br />
Apotheken auf. Roche verschickte<br />
Warnbriefe an die Ärzte.<br />
48 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Mehr als eine Million<br />
gefälschte Präparate<br />
pro Jahr Röntgenaufnahmen<br />
von Arzneimitteln<br />
am Zollamt des<br />
Frankfurter Flughafens<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 49<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Verdächtige Pillen<br />
Zahl der beschlagnahmten Tabletten und<br />
Ampullen am Frankfurter Flughafen<br />
(in Millionen)<br />
3,0<br />
2,5<br />
2,0<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
2007 08 09 10 11 12 13<br />
Quelle: Fraport<br />
0<br />
|1| |2|<br />
»<br />
italienischen Kliniken gestohlen haben.<br />
Über dubiose Zwischenhändler in Osteuropa<br />
gelangten die Arzneimittel teilweise manipuliert<br />
überwiegend nach Deutschland.<br />
Insgesamt 82 verschiedene Präparate waren<br />
betroffen, darunter 2049 Packungen des<br />
Brustkrebsmittels Herceptin sowie 1670 Packungen<br />
des Darmkrebs-Präparats Avastin,<br />
beide von Roche. Auch Rheumapräparate<br />
sowie das Lungenmittel Spiriva von Boehringer<br />
Ingelheim und die Krebsarznei<br />
Erbitux von Merck gehörten dazu.<br />
n Im Mai 2014 lieferte in Berlin ein Patient,<br />
der sich nicht zu erkennen gab, eine Fälschung<br />
des Wachstumshormons Norditropin<br />
des dänischen Herstellers Novo Nordisk<br />
in einer Apotheke ab.<br />
n Im Juni 2014 warnte das Bundesinstitut<br />
für Arzneimittel und Medizinprodukte vor<br />
Fälschungen des Krebsmittels Sutent des<br />
US-Pharmakonzerns Pfizer.<br />
n Im Oktober 2014 schließlich schlug das<br />
Paul-Ehrlich-Institut, das in Deutschland<br />
für die Kontrolle der Impfstoffe und Biopräparate<br />
zuständig ist, wegen möglicher<br />
Manipulationen einer Charge des Darmkrebsmittels<br />
Avastin „rumänischen Ursprungs“<br />
Alarm. Hersteller von Avastin ist<br />
Roche. Die Fläschchen hatte ein deutscher<br />
Importeur von einem rumänischen Großhändler<br />
bezogen. Auffällig war unter anderem,<br />
dass die Packungen fester verklebt<br />
waren als üblich.<br />
Die zunehmende Zahl von Fälschungen<br />
– in Apotheken und ebenso bei dubiosen<br />
Versandhändlern im Internet – hat inzwischen<br />
auch die Politik wachgerüttelt. Bei<br />
der Justizministerkonferenz der Länder am<br />
6. November will die Hamburger Justizsenatorin<br />
Jana Schiedek (SPD) eine Bundesratsinitiative<br />
gegen Produktpiraterie<br />
vorstellen, bei der gefälschte Arzneimittel<br />
im Mittelpunkt stehen. „Wir müssen die<br />
abschreckende Wirkung des Strafrechts<br />
erhöhen und die Ermittlungsmöglichkeiten<br />
der Staatsanwaltschaften verbessern“,<br />
fordert Schiedek. So sollen Fahnder auch<br />
bei Arzneimittelfälschern die Möglichkeit<br />
bekommen, Telefone anzuzapfen.<br />
DROHENDE UMSATZVERLUSTE<br />
Die gefälschten Arzneien in Apotheken haben<br />
die Hersteller in helle Aufregung versetzt.<br />
Global ist keine der Branchengrößen<br />
vor den Fakes gefeit. „An einer gefälschten<br />
Handtasche ist noch niemand gestorben,<br />
an gefälschten Medikamenten jedoch<br />
schon“, wettert Karl-Ludwig Kley, Vorsitzender<br />
der Geschäftsleitung von Merck.<br />
Produkte des Darmstädter Pharma- und<br />
Chemiekonzerns wurden ebenso gefälscht<br />
wie Mittel von Bayer, Boehringer Ingelheim<br />
oder Pfizer. Spricht sich herum, dass<br />
Patienten oder Ärzte bei einem Präparat<br />
nicht sicher sein können, dass es echt ist,<br />
drohen den Unternehmen Imageschäden<br />
und Umsatzverluste. „Ich habe schon Anrufe<br />
von Ärzten und Apothekern bekommen,<br />
die nach Bekanntwerden der Fälle<br />
lieber auf Präparate anderer Hersteller ausweichen<br />
wollten“, sagt der Chef eines großen<br />
Pharmaunternehmens.<br />
Zwar gaben die Behörden kürzlich eine<br />
teilweise Entwarnung. Nach den Arzneimitteldiebstählen<br />
in italienischen Kliniken<br />
im Frühjahr seien Medikamente, die<br />
nach dem 1. Juli nach Deutschland exportiert<br />
wurden, vor Fälschungen sicher, erklärte<br />
die italienische Arzneimittelbehörde<br />
AIFA vorvorige Woche.<br />
Doch beruhigend klingt das nicht. Für<br />
viele Krebsmittel, die an die Krankenhäuser<br />
der Apennin-Halbinsel geliefert wurden,<br />
empfiehlt die AIFA weiterhin die „Abklärung<br />
der Legalität“. Und das Paul-Ehrlich-Institut<br />
in Langen bei Frankfurt rät,<br />
Ärzte, Apotheker und Patienten sollten<br />
weiterhin auf mögliche Manipulationen,<br />
etwa an der Verpackung, achten.<br />
Für Fahnder ist klar, dass die Mafia und<br />
osteuropäische Banden den Handel mit<br />
gefälschten Arzneimitteln für sich entdeckt<br />
haben. Denn die Profite, die sich daraus<br />
schlagen lassen, sind gigantisch. „Die<br />
Gewinnspannen im Handel mit illegalen<br />
Arzneimitteln liegen häufig bei mehreren<br />
Hundert bis über Tausend Prozent. Sie<br />
sind ein lukratives Geschäft, das die Gewinne<br />
aus der Rauschgiftkriminalität bei<br />
Weitem übertrifft“, sagt Norbert Drude, der<br />
Präsident des Zollkriminalamtes in Köln.<br />
„Medikamente sind leicht, sauber, gut<br />
zu transportieren und bringen eine Menge<br />
Geld“, sagt Michele Riccardi, Projektmanager<br />
bei Transcrime, einem Institut für Kriminalitätsforschung<br />
in Mailand. So kostet<br />
eine Packung mit 150 Milligramm des<br />
Brustkrebsmittels Herceptin von Roche,<br />
FOTOS: JIRI REZAC FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />
50 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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|3|<br />
1 | Original und Fälschung Am Verlauf von Testkurven erkennt<br />
Pfizer in seinem Labor in Südengland, ob Präparate echt sind<br />
2 | Unter Druck Vor der Analyse verdächtiger Medikamente per<br />
Laser werden die Pillen pulverisiert<br />
3 | Liebesgrüße aus Moskau Diese Viagra-Pillen mit russischer<br />
Aufschrift sind mutmaßlich gefälscht<br />
das in Italien gestohlen wurde und in deutschen<br />
Apotheken auftauchte, hierzulande<br />
rund 850 Euro. Die Wirkung des verschobenen<br />
Mittels ist beeinträchtigt, weil die<br />
Hehler kaum die erforderliche Temperatur<br />
beim Transport von minus 20 Grad eingehalten<br />
haben dürften.<br />
Dass gefälschte Arzneimittel mit dem<br />
Bestimmungsort Apotheke zum Feld für<br />
das organisierte Verbrechen geworden<br />
sind, schließen Ermittler aus Erkenntnissen<br />
über diese und andere unsaubere Importe<br />
aus Italien. Die haben eine gewaltige<br />
Dimension und liefern tiefe Einblicke in<br />
die Methoden der Verbrecher.<br />
So wurden nach einer Untersuchung<br />
von Transcrime zwischen 2006 und 2013<br />
in jedem zehnten Krankenhaus Italiens<br />
Medikamente entwendet – hauptsächlich<br />
in Regionen, in denen die Mafia stark ist.<br />
Der Großteil der Diebstähle, 51 Fälle, ereignete<br />
sich im vergangenen Jahr. Der<br />
wirtschaftliche Schaden belief sich auf<br />
knapp 19 Millionen Euro. Ermittler befürchten,<br />
dass dabei auch Medikamente<br />
manipuliert und Wirkstoffe gestreckt<br />
wurden.<br />
ORIGINAL<br />
VIAGRA<br />
Fund im Hafen<br />
FÄLSCHUNG<br />
Kein anderes Arzneimittel wird so häufig<br />
gefälscht wie die blaue Potenzpille des US-<br />
Konzerns Pfizer. Erst im vergangenen Sommer<br />
wurden im Hamburger Hafen 100 000<br />
gefälschte Viagra-Tabletten sichergestellt.<br />
Viele der nachgemachten Pillen stammen<br />
aus China und Indien; das Geschäft in<br />
dubiosen Internet-Apotheken blüht.<br />
UMSCHLAGPLATZ OSTEUROPA<br />
Hinter den Dieben und Fälschern steht ein<br />
weitverzweigtes System. „Die kriminellen<br />
Netzwerke“, schreibt Transcrime, besäßen<br />
eine „straffe Organisation“, Kontakte zu legalen<br />
und illegalen Zwischenhändlern,<br />
über Geld, um Klinikangestellte zu bestechen,<br />
und ein hohes Potenzial, um „Einschüchterung,<br />
Gewalt und politische Einflussnahme<br />
durchzusetzen“.<br />
So listete der italienische Pharmaverband<br />
AIFA im August ein Dutzend Scheinfirmen<br />
auf, vorwiegend aus Osteuropa, die<br />
illegale Medikamente in die Apotheken<br />
nach Westeuropa schleusten, vorzugsweise<br />
nach Deutschland. Sie tragen Namen<br />
wie Carnela Limited auf Zypern, Avimax<br />
Health and Trade KFT in Ungarn oder Piramid<br />
D.O.O in Slowenien. Die gefälschten<br />
Lieferpapiere sähen täuschend echt aus,<br />
berichtet ein Insider.<br />
Von diesen Schleuserfirmen gelangen<br />
die gefälschten Arzneien oft zu sogenannten<br />
Parallelimporteuren, die diese dann<br />
unbeabsichtigt an deutsche Apotheken lieferten.<br />
Das Geschäft solcher Parallelimporteure<br />
beruht darauf, dass sie mit Medikamenten<br />
aus Südeuropa handeln, wo diese<br />
teilweise deutlich weniger kosten als hier.<br />
Die Apotheker in Deutschland sind per<br />
Gesetz verpflichtet, Arzneien im Wert von<br />
fünf Prozent ihres Einkaufsvolumens von<br />
solchen Parallelimporteuren zu beziehen.<br />
In jüngster Zeit fallen diese Unternehmen<br />
aber immer häufiger im Zusammenhang<br />
mit Medikamenten-Fälschungen auf.<br />
Einer der betroffenen Importeure, CC<br />
Pharma aus der Eifel, erklärt dazu, verdächtige<br />
Arzneien sofort zurückgerufen zu<br />
haben. Zudem sei Ware aus Italien unter<br />
Quarantäne gestellt worden, sobald Warnhinweise<br />
von Behörden vorlagen.<br />
„Natürlich ist der Parallelhandel ein<br />
mögliches Einfallstor für Fälschungen“,<br />
sagt David Shore, Sicherheitsmanager bei<br />
Pfizer. Das sei bei allen bekannten Fälschungen<br />
von Pfizer-Medikamenten in der<br />
legalen Lieferkette in Großbritannien der<br />
Fall gewesen, so der frühere Ermittler von<br />
Scotland Yard, der nun für den US-Konzern<br />
die Spuren der Pillen-Banden verfolgt.<br />
Die Pharmabranche sieht in dem Einfallstor<br />
für Fälscher einen willkommenen<br />
Anlass, die Vorschrift zu kippen, dass deutsche<br />
Apotheker einen Teil ihrer Medikamente<br />
im preiswerteren Ausland kaufen<br />
müssen. „Diese Importförderklausel<br />
schafft mittlerweile einen Absatzmarkt für<br />
kriminelle Machenschaften“, ärgert sich<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 51<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Bedingt kontrollierbar<br />
Die Methoden, mit<br />
denen Apotheker die<br />
Echtheit von Präparaten<br />
überprüfen könnten,<br />
bieten keine vollständige<br />
Sicherheit<br />
»<br />
Hagen Pfundner, Deutschland-Chef von<br />
Roche und Vorstandsvorsitzender des<br />
Pharma-Verbandes VFA. Pfundner fordert<br />
die Abschaffung der Importvorschrift – bislang<br />
ohne Erfolg. Deswegen hat er auch bereits<br />
an Bundesgesundheitsminister Hermann<br />
Gröhe (CDU) geschrieben.<br />
VIAGRA IN POLSTERMÖBELN<br />
Den Pharmaherstellern bleibt im Grunde<br />
nur, selbst etwas zum Kampf gegen die Fälscher<br />
beizutragen. Wohl keiner weiß das so<br />
gut wie der US-Pharmariese Pfizer aus New<br />
York. Dessen Potenzpille Viagra ist das am<br />
häufigsten gefälschte Medikament der<br />
Welt. Allein 2012 konfiszierten die Ermittlungsbehörden<br />
weltweit über vier Millionen<br />
unechter Erektionshelfer. Im vergangenen<br />
Sommer entdeckten Fahnder in einem<br />
Container im Hamburger Hafen<br />
100 000 gefälschte Viagra-Tabletten, versteckt<br />
in Polstermöbeln. Den Amerikanern<br />
bleibt gar nicht viel anderes übrig, als alles<br />
in ihrer Macht Stehende zu tun, um den<br />
Schaden durch Fälscher zu minimieren.<br />
ORIGINAL<br />
HERCEPTIN<br />
In Italien geklaut<br />
FÄLSCHUNG<br />
Tausende Packungen des Roche-Brustkrebsmittels<br />
Herceptin verschwanden vor<br />
wenigen Monaten aus italienischen Kliniken;<br />
deutsche Behörden gaben darauf<br />
Warnungen heraus. Gestohlenes Herceptin<br />
ist auch deshalb gefährlich, weil die<br />
Kühlung nicht gewährleistet wurde.<br />
4500 Einwohner zählt der südostenglische<br />
Küstenort Sandwich – angeblich wurde<br />
dort tatsächlich vor gut 250 Jahren die<br />
gleichnamige belegte Stulle aus zwei Brotscheiben<br />
erfunden. Zuletzt berühmt geworden<br />
ist der Ort aber durch die flachen, braunen<br />
Laborgebäude ein wenig außerhalb<br />
des Ortskerns. Vor gut 20 Jahren entdeckten<br />
dort Pfizer-Forscher die wundersame Wirkung<br />
einer Substanz, mit der sie eigentlich<br />
ein Herzmittel gefunden zu haben glaubten.<br />
Doch als die männlichen Probe-Patienten<br />
aus dem Queen Victoria Memorial<br />
Hospital im nahe gelegenen Herne Bay die<br />
überzähligen Pillen nicht mehr zurückgeben<br />
wollten, ahnten sie, dass sie einen Coup<br />
gelandet hatten. Ein Potenzmittel war entdeckt,<br />
das später als Viagra um die Welt gehen<br />
sollte.<br />
Die Viagra-Pillen, die heute in Sandwich<br />
durch die Labors 2–09 gehen, sind nicht für<br />
Patienten bestimmt, sondern werden auf ihre<br />
Echtheit überprüft. Wendy Greenall und<br />
ihre drei Mitarbeiterinnen überprüfen hier,<br />
im Gebäude 510, jährlich gut 1600 Pakete<br />
mit Viagra und anderen gängigen Medikamenten,<br />
die Ermittler, Zollbeamte oder<br />
hauseigene Sicherheitsexperten als verdächtig<br />
einstuften. Die Pillen stammen aus<br />
Deutschland, anderen europäischen Ländern,<br />
Afrika und dem Nahen Osten, aus<br />
Apotheken und von Online-Versendern.<br />
„Etwa 90 Prozent der von uns untersuchten<br />
Pillen sind gefälscht“, sagt Greenall.<br />
Manchmal reicht der Chemikerin, die seit<br />
etwa zehn Jahren für Pfizer arbeitet, nur ein<br />
Blick, um eine Fälschung zu erkennen: Auf<br />
einer der Packungen des Cholesterinsenkers<br />
Lipitor – ebenfalls ein beliebtes Mittel für<br />
Fälscher – ist die Schrift verkehrt herum aufgedruckt,<br />
die Falz ist beschädigt und eine<br />
Codenummer falsch.<br />
Meist ist jedoch eine aufwendigere Untersuchung<br />
nötig. Eine Mitarbeiterin Greenalls<br />
hat eben eine Lipitor-Pille pulverisiert. Ein<br />
Lasergerät untersucht die Substanz. Auf dem<br />
Monitor entstehen zwei Kurven, die an Aktiencharts<br />
erinnern. Die schwarze Kurve<br />
zeigt die Zusammensetzung des Originalpräparats,<br />
die rote die Mixtur der untersuchten<br />
Pille. Beide Kurven decken sich nicht, die<br />
Tablette scheint gefälscht zu sein. Genauere<br />
Ergebnisse liefern die beiden Chromato-<br />
»<br />
FOTOS: JOCHEN ZICK, PR<br />
52 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
|2|<br />
1 | 150 illegale Arzneisendungen pro Woche<br />
Frankfurter Zollfahnder Redanz<br />
|1|<br />
2 | Fälscher-Dorado Asien<br />
Check verdächtiger Medikamente<br />
»<br />
graphen im Gang gegenüber. Das kühlschrankgroße<br />
Gerät kann die Bestandteile<br />
der verflüssigten Substanz erkennen. Das Ergebnis<br />
ist klar: Der vermeintliche Wirkstoff<br />
besteht aus weißem Puder.<br />
Chemikerin Greenall sitzt auf einem Podium<br />
zum Thema Medikamenten-Fälschungen<br />
in einem Londoner Hotel und<br />
zieht ein bitteres Fazit: „In den vergangenen<br />
Jahren scheint sich bei der Bekämpfung<br />
der Arzneimittelkriminalität nichts<br />
getan zu haben“, sagt sie an die Adresse der<br />
anwesenden Sicherheitsexperten. Besonders<br />
die Strafverfolger zeigten keine wirkliche<br />
Härte gegenüber den Kriminellen.<br />
SCHOCKVIDEO MIT RATTE<br />
Beispiel: die „Operation Pangea“ (altgriechisch<br />
etwa für „ganze Erde“), die <strong>vom</strong> 13.<br />
bis zum 20. Mai dieses Jahres lief. Zoll- und<br />
Polizeibehörden aus über 100 Staaten fielen,<br />
koordiniert von Interpol, bei organisierten<br />
Pillenfälschern ein. Der Erfolg der<br />
Razzien war beeindruckend: 9,4 Millionen<br />
gefälschte Medikamente und 20 000 verdächtige<br />
Sendungen wurden sichergestellt.<br />
In Deutschland konfiszierten die<br />
Strafverfolger an den Zoll-Stützpunkten<br />
Frankfurt und Niederaula in Hessen 816<br />
fragwürdige Briefe und Pakete.<br />
Doch den Unternehmen reicht das<br />
nicht. In Zeiten zunehmender Bedrohung<br />
durch gefälschte Medikamente müssten<br />
die Kapazitäten der Strafverfolger eigentlich<br />
ausgebaut werden. In der Praxis klagten<br />
die Ermittlungsbehörden jedoch über<br />
zu wenig Personal. „Pangea müsste eigentlich<br />
das ganze Jahr laufen“, so ein Insider.<br />
Auch fälschungssichere Technik hilft nur<br />
bedingt im Kampf gegen die Pillen-Mafia.<br />
Zwar soll es von 2017 an europaweit möglich<br />
sein, auf jede Packung eine eigene Seriennummer<br />
und einen eigenen Code aufzudrucken.<br />
Das Verfahren heißt „Secur<br />
Pharm“. Mit seiner Hilfe kann ein Apotheker,<br />
bevor er dem Patienten die Ware aushändigt,<br />
den Code auf der Packung einscannen<br />
und blitzschnell überprüfen, ob<br />
ORIGINAL<br />
LIPITOR<br />
Gefragte Pille<br />
FÄLSCHUNG<br />
Mit einem Jahresspitzenumsatz von mehr<br />
als zehn Milliarden Dollar war der Cholesterinsenker<br />
Lipitor von Pfizer lange Jahre<br />
das umsatzstärkste Medikament der<br />
Welt. Seit das Exklusiv-Patent vor drei<br />
Jahren auslief, geht es mit den Pfizer-<br />
Umsätzen zwar bergab. Organisierte<br />
Kriminelle verdienen an Fälschungen aber<br />
immer noch prächtig.<br />
das Medikament tatsächlich <strong>vom</strong> angegebenen<br />
Hersteller stammt.<br />
Die Idee stammt von Pharma- und Apothekenverbänden,<br />
ist aber kein Allheilmittel.<br />
Denn Manipulationen am Medikament<br />
selbst lassen sich mit „Secur Pharm“ nicht<br />
bekämpfen. Hinzu kommt, dass jeder Hersteller<br />
an eigenen technischen Lösungen<br />
arbeitet. Und gegen dubiose Pillen aus<br />
dem Internet hilft das Verfahren erst recht<br />
nicht, da niemand vor den Augen des Patienten<br />
den Code einscannt.<br />
Pfizer versucht deshalb mit Schockvideos,<br />
die Verbraucher zumindest von dubiosen<br />
Internet-Apotheken abzuhalten.<br />
Denn nach einer Analyse der Weltgesundheitsorganisation<br />
WHO sind 50 Prozent der<br />
online erworbenen Arzneimittel gefälscht.<br />
So hat der US-Pharmariese ein Filmchen<br />
auf YouTube gestellt, dass Patienten mithilfe<br />
einer Ratte von dem Online-Erwerb<br />
von Medikamenten abschrecken soll: Gerade<br />
aufgestanden, schluckt ein attraktiver<br />
Mann, vielleicht Mitte 30, ein paar Pillen<br />
aus einer Schachtel ohne Aufdruck des Herstellers.<br />
Kurz darauf muss er würgen. Aus<br />
seinem Mund quillt eine Ratte – zuerst der<br />
Schwanz, ganz am Ende der Kopf. Grund<br />
für den Ekel-Spot: Gefälschte Medikamente<br />
enthielten laut Pfizer auch schon Rattengift.<br />
Marcus Redanz, 42 Jahre alt, Kurzhaarschnitt,<br />
ist Spezialist für Arzneimittel beim<br />
Frankfurter Zollamt. Deshalb surft er regelmäßig<br />
auf dubiosen Internet-Seiten mit<br />
»<br />
FOTOS: BERT BOSTELMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE (2), PR<br />
54 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Apennin forte<br />
Weltweit stehen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation<br />
WHO etwa 15<br />
Prozent der Arzneimittel unter Fälschungsverdacht.<br />
Die Fakes kursieren in<br />
123 Ländern. Besonders schlimm ist die<br />
Entwicklung in etlichen Regionen Afrikas<br />
und Asiens, dort wird die Einnahme von<br />
Medikamenten fast zum Glücksspiel. Bis<br />
zu 30 Prozent der Tabletten und Ampullen<br />
enthalten in Asien keinen oder einen<br />
falschen Wirkstoff, in Afrika zuweilen bis<br />
zu 50 Prozent. Um die tödliche Gefahr etwas<br />
zu mindern, liefert der Darmstädter<br />
Pharmakonzern Merck in etwa 80 Länder<br />
ein Minilabor zum Selbstkostenpreis, mit<br />
dem Pharmazeuten gefälschte Medikamente<br />
relativ schnell und einfach nachweisen<br />
können.<br />
In den westlichen Industrieländern sowie<br />
in Japan dürfte bis zu ein Prozent der Medikamente<br />
gefälscht sein. Die Bedrohung hat<br />
zugenommen, seit aus italienischen Kliniken<br />
zunehmend Medikamente gestohlen<br />
wurden und über Osteuropa vorwiegend<br />
nach Deutschland gelangten. Die Apennin-<br />
Anteil der Medikamenten-Fälschungen am<br />
Gesamtmarkt nach Regionen (in Prozent)<br />
USA, EU, Japan, Kanada<br />
Quelle: WHO<br />
Russland<br />
Lateinamerika<br />
Indien<br />
Asien<br />
Afrika<br />
0 10 20 30 40 50<br />
Halbinsel gilt wegen der Mafia als das<br />
Herkunftsland für gefälschte Arzneimittel<br />
hierzulande. Insgesamt, so schätzt die<br />
Beratung Deloitte, dürften die organisierten<br />
Kriminellen mit Medikamenten-Fälschungen<br />
jährlich und weltweit zwischen<br />
75 und 200 Milliarden Dollar einnehmen.<br />
Zahl der Medikamenten-Diebstähle in<br />
italienischen Krankenhäusern<br />
4<br />
Quelle: Transcrime<br />
10<br />
51<br />
2011 2012 2013<br />
»<br />
Namen wie „Medikamente ohne Rezept“<br />
oder „Cialis 20 mg kaufen“. Redanz ist seit 20<br />
Jahren beim Zoll und kennt die Tricks der<br />
Arzneifälscher. „Derzeit ist etwa Oral Jelly<br />
sehr gefragt“, sagt er. „Das soll flüssiges Viagra<br />
sein, erhältlich etwa in den Geschmacksrichtungen<br />
Orange und Banane.“<br />
Redanz weiß genau: Flüssiges Viagra gibt es<br />
in der Realität so wenig wie Viagra für Frauen,<br />
was ebenfalls häufig von fragwürdigen<br />
Internet-Apotheken angeboten wird.<br />
Redanz hat die Aufgabe zu verhindern,<br />
dass illegale oder gefälschte Medikamente,<br />
die häufig aus asiatischen Ländern wie China,<br />
Indien, Pakistan, Singapur oder Thailand<br />
stammen, ihre Empfänger in Deutschland<br />
erreichen. Sein Büro liegt ganz in der<br />
Nähe des Frankfurter Flughafens, im Internationalen<br />
Postzentrum. Zwei Stockwerke<br />
höher treffen gerade Luftfrachtsendungen<br />
aus aller Welt ein.<br />
Insgesamt 84 Zöllner in drei Schichten<br />
wachen gemeinsam mit Redanz darüber,<br />
dass keine illegalen Medikamente in<br />
Deutschland in Umlauf kommen. Keine<br />
leichte Aufgabe, mehr als Stichproben sind<br />
nicht drin bei täglich gut 10 000 Luftfracht-<br />
Sendungen.<br />
Redanz verlässt sich auf seine Erfahrung –<br />
er weiß, wie verdächtige Päckchen aussehen<br />
und auf welche Herkunftsländer er achten<br />
muss. „Pillen werden gerne in Kohlepapier,<br />
Alufolien oder Dosen versteckt, bei Ampullen<br />
sind auch ausgehöhlte Bücher sehr beliebt.“<br />
In Zweifelsfällen lässt Redanz, wie bei<br />
der Sicherheitskontrolle am Flughafen, verdächtige<br />
Päckchen durch ein Röntgengerät<br />
laufen. Etwa 150 illegale Sendungen spürt<br />
Redanz jede Woche auf – meist Potenz-,<br />
Schmerz- und Dopingmittel.<br />
400 000 Tabletten und Ampullen beschlagnahmten<br />
die Frankfurter Zöllner<br />
2007 – inzwischen sind es jährlich mehr als<br />
eine Million.<br />
STRAFANZEIGE VON ROCHE<br />
Hinter den Empfängern der zweifelhaften<br />
Präparate aus Asien stecken häufig kriminelle<br />
Dealer, die hierzulande einen<br />
schwunghaften Handel mit den dubiosen<br />
Mitteln aufgezogen haben und sie über eigene<br />
Internet-Seiten weiterverkaufen. 2013<br />
flog in Berlin etwa die „Männerapotheke“<br />
auf – eine siebenköpfige Bande aus Berlin<br />
und Brandenburg mit Hunderten Helfern,<br />
die sich auf Schlankheitsmittel und Potenzpillen<br />
spezialisiert hatte.<br />
„Das sind Netzwerke mit hoher OK-Relevanz“,<br />
sagt der Essener Zollfahnder R. OK<br />
steht für organisierte Kriminalität. Der Ermittler<br />
kennt die Mitglieder des Milieus:<br />
„Pfiffige Leute, Männer zwischen Anfang 20<br />
und Anfang 50. Akademiker, die sich mit<br />
dem Internet auskennen. Betriebswirte<br />
sind darunter, auch mal ein Physiotherapeut.“<br />
Die Arzneifälscher- und Schiebernetzwerke<br />
arbeiteten wie ein Konzern, so<br />
der Fahnder. Es gebe Spezialisten für Vertrieb,<br />
Logistik und Buchhaltung bis hin zu<br />
Kurieren und Grafikdesignern, die die Web-<br />
Seiten der dubiosen Anbieter gestalten.<br />
Häufig enthalten diese Internet-Seiten zu<br />
Unrecht Logos von TÜV und Stiftung Warentest,<br />
um bei den Kunden Vertrauen zu<br />
schaffen. Die Dreistigkeit, gefälschte Arzneien<br />
an die Frau und den Mann zu bringen,<br />
kennt keine Grenzen. Klaus Gritschneder<br />
ist Gründer des Internet-Versenders<br />
Europa Apotheek im holländischen<br />
Venlo, die lange Jahre mit der Drogeriekette<br />
dm kooperierte und über jeden Zweifel<br />
erhaben ist. Er fand schon eine dubiose Internet-Seite,<br />
die das Impressum seiner Europa<br />
Apotheek als ihr eigenes verwendete.<br />
Gritschneder engagiert sich bei der europäischen<br />
Anti-Fälscher-Initiative Asop und<br />
fordert eine sogenannte Positivliste für legale<br />
Versandapotheken. Wer nicht auf der Liste<br />
steht, soll bei Google und anderen Suchmaschinen<br />
nicht mehr gefunden werden<br />
können. Über den Vorschlag wird gerade auf<br />
europäischer Ebene verhandelt. Frühestens<br />
Mitte 2015 könnte es so weit sein, hofft Gritschneder.<br />
Um den Fälschern das Handwerk zu legen,<br />
hat sich Roche-Manager Pfundner für<br />
eine in der Branche noch eher unübliche<br />
Maßnahme entschieden. Im Fall des gefälschten<br />
Pegasys-Präparats, dem die Patientin<br />
im Sauerland vor einem Jahr aufgesessen<br />
war, hat Pfundner Strafanzeige gegen<br />
unbekannt gestellt, direkt beim Bundeskriminalamt.<br />
„Das sind wir unseren Patienten<br />
schuldig“, sagt Pfundner, „die haben<br />
schließlich vor allem den Schaden.“ n<br />
juergen.salz@wiwo.de; konrad fischer<br />
56 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Gefangen<br />
in Folien<br />
OSRAM | Als Sanierer hat Vorstandschef<br />
Wolfgang Dehen viel<br />
geleistet. Als Stratege und<br />
Führungskraft, die dem Lichtkonzern<br />
und seinen Mitarbeitern<br />
einen Weg in die Zukunft weist,<br />
ist er jedoch überfordert.<br />
Die Osram-Konzernzentrale ist ein futuristischer,<br />
spitzwinkliger Bau am<br />
nördlichen Ende des Münchner<br />
Stadtteils Schwabing. „Lighthouse“ hat die<br />
Unternehmensführung den schicken Glaspalast<br />
an der Autobahn getauft. An sonnigen<br />
Tagen, und davon gibt es in München<br />
viele, durchströmt warmes Licht die Büros.<br />
Das Problem: Die Stimmung in der<br />
Mannschaft passt so gar nicht zur Helligkeit<br />
und Wärme im Osram-Leuchtturm –<br />
sie ist duster bis stockfinster.<br />
„Arbeitest du noch, oder malst du schon<br />
Folien“, raunen sich derzeit viele Mitarbeiter<br />
auf den Fluren und in der Kantine zu. Es<br />
ist bitterer Spott, gemünzt auf den Chef,<br />
den Osram-Vorstandsvorsitzenden Wolfgang<br />
Dehen. Das im MDax notierte Unternehmen<br />
mit seinen mehr als 30 000 Mitarbeitern<br />
befindet sich in dem wohl tiefstgreifenden<br />
Umbruch seiner fast 100-jährigen<br />
Geschichte. Doch statt dem Konzern<br />
mit einer schlüssigen Langfriststrategie eine<br />
klare und eindeutige Richtung zu geben,<br />
verkriecht Dehen sich hinter stundenlangen<br />
Präsentationen, in denen ein Chart<br />
auf den anderen folgt.<br />
PowerPoint-Folien zum Einbruch des<br />
Geschäfts mit Leuchtstoffröhren und<br />
Glühlampen, PowerPoint-Folien zum geplanten<br />
Stellenabbau, PowerPoint-Folien<br />
zu den Geschäftserwartungen in Amerika,<br />
PowerPoint-Folien zur Entwicklung des<br />
LED-Geschäfts: „Dehen lebt in Folien“, sagt<br />
ein ehemaliger Osram-Manager.<br />
Dabei erwarten die Mitarbeiter nicht nur<br />
nackte Zahlen und Grafiken, sondern echte<br />
Antworten auf die vielen Probleme und<br />
Herausforderungen im Konzern, vor allem<br />
aber auf die wohl wichtigste Frage: Wohin<br />
will Dehen mit Osram?<br />
MISERABLES BETRIEBSKLIMA<br />
„Die Stimmung im Unternehmen ist ganz<br />
unten“, sagt ein Mitglied des Aufsichtsrats.<br />
Im Juli kündigte Dehen an, dass Osram im<br />
Rahmen einer zweiten Restrukturierungswelle<br />
insgesamt 7800 Stellen streichen will.<br />
Auf und in Deutschland entfallen 1700 Arbeitsplätze,<br />
vor allem in Berlin, Augsburg<br />
und Eichstätt. Im vergangenen Jahr hatte<br />
Osram bereits den Abbau von weltweit<br />
knapp 8700 Jobs verkündet. Die dritte Kündigungswelle,<br />
so viel steht jetzt schon<br />
fest, soll 2017 anrollen. Von weltweit<br />
44 Fertigungsstandorten<br />
sollen am Ende noch 33 übrig<br />
bleiben, so der derzeitige<br />
Plan.<br />
Dabei hatten sich die Geschäfte<br />
des Münchner Traditionsunternehmens<br />
nach<br />
der Abspaltung <strong>vom</strong> Mutterkonzern<br />
Siemens zunächst vielversprechend<br />
entwickelt. Dehen,<br />
der Ende 2012 von Siemens an die<br />
Der Kurs<br />
der Aktie liegt<br />
heute wieder<br />
knapp über<br />
dem <strong>Ausgabe</strong>kurs<br />
Mit dem Rücken zur Wand Osram-Chef<br />
Dehen steht wegen seines Umgang mit<br />
Mitarbeitern in der Kritik<br />
Osram-Spitze wechselte, half mit, das Unternehmen<br />
im Juli vergangenen Jahres erfolgreich<br />
an die Börse zu bringen. Vom<br />
<strong>Ausgabe</strong>kurs in Höhe von 24 Euro kletterte<br />
der Kurs der Aktie zwischenzeitlich auf<br />
mehr als 50 Euro. Erstmals nach verlustreichen<br />
Jahren wies Osram für das am 30.<br />
September 2013 abgelaufene Geschäftsjahr<br />
wieder einen Gewinn aus.<br />
Das brachte Dehen den Ruf des guten,<br />
wenn auch eiskalten Sanierers und Restrukturierers.<br />
Doch dass der 60-jährige<br />
Diplomkaufmann aus Solingen das Zeug<br />
dazu hat, den Konzern mit einer langfristigen<br />
Strategie durch den schwierigen Übergang<br />
von der traditionellen Beleuchtung<br />
hin zur halbleiterbasierten LED-Beleuchtung<br />
zu führen, daran zweifeln<br />
inzwischen immer mehr<br />
Beobachter.<br />
Die Osram-Aktie notiert<br />
mittlerweile nur noch bei 26<br />
Euro. Wenn Dehen an diesem<br />
Freitag die Bilanz des<br />
vergangenen Geschäftsjahres<br />
präsentiert, wird der knorrige<br />
Westfale bestenfalls einen Umsatz<br />
von 5,3 Milliarden Euro vorweisen,<br />
genauso viel wie im Geschäftsjahr<br />
FOTO: GETTY IAMGES/PHOTOTHEK<br />
58 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Aktien-Info Osram<br />
ISIN DE000LED4000<br />
220<br />
180<br />
140<br />
100<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
Philips<br />
2013 2014<br />
Umsatz (in Mio. €)<br />
Gewinn (netto, in Mio. €)<br />
Umsatzrendite (in %)<br />
Mitarbeiter weltweit<br />
Eigenkapitalrendite (in %)<br />
Aktienkurs 28.10.2014 (in €)<br />
KGV (09/2015 bzw. 12/2015)<br />
Börsenwert (in Mio. €)<br />
Indexiert: seit 5.7.2013 (= 100)<br />
Osram<br />
1 Geschäftsjahr zum 30.9.2013; 2 Geschäftsjahr zum<br />
31.12.2013; Quelle: Bloomberg; Thomson Reuters<br />
Osram 1 Philips 2<br />
5289<br />
28<br />
0,5<br />
36 696<br />
6,5<br />
26,45<br />
11,5<br />
2769<br />
23 329<br />
1169<br />
0,5<br />
115 365<br />
6,3<br />
21,48<br />
12,6<br />
20 549<br />
Hoch<br />
Die kräftigen Zuwächse im LED-Geschäft werden die<br />
erwarteten Einbrüche im Geschäft mit traditioneller<br />
Beleuchtung kaum aufwiegen. Osram fehlt nach wie vor<br />
eine schlüssige Zukunftsstrategie.<br />
2013. Von dem ursprünglich geplanten Zuwachs<br />
in Höhe von drei Prozent hatte er<br />
sich schon vor Monaten verabschiedet. Restrukturierungskosten<br />
durch den umfassenden<br />
Stellenabbau dürften den Gewinn<br />
schmälern.<br />
Der Konzernchef selbst tut wenig, um<br />
die miserable Stimmung im Unternehmen<br />
zu drehen – im Gegenteil. Durch sein ruppiges<br />
Auftreten bar jedes Verständnisses<br />
für moderne Personalführung verprellt<br />
Dehen systematisch einen Manager nach<br />
dem anderen.<br />
Wie, das führte der Osram-Chef etwa<br />
Anfang dieses Jahres vor, als er eine Handvoll<br />
Führungskräfte zu einer Besprechung<br />
in der Konzernzentrale versammelte. Dehner<br />
lässt per Telefonkonferenz auch einen<br />
leitenden Manager aus den USA zuschalten.<br />
Der soll zum US-Geschäft berichten.<br />
Mitten im Vortrag drückt Dehen unvermittelt<br />
den Stummschalter der Telefonanlage,<br />
sodass der Kollege aus Amerika <strong>vom</strong> Gespräch<br />
in München abgeschnitten ist. Sodann<br />
lässt Dehen sich vor den anwesenden<br />
Managern ungehemmt über die angebliche<br />
Unfähigkeit des Osram-Mannes<br />
in den USA aus, macht sich sogar über persönliche<br />
Schwächen des Kollegen lustig.<br />
Kurz darauf wird der Mann aus Amerika<br />
wieder zugeschaltet, und das Gespräch<br />
geht weiter, als sei nichts gewesen. Dehens<br />
Führungsleute sind entsetzt. Ein Osram-<br />
Sprecher bestreitet die Vorwürfe.<br />
Auf seine Art angesprochen, erweist sich<br />
Dehen als beratungsresistent. Er pflegt<br />
schneidende Distanz anstelle persönlicher<br />
Nähe. Ein früherer Weggefährte schildert<br />
ihn als Zeitgenossen, der „auch morgens<br />
um drei an der Bar noch reserviert ist“. Hin<br />
und wieder versuchen Vertraute im Konzern<br />
ihn zur Seite zu nehmen und schlagen<br />
ihm vor, ab und zu wenigstens mal durch<br />
die Büros zu gehen und mit Mitarbeitern<br />
zu sprechen. Doch Dehen tut solche Vorschläge<br />
als Anbiederei ab. Als einige führende<br />
Manager ihm im Sommer raten, vor<br />
der Ankündigung des neuerlichen Stellenabbaus<br />
die Arbeitnehmervertreter zu informieren,<br />
wird der Chef unwirsch und<br />
wischt den Vorschlag <strong>vom</strong> Tisch. Erst<br />
müssten Fakten geschaffen werden, lautet<br />
die knappe Antwort. Ein Konzernsprecher<br />
erklärt, die Vorwürfe seien so nicht richtig,<br />
und spricht von einer „Schmutzkampagne“<br />
gegen Dehen. »<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Zukunftsmarkt LED<br />
Umsatz von Osram nach Segmenten<br />
(in Millionen Euro)<br />
Veränderung*<br />
Lampen und Komponenten<br />
2600<br />
–0,8%<br />
Spezialbeleuchtung<br />
Optische Halbleiter (LED)<br />
1456<br />
1018<br />
+5,3%<br />
+13,9%<br />
Leuchtmittel und Lösungen<br />
Überleitung<br />
Konzernabschluss<br />
–346<br />
561 –5,9%<br />
+18,8%<br />
Gesamt:<br />
5,3 Mrd.<br />
–2,1%<br />
»<br />
Wer in Meetings mit Dehen inhaltliche<br />
Kritik äußert, fühlt sich von ihm gedemütigt,<br />
weil er Neinsager entweder vor den<br />
versammelten Kollegen herunterputze.<br />
Oder er bestelle Kritiker nach Besprechungen<br />
in sein Büro. Dort fühlen sich die<br />
Betroffenen dann frontal angegangen,<br />
meist auch sehr persönlich. Mehrere leitende<br />
Osram-Mitarbeiter, so ein Insider,<br />
seien deshalb auf dem Absprung. Ein Osram-Sprecher<br />
bestreitet die Vorwürfe. Im<br />
Konzern heißt es, Dehen traue niemandem<br />
mehr, schiebe außerdem einen Riesenfrust,<br />
auch weil ihm wohl erst nach seinem<br />
Wechsel zu Osram vor zwei Jahren<br />
klar geworden ist, wie groß die Herausforderungen<br />
bei der Sanierung des Unternehmens<br />
sind.<br />
MENSCH OHNE EMPATHIE<br />
Damit wird Dehen für Osram zum echten<br />
Problem. Denn Kreativität und Begeisterung<br />
können in einem solchen Klima der<br />
Angst nicht entstehen; die aber wären in<br />
dem Unternehmen dringend nötig. Die gesamte<br />
Lichtindustrie befindet sich in einem<br />
gewaltigen Umbruch. Leuchtstoffröhren,<br />
die althergebrachte Glühlampe, auch<br />
Energiesparlampen und Halogenleuchten<br />
werden in den kommenden Jahrzehnten<br />
<strong>vom</strong> Markt verschwinden und von energiesparenden<br />
LEDs, den sogenannten Licht<br />
emittierenden Dioden, ersetzt werden. Der<br />
Digitalisierung in den Fabriken folgt jetzt<br />
die Digitalisierung des Lichts.<br />
Schwer vorstellbar, dass ein Mensch wie<br />
Dehen, ohne jede Empathie, gefangen in<br />
einer Welt aus Folien, Zahlen und Charts,<br />
hier auch mal mit unkonventionellen Ideen<br />
Duftmarken setze, vor allem aber die<br />
Mannschaft begeistere und mitreiße, sagt<br />
ein früherer Osram-Manager. „Es gibt keine<br />
Strategie nach vorne.“<br />
Dabei drängt die Zeit, denn die Einbrüche<br />
im Geschäft mit traditioneller Beleuchtung<br />
wie Leuchtstoffröhren und Halogenleuchten<br />
sind weitaus dramatischer, als<br />
Dehen noch vor Kurzem angenommen<br />
hatte. Zurzeit erwirtschaftet Osram im Geschäft<br />
mit traditioneller Beleuchtung einen<br />
Umsatz von rund 2,6 Milliarden Euro.<br />
Schon in sechs Jahren, so einschlägige<br />
Prognosen, wird es eine Milliarde Euro weniger<br />
sein.<br />
Konkurrent Philips hat kürzlich für sein<br />
Lichtgeschäft eine grundsätzliche strategische<br />
Entscheidung gefällt: Der Bereich mit<br />
Halbleitern, LEDs und Komponenten wird<br />
in ein eigenes neues Unternehmen ausgegliedert.<br />
Das Geschäft mit Leuchten verbleibt<br />
dagegen bei Philips. So können die<br />
Niederländer künftig schneller auf die sich<br />
rasch ändernden Marktbedingungen reagieren.<br />
Vorteil gegenüber Osram: Philips<br />
hat frühzeitig in das Geschäft mit Leuchten<br />
investiert, unter anderem durch<br />
Zukäufe.<br />
„Eine solche strategische<br />
Oberaufseher<br />
Peter Bauer<br />
weiß um die Probleme<br />
mit dem<br />
Osram-<br />
Chef<br />
Geschäftsjahr 2013 per 30.9.2013;<br />
* gegenüber Vorjahr, bereinigt um Währungsund<br />
Portfolioeffekte; Quelle: Unternehmen<br />
Aufgeheizte Stimmung Die Fertigung von<br />
Leuchtstoffröhren im Traditionswerk in<br />
Augsburg ist stark rückläufig<br />
Grundsatzentscheidung<br />
muss auch Osram fällen,<br />
und zwar schnell“, sagt ein<br />
ehemaliger Manager des<br />
Konzerns. Denn je länger<br />
Dehen damit wartet, desto<br />
größer wird die Gefahr, dass<br />
wichtige Kunden abspringen, allen<br />
voran die Automobilindustrie,<br />
weil sie das Vertrauen in die Innovationskraft<br />
und das künftige Angebot des<br />
Münchner Herstellers verlieren. Derzeit<br />
bilden Halogenleuchten für die Autoindustrie<br />
eine tragende Säule bei Osram.<br />
SCHWIERIGE NACHFOLGESUCHE<br />
Einer, der schon einmal einen Milliardenkonzern<br />
durch eine schmerzhafte Umbruch-<br />
und Anpassungsphase geführt hat,<br />
ist Peter Bauer. Infineon, ein Hersteller von<br />
Speicherchips für den Massenmarkt, war<br />
Ende des vergangenen Jahrzehnts ein Sanierungsfall.<br />
Bauer machte als Vorstandschef<br />
aus dem Münchner Konzern einen<br />
schlagkräftigen und profitablen Anbieter<br />
von Spezialchips für die Autoindustrie und<br />
die Energiebranche.<br />
Seit 2013 ist Bauer Aufsichtsratschef bei<br />
Osram und hat zurzeit eine wichtige Aufgabe:<br />
Er muss einen Nachfolger für den Ende<br />
Mai ausgeschiedenen Technikvorstand Peter<br />
Laier suchen. Eine Shortlist mit möglichen<br />
Kandidaten hat Bauer, der um die<br />
Probleme mit Dehen weiß, erstellt, doch<br />
die Aufgabe ist knifflig. Denn Laier, so war<br />
es intern abgesprochen, sollte Ende März<br />
2016, wenn Dehens Vertrag als Vorstandsvorsitzender<br />
ausläuft, dessen<br />
Nachfolge antreten. Mithin<br />
muss der Ersatz für Laier nun<br />
ebenfalls tauglich für den<br />
Chefsessel sein.<br />
Manche Analysten gehen<br />
sogar weiter und fordern,<br />
Dehen solle schon vor 2016<br />
Platz machen für ein frisches<br />
Gesicht – zum Wohl des Unternehmens.<br />
n<br />
matthias.kamp@wiwo.de | München<br />
FOTO: DDP IMAGES/JOERG KOCH<br />
60 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Goldene Gene<br />
GOLDMAN SACHS | Ex-Manager der bewunderten wie berüchtigten<br />
US-Investmentbank besetzen immer mehr Schlüsselpositionen.<br />
Es ist eine Übernahmeschlacht, wie sie<br />
Deutschland noch nicht erlebt hat.<br />
Und Marcus Schenck ist mittendrin.<br />
Der junge Investmentbanker in Diensten<br />
der US-Investmentbank Goldman Sachs<br />
soll dem britischen Mobilfunkkonzern Vodafone<br />
Ende 1999 zur Übernahme des<br />
deutschen Konkurrenten Mannesmann<br />
verhelfen.<br />
Und das macht Schenck mit Bravour,<br />
sagt einer, der damals eng mit ihm zusammengearbeitet<br />
hat. Schenck sei ein absoluter<br />
Teamspieler, hoch diszipliniert, voll auf<br />
Geschäft und Kunden konzentriert. Und<br />
dabei sogar noch ungewöhnlich cool.<br />
„Wenn die Stimmung extrem angespannt<br />
war, hat er sie mit einem Scherz wieder gelockert“,<br />
sagt der Weggefährte.<br />
Solche Qualitäten schätzt offenbar auch<br />
sein früherer Chef. Paul Achleitner stand<br />
von 1994 bis 2000 an der Spitze des<br />
Deutschland-Ablegers von Goldman<br />
Sachs, seit 2012 ist er Aufsichtsratsvorsitzender<br />
der Deutschen Bank. In der Funktion<br />
hat er seinen alten Kollegen Schenck<br />
abgeworben. Als künftiger Finanzchef ist<br />
der einer von zwei neuen Männern im<br />
Vorstand, mit deren Hilfe Deutschlands<br />
größtes Kreditinstitut möglichst schnell<br />
wieder auf Kurs kommen soll. Das ist dringend<br />
nötig. Die Bank ächzt unter einem<br />
riesigen Berg von Altlasten und musste<br />
am Mittwoch einen Quartalsverlust verkünden.<br />
Der bisher siebenköpfige Vorstand<br />
war mit der Fülle der Probleme<br />
schlicht überfordert.<br />
Neben der Deutschen Bank vertraut<br />
künftig auch die Deutsche Börse auf die<br />
Kompetenz eines Ex-Goldies. Fast zeitgleich<br />
mit Schencks Wechsel verkündete<br />
sie, dass der Investmentbanker Carsten<br />
Kengeter im kommenden Frühjahr den aktuellen<br />
Vorstandschef Reto Francioni ablösen<br />
soll. Zu Kengeter fallen früheren Kollegen<br />
ähnliche Attribute wie zu Schenck ein.<br />
Bei allem persönlichen Ehrgeiz gilt auch er<br />
als extrem kollegial, zurückhaltend, unglaublich<br />
diszipliniert und voll fokussiert<br />
auf die Interessen des Kunden.<br />
OBERSTE ETAGE<br />
Das ist kein Zufall. Denn die Werte bekommen<br />
Goldman-Banker wieder und wieder<br />
mit Nachdruck eingebimst. „So unterschiedlich<br />
wir auch sind, so sehr haben wir<br />
die Goldman-Kultur zutiefst verinnerlicht“,<br />
sagt einer, der mit Schenck und Kengeter<br />
bei der Bank war. Die Qualitäten sind offenbar<br />
höchst begehrt. Mit den beiden<br />
Wechseln wächst die ohnehin schon beachtliche<br />
Zahl der Banker, die prägende<br />
Karriereschritte in den obersten Etagen<br />
Diskreter Charme Amtierende und frühere Goldman-Banker<br />
Pionier<br />
Paul Achleitner,<br />
Chefkontrolleur<br />
Deutsche Bank,<br />
Goldman-Chef<br />
Deutschland<br />
1994 bis 2000<br />
Hoffnungsträger<br />
Marcus Schenck,<br />
bald Deutsche-<br />
Bank-Vorstand,<br />
1997 bis 2006<br />
und ab 2013 bei<br />
Goldman<br />
Rückkehrer<br />
Carsten Kengeter,<br />
künftiger<br />
Deutsche-<br />
Börse-Chef,<br />
1997 bis 2008<br />
bei Goldman<br />
Chef I<br />
Wolfgang Fink,<br />
seit 1993 bei<br />
Goldman, in<br />
Zukunft Co-<br />
Deutschland-<br />
Chef<br />
Chef II<br />
Jörg Kukies,<br />
seit 2001 bei<br />
Goldman, in<br />
Zukunft Co-<br />
Deutschland-<br />
Chef<br />
Unternehmerin<br />
Dorothee Blessing,<br />
US-Investmentbank<br />
JP<br />
Morgan, bei<br />
Goldman 1992<br />
bis 2013<br />
Chairman<br />
Alexander Dibelius,<br />
Goldman-<br />
Großkundenbetreuer,<br />
Deutschland-Chef<br />
2002<br />
bis 2014<br />
FOTOS: PICTURE-ALLAINCE/DPA (4), PHOTOTHEK/THOMAS KÖHLER, PR, LAIF/TIM WEGNER, CHRISTIAN KIELMANN<br />
62 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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des Frankfurter Messeturms getan haben<br />
und heute Schlüsselpositionen in der deutschen<br />
Finanzwirtschaft besetzen.<br />
Zu ihnen zählt etwa Dorothee Blessing,<br />
die nach mehr als 20 Jahren im Geschäft<br />
mit Firmenkunden bei Goldman seit Kurzem<br />
einen Top-Job im europäischen Investmentbanking<br />
des Konkurrenten JP<br />
Morgan hat. Theodor Weimer, seit 2009 an<br />
der Spitze der HypoVereinsbank, hat vorher<br />
sieben Jahre bei der US-Investmentbank<br />
gearbeitet. Auch Axel Hörger, der<br />
noch bis März das Deutschland-Geschäft<br />
der Schweizer UBS leitet, gilt als typischer<br />
Vertreter der Generation Goldman.<br />
Die ist einerseits geprägt von absoluter<br />
Erfolgsorientierung, Ehrgeiz, Einsatz bis<br />
zum Umfallen und dem Karriereprinzip<br />
„Up or out“ – wer zu schwach ist, muss gehen.<br />
Andererseits schwärmen frühere Banker<br />
von der Teamarbeit und bedingungslosen<br />
Offenheit. „Es war total verpönt, Themen<br />
über Bande zu spielen. Wer das versucht<br />
hat, war schnell draußen“, sagt ein<br />
Ex-Goldman-Banker.<br />
Um ein reibungsloses Zusammenspiel<br />
zu garantieren, unterzieht die Bank Bewerber<br />
einem beispiellosen Marathon von oft<br />
mehr als 20 Vorstellungsgesprächen. Auserwählte<br />
fliegen dann oft für eine Woche<br />
nach New York, um die Kultur des Unternehmens<br />
zu verinnerlichen. In ihrer Konsequenz<br />
sind die Goldman-Grundwerte allenfalls<br />
noch mit denen der Unternehmensberatung<br />
McKinsey vergleichbar.<br />
NAHEZU PARANOID<br />
Kritiker sehen denn auch in beiden Unternehmen<br />
global agierende Machtsekten,<br />
die ihre Angestellten einer Gehirnwäsche<br />
unterziehen, indem sie sie derart einspannen<br />
und fordern, dass sie gar keine Zeit<br />
mehr für eigene Gedanken haben. Derart<br />
umgekrempelt bleiben sie ihren Arbeitgebern<br />
angeblich auch nach ihrem Ausscheiden<br />
treu ergeben und schanzen ihnen Aufträge<br />
und Informationen zu. Dass Ex-Goldman-Manager<br />
wie Mario Draghi, der Chef<br />
der Europäischen Zentralbank, auch politisch<br />
wichtige Posten besetzen, befeuert<br />
solche Verschwörungstheorien.<br />
Zu denen trägt auch das Beharren der<br />
Bank auf absoluter Diskretion bei. „Die eigene<br />
Reputation verteidigt Goldman nahezu<br />
paranoid“, sagt ein früherer Manager.<br />
Selbst kleinste Negativnachrichten hätten<br />
zu stundenlangen Telefonkonferenzen mit<br />
Verantwortlichen in New York geführt.<br />
In den vergangenen Jahren gab es da eine<br />
Menge Gesprächsbedarf. Nach der Finanzkrise<br />
2008 geriet Goldman wie kein<br />
anderes Institut in die Kritik, so stellte sich<br />
heraus, dass die Bank wohl gegen eigene<br />
Kunden gewettet hatte, in internen E-Mails<br />
prahlten ihre Mitarbeiter mit ihren Abzockereien.<br />
Zu allem Überfluss verkündete<br />
Goldman-Sachs-Chef Lloyd Blankfein<br />
auch noch scherzhaft, dass er „Gottes<br />
Werk“ verrichte. Das US-Magazin „Rolling<br />
Stone“ beschimpfte die Bank in einer Generalabrechnung<br />
als „Riesenkrake, die ihre<br />
Tentakel in alles steckt, was Geld bringt“.<br />
Selbst hochrangige Goldman-Banker geben<br />
zu, dass sich das Institut in seiner Gier<br />
nach Wachstum weit von den Wurzeln entfernt<br />
hatte. Als eine der ersten brachte die<br />
Bank deshalb nach der Finanzkrise eine<br />
große Selbstüberprüfung auf den Weg. Die<br />
Rückbesinnung auf alte Werte soll künftig<br />
Skandale vermeiden. Bisher offenbar erfolgreich:<br />
Während etliche Konkurrenten<br />
mit Manipulationen und Rekordstrafen<br />
Schlagzeilen machen, ist es um Goldman<br />
erstaunlich still geworden.<br />
Für traditionelle Werte steht auch der<br />
Generationswechsel, der sich vergangene<br />
Woche im Messeturm vollzogen hat. Auf<br />
den langjährigen Deutschland-Chef Alexander<br />
Dibelius folgt mit Wolfgang Fink<br />
und Jörg Kukies nun eine Doppelspitze.<br />
Klarer lässt sich der Teamgedanke kaum<br />
signalisieren. Beide gelten als „absolut typische<br />
Goldman-Banker“ – professionell,<br />
ohne großen Drang an die Öffentlichkeit.<br />
In die wurde der neue Chef der Börse 2011<br />
gezerrt. Da musste Kengeter, den die<br />
Schweizer UBS von Goldman abgeworben<br />
und zum Leiter ihres Investmentbankings<br />
gemacht hatte, einen Verlust von fast einer<br />
Milliarde Dollar erklären. Den hatte ein einzelner<br />
Händler durch unentdeckte Fehlspekulationen<br />
verursacht. Er erledigte den Job<br />
nüchtern, räumte auf und verließ die UBS<br />
schließlich Anfang 2013 unter Mitnahme<br />
seines Jahresbonus. Danach lehrte er erst<br />
mal an der London School of Economics.<br />
Nun kehrt er auf einen Top-Job zurück.<br />
Auch der künftige Deutsch-Banker<br />
Schenck hat eine längere Auszeit von der<br />
Finanzwelt genommen. Von 2006 bis 2013<br />
war er Finanzvorstand des Düsseldorfer<br />
Energiekonzerns E.On. Bei der Deutschen<br />
Bank wird er sich im schon jetzt nicht konfliktfreien<br />
Führungszirkel nicht nur fachlich,<br />
sondern auch als Teamspieler beweisen<br />
müssen. Gut möglich, dass ihn die Kollegen<br />
kritisch beäugen. Schon gilt er als Reservekandidat,<br />
falls die aktuelle Doppelspitze<br />
über ihre Altlasten stolpern sollte. n<br />
cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 63<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Ich sehe was,<br />
was du nicht siehst<br />
Die Chefin der EZB-<br />
Bankenaufsicht,<br />
Nouy, will ganz genau<br />
hinschauen<br />
Wacht am Main<br />
BANKEN | Härter, breiter, gründlicher: Welche Veränderungen mit der neuen Aufsicht unter dem Dach<br />
der Europäischen Zentralbank jetzt auf die deutschen Finanzhäuser zukommen.<br />
Die härteste Daumenschraube für die<br />
Herren des Geldes verbirgt sich hinter<br />
Ziffer 451, versteckt in der knapp<br />
200 Seiten starken Aufsichts-Richtlinie. Sie<br />
ist die Bibel der neuen Banken-Aufpasser<br />
von der Europäischen Zentralbank (EZB)<br />
und all der Geldhäuser, die künftig von ihnen<br />
überwacht werden. Die dürr formulierten<br />
Zeilen, deren Lektüre sich bisher<br />
nur Feinschmecker des Bankrechts befleißigt<br />
haben, verhelfen den Aufsehern zu nie<br />
da gewesener Macht. Denn da steht im<br />
schönsten angelsächsischen Regulierungsjargon:<br />
„Stellt die Aufsicht Defekte im<br />
Geschäftsmodell einer Bank fest, kann sie<br />
die betroffenen Aktivitäten einschränken.“<br />
Für die deutschen Banken ist dieser Ansatz<br />
neu, konzentrierten sich die bisherigen<br />
Bankenwächter von der Bonner Finanzaufsicht<br />
BaFin und der Bundesbank<br />
doch eher darauf, bei riskanten Geschäftsaktivitäten<br />
die bankinternen Frühwarnsysteme<br />
und das hinterlegte Haftungskapital<br />
zu stärken. „Das Geschäftsmodell wird nun<br />
Gegenstand aufsichtlicher Beurteilung“,<br />
sagt Daniel Quinten, Experte für Bankregulierung<br />
und Partner beim Wirtschaftsprüfer<br />
KPMG in Frankfurt.<br />
Einschnitte wie diese zeigen: Wenn <strong>vom</strong><br />
Dienstag dieser Woche an die Wacht über<br />
Deutschlands wichtigste Banken nicht<br />
mehr am Rhein liegt, sondern am Main im<br />
Eurotower der EZB im Frankfurter Finanzviertel,<br />
ändert sich für die<br />
Banken wesentlich mehr als<br />
nur die Ansprechpartner.<br />
Der historische Wachwechsel<br />
zur EZB mit rund 800<br />
frisch eingestellten Aufpassern<br />
bedeutet tief greifende<br />
Veränderungen für die 120<br />
bedeutendsten europäischen<br />
Kreditinstitute, darunter<br />
21 deutsche, die nun<br />
unter EZB-Aufsicht stehen.<br />
Vier-Augen-Prinzip Nouys<br />
Vizechefin Lautenschläger<br />
Denn die kündigt angriffslustig an, zukünftig<br />
öfter, gründlicher und breiter zu<br />
prüfen als die nationalen Aufseher, die bisweilen<br />
eine harmonische Symbiose mit ihren<br />
jeweiligen Schäfchen pflegten. Der<br />
Stresstest war nur ein Vorgeschmack, so<br />
die Marschroute der neuen Oberaufseherin<br />
Danièle Nouy und Vizin Sabine Lautenschläger.<br />
„Ich kann Ihnen versprechen,<br />
dass die neue Aufsicht<br />
strenger und fairer wird als<br />
bisher“, verspricht Nouy.<br />
Dazu gehört auch, dass<br />
die EZB laut KPMG-Experte<br />
Quinten einschätzen will,<br />
wie nachhaltig eine Bank<br />
wirtschaftet. Die jährlichen<br />
Prüfungen seien <strong>vom</strong> Umfang<br />
mit einer Due Diligence<br />
zu vergleichen, also<br />
der Durchleuchtung eines<br />
Unternehmens durch kaufinteressierte<br />
Investoren.<br />
Banken müssen der EZB<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, BILDFOLIO/BERT BOSTELMANN<br />
64 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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dann wie einem Eigentümer in spe erklären,<br />
womit sie in den kommenden zwölf<br />
Monaten ihr Geld verdienen wollen und<br />
wie nachhaltig ihre Strategie ist.<br />
In der deutschen Finanzbranche will<br />
man sich mit dieser neuen Aufsichtswelt<br />
noch nicht so recht abfinden. „Ich kann<br />
mir nur sehr schwer vorstellen, dass sich<br />
die EZB-Aufsicht direkt in Managemententscheidungen<br />
der Banken einmischt“,<br />
sagt Liane Buchholz, Hauptgeschäftsführerin<br />
beim Bundesverband Öffentlicher<br />
Banken Deutschlands (VÖB) in Berlin.<br />
Sie hofft, dass bei der Umsetzung die<br />
deutsche Aufsichtspraxis Vorbild sein wird.<br />
Das heißt: Will eine Bank neue Kunden<br />
oder Märkte erschließen, prüft die Aufsicht<br />
nur, ob die neuen Risiken durch genug haftendes<br />
Eigenkapital abgedeckt sind.<br />
HOHE ALTLASTEN<br />
Bestes deutsches Beispiel für die Notwendigkeit,<br />
anfällige Geschäftsmodelle zu beleuchten,<br />
ist die HSH Nordbank. Bei der<br />
Landesbank stellten die EZB-Prüfer im Bilanztest<br />
eine Quote von notleidenden Krediten<br />
in Höhe von 17,7 Prozent fest (siehe<br />
Grafik Seite 67), so viel wie bei keinem anderen<br />
deutschen Geldhaus. Die Altlasten<br />
stecken in Schiffskrediten und Finanzierungen<br />
für Auslandsimmobilien, die größtenteils<br />
in der internen Abwicklungseinheit<br />
abgebaut werden. Die Bank betont,<br />
dass diese Risiken mit Rückstellungen und<br />
Sicherheiten sowie verbleibenden Zahlungserwartungen<br />
abgedeckt seien.<br />
Durch den Stresstest kam sie auch dank<br />
einer Staatsgarantie aus dem Jahr 2009 in<br />
Höhe von zehn Milliarden Euro, die das Eigenkapital<br />
stärkt. Doch blicken die Aufseher<br />
künftig mit der Brille der Nachhaltigkeit<br />
auf das Geschäftsmodell der HSH<br />
Nordbank, lassen sich die Konsequenzen<br />
erahnen. Nimmt die EZB ihre Aufgabe<br />
ernst, dürfte sie der Bank künftig kaum<br />
durchgehen lassen, weiterhin <strong>vom</strong> Steuerzahler<br />
subventionierte Kredite an Krisenbranchen<br />
wie die Schifffahrt auszureichen.<br />
Zweites Beispiel Deutsche Bank: Der<br />
Branchenprimus hat den Stresstest locker<br />
bestanden. Auch die Quote der faulen Kredite<br />
ist im Branchenvergleich moderat.<br />
Allerdings verweist die Aufsicht auf die<br />
aufgetürmten Rechtsrisiken. Allein im dritten<br />
Quartal legte die Deutsche Bank 894<br />
Millionen Euro für Rechtsstreits und drohende<br />
Strafen zurück. Insgesamt sind es<br />
bereits rund drei Milliarden.<br />
Angesichts solcher Dimensionen könnte<br />
die neue EZB-Aufsicht unter dem<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 65<br />
»<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
FAULE KREDITE<br />
Neue Messlatte<br />
Der Bilanztest beförderte in den Bankbilanzen Risikokredite in Milliardenhöhe<br />
ans Tageslicht. Woher stammen diese und was sind die Folgen?<br />
Im Jubel darüber, dass nur 9 von 128<br />
Instituten den Bilanz- und Stresstest der<br />
EZB nicht bestanden haben, ist völlig untergegangen,<br />
dass noch viel mehr faule<br />
Kredite in den Bilanzen der europäischen<br />
Banken stecken als bisher bekannt. Die<br />
Aufseher hatten auch die Kreditportfolios<br />
der Institute genau unter die Lupe genommen<br />
und entdeckten zusätzliche<br />
faule Kredite in Höhe von 136 Milliarden<br />
Euro. Insgesamt beläuft sich die Zahl an<br />
risikobehafteten Krediten in allen geprüften<br />
Instituten damit auf rund 880 Milliarden<br />
Euro (siehe Grafik).<br />
Wie kommt es zu dieser Differenz? Die<br />
neu entdeckten faulen Kredite resultieren<br />
aus einer vereinheitlichten Definition. Diese<br />
haben die Prüfer bei der Bewertung<br />
von Krediten für alle europäischen Institute<br />
zugrunde gelegt, um die Portfolios vergleichbar<br />
zu machen bei Schiffsfinanzierungen,<br />
privaten und gewerblichen<br />
Immobilienkrediten, Firmen- und Geschäftskundenkrediten<br />
sowie Projektfinanzierungen.<br />
Diese bewerten die Banken<br />
unterschiedlich. Dafür gibt es nun eine<br />
einheitliche Definition. Ein Kredit gilt als<br />
risikobehaftet, wenn er 90 Tage lang nicht<br />
bedient wurde, eine Wertkorrektur vorgenommen<br />
worden oder der Kredit komplett<br />
Europäische Bankbilanzen Hohe Risiken stecken vor allem in Immobilien, Firmen- und Schiffskrediten.<br />
GEWERBEIMMOBILIEN<br />
Notleidende Finanzierungen<br />
für überdimensionierte Bauprojekte<br />
bereiten Banken und<br />
Aufsehern große Kopfschmerzen.<br />
Die Summe fauler Kredite:<br />
236,5 Milliarden Euro<br />
SCHIFFFAHRT<br />
Wasser im Boot<br />
In welchen Bankkrediten die höchsten<br />
Risiken stecken (in Milliarden Euro)*<br />
Gewerbeimmobilien<br />
Firmenkredite (KMU)<br />
Geschäftskundenkredite 135,4<br />
Firmenkredite<br />
(große Unternehmen) 101,6<br />
Private Immobilienkredite 118,5<br />
Schiffsfinanzierungen<br />
Projektfinanzierung<br />
Andere<br />
ausgefallen ist. Dadurch sind Kredite in den<br />
roten Bereich gerutscht, die zuvor von den<br />
Banken selbst positiver eingeschätzt wurden.<br />
Die Stichproben beim Test haben die<br />
Prüfer auf das gesamte Portfolio projiziert.<br />
Ergebnis: insgesamt 136 Milliarden Euro an<br />
Risikokrediten.<br />
Den größten Batzen davon machen Immobilienkredite<br />
aus. Nach der neuen Mess-<br />
Die Krise der Schifffahrt drückt<br />
auf die Bankbilanzen. Deutsche<br />
Geldhäuser sind hier Weltmarktführer.<br />
Die Summe <strong>vom</strong> Untergang<br />
bedrohter Investments:<br />
35,4 Milliarden Euro<br />
von<br />
199,8<br />
146,3<br />
26,0<br />
6,0<br />
9,5<br />
35,4<br />
7,9<br />
16,0<br />
173,9<br />
139,4<br />
135,4<br />
134,6<br />
auf<br />
236,5<br />
Insgesamt: von 743,1 auf 879,1 Mrd. €<br />
* Risikokredite (non-performing assets) nach der Prüfung<br />
von 130 europäischen Banken durch die EZB/EBA pro<br />
Kreditklasse im Bilanzcheck zum Stichtag 31.12.2013<br />
WOHNUNGSMARKT<br />
Der Niedrigzins lässt den Wohnungsbau<br />
boomen, Banken vergeben<br />
billige Kredite. Doch das<br />
Ausfallrisiko ist hoch. Die Summe<br />
der bedrohten Portfolios:<br />
134,6 Milliarden Euro<br />
latte stieg die Anzahl von faulen Finanzierungen<br />
für gewerbliche Immobilien<br />
europaweit um fast 13 Prozent auf fast<br />
240 Milliarden Euro. Einen prozentual größeren<br />
Zuwachs von fast 16 Prozent stellte<br />
die Aufsicht bei großen Unternehmenskrediten<br />
fest. Und faule Schiffskredite stiegen<br />
um rund 27 Prozent auf 35 Milliarden Euro.<br />
Banken, die Schiffskredite im Portfolio<br />
haben – vor allem deutsche, italienische,<br />
griechische und niederländische Institute<br />
–, müssen nun Wertberichtigungen in Höhe<br />
von rund sieben Milliarden Euro vornehmen.<br />
Insgesamt summiert sich die<br />
Summe aller Wertberichtigungen für faule<br />
Kredite auf 48 Milliarden Euro.<br />
Die Summe zeige, wie groß die Abweichungen<br />
bei der Bewertung von Krediten<br />
in Europas Finanzhäusern bisher gewesen<br />
seien, sagt Katharina Barten, Analystin<br />
bei Moody’s in Frankfurt. Das Positive<br />
daran sei, dass die neue Aufsicht es ernst<br />
meine damit, die Transparenz und Vergleichbarkeit<br />
zwischen den Instituten zu<br />
verbessern: „Die Banken müssen ihre Bilanzierung<br />
und die Darstellung der Risiken<br />
nun auf diese neuen Bewertungsstandards<br />
umstellen.“<br />
Diese seien durch die Erkenntnisse des<br />
Tests aber nicht quasi über Nacht besorgniserregend<br />
geworden. „Ein Risikokredit<br />
bedeutet noch nicht, dass er komplett<br />
ausfallen wird“, so Barten. „Die Banken<br />
werden ja wohl hoffentlich nicht diejenigen<br />
Kredite verschwiegen haben, die am<br />
meisten ausfallgefährdet sind.“<br />
angela.hennersdorf@wiwo.de, Frankfurt<br />
GROSSUNTERNEHMEN<br />
Die EZB will die Kreditvergabe<br />
an die Realwirtschaft ankurbeln.<br />
Aber nicht jeder Unternehmenskredit<br />
wird zurückgezahlt.<br />
Die notleidenden Forderungen:<br />
135,4 Milliarden Euro<br />
FOTOS: TOPICMEDIA/SIMON BELCHER, LAIF/MICHAEL LANGE, DDP IMAGES/PETRA VALENTIN, VISUM/THOMAS PFLAUM<br />
66 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Blickwinkel der Nachhaltigkeit zu der<br />
Auffassung kommen, dass hier Illegalität<br />
Teil des Geschäftsmodells geworden ist.<br />
Die Auflage, solche Aktivitäten einzustellen,<br />
wenn interne Kontrollen der Bank<br />
nichts bringen, wäre dann nicht mehr weit<br />
entfernt.<br />
„Ob und wie stark die EZB künftig auch<br />
auf Basis schwacher Geschäftsmodelle eingreifen<br />
wird, bleibt abzuwarten“, sagt Katharina<br />
Barten, Analystin bei der Ratingagentur<br />
Moody’s in Frankfurt. Solange<br />
Banken die Mindestanforderungen in Bezug<br />
auf Kapital und Liquidität erfüllten,<br />
könne die EZB nicht einfach eingreifen.<br />
Der Erfolg der neuen Aufsicht entscheidet<br />
sich an einer Kernfrage: Wie konsequent<br />
wird sie sein, wenn die Abwicklung<br />
einer Krisenbank ansteht? Die Aufpasser<br />
müssen erst beweisen, ob sie im Krisenfall<br />
durchgreifen können. Alle europäischen<br />
Staaten haben ihre Großbanken immer geschützt.<br />
„Falls die neue Aufsicht künftig die<br />
Abwicklung einer Großbank empfiehlt, bei<br />
der hauptsächlich die vorrangigen Gläubiger<br />
die Verluste tragen sollen, wird interessant,<br />
wie sich die Länder gegen die neuen<br />
Regeln der Abwicklung durchsetzen“, sagt<br />
Problemzonen<br />
Faule Kredite bei großen deutschen Banken 1<br />
HSH Nordbank<br />
17,7%<br />
DZ Bank 3 2,5%<br />
KfW IPEX 2<br />
Bayerische Landesbank<br />
Norddeutsche Landesbank<br />
Commerzbank<br />
Deutsche Bank<br />
5,2%<br />
4,3%<br />
3,6%<br />
3,5%<br />
3,5%<br />
1<br />
Anteil der Forderungen, die 90 Tage oder länger überfällig<br />
sind, an den gesamten Krediten; 2 auf Exportkredite<br />
spezialisierte Tochter der staatlichen KfW; 3 Zentralinstitut<br />
der Volks- und Raiffeisenbanken; Quelle: EZB<br />
Barten. Dann wird sich zeigen, ob die Aufsicht<br />
ein zahnloser Tiger ist.<br />
„Die Europäische Bankenunion ist ein<br />
großer Fortschritt“, sagt Regulierungsexperte<br />
Barney Reynolds, Partner bei der US-<br />
Kanzlei Shearman & Sterling LLP in London.<br />
Aber die EZB schlüpfe eben nicht vollständig<br />
in die Schuhe der nationalen Aufseher.<br />
Sie bleibe höchst abhängig von diesen.<br />
„Einige der schwächeren Banken müssten<br />
sicherlich geschlossen werden“, urteilt Reynolds.<br />
„Ich bin mir nicht sicher, ob die EZB<br />
dazu bereit ist. Politisch wird es da viel Gegenwind<br />
geben.“ Denn die Konsequenz wäre,<br />
dass einige Länder wie etwa Griechenland<br />
oder Zypern ohne eine große nationale<br />
Bank dastünden. Reynolds: „Wird das politisch<br />
akzeptiert werden? Ich bezweifle es.“<br />
Weiterer Schwachpunkt: Systemische<br />
Risiken seien beim Stresstest nicht berücksichtigt<br />
worden, sagt Vincent Papa <strong>vom</strong> Finanzanalysten-Institut<br />
CFA London. Dazu<br />
zählten etwa Derivate, so Papa: „Haben die<br />
Institute genügend Polster, um Verluste in<br />
diesem Bereich aufzufangen?“ Auch<br />
Rechtsrisiken hätten keine Rolle gespielt.<br />
Immerhin hat die neue Aufsicht mit ihrem<br />
Stresstest Banken transparenter und<br />
vergleichbarer gemacht. Positiv bewertet<br />
Regulierungsexperte Reynlods vor allem,<br />
dass es jetzt einheitliche Regeln für alle gebe:<br />
„Damit bricht eine neue Ära für die<br />
Banken an.“ Ob sich alle Länder und Institute<br />
an die neuen Vorgaben auch halten<br />
werden, das werde sich noch zeigen. n<br />
angela.hennersdorf@wiwo.de | Frankfurt,<br />
mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
INTERNET<br />
Soll es bald ein Zwei-Klassen-Web geben?<br />
In den USA muss das Filmportal Netflix den Kabelfirmen Geld bezahlen, damit diese die gigantischen Datenmengen<br />
störungsfrei und vorrangig übertragen. In der Politik wird Ähnliches auch für Europa diskutiert.<br />
Pro<br />
Wirtschafts-<br />
Woche-Redakteur<br />
Jürgen<br />
Berke fordert<br />
Vorfahrtsregeln<br />
für zeitkritische<br />
Daten, etwa für<br />
das vernetzte<br />
Auto und die<br />
Fabrik 4.0.<br />
Die Netzneutralität gilt<br />
ihren Verfechtern<br />
als Heiligtum: Im Internet,<br />
so ihr Glaubensgrundsatz,<br />
sind alle Daten<br />
gleich, egal, ob für Pornovideos,<br />
selbstfahrende Autos oder<br />
Ärzte in Operationssälen. Alles<br />
andere gilt als Zwei-Klassen-<br />
Gesellschaft.<br />
Doch diese Denke ist überholt.<br />
Sie ist ein Relikt aus den Anfängen<br />
des Internets in den Neunzigerjahren,<br />
als das World Wide<br />
Web für kommerzielle Dienste<br />
geöffnet wurde. Damals war es<br />
überhaupt kein Problem, die<br />
wenigen Daten schnell zu übertragen.<br />
Der Zufall entschied,<br />
welche Route eine E-Mail einschlug<br />
und ob die Bits ein paar<br />
Sekunden später ankamen. Den<br />
Nutzern war das egal.<br />
Heute dagegen entwickelt<br />
sich das Internet in Riesenschritten<br />
zum Nervensystem einer<br />
völlig vernetzten Wirtschaft<br />
und revolutioniert dabei auch<br />
traditionell starke deutsche<br />
Industrien wie den Auto- und<br />
Maschinenbau. Dazu braucht<br />
es sichere, ultraschnelle Datenübertragung.<br />
Verzögerungen<br />
von Sekundenbruchteilen werfen<br />
das selbstfahrende Auto aus<br />
der Spur, lassen die Produktion in<br />
der computer- und internetgesteuerten<br />
Fabrik 4.0 zusammenbrechen<br />
und den Chirurgen vor<br />
dem erstarrten Bild auf dem Monitor<br />
kapitulieren. Solche Dienste,<br />
die essenziell für unser Leben und<br />
unsere Wirtschaft werden, dürfen<br />
nicht wegen eines Datenstaus<br />
durch Videos und Fernsehen im<br />
Internet stecken bleiben.<br />
Genau das aber ist durch die<br />
gigantischen Datenmengen von<br />
Videos und vor allem von Filmdiensten<br />
wie Netflix, die zu manchen<br />
Tageszeiten schon ein Drittel<br />
der Netzkapazität in den USA in<br />
Beschlag nehmen, nicht mehr<br />
100-prozentig gewährleistet. Die<br />
Web-Giganten aus den USA beharren<br />
darauf, dass jeder zum<br />
gleichen Tempo und zum gleichen<br />
Preis Daten verschicken<br />
können soll, ganz gleich, ob er das<br />
Web damit überfordert.<br />
Wer hierauf beharrt, schaufelt<br />
nicht nur den Finanzprotzen des<br />
Internets unnötig Geld in die<br />
Kassen. Er verhindert auch, dass<br />
Netzbetreiber ein Interesse<br />
haben, in schnellere Datenübertragung<br />
zu investieren, wenn<br />
Kunden – Fabriken, Operateure,<br />
Fernsehsender, Besitzer selbstfahrender<br />
Autos – dies benötigen<br />
und dafür extra bezahlen könnten.<br />
Die Gleichmacherei aller Daten<br />
setzt solche Anreize und die wohltuenden<br />
Kräfte des Marktes außer<br />
Kraft. Wer ein komfortableres Auto<br />
will, bezahlt dafür mehr als für<br />
eine einfache Mühle. Wer mit Vollgas<br />
über die Autobahn brettert,<br />
muss mehr (für Treibstoff) bezahlen<br />
als der Schleicher. Politiker<br />
sollten dies offen sagen und auch<br />
für das Internet zulassen, selbst<br />
wenn sie damit einen Shitstorm<br />
der Web-Romantiker riskieren.<br />
Contra<br />
Wirtschafts-<br />
Woche-Redakteur<br />
Oliver Voß<br />
ist gegen die<br />
Ungleichbehandlung<br />
von<br />
Daten, weil dafür<br />
letztlich der<br />
Verbraucher<br />
zahlen müsste.<br />
Stellen Sie sich vor, Sie<br />
müssten für Ihren Internet-Anschluss<br />
extra<br />
Pakete dazubuchen und<br />
bezahlen, wenn Sie YouTube,<br />
Facebook und Skype nutzen wollen.<br />
Wozu? Damit nichts ruckelt<br />
und die Daten nicht auf Ihr begrenztes<br />
Volumen angerechnet<br />
werden. Unvorstellbar? Nein, die<br />
Deutsche Telekom hat solche<br />
Pläne erst nach den „Drosselkom“-Protesten<br />
und einem Gerichtsurteil<br />
gestoppt.<br />
Doch nun wollen Politiker das<br />
Internet, wie wir es heute kennen,<br />
abschaffen. Bislang werden alle<br />
Daten gleich behandelt. Diese<br />
sogenannte Netzneutralität soll<br />
durch ein Zwei-Klassen-Web ersetzt<br />
werden. Offiziell predigen<br />
Bundesregierung und EU-Digitalkommissar<br />
Günther Oettinger die<br />
Gleichbehandlung. Doch sie schicken<br />
ein großes Aber hinterher: Es<br />
soll Ausnahmen geben.<br />
Sie argumentieren, das sei notwendig,<br />
damit ein Arzt bei der Operation<br />
blitzschnell Hilfe über das<br />
Internet erhält oder ein Auto durch<br />
die Stadt kurven kann, ohne dass<br />
der Fahrer lenkt. Für solche Dienste<br />
soll es im Internet Vorfahrt geben<br />
– zulasten aller anderen. Das<br />
Medizin-Beispiel klingt plausibel,<br />
ist aber vorgeschoben und verdeckt<br />
die eigentliche Absicht der<br />
Netzbetreiber. Sie wollen künftig<br />
nicht nur bei Nutzern, sondern<br />
auch bei Inhalteanbieter wie<br />
YouTube abkassieren, die große<br />
Datenmengen übertragen: Filme,<br />
Musik, Spiele, Videotelefonie.<br />
Mit den Zusatzeinnahmen<br />
soll der politisch versprochene<br />
Breitbandausbau in Deutschland<br />
gestemmt werden.<br />
Am Ende werden aber nicht<br />
Google und Co. die Internet-Maut<br />
bezahlen, sondern Sie und ich.<br />
n Die Anbieter würden die<br />
Mehrkosten auf Nutzer und<br />
Werbetreibende abwälzen. In<br />
der Folge würden auch ARD und<br />
ZDF mehr Rundfunkgebühr fordern,<br />
damit Zuschauer die<br />
nächste Fußball-WM ruckelfrei<br />
im Netz streamen können.<br />
n Die Auswahl würde eingeschränkt,<br />
weil Nutzer nur die<br />
Dienste ungehindert nutzen<br />
könnten, deren Anbieter zahlen.<br />
n Und auch deutsche Dienste<br />
sowie aufstrebende Start-ups<br />
würden am Wachstum oder<br />
Markteintritt gehindert. Denn<br />
eine Internet-Maut kann nicht<br />
nur für Ausländer gelten. Der<br />
Versuch, von den gigantischen<br />
Google-Profiten etwas abzugreifen,<br />
würde so zum Bumerang.<br />
Den Rückstand zum Silicon<br />
Valley holen wir so bestimmt<br />
nicht auf. Und auch der Wettbewerb<br />
im Netz wird nicht durch<br />
neue Gebühren gesichert, die<br />
im Zweifel nur die jetzigen Internet-Riesen<br />
zahlen können.<br />
Erlauben Bundesregierung<br />
und EU Ausnahmen, wäre das<br />
der Einstieg in ein Zwei-Klassen-<br />
Internet. Ein bisschen Netzneutralität<br />
geht nicht, entweder alle<br />
Daten sind gleich oder keine.<br />
FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Diskutieren Sie mit: www.wiwo.de, facebook.com/wirtschaftswoche<br />
68 oder plus.google.com/+wirtschaftswoche<br />
Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Stachel in der Wade<br />
ADIDAS | Nach Jahren des steten Wachstums scheint Vorstandschef Herbert Hainer seinen Zenit<br />
überschritten zu haben. Alte Versäumnisse holen den dienstältesten Dax-Konzernleiter ein.<br />
Der Schnäuzer von Herbert Hainer ist<br />
Geschichte wie die alte Panzerhalle<br />
der US-Army, die einmal auf dem<br />
weitläufigen Gelände von Adidas im fränkischen<br />
Herzogenaurach stand.<br />
Beide sind längst weg. Wo unter der Nase<br />
des Konzern-Chefs einst die Stoppeln<br />
sprossen, herrscht heute gepflegte Glätte.<br />
Smart sieht er inzwischen aus, der am<br />
längsten amtierende Chef eines Dax-Konzerns,<br />
nicht mehr nach Provinz, sondern<br />
nach Weltkonzern. Und wo einst amerikanische<br />
Kettenfahrzeuge parkten, steht jetzt<br />
ein supermodernes Architektur-Ensemble<br />
aus Fitnesscamp, mehrsprachiger Kindertagesstätte<br />
und einem Parkhaus.<br />
Für Fahrradfahrer gibt es hier eigene<br />
Stellplätze, freundliche Schrauber reparieren<br />
Reifen, beheizte Spinde trocknen<br />
feuchte Kleidung. Wenn es jetzt im Herbst<br />
ungemütlich wird in Franken, kredenzen<br />
Helfer Tee, um die Kälte zu vertreiben.<br />
Doch ob Heißgetränk, Velo-Assistenten<br />
oder glatter Teint – all die schönen Dinge<br />
können nicht verdecken, dass Hainer im<br />
14. Jahr seiner Amtszeit und drei Jahre vor<br />
deren offiziellem Ende Adidas praktisch<br />
neu erfinden muss. Sonst droht trotz aller<br />
Erfolge ein hartes Ende seiner Karriere.<br />
Lange hat der inzwischen 60-Jährige alles<br />
getan, um Adidas als Unternehmen des<br />
Wandels mit kosmopolitischem Flair zu inszenieren<br />
und bei Umsatz und Gewinn zu<br />
Höhenflügen zu treiben. Doch nun kursieren<br />
Gerüchte, dass aggressive Hedgefonds<br />
bei dem Drei-Streifen-Konzern einsteigen<br />
und Hainer absetzen wollen. Investoren<br />
bieten für Reebok, jene US-Tochtermarke,<br />
mit der Hainer eigentlich den amerikanischen<br />
Konkurrenten Nike auf dessen Heimatmarkt<br />
in Bedrängnis bringen wollte. In<br />
den Vereinigten Staaten, dem größten<br />
Sportmarkt der Welt, rutschte Adidas im<br />
Handel gerade erstmals auf Rang drei hinter<br />
dem Erzrivalen Nike und dem Neuling<br />
Under Armour. Der Abstand zum Weltmarktführer<br />
Nike wächst, statt zu schmelzen.<br />
Das Ziel, den Umsatz zwischen 2010<br />
und 2015 von knapp 12 auf 17 Milliarden<br />
Euro zu steigern, kassierte Hainer nach<br />
langem Kampf in diesem Sommer offiziell<br />
und räumte eigene Fehler ein.<br />
Hainer hat durchaus einleuchtende Argumente<br />
für die Probleme: die Rubel-Krise<br />
im nach USA und China drittwichtigsten<br />
Markt Russland, wo Adidas mehr als eine<br />
Milliarde Euro umsetzt, sowie den Einbruch<br />
im Golf-Geschäft um fast 20 Prozent.<br />
Doch die Gründe für die schwache Performance<br />
auf den letzten Metern seiner Laufbahn<br />
liegen tiefer und sind hausgemacht.<br />
Jahrelang, so Branchenkenner, hat Hainer<br />
sich zu sehr auf den Umsatz fixiert. Dadurch<br />
wuchsen zwar stetig die Erlöse, im<br />
Schnitt um acht Prozent pro Jahr auf zuletzt<br />
14,5 Milliarden Euro. Bei Hainers Amtsan-<br />
FOTO: CHRIS GLOAG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
70 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Zwei Jahre<br />
Nachspielzeit<br />
Adidas-Chef Hainer<br />
bleibt nur zu hoffen,<br />
dass der Aufsichtsrat<br />
ihm bis 2017 folgt<br />
tritt waren es erst sechs Milliarden. Gleichzeitig<br />
aber brach die operative Marge zwischen<br />
2004 und 2013 „dramatisch“ ein,<br />
monierte Fondsmanager Ingo Speich <strong>vom</strong><br />
Investor Union Investment. Adidas sei bei<br />
der Profitabilität nicht einmal Mittelmaß.<br />
Die eigentliche Ursache für die „langfristige<br />
Fehlentwicklung“ (Fondsmanager<br />
Speich) liegt nach Meinung von Experten<br />
jedoch darin, dass Hainer den US-Markt<br />
nicht geknackt und keine langfristigen Design-<br />
und Marketingkonzepte entwickelt<br />
hat. Während bei Nike mit Konzernchef<br />
Mark Parker zugleich der Chefdesigner die<br />
Marke führt, unterließ es Hainer zu lange,<br />
einen Gesamtverantwortlichen fürs Kreative<br />
zu installieren. „Der Konzern hat es über<br />
Jahre nicht geschafft, im Produktbereich<br />
die richtigen Weichen zu stellen“, sagt ein<br />
erfahrener Branchen-Manager. „Es fehlt<br />
die eigene Handschrift.“<br />
Und auch bei der Innovationskraft hat<br />
Hainer offenbar zu wenig gerissen. Insbesondere<br />
gegenüber Nike ist Adidas nach<br />
Zahlen der Münchner Kanzlei Grünecker<br />
bei den Patenten ins Hintertreffen geraten.<br />
Das liege auch an unterschiedlichen Strategien<br />
bei der Anmeldung, Nike melde „jedes<br />
Designmuster“ an, reden die Franken<br />
sich heraus. Doch „der Trend ist klar, Nike<br />
liegt mit weitem Abstand vorn, sei es bei<br />
Sportgeräten, Bekleidung, Schuhen oder<br />
der Kunststoffverarbeitung“, sagt Grünecker-Anwalt<br />
Ulrich Blumenröder. „Der<br />
Vorsprung, den Nike sich mit seinen Patenten<br />
auf dem europäischen Markt geschaffen<br />
hat, ist von der deutschen Sportartikelindustrie<br />
nur schwer aufzuholen.“<br />
RICHTUNG PLEITE<br />
Wer mit Hainer zu Fuß durch London geht,<br />
besser: rennt, sieht mehr von den Schuhen<br />
der Passanten als von der Stadt. Carnaby<br />
Street? Ja, ganz nett, immer schön, hier zu<br />
sein, aber da vorn: „Da, sehen Sie? Superstar“,<br />
ein klassisches Adidas-Modell. Zehn<br />
Meter weiter: „Aha: Gazelle“, auch von Adidas.<br />
Hainer ist ein Mann des gesenkten<br />
Blicks. Ständig will er sehen, was die Passanten<br />
an den Füßen tragen. Ist es ein Adidas-Modell,<br />
scheint es in seinem Kopf zu<br />
klingeln: Prima, wieder ein paar Euro verdient,<br />
wieder Umsatz gemacht.<br />
Hainer tickt so. Er ist Vertriebsmann,<br />
durch und durch. Als der Niederbayer im<br />
Frühjahr 1987 zu Adidas wechselt, bringt er<br />
seine Erfahrung aus acht Jahren beim Konsumgüterriesen<br />
Procter & Gamble mit. 14<br />
Tage nach Hainers Antritt bei Adidas als<br />
Vertriebsmanager stirbt Gründer-Sohn<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 71<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Gesenkter Blick<br />
Hainer muss vor<br />
allem seine<br />
Scharte auf dem<br />
wichtigen US-<br />
Markt auswetzen<br />
»<br />
und Konzernchef Horst Dassler. Adidas<br />
stürzt für Jahre ins Chaos, stramm in Richtung<br />
Pleite. Erst der Franzose Robert Louis-<br />
Dreyfus, der 1993 einsteigt, rettet das Unternehmen,<br />
indem er Fabriken in Europa<br />
dichtmacht, Produktion in Billiglohnländer<br />
verlagert und als Ex-Chef der Londoner<br />
Agentur Saatchi & Saatchi massiv auf Werbung<br />
setzt. Dreyfus’ Landsmann Christian<br />
Tourres, zuständig für die Finanzen, fördert<br />
Hainer. Der zieht 1997 in den Vorstand ein<br />
und wird im März 2001 Chef.<br />
Der lässige Franzose entstammt einer<br />
reichen Unternehmerdynastie, hat sich<br />
sein Harvard-Studium durch Pokergewinne<br />
finanziert und wird auch noch als Adidas-Chef<br />
wegen seiner legeren Kleidung<br />
schon mal mit dem Chauffeur verwechselt.<br />
Zögling Hainer ist Sohn eines Metzgers<br />
und finanzierte sein BWL-Studium in<br />
Landshut als Fußballstürmer in der Bayernliga,<br />
half in der elterlichen<br />
Fotos<br />
In unserer<br />
App-<strong>Ausgabe</strong><br />
finden Sie Bilder<br />
<strong>vom</strong> zähen Zweikampf<br />
zwischen<br />
Nike und Adidas<br />
Metzgerei aus und gründete nebenbei<br />
erfolgreich eine Kneipe.<br />
Bei Adidas an der Spitze, setzt<br />
Hainer zunächst Dreyfus’ Strategie<br />
fort und forciert die Internationalisierung.<br />
Gemeinsam mit<br />
seinem Marketingchef und Weggefährten<br />
Erich Stamminger entscheidet<br />
er, Adidas auch als Modemarke zu<br />
etablieren. Hainer bringt klassische Sportschuhe<br />
auf den Markt, die auf der Straße<br />
getragen werden. Es folgen modische Treter<br />
in Kooperation mit dem japanischen<br />
Stardesigner Yohji Yamamoto oder der<br />
Beatles-Tochter Stella McCartney. Mit der<br />
Freizeitmarke Neo für junge Käufer tritt er<br />
gegen den Billigkonkurrenten H&M an.<br />
GROSSER IRRTUM<br />
Gleichzeitig lernt Hainer von Widersacher<br />
Nike und investiert massig in Werbung.<br />
Das Konzept geht vordergründig auf; Mode<br />
und Sport treiben den Umsatz. Doch<br />
tatsächlich haben weder Hainer noch<br />
Stamminger eine echte Nähe zum kreativen<br />
Teil ihres Geschäfts.<br />
Hainer kann gut mit Händlern und ist bei<br />
den Krämern hoch angesehen, sein Duzfreund<br />
Stamminger kommt <strong>vom</strong> Nürnberger<br />
Marktforscher GfK und setzt<br />
auf Zahlen. Kreative Bauchmenschen<br />
sind Hainer und Stamminger<br />
beim besten Willen nicht.<br />
„Die besten Manager sind nicht<br />
die, die viele Ideen haben“, sagt<br />
Hainer einmal, „es sind die, die<br />
ein oder zwei Ideen kompromisslos<br />
in die Tat umsetzen.“<br />
Doch was, wenn diese Ideen nicht fruchten?<br />
2005 stellt sich Hainer zusammen mit<br />
Stamminger solche Fragen zumindest zu<br />
wenig. Stattdessen haben die beiden eine<br />
Idee, die sie kompromisslos in die Tat umsetzen<br />
wollen, die ihren Nimbus jedoch auf<br />
lange Sicht empfindlich ankratzen wird:<br />
Sie stoßen die Wintersportsparte Salomon<br />
ab und erklären nur zwei Monate danach,<br />
die US-Marke Reebok kaufen zu wollen.<br />
Hainers Ziel ist klar, er will Nike auf dem<br />
Heimatmarkt USA angreifen. 35 Prozent<br />
des Sportschuhmarktes hält der Konkurrent<br />
dort. „Ich glaube nicht, dass es die<br />
Märkte auf Dauer zulassen, dass ein Player<br />
so dominant ist“, hofft Hainer.<br />
Es war der große Irrtum, der Hainer, so<br />
sehr er in der Folgezeit auch den Umsatz<br />
von Adidas steigerte, für den Rest seiner<br />
Zeit als Konzernchef anhängen sollte. Die<br />
Marke ausgelutscht und unattraktiv, die<br />
Lager der Händler voll mit alter Ware,<br />
mickrige Margen – erst jetzt, acht Jahre<br />
später und nach mehrfachem Wechsel an<br />
der Reebok-Spitze, scheint Hainer bei der<br />
US-Tochter endlich Wachstum zu gelingen.<br />
Doch die Energie, die der Niederbayer<br />
dafür verwendete, fehlte ihm an anderer<br />
Stelle. Denn während Hainer Reebok rettet,<br />
dreht Nike von 2006 an unter seinem<br />
»<br />
72 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Von Visionen und Revolutionen<br />
Wie ein Visionär ein Unternehmen schuf, das die Zeitmessung revolutionierte<br />
Maßgebliche Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft begleiten<br />
die Menschheit seit Jahrtausenden und mitunter mündet<br />
das, was zunächst als Vision eines einzelnen Menschen<br />
begann, in einer Revolution. Es gibt dafür zahllose Beispiele,<br />
sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft.<br />
Manche Geschichten sind uns allen nur zu geläufig, aber<br />
es gibt auch zahllose Geschichten, die nicht so bekannt<br />
sind und von Dingen erzählen, die für uns heute zu Selbstverständlichkeiten<br />
des Alltags gehören, wie zum Beispiel<br />
eine genau gehende Uhr am Handgelenk. Kintaro Hattori,<br />
ein Uhrmacher aus Tokio, war ein solcher Visionär, der<br />
vor mehr als 130 Jahren ein Unternehmen gründete, das<br />
später die Welt der Zeitmessung revolutionieren sollte.<br />
Im Jahr 1881 eröffnete er als Uhrmacher ein kleines<br />
Uhrenreparaturgeschäft in Tokio. Doch schon bald stellte<br />
er fest, dass die Reparatur und der Verkauf von Uhren,<br />
die zur damaligen Zeit vor allem aus Europa und Amerika<br />
kamen, nicht die Erfüllung seines Lebens sein konnte. Er<br />
hatte das Ziel, noch bessere Uhren zu bauen, und begann<br />
mit der Fertigung eigener Modelle. Was zunächst mit<br />
Eigenbauten von Wand- und Tischuhren begann, entwickelte<br />
sich schnell zu einer industriellen Fertigung für<br />
den rasant wachsenden japanischen Markt. Ein bedeutender<br />
Schritt war die Aufnahme der Produktion von<br />
Taschenuhren, deren ausgezeichnete Qualität auch im<br />
japanischen Kaiserhaus eine hohe Anerkennung fand<br />
und die als offizielles Geschenk der Kaiserfamilie für<br />
besondere Gäste vergeben wurden. Ein weiterer Meilenstein<br />
war die Fertigung der ersten in Japan hergestellten<br />
Armbanduhr im Jahr 1913. Das Unternehmen von Kintaro<br />
Hattori wuchs schnell, aber er wusste auch, wie wichtig<br />
es war, sich stets weiterzuentwickeln, und sein Credo<br />
war, „den anderen immer einen Schritt voraus“ zu sein.<br />
Seine Vision, die genauesten Uhren der Welt zu bauen,<br />
brachte er durch die Wahl des Markennamens zum<br />
Ausdruck: „Seiko“ – das japanische Wort für Präzision.<br />
Doch es gab auch Rückschläge. Als im Jahr 1923 das<br />
Kanto-Erdbeben große Teile Japans und auch die<br />
Produktionsstätten von Seiko zerstörte, begann er sofort<br />
mit dem Wiederaufbau. Legendär ist die Geschichte, dass<br />
Hattori alle 1500 Uhren, die von Endverbrauchern bei<br />
Seiko zu Reparatur- und Wartungszwecken abgegeben<br />
worden waren und beim Erdbeben zerstört wurden,<br />
kostenlos ersetzte. In den folgenden Jahrzehnten setzten<br />
Hattoris Erben die Entwicklung des Unternehmens fort<br />
und begannen zunehmend neue internationale Märkte zu<br />
erschließen. In den 50er und 60er Jahren konzentrierte<br />
sich Seiko auf die Entwicklung hochwertiger mechanischer<br />
Armbanduhren, um auch im anspruchsvollen<br />
europäischen Markt bestehen zu können. 1968 konnte<br />
Seiko beim Chronometerwettbewerb des Genfer Observatoriums<br />
die höchste je vergebene Punktzahl erreichen<br />
und damit nachweisen, dass die Qualität der mechanischen Zeitmesser<br />
Kintaro Hattori, Firmengründer und Visionär.<br />
Die Quartz Astron, die welterste Quarzarmbanduhr.<br />
Die Astron GPS Solar, die welterste analoge<br />
Armbanduhr mit GPS Empfang und Zeitzonenerkennung.<br />
von Seiko denen der damals dominierenden Schweizer Marken ebenbürtig<br />
ist. Andererseits erkannte die Uhrenindustrie in<br />
den 60er Jahren, dass die Zukunft höhere Anforderungen<br />
an die Ganggenauigkeitvon Uhren stellt, die eine mechanische<br />
Armbanduhr nicht erfüllen kann. Es begann eine<br />
Zeit, in der in Kategorien von Zehntel- und Hundertstelsekunden<br />
gearbeitet wurde. Dazu bedurfte es neuer<br />
Zeitmesser. Am 25. Dezember 1969 präsentierte Seiko<br />
eine Armbanduhr, welche die Zeitmessung revolutionierte,<br />
die Seiko Astron. Die Seiko Astron war die erste<br />
Quarzarmbanduhr der Welt und die Wirklichkeit gewordene<br />
Vision von Kintaro Hattori, die genauesten Uhren<br />
der Welt zu bauen und „den anderen einen Schritt<br />
voraus“ zu sein. Die Quarztechnologie trat einen unvergleichlichen<br />
Siegeszug an und auch heute sind<br />
93 Prozent aller in Deutschland verkauften Uhren mit<br />
einem Quarzwerk ausgestattet, das nach denselben<br />
Prinzipien und mit denselben wesentlichen Bauteilen<br />
arbeitet wie die Seiko Astron aus dem Jahr 1969. Angetrieben<br />
von einer Batterie bieten Quarzuhren eine hohe<br />
Ganggenauigkeit und eine Robustheit, die heute im Alltag<br />
unerlässlich sind. Dennoch waren Seikos Ingenieure mit<br />
dem Produkt nicht ganz zufrieden, denn die Uhren bedürfen<br />
eines regelmäßigen Batteriewechsels, was nicht nur<br />
nutzerunfreundlich ist und zusätzliche Kosten verursacht,<br />
sondern auch die Umwelt schädigt. So suchte Seiko nach<br />
alternativen Energiesystemen und brachte bereits 1977<br />
die erste Solaruhr auf den Markt. 1988 folgte Kinetic, die<br />
erste Armbanduhr mit einem mechanischen Miniaturkraftwerk<br />
am Handgelenk. Heute sind zwei Drittel aller in<br />
Deutschland verkauften Seiko Uhren mit Uhrwerken ausgestattet,<br />
die keinen Batteriewechsel benötigen und<br />
damit unsere Umwelt schonen. Die Verbindung von Umweltschutz<br />
und modernsterTechnologie ist der Anspruch,<br />
der Seiko bei der Entwicklung seiner neuesten Produkte<br />
vorantreibt. So gelang es Seiko durch die Entwicklung<br />
eines eigenen patentierten GPS-Empfängers mit niedrigem<br />
Energieverbrauch eine Uhr zu kreieren, die Signale<br />
<strong>vom</strong> globalen GPS-Netzwerk empfangen und daraus die<br />
Uhrzeit und Zeitzone ermitteln kann. Dazu nutzt sie ausschließlich<br />
die Kraft des Lichts. Dieser bahnbrechende<br />
Zeitmesser trägt den Namen Seiko Astron. Wie ihre<br />
berühmte Vorgängerin aus dem Jahr 1969, die erste<br />
Quarzuhr der Welt, leitet die Seiko Astron GPS Solar eine<br />
neue Ära der Zeitmesstechnologie ein. Sie zeigt die Uhrzeit<br />
mit einer Gangabweichung von nur einer Sekunde in<br />
einhunderttausend Jahren an und benötigt dazu lediglich<br />
freie Sicht zum Himmel. Mit der Seiko Astron GPS Solar<br />
erfährt das Andenken an Kintaro Hattori und seine Vision,<br />
stets „den anderen einen Schritt voraus“ zu sein, eine<br />
besondere Würdigung. Es gibt keinen besseren Beleg für<br />
die unveränderte Gültigkeit dieses Leitspruchs als die<br />
Astron, eine Uhr, auf dieKintaro Hattori stolz wäre.
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Die perfekte Verbindung von Zeit und Raum<br />
Der Ursprung unserer Zeit<br />
Zeit ist allgegenwärtig. Unser ganzes Leben wird von zeitlichen Abläufen<br />
geprägt. Aber wo liegt eigentlich der Ursprung unserer Zeitmessung?<br />
Historisch betrachtet liegt der Ursprung unserer Zeitmessung<br />
in der Astronomie, denn die Erde dreht sich in 24 Stunden einmal um<br />
ihre Achse und eine Sekunde ist exakt der 86400. Teil eines mittleren<br />
Sterntages. So sagten es zumindest Wissenschaftler um 1900 und<br />
diese Definition hatte bis 1967 Bestand. Moderne Methoden der<br />
Zeitmessung mit Quarzuhren bewiesen dann aber, dass sich die<br />
Erde doch nicht völlig gleichmäßig bewegt und die Uhren mittels<br />
Schaltsekunden, die alle zwei bis fünf Jahre eingefügt werden, wieder<br />
an den astronomischen Rhythmus angepasst werden müssen. Seit<br />
1967 ist die sogenannte Atomsekunde Grundlage unserer Zeitmessung<br />
und Atomuhren sind die genauesten Uhren auf der Welt.<br />
Die Erde aufgeteilt in eine Million Quadrate<br />
Die Astron GPS Solar nutzt das GPS-Satellitensystem nicht nur zur<br />
Abfrage hochpräziser Zeitsignale, sondern ist die erste Uhr, die ihrem<br />
Standort auch die richtige Zeitzone* zuweist und die Ortszeit automatisch<br />
einstellt. Mit nur einem Knopfdruck verbindet sie sich mit<br />
mindestens vier der in einer Entfernung von 20.000 km über der Erde<br />
rotierenden Satelliten, ermittelt den Standort, weist die entsprechende<br />
Zeitzone* zu und stellt sich auf die Ortszeit ein. Dazu hat Seiko die Erde<br />
in eine Million Quadrate unterteilt und jedem der Quadrate die korrekte<br />
Zeitzone* zugewiesen.<br />
Das Geheimnis liegt im Energiemanagement<br />
Die Kombination von Seikos Solartechnologie mit GPS erforderte Jahre<br />
mühsamer und bahnbrechender Forschung und Entwicklung, die zu<br />
nicht weniger als 100 Patentanmeldungen geführt hat. Nur Seikos fortgeschrittene<br />
Technologien in der Energieeffizienz ermöglichten die<br />
Erfindung eines Mini-GPS-Empfängers, der so wenig Energie zum<br />
Empfang eines GPS-Signals von vier oder mehr Satelliten benötigt.<br />
Bei der Zeitzonenabfrage verbraucht die Astron GPS Solar 10.000-mal<br />
mehr Energie als eine reguläre Quarzuhr und 200-mal so viel Energie<br />
wie eine Funkuhr. Seiko entwickelte daher ein GPS-Modul, das bei der<br />
Signalsuche weniger als 10 % der Energie herkömmlicher GPS-Geräte<br />
verbraucht und Satelliten mit schlechtem Empfang nicht berücksichtigt.<br />
Die Astron GPS Solar verbindet sich auf Knopfdruck mit vier oder mehr GPS-Satelliten.<br />
Hochpräzise Uhrzeit am Handgelenk<br />
Während Funkuhren nur in begrenzten Bereichen einiger Kontinente<br />
funktionieren, empfängt die Astron Zeitsignale überall auf der Welt.<br />
Um die exakte Uhrzeit anzuzeigen, nutzt die Astron GPS Solar das<br />
amerikanische Global Positioning System (GPS). Jeder der zur Zeit im<br />
Umlauf befindlichen 31 GPS-Satelliten, die die komplette Erdoberfläche<br />
abdecken, ist mit einer Atomuhr ausgestattet und sendet hochpräzise<br />
Zeitsignale mit einer Abweichung von lediglich einer Sekunde in<br />
einhunderttausend Jahren. Die Astron GPS Solar empfängt in der<br />
Regel einmal täglich automatisch das Zeitsignal eines GPS-Satelliten<br />
und führt bei Notwendigkeit eine Anpassung durch. Zusätzlich kann<br />
das Zeitsignal auch manuell abgefragt werden. Bei guten Empfangsbedingungen<br />
dauert die Abfrage lediglich sechs Sekunden.<br />
*Die Zeitzonendaten entsprechen beim Kaliber 7X dem Stand Januar 2012 und beim<br />
Kaliber 8X dem Stand Januar 2014.<br />
Bei Notwendigkeit kann die Zeitzone auch manuell eingestellt werden.<br />
Die Astron GPS Solar nutzt ausschließlich die Energie des Lichts und benötigt keinen Batteriewechsel.<br />
Umweltfreundliche Energie ohne Batteriewechsel<br />
Die neue Seiko Astron ist solarbetrieben und erfordert daher keinen<br />
Batteriewechsel. Sie nutzt ausschließlich die Energie des Lichts, um<br />
sich mit dem GPS-Netzwerk zu verbinden. Egal ob Sie sich auf der<br />
Spitze eines Berges, mitten auf dem Ozean oder in einer verlassenen<br />
Wüste befinden, dank des Solarantriebs sind Sie unabhängig und die<br />
Uhr zeigt Ihnen immer die exakte Ortszeit an.
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Die perfekte Verbindung von Zeit und Raum<br />
Bequem, einfach und angenehm zu tragen<br />
Die Seiko Astron zu tragen ist ein einfaches Vergnügen. Wenn Sie nach<br />
einer langen Reise aus dem Flugzeug steigen, brauchen Sie nur einen<br />
Knopf zu drücken und die Zeitzone wird automatisch eingestellt.<br />
Es dauert nur sechs Sekunden, bis die Zeit angepasst ist, und nur<br />
30 Sekunden, um den Standort zu lokalisieren. Die Einstellung erfolgt<br />
unabhängig davon, ob Sie stehen oder sich bewegen. Immer wenn Sie<br />
den Himmel sehen können, wissen Sie, wie spät es ist. Die Anpassung<br />
von Winter- auf Sommerzeit und umgekehrt erfordert nur einen Knopfdruck<br />
und das Datum ist immer korrekt eingestellt. Der Ewige Kalender<br />
der Seiko Astron zeigt Ihnen bis zum 28. Februar 2100 das richtige<br />
Datum an. Die schon einfache Bedienung wird durch Seikos Solartechnologie<br />
zusätzlich erleichtert, da dadurch keine Wartung nötig ist.<br />
Astron GPS Solar und Novak Djokovic<br />
Als der serbische Tennisstar und Weltranglistenerste Novak Djokovic<br />
im Januar 2014 Seiko als Uhrenpartner auswählte, erweckte besonders<br />
die neue Seiko Astron GPS Solar Kollektion seine Aufmerksamkeit.<br />
Als Tennisspieler reist Novak Djokovic zu Turnieren in der ganzen Welt<br />
und er müsste seine Armbanduhr im Jahr ca. 60-mal der jeweiligen<br />
Zeitzone am Turnierort anpassen – diese Arbeit erledigt für ihn die<br />
Seiko Astron GPS Solar. Als Zeichen der Partnerschaft und engen<br />
Verbundenheit mit Novak Djokovic hat Seiko eine ganz besondere Uhr<br />
kreiert, die Seiko Astron GPS Solar „Novak Djokovic Limited Edition“.<br />
Der Astron GPS Solar Chronograph. Die genaue Uhrzeit am Handgelenk - jetzt auch mit Stoppfunktion.<br />
Die Astron GPS Solar "Novak Djokovic Limited Edition" - die exakte Uhrzeit an jedem Turnierort der Welt.<br />
Astron GPS Solar<br />
nun auch mit Chronographenfunktion<br />
Der neue Astron GPS Solar Chronograph erweitert die erfolgreiche<br />
GPS-Solar-Kollektion. Beide GPS-Solar-Kaliber nutzen ausschließlich<br />
die Energie des Lichts, um sich mit dem GPS-Netzwerk zu verbinden,<br />
geben die Zeit mit der Präzision einer Atomuhr wieder und stellen sich<br />
auf Knopfdruck automatisch auf jede Zeitzone* der Welt ein. Zusätzlich<br />
bietet der GPS-Solar Chronograph vier neue Funktionen, die auf der<br />
Grundlage zahlreicher Hinweise von Händlern und Endverbrauchern<br />
aus der ganzen Welt entwickelt wurden. Er verfügt über eine Stoppfunktion<br />
von bis zu 6 Stunden in 1/5-Sekunden-Schritten. Gleichzeitig<br />
ist er kleiner und entspricht in seinen Abmessungen denen der meisten<br />
Multifunktions-Uhren. Dank weiterer Fortschritte in der Energieeffizienz<br />
kann die Astron die Verbindung zum GPS-Netzwerk nun mit einer<br />
kleineren Antenne herstellen. Die einfache „One-Touch“-Bedienung<br />
der GPS-Funktion wurde nicht verändert; drücken Sie einfach einen<br />
Knopf für sechs Sekunden und die GPS-Funktion der Astron wird aktiviert.<br />
Die weiteren Funktionen, wie zum Beispiel die manuelle Einstellung<br />
der Zeitzone, sind durch eine elektronische Krone leichter<br />
zugänglich und einfacher zu bedienen. Dank neuer, extrem lichtdurchlässiger<br />
Zifferblätter sind nun auch neue Zifferblattfarben möglich.<br />
Die Astron Revolution geht weiter<br />
Mit nunmehr zwei Kalibern und 20 Modellen macht die Astron einen<br />
weiteren wichtigen Schritt in Richtung Zukunft. Keine andere Uhr<br />
der Welt könnte besser Kintaro Hattoris Vision zum Ausdruck bringen,<br />
„den anderen stets einen Schritt voraus“ zu sein. Zur Verbindung mit<br />
dem GPS-Netzwerk ausschließlich die Energie des Lichts zu nutzen,<br />
war bereits eine fantastische Errungenschaft. Die zusätzliche Chronographen-Funktion,<br />
die elektronische Krone und die kleineren Gehäuseabmessungen<br />
zeigen, dass die Astron die Grenzen dessen, was eine<br />
Uhr alles leisten kann, neu definiert. Die Astron Kollektion 2014 setzt<br />
neue Maßstäbe in der Fertigung elektronischer Uhren. Und das ist erst<br />
der Anfang.<br />
Mit der Nutzung von Zeitsignalen aus dem Weltall verbindet die Seiko<br />
Astron GPS Solar die exakte Uhrzeit am Handgelenk mit den Weiten<br />
des Weltraums und dem Ursprung unserer Zeitmessung.<br />
*Die Zeitzonendaten entsprechen beim Kaliber 7X dem Stand Januar 2012 und beim<br />
Kaliber 8X dem Stand Januar 2014.<br />
Bei Notwendigkeit kann die Zeitzone auch manuell eingestellt werden.
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www.seiko-astron.de<br />
astron gps solar chronograph.<br />
die uhr, die sich ihrer zeitzone<br />
anpasst*.<br />
Die neue Astron verbindet sich mit nur einem Knopfdruck mit dem<br />
GPS-Netzwerk und stellt sich auf die Ortszeit Ihrer Zeitzone* ein.<br />
Dafür nutzt sie ausschließlich Lichtenergie und benötigt keinen<br />
Batteriewechsel.<br />
*Die Zeitzonendaten entsprechen dem Stand Januar 2014. Bei Notwendigkeit kann die<br />
Zeitzone auch manuell eingestellt werden.<br />
DER PERFEKTION VERPFLICHTET
Unternehmen&Märkte<br />
FOTOS: CHRIS GLOAG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, GETTY IMAGES/AFP<br />
»<br />
neuen Chef Parker in den USA mächtig<br />
auf. Und die Amerikaner schaffen, was<br />
Hainer Jahre zuvor nicht glauben konnte:<br />
Zusammen mit der Tochtermarke Jordan<br />
kommt Nike heute im US-Handel auf einen<br />
Marktanteil von mehr als 60 Prozent. Hainer<br />
dagegen musste bei Adidas von 2005<br />
an einen Rückgang von zehn auf heute<br />
sechs Prozent hinnehmen. Bei Reebok, seiner<br />
erhofften Waffe gegen Nike, sackte der<br />
Anteil gar von 8,0 auf nur noch 1,8 Prozent<br />
ab. Statt drei Milliarden Euro, wie zunächst<br />
2010 im Businessplan vorgesehen, hofft<br />
Hainer nun, 2015 zwei Milliarden Euro mit<br />
Reebok einzunehmen.<br />
Die Rücknahme des Ziels für die US-<br />
Tochter hat für Hainer Konsequenzen, die<br />
ihn seinen Zenit bei Adidas noch vor dem<br />
offiziellen Vertragsende überschreiten lassen.<br />
Denn weil Reebok nicht wie erhofft vorankommt,<br />
erhöht er den Druck auf die anderen<br />
Sparten – mit fatalen Folgen.<br />
So verlangt Hainer von seiner Golfsparte<br />
TaylorMade 2,2 statt 1,8 Milliarden Euro<br />
Umsatz bis 2015. Um das Ziel zu erreichen,<br />
sagen Insider, lässt er maximal Ware in die<br />
Läden pumpen. Doch die will keiner. Auch<br />
der Golfsport bekommt sein Generationenproblem,<br />
hippe junge Betuchte frönen<br />
lieber dem Modesport CrossFit. Als dann<br />
noch der Verfall des Rubel dazukommt,<br />
bleibt Hainer Ende Juli, wenige Tage nach<br />
dem WM-Triumph der deutschen Fußballmannschaft,<br />
nur noch, das selbst gesteckte<br />
Umsatzziel für 2014 und 2015 zu kassieren.<br />
Handelsmanager, die Hainer lange kennen,<br />
zeigen sich davon überzeugt, dass<br />
Hainer nicht aufstecken, sondern alles versuchen<br />
wird, es seinen Kritikern zu zeigen.<br />
„Der Herbert“, sagt ein Branchenkenner,<br />
„ist ein zäher Hund, das ist ein Steher.“<br />
Doch Hainer weiß, dass es an ihm allein<br />
nicht mehr liegen wird. Die Hauptlast hat<br />
er Eric Liedtke übertragen, einem 48-jährigen<br />
Amerikaner, der zuvor die Schuhe und<br />
Shirts für Leistungssportler verantwortete.<br />
Liedtke hat die Schwachstellen wohl erkannt.<br />
Vor Kurzem erst wurde bekannt,<br />
dass er mit Paul Gaudio erstmals seit dem<br />
Weggang des früheren Adidas-Design-<br />
Chefs Michael Michalsky 2006 wieder einen<br />
globalen Kreativdirektor installiert hat,<br />
einen alten Schulfreund, wie er per Mail an<br />
die Mitarbeiter bestätigte.<br />
Seine Basis schlägt Gaudio in der Adidas-US-Zentrale<br />
in Portland im Bundesstaat<br />
Oregon auf, wo auch Konkurrent Nike<br />
seinen Hauptsitz hat. Zusammen mit dem<br />
Ex-TaylorMade-Chef Mark King, ebenfalls<br />
einem Amerikaner, der neuer US-Chef von<br />
Show gestohlen Nike-Chef Mark Parker gilt<br />
als oberster Kreativer des Adidas-Rivalen<br />
Adidas wird, soll Liedtke endlich in den<br />
Vereinigten Staaten Boden gutmachen.<br />
Zudem ließ Hainer Liedtke drei neue<br />
Stardesigner anheuern. Zu ihnen zählt der<br />
Kroate Denis Dekovic, der bei Nike an der<br />
Entwicklung völlig neuer Schuhe mitwirkte,<br />
die das moderne Image der Marke prägen.<br />
Dazu zählt der Magista, ein Fußballschuh<br />
mit gestrickter Oberfläche, mit dem<br />
Aktien-Info Adidas<br />
ISIN DE000A1EWWW0<br />
Index: 1.1.2001 =100<br />
700<br />
600<br />
Adidas<br />
500<br />
400<br />
300<br />
Nike<br />
200<br />
100<br />
0<br />
2001 2005 2010 2014<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Umsatz(Mrd. €)<br />
Mitarbeiter<br />
Gewinn (Mio. €)<br />
Umsatzrendite (in %)<br />
Eigenkapitalrendite (in %)<br />
Brutto-Marge (in %)<br />
Kurs (in €)<br />
KGV 2013<br />
Börsenwert (in Mrd. €)<br />
Niedrig<br />
Geschäftsjahr 2013; Quelle: Bloomberg,<br />
Thomson Reuters, Unternehmen<br />
Adidas<br />
14,5<br />
50728<br />
839<br />
5,8<br />
14,3<br />
49<br />
57,75<br />
15,2<br />
12,1<br />
Nike<br />
20,5<br />
56500<br />
1990<br />
9,7<br />
24,6<br />
45<br />
72,28<br />
31,1<br />
62,4<br />
Hoch<br />
Die Adidas-Gruppe hat die Gewinnaussichten für 2014<br />
von bis zu 930 Millionen auf nur noch 650 Millionen Euro<br />
gekappt, und noch gibt es keine klare Ansage, wie der<br />
Konzern auf das Reebok-Angebot reagieren will. Das<br />
sorgt für Unsicherheit.<br />
die Amerikaner Adidas bei der WM in Brasilien<br />
die Show stahlen. Zwar gewann<br />
Deutschland in Adidas-Trikots den Titel,<br />
doch an den Füßen trug Siegtorschütze<br />
Mario Götze den Magista. Der Schuh steht<br />
heute wie ein steter Stachel in Hainers Wade<br />
im Nike-Laden in Berlin.<br />
Es sind vor allem die jungen Konsumenten,<br />
die die Schwächen der Franken erspüren.<br />
Zwar führt Adidas in einem kürzlich<br />
veröffentlichten Ranking des Hamburger<br />
Beratungsunternehmens Brandmeyer in<br />
Deutschland die Liste der beliebtesten<br />
Marken an, vor BMW und Nike.<br />
Doch bei den Jungen sieht das Bild ganz<br />
anders aus. Nur fünf Prozent der 14- bis<br />
17-Jährigen nennen Adidas als Lieblingsmarke.<br />
Für Nike votieren dagegen 36 Prozent.<br />
Hainer muss das schmerzen. Denn<br />
eigentlich hatte er bei der WM viel Geld in<br />
eine Social-Media-Redaktion gesteckt sowie<br />
die Popstars Justin Bieber und Katy<br />
Perry als Werbegrößen für seinen Modeableger<br />
Neo engagiert. Wozu das alles, muss<br />
er sich jetzt fragen lassen, wenn die Kids<br />
dann doch zu Nike greifen?<br />
Die Shirts und Schuhe, die die neuen<br />
Verantwortlichen nun aushecken, werden<br />
sich frühestens 2016 in mehr Umsatz und<br />
Gewinn niederschlagen. Bis dahin probiert<br />
es Hainer mit noch mehr Werbung und will<br />
2015 die größte Kampagne der Unternehmensgeschichte<br />
starten. Ihm selbst bleibt<br />
nur, darauf zu setzen, dass sein Aufsichtsrat<br />
ihm folgt.<br />
Der ist zwar handverlesen und gilt als<br />
recht zahm. Doch allmählich sind Stimmen<br />
zu hören, die einen Start in die systematische<br />
Nachfolgesuche für den ewigen<br />
Herbert fordern. Bislang, heißt es in Aufsichtsratskreisen,<br />
sei da noch nichts passiert.<br />
Dabei werde es doch „höchste Zeit“. n<br />
peter.steinkirchner@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 73<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen<br />
»Mach Platz,<br />
Zuck!«<br />
SOCIAL MEDIA | Pinterest zählt zu den wertvollsten Startups<br />
der Welt. Kann das Netzwerk tatsächlich Marktführer<br />
Facebook gefährlich werden? Ein Ortstermin.<br />
Unter lichtdurchfluteten Deckenfenstern<br />
hängen gestreifte<br />
Mini-Heißluftballons. An<br />
den Wänden stehen Puppenhäuser,<br />
Fahrräder, eine Bar<br />
wie aus dem Westernsaloon, Legobausteine,<br />
Leuchtreklamen, Geschenkpapier und<br />
ein zum Schreibtisch umfunktionierter<br />
Ford Mustang. Alles wirkt im Hauptquartier<br />
von Pinterest in San Francisco, als ob<br />
sich Innenarchitekten und Nostalgiafans<br />
gegenseitig übertreffen wollten.<br />
Alle Wege in dem zweistöckigen Lagerhaus<br />
aus roten Ziegelsteinen – einst stapelten<br />
sich hier Schuhkartons – führen zur<br />
Mitte des Gebäudes, die wie ein Marktplatz<br />
wirkt. Dort sind lange Tische aufgebaut, an<br />
denen Manager und Mitarbeiter essen und<br />
diskutieren, flankiert von einer modernen<br />
Küche, Kaffeeautomaten und gläsernen<br />
Kühlschränken mit Getränken und Joghurtbechern.<br />
An diesem Dienstagmittag<br />
Riese unter den Zwergen<br />
Welchen Anteil soziale Netzwerke an der<br />
Nutzung von mehr als 200000 Web-Seiten<br />
weltweit haben*<br />
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Pinterest<br />
LinkedIn<br />
2013 2014<br />
* in Prozent der Besucherzahl; Quelle: Shareaholic<br />
Twitter<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
im späten Oktober gibt es Pizza, Salat und<br />
Hühnchen.<br />
Das Auge ist verwirrt. Der Besucher weiß<br />
nicht, wohin er zuerst schauen soll. Aber<br />
schnell wird klar: Das Chaos ist inszeniert.<br />
Es steckt eine Ordnung in den Dingen. Alle<br />
Gegenstände haben ihren thematischen<br />
Platz, wurden von den Designern bewusst<br />
ausgewählt. Das vermeintliche Durcheinander<br />
symbolisiert den Zweck von Pinterest.<br />
Das Start-up verwaltet ein Sammelsurium<br />
von 30 Milliarden Objekten – die<br />
größte digitale Wandzeitung des Internets.<br />
SCHAUFENSTER FÜR PRODUKTE<br />
Sie ist die Fleißarbeit der aktuell 70 Millionen<br />
Nutzer, die ihre Fundstücke – eigene,<br />
vor allem aber auch im Web entdeckte Bilder<br />
– an ihr digitales Schwarzes Brett pinnen.<br />
Daher der Name der Plattform. Entstanden<br />
ist eine gigantische Fundgrube aus<br />
all dem, was das Internet an interessanten<br />
Dingen zu bieten hat. Damit ist Pinterest so<br />
etwas wie die virtuelle Schaufensterfront<br />
des World Wide Web.<br />
Ob Brautsträuße, Kücheneinrichtungen,<br />
Whiskeymarken, Laufschuhe, Strickwesten,<br />
Landschaften, Tiere oder Tattoos:<br />
Knapp 800 Millionen individuelle Wandzeitungen<br />
– die Boards – sind in den vergangenen<br />
vier Jahren entstanden. Jeder<br />
Nutzer hat im Schnitt elf von ihnen.<br />
Angesichts dieser Zahlen kürte das US-<br />
Wirtschaftsmagazin „Forbes“ Pinterest sogar<br />
schon zum Nachfolger von Facebook.<br />
„Mach Platz, Zuck“, titelte es jüngst in Anspielung<br />
auf dessen Gründer Mark Zuckerberg.<br />
Eine tollkühne Prognose für ein Startup,<br />
das gerade erst angefangen hat, Geschäftsmodelle<br />
zu testen, und immer noch<br />
Verluste schreibt. Noch muss sich Zuckerberg<br />
jedenfalls nicht fürchten. Facebook<br />
hat rund 1,3 Milliarden Profile. Twitter ungefähr<br />
270 Millionen Konten. Pinterest ist<br />
mit seinen 70 Millionen Nutzern klein.<br />
Mehr noch: Facebook hält den Markt für<br />
soziale Netzwerke fest im Griff und hat die<br />
Wettbewerber in Nischen gedrängt. „Pinterest<br />
muss sich erst im Markt beweisen“,<br />
meint Nate Elliott <strong>vom</strong> US-Marktforscher<br />
Forrester Research, ein bekannter Experte<br />
für soziale Medien. Und nicht wenige einst<br />
gefeierte Start-ups wie MySpace, Second<br />
FOTOS: GABOR EKECS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
74 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Kreative Wuschelköpfe<br />
Ben Silbermann (links), CEO<br />
von Pinterest, und Mitgründer<br />
Evan Sharp im Atrium der<br />
Firmenzentrale<br />
56 %<br />
der aktiven<br />
Nutzer von<br />
Pinterest sind<br />
weiblich<br />
Life, Bebo und Path sind<br />
heute: vergessen.<br />
Auch deshalb fragt sich<br />
mancher, ob überhaupt<br />
noch Platz ist für ein weiteres<br />
soziales Netzwerk?<br />
Kurz gesagt: Wenn eine Firma<br />
das Zeug hat, es zu schaffen, dann ist<br />
es Pinterest. Den Aufschluss bringt der<br />
Ortstermin, ein Tag voller Gespräche mit<br />
den Managern der Bilderplattform in der<br />
Firmenzentrale in San Francisco. Der<br />
Grund ist, dass die Mitglieder des Netzwerks<br />
für die Werbewirtschaft<br />
so attraktiv sind<br />
wie in kaum einer anderen<br />
Community.<br />
Das liegt an einem wichtigen<br />
Unterschied zu Facebook.<br />
Der Marktführer dient vor allem<br />
der Kommunikation mit Freunden<br />
und Bekannten. Dagegen haben die Pinterest-Gründer<br />
ihre Plattform als Einkaufsbegleiter<br />
konzipiert.<br />
Die Nutzer suchen gezielt nach interessanten<br />
Dingen, müssen nicht erst auf Pro-<br />
duktseiten gelockt werden. Ihre Boards<br />
dienen zur Selbstdarstellung – auch um<br />
den eigenen Geschmack zu demonstrieren<br />
und sich wie bei Twitter von möglichst<br />
vielen Fans bestätigen zu lassen. So ist etwa<br />
die Kategorie Hochzeit in den USA besonders<br />
populär. 56 Prozent der Nutzer<br />
sind weiblich.<br />
Und weil jedes der Pins genannten Bilder<br />
mit Originalquelle verknüpft ist, leitet<br />
auch der Klick auf kommerzielle Fotos direkt<br />
zu den zugehörigen Web-Seiten – von<br />
kleinen Blogs über Modemagazine wie<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 75<br />
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Technik&Wissen<br />
»<br />
„Vogue“ bis hin zu Online-Handelsseiten<br />
wie Net-a-porter oder Etsy.<br />
„Pinterest ist bei den sozialen Medien<br />
nach Facebook der größte Garant für Besucherverkehr<br />
für andere Web-Seiten“, erklärt<br />
Danny Wong <strong>vom</strong> Marktforschungsunternehmen<br />
Shareaholic aus Boston<br />
(siehe Grafik Seite 74), was die Plattform<br />
ökonomisch so interessant macht.<br />
MILLIONEN DOLLAR GESAMMELT<br />
Auch für Investoren. 762 Millionen Dollar<br />
Risikokapital hat Pinterest in den vergangenen<br />
vier Jahren eingesammelt. Die<br />
jüngste Runde im Mai soll 200 Millionen<br />
Dollar gebracht und den Wert des Startups<br />
auf fünf Milliarden Dollar getrieben<br />
haben.<br />
Damit läge es derzeit auf Platz<br />
neun der zehn wertvollsten<br />
Start-ups der Welt, die der<br />
Taxidienstleister Uber mit<br />
18 Milliarden Dollar anführt.<br />
Zum Vergleich: Die<br />
New York Times Mediengruppe<br />
hat derzeit nur 1,8<br />
Milliarden Dollar Börsenwert.<br />
Entsprechend entspannt<br />
sitzt Ben Silbermann, CEO und<br />
Mitgründer von Pinterest, deshalb an<br />
diesem Tag in der zweiten Etage der Firmenzentrale.<br />
Aktuell ist sein Platz an einem<br />
Tisch mitten unter den Entwicklern –<br />
alle paar Wochen pendelt er zwischen den<br />
verschiedenen Abteilungen. Kühn grenzt<br />
sich der 32-jährige Amerikaner <strong>vom</strong> Wettbewerber<br />
ab. „Facebook dreht sich mehr<br />
um die Vergangenheit, um Erlebtes auszutauschen“,<br />
behauptet er. „Twitter ist mehr<br />
das Hier und Jetzt, was gerade geschieht.“<br />
Sein eigenes Unternehmen sieht er wenig<br />
überraschend als zukunftsweisend: „Es<br />
geht darum, was unsere Nutzer vorhaben.“<br />
Also ein Haus einzurichten oder eine<br />
Hochzeit vorzubereiten, beides milliardenschwere<br />
Märkte. Selbst Internet-Gigant<br />
Google weist Silbermann einen Platz zu.<br />
Europäer lieben Facebook<br />
* Auswahl wichtiger Länder; Quelle: Forrester Research, 2014<br />
20 %<br />
der 16- bis<br />
24-Jährigen in<br />
den USA sind<br />
auf Pinterest<br />
präsent<br />
„Bei der Suchmaschine müssen Sie wissen,<br />
was Sie wollen“, meint er. „Wir hingegen<br />
helfen Ihnen dabei, Dinge zu entdecken<br />
und zu planen.“<br />
Ein Beispiel für Größenwahn, der bekanntlich<br />
reichlich vorhanden ist in der Internet-Branche,<br />
vor allem in Kalifornien?<br />
Doch Silbermann gilt nicht als Aufschneider.<br />
Ganz im Gegenteil. Im High-Tech-Tal<br />
ist der Chef von Pinterest für sein bescheidenes<br />
Auftreten bekannt. Er ist schüchtern,<br />
nimmt sich selbst nicht so wichtig und<br />
kann über sich lachen. Etwa wenn er erzählt,<br />
wie ihm die Schweißperlen auf der<br />
Stirn standen, als mitten in seiner Präsentation<br />
die Investoren den Raum verließen.<br />
Der Grund: Auf dem Gang wurden gerade<br />
frische Kekse serviert. Silbermanns Erkenntnis:<br />
Auch Multimillionäre<br />
können Gratisgaben nicht widerstehen.<br />
Mit seiner überlegten<br />
Art würde der CEO auch<br />
gut in die Rolle des Arztes<br />
passen, der besorgte Patienten<br />
beruhigt. Wahrscheinlich<br />
hat sein Zuhause<br />
abgefärbt. Der Gründer<br />
stammt aus einer Doktorenfamilie.<br />
Seine Eltern Jane<br />
Wang und Neil Silbermann sind Augenärzte,<br />
auch seine beiden Schwestern<br />
sind Mediziner. Für Ben Silbermann, der in<br />
Des Moines im US-Bundesstaat Iowa aufwuchs,<br />
lag eine medizinische Karriere nahe.<br />
Lange Zeit sah es auch danach aus.<br />
„Technik-Start-ups waren bei uns im Mittleren<br />
Westen wie von einem fremden Stern“,<br />
sagt er. Um die Jahrtausendwende im College<br />
entdeckte er sein Interesse fürs Internet.<br />
Nach dem Studium der Politikwissenschaften<br />
in Yale und Jobs als externer IT-Berater<br />
für Kunden wie den Fast-Food-Riesen<br />
McDonald's und den Ölkonzern Chevron<br />
wurde ihm endgültig bewusst: Seine wahre<br />
Passion gehörte der Bits-und-Bytes-Branche.<br />
Um Großes zu erreichen, musste er in<br />
deren Epizentrum – ins Silicon Valley.<br />
Welche sozialen Netzwerke Bürger in Europa mindestens einmal pro Monat besuchen<br />
(Auswahl, in Prozent)<br />
Facebook Google+ Twitter LinkedIn Pinterest<br />
Europa* 61 13 14 8 3<br />
Deutschland 56 12 8 3 2<br />
Im Dezember 2006 ergatterte Silbermann<br />
einen Job bei Google. Im kalifornischen<br />
Mountain View war er nun dafür zuständig,<br />
das Feedback von Werbekunden<br />
auszuwerten und an die Entwickler weiterzugeben.<br />
Doch die Aufgabe füllte ihn nicht<br />
aus. Er träumte von seiner eigenen Firma.<br />
Eine Idee hatte er: Eine Software sollte für<br />
den Nutzer Produktinformationen im Web<br />
sammeln, die er via Smartphone überall<br />
hin mitgenehmen könnte, wie einen persönlichen<br />
Einkaufskatalog. Bis seiner damaligen<br />
Freundin und heutigen Ehefrau<br />
Divya, im Silicon Valley bekannt als Facebooks<br />
erste Personalmanagerin, die Träumereien<br />
zu bunt wurden. „Sie sagte, ich<br />
solle entweder damit aufhören oder endlich<br />
loslegen“, erinnert er sich.<br />
Trotz der Finanzkrise, die im September<br />
2008 Amerikas Unternehmer in Schrecken<br />
versetzte, kündigte Silbermann seinen krisensicheren<br />
Job bei Google. Und tat sich<br />
mit Paul Sciarra zusammen, einem befreundeten<br />
Wagnisfinanzierer. Die beiden<br />
gründeten Cold Brew Labs und setzten<br />
Silbermanns Idee mit einer iPhone-App<br />
namens Tote (deutsch: Einkaufstasche) um.<br />
Doch sie kamen zu früh. Es gab noch relativ<br />
wenige iPhone-Nutzer. Die App war<br />
kostenlos, das Geschäftsmodell unklar.<br />
Mitten in der Finanzkrise konnten sie zudem<br />
nur schwer Kapital einwerben. Das<br />
Scheitern vor Augen, entschied sich das<br />
Gründerpaar für den Neustart. Sie beerdigten<br />
Tote und konzentrierten sich stattdessen<br />
auf das Web. Im Herbst 2009 begannen<br />
die Arbeiten an Pinterest. Im März 2010<br />
startete die Web-Seite offiziell. Für das Umsetzen<br />
des Produkts rekrutierte Silbermann<br />
den Facebook-Designer Evan Sharp.<br />
Der erwies sich als so wichtig, dass er den<br />
Titel „Mitgründer“ erhielt.<br />
SCHWIERIGER NEUSTART<br />
Obwohl die Gründer all ihre Freunde und<br />
Verwandten kontaktierten, war das Echo<br />
enttäuschend – nur 3000 Nutzer fanden<br />
sich. Silbermann holte sich reihenweise<br />
Körbe bei Geldgebern. „Nur wenige verstanden<br />
unsere Idee, noch weniger wollten<br />
investieren“, erinnert er sich.<br />
Dann kam das Web zur Hilfe. Eine Bloggerin<br />
entwarf im Frühjahr 2010 eine Kampagne,<br />
bei der Pinterest-Nutzer auf ihren<br />
digitalen Wandzeitungen darstellen sollten,<br />
was für sie Heimat bedeutet. Die Idee<br />
traf einen Nerv. Wer mitmachte, lud seine<br />
Freunde ein, plötzlich regte sich Leben auf<br />
der Plattform. Den Durchbruch brachte<br />
der Start der iPhone-App 2011. Inzwischen<br />
76 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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1<br />
2<br />
3<br />
FOTOS: GABOR EKECS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
war der Smartphone-Markt reif, auf einmal<br />
nutzten Millionen Pinterest. Plötzlich<br />
konnten sich die Jungunternehmer nicht<br />
mehr vor Investoren retten.<br />
Allein in 2011 sammelten sie 37 Millionen<br />
Dollar Wachstumskapital ein, im Jahr<br />
darauf weitere 100 Millionen Dollar. „Ben<br />
und seine Idee, wie er den Service ausbauen<br />
wollte, waren brillant“, sagt Kevin Hartz,<br />
ein prominenter Business Angel im Silicon<br />
Valley und Pinterest-Investor. Gerüchte,<br />
Facebook, Google und Yahoo hätten Interesse<br />
am Start-up, taten ihr Übriges. Die<br />
Spekulationen gibt es noch immer.<br />
PROBLEME NICHT ABGEBÜGELT<br />
Auch wenn Verkaufen für Silbermann kein<br />
Thema ist. „Wir wollen ein eigenständiges<br />
Unternehmen etablieren“, sagt er. Die hohe<br />
Bewertung gibt Sicherheit, hat aber auch<br />
Schattenseiten. Früher, so der Pinterest-<br />
Chef, hätten sie leicht passende Mitarbeiter<br />
gefunden. „Wir hatten ja nur eine spannende<br />
Aufgabe zu bieten.“ Nachdem viele<br />
der frühen Facebook- und Twitter-Mitarbeiter<br />
mittlerweile Millionäre sind, träumen<br />
zahlreiche Bewerber, auch mit Pinterest<br />
Kasse machen zu können.<br />
Auf 400 Mitarbeiter ist das Start-up mittlerweile<br />
gewachsen. Jeden Monat kommen<br />
15 bis 20 neue hinzu. Kein explosives<br />
Wachstum, denn: „Von der richtigen<br />
Zusammensetzung des<br />
Teams hängt viel ab“, sagt Silbermann.<br />
Was wie eine Plattitüde<br />
klingt, nimmt er ernst. Er schafft<br />
es zwar nicht mehr, alle Neuen<br />
persönlich zu interviewen. Aber<br />
die Einführung ins Unternehmen<br />
übernimmt der Chef immer noch<br />
Multimedia<br />
In unseren<br />
App-<strong>Ausgabe</strong>n<br />
finden Sie Videos<br />
über den Pinterest-Gründer<br />
Ben Silbermann<br />
selbst. Jeden Freitag gibt es ein Townhall-<br />
Meeting, bei dem sich die Gründer den<br />
Fragen der Mitarbeiter stellen.<br />
Mit seiner Personalpolitik setzt sich Pinterest<br />
von anderen Jungunternehmen<br />
deutlich ab. Facebook mutete in seinen<br />
Anfangsjahren an, als ob sich eine Clique<br />
von Abiturienten und Studenten zusammengetan<br />
hätte. Mit 30 war man dort<br />
schon Senior. Wer dagegen durchs Pinterest-Hauptquartier<br />
schlendert, wo die<br />
Mehrzahl der Mitarbeiter arbeitet,<br />
dem fällt auf: Hier sind nicht<br />
nur frische Uni-Absolventen am<br />
Werk, sondern auch berufserfahrene<br />
30- und 40-Jährige. Der<br />
Altersschnitt liegt bei 31.<br />
So trifft der Besucher auf Andreas<br />
Lieber, 39. Der gebürtige<br />
Aachener und Ex-Manager der<br />
4<br />
Sammelsurium als Prinzip<br />
1| Firmenlogo aus Lego<br />
2| Deutschland-Chef Honsel vor Möbeldeko<br />
in der Pinterest-Zentrale<br />
3| Typische Kombination von Kleidung,<br />
wie sie die Nutzer auf ihren digitalen Wandzeitungen<br />
präsentieren<br />
4| Ford Mustang als Büro-Arbeitsplatz<br />
Deutschen Telekom ist bei Pinterest für die<br />
Geschäftsentwicklung im Mobilmarkt zuständig.<br />
Im Februar heuerte er bei Pinterest<br />
an. Zuvor war er bei Yahoo und managte<br />
das internationale Mobilgeschäft bei<br />
Groupon. „Sie brauchen die richtige Mischung<br />
aus Einsteigern mit viel Talent und<br />
Spezialisten, die wissen, wie sich die Ideen<br />
in der Praxis umsetzen lassen“, weiß Lieber.<br />
„Die Balance zu schaffen ist hohe Kunst.“<br />
Ebenso wichtig: Das Management bügele<br />
Probleme nicht mit dem Argument ab,<br />
alles sei in Ordnung, solange die Wachstumszahlen<br />
stimmten. In seiner Karriere<br />
hat Lieber einige Firmen erlebt, die ihre<br />
Dynamik überwiegend aus Erfolgsmeldungen<br />
bezogen. „Als die ausblieben,<br />
herrschte Ratlosigkeit.“<br />
Die selbstkritische Haltung hat viel mit<br />
der Persönlichkeit des Gründers zu tun.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 77<br />
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Technik&Wissen<br />
1<br />
2<br />
Schicker arbeiten<br />
1| Managerin Silvia Oviedo-Lopez sorgt<br />
für die Übersetzung der Pinterest-Seiten in<br />
Fremdsprachen<br />
2| Das Start-up teilt sich die schicke Lobby<br />
mit der Zimmervermittlung Airbnb<br />
3| Zoologischer Wandschmuck<br />
3<br />
»<br />
„Die Erfahrung, scheitern zu können<br />
und kämpfen zu müssen, hat mich geprägt“,<br />
sagt Silbermann. Im Silicon Valley,<br />
wo alle erfolgreich sind oder zumindest so<br />
tun, ist er einer der wenigen CEOs, der eigene<br />
Schwächen einräumt – und benennt.<br />
„Ich bin sicherlich nicht der organisierteste<br />
Mensch“, erklärt er. „Ich liebe Design,<br />
bin aber kein Designer. Und meine ruhige<br />
Art erschwert es, Leute anzufeuern.“ Aber<br />
all das sei kein großes Problem. „Einer der<br />
besten Ratschläge, die ich jemals<br />
bekommen habe, war: Ich<br />
muss nicht in allem gut sein.<br />
Weil ich Leute anheuern<br />
kann, die das ausgleichen<br />
können.“<br />
Fürs Tagesgeschäft hat<br />
Silbermann deshalb Don<br />
Faul angeworben, einen<br />
Facebook-Veteranen. Fürs<br />
Design ist Mitgründer Evan<br />
Sharp zuständig. Als charismatischer<br />
Motivator hat sich Produktchef<br />
Tim Kendall etabliert, auch ein Facebook-<br />
Gewächs. Um die internationale Expansion<br />
kümmert sich Matt Crystal, der selber<br />
zwei Web-Start-ups gründete und seine<br />
Karriere als McKinsey-Berater begann.<br />
ZÖGERLICHE MARKENARTIKLER<br />
Die erfahrenen Veteranen müssen nun den<br />
Gründern helfen, die vorhandenen Nutzer<br />
von Pinterest bei der Stange zu halten. Vor<br />
allem aber müssen sie die eine große Herausforderung<br />
bewältigen, vor der selbst<br />
Start-ups im Silicon Valley irgendwann<br />
65 %<br />
der Menschen,<br />
die bei Pinterest<br />
mitmachen,<br />
sind 16 bis 34<br />
Jahre alt<br />
einmal stehen: Geld mit dem Produkt zu<br />
verdienen. Das Geschäftsmodell liegt nahe<br />
– Werbung.<br />
Doch die Bande zu den Markenherstellern<br />
sind noch nicht eng genug. Im Frühjahr<br />
hatte Forrester Research untersucht,<br />
wie stark die 50 bekanntesten Marken auf<br />
Pinterest vertreten sind. Während die im<br />
Schnitt auf Facebook rund 9,2 Millionen<br />
Fans vorweisen können, kam Pinterest auf<br />
gerade einmal 15 000 – eine riesige Lücke.<br />
Der Kleidungshersteller Lululemon<br />
Athletica hat derzeit<br />
knapp zwei Millionen Fans,<br />
Nike hingegen nur 938.<br />
Nicht alle Unternehmen<br />
pflegen ihre professionellen<br />
Boards. Arnold<br />
Schwarzenegger unterhält<br />
zwar unter dem Slogan<br />
„Ich liebe es, von meinen<br />
Fans zu hören“ acht<br />
Wandzeitungen und hat mit ihnen<br />
9500 Fans angezogen. Aber das<br />
meiste Material ist bereits zwei Jahre alt.<br />
Wie Facebook-Schöpfer Zuckerberg in<br />
seinen Anfängen hält sich Silbermann<br />
noch mit dem Monetarisieren von Pinterest<br />
zurück. Er will das Wachstum der Nutzerzahlen<br />
nicht gefährden. Ähnlich wie<br />
Facebook und Twitter will er Werbung einklinken,<br />
etwa in die Ergebnislisten, wenn<br />
Nutzer nach Pins suchen. Etwa von der Supermarktkette<br />
Target. Noch steckt alles in<br />
der Testphase. „Im Grunde kopieren sie<br />
das Modell von Facebook “, meint Forrester-Analyst<br />
Elliott. Doch während die Werbekunden<br />
Facebook und Twitter fest in ihre<br />
Budgets eingeplant hätten, muss „Pinterest<br />
es erst noch auf deren Radar schaffen“.<br />
Für Pinterests Werbekunden könnte es<br />
interessant sein, nicht nur ihre Marke, sondern<br />
auch einzelne Produkte bewerben zu<br />
können. Da alle Fotos auf die Originalquelle<br />
verweisen, kann der Klick aufs Bild nicht<br />
nur direkt in den Online-Shop des Unternehmens<br />
führen. Besonders interessant<br />
für die Werber: Sie könnten direkt ermitteln,<br />
wie gut sich die am Board präsentierten<br />
Waren verkaufen. Noch konzentriert<br />
sich Pinterest nicht auf den Online-Handel.<br />
Aber da Facebook, Google, Yahoo und<br />
Twitter an ähnlichen Werbeformen arbeiten,<br />
ist das nur eine Frage der Zeit.<br />
ZUKUNFT IM AUSLAND<br />
Klar ist auch: Die Zukunft für die Bilderplattform<br />
liegt im Ausland. Alle großen<br />
Wettbewerber haben die meisten Nutzer<br />
außerhalb der USA. Bei Pinterest dagegen<br />
ist die internationale Resonanz – mit Ausnahme<br />
von Japan – noch winzig.<br />
Europäer nutzen den Dienst kaum (siehe<br />
Grafik Seite 76). In Deutschland, dem größten<br />
Internet-Markt des Kontinents, soll Jan<br />
Honsel das nun ändern. Der frühere Ver-<br />
FOTOS: GABOR EKECS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CARO FOTOAGENTUR/JUERGEN HEINRICH<br />
78 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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lagsleiter der Wirtschaftsmedien-Sparte<br />
des Verlages Gruner + Jahr wechselte jüngst<br />
zu Pinterest. „Nach dem Ende der ,Financial<br />
Times Deutschland‘, dem Verkauf von<br />
,Börse Online‘ und dem Neustart von ,Capital‘<br />
gab es keine interessante Aufgabe<br />
mehr für mich“, sagt der 41-Jährige. Er hat<br />
mit seinen zwei Mitarbeitern gerade eine<br />
Schulungswoche in San Francisco hinter<br />
sich und sitzt nun im Sitzungsraum „Kitten<br />
Mittens“ (Deutsch: Katzen-Strümpfe) –<br />
der wie alle Besprechungsräume nach<br />
populären Pinnwänden benannt ist.<br />
AUFHOLJAGD VON BERLIN AUS<br />
Honsel hatte seinen neuen Arbeitgeber<br />
schon zwei Jahre auf dem Radar. Nachdem<br />
das Start-up Büros in Paris und London<br />
eingerichtet hatte, war ihm klar, Deutschland<br />
kommt als Nächstes. Seit August leitet<br />
er von Berlin aus das Deutschland-Geschäft.<br />
„Berlin ist für die Amerikaner das<br />
digitale Zentrum Deutschlands“, erklärt<br />
Honsel. Die Nähe zu anderen Start-ups war<br />
für Pinterest auch der Grund, von Palo Alto<br />
nach San Francisco zu ziehen. „Wir können<br />
so viel leichter Kontakte knüpfen“, sagt<br />
Mobilchef Lieber.<br />
In Deutschland will Honsel nun Aufklärungsarbeit<br />
leisten und mittelfristig Twitter<br />
bei der Zahl der Nutzer überrunden. Wie<br />
viele es derzeit sind, dazu schweigt er.<br />
Doch der Deutschland-Chef gibt sich „18<br />
bis 36 Monate“, um Pinterest hierzulande<br />
attraktiv für Werbekunden zu machen.<br />
Auch gegen Hemmnisse wie das umstrittene<br />
deutsche Leistungsschutzrecht, mit<br />
dem die Verlage die Kontrolle über die Nutzung<br />
ihrer Inhalte wahren wollen. Wie<br />
wirkt sich das auf deutsche Inhalte von<br />
Pinterest aus? Honsel seufzt tief. Die Frage<br />
hat er oft gehört. „Urheberrecht ist immer<br />
ein Thema“, sagt er dann. „Aber unser Vorteil<br />
ist, dass wir immer direkt zur Quelle<br />
verlinken, also ganz klar ist, woher der Inhalt<br />
stammt.“ Ob das reicht, die Beteiligten<br />
zu beruhigen, hängt auch davon ab, wie erfolgreich<br />
Pinterest in Deutschland wird.<br />
Ein Hindernis zumindest hat sich inzwischen<br />
selbst aus dem Weg geräumt. Im Juni<br />
segnete Pinspire das Zeitliche. Die Samwer-Brüder<br />
hatten 2011 eine nahezu identische<br />
Kopie des großen Vorbilds aus den<br />
Boden gestampft. Doch Fahrt nahm der<br />
Klon nie auf.<br />
Das kann ein gutes Zeichen fürs Original<br />
sein, aber auch ein schlechtes. Denn vielleicht<br />
ist der Markt für soziale Netzwerke<br />
doch schon verteilt.<br />
n<br />
matthias.hohensee@wiwo.de | Silicon Valley<br />
Luft nach oben<br />
ENERGIE | Wer mit Windstrom <strong>vom</strong> eigenen Dach Geld verdienen<br />
will, muss genaue Regeln beachten. Sonst zahlt er drauf.<br />
Trotz Strompreisanstieg begeistern<br />
sich die Deutschen offenbar ungebrochen<br />
für die Energiewende – und<br />
sei es die persönliche. Denn immerhin gut<br />
jeder vierte Bundesbürger möchte bis 2020<br />
sein eigenes Kraftwerk betreiben, meldet<br />
das Meinungsforschungsinstitut Toluna.<br />
Detlef Scholl hat sich diesen Traum<br />
schon erfüllt. Auf dem Dach seines Hauses<br />
im Dörfchen Bischberg bei Bamberg dreht<br />
sich ein kleines Windrad. Es leistet 800<br />
Watt. Scholls Elektrizitätsrechnung entlastet<br />
die mehrere Tausend Euro teure Grünstromanlage<br />
trotzdem kaum. „Dazu weht<br />
der Wind hier zu schwach und zu selten“,<br />
sagt er.<br />
Doch das ist dem Technikfan egal. Er habe<br />
einfach Spaß zuzusehen, wie Windräder<br />
sich bewegten. Sein Credo: „Andere kaufen<br />
sich teure Alufelgen, ich eine Windmühle.“<br />
So spaßbetont denken die wenigsten,<br />
auch das zeigt die Umfrage. Sie investieren<br />
in Ökostromanlagen nur, wenn sich die<br />
Anschaffung in überschaubarer Zeit amortisiert.<br />
Und das ist bei Kleinwindrädern extrem<br />
schwierig vorherzusagen. Denn anders<br />
als bei Solarmodulen, wo vor allem<br />
Sonnenstunden zählen, hängen hier die<br />
Stromerträge von vielen kompliziert zu berechnenden<br />
Standortfaktoren ab.<br />
Praktisch überall weht der Wind anders.<br />
Zudem sind die Turbinen vergleichsweise<br />
teuer. Und die ins Stromnetz eingespeisten<br />
Kilowattstunden werden nach dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz<br />
(EEG) geringer<br />
vergütet als Solarstrom. All das führt dazu,<br />
dass Privatleute derzeit gerade einmal 1500<br />
Windturbinen pro Jahr neu aufstellen, kalkuliert<br />
Patrick Jüttemann, Herausgeber des<br />
Kleinwind-Marktreports 2014 und Betreiber<br />
des Web-Portals klein-windkraftanlagen.com.<br />
Das entspricht einer installierten<br />
Leistung von rund drei Megawatt. Das ist<br />
gerade mal die Leistung einer modernen<br />
Großwindanlage an Land.<br />
WIE DIE MÜHLE PROFITABEL WIRD<br />
Dennoch kann sich auch der private Windgenerator<br />
rechnen. Wer die Mühen eigener<br />
Messungen nicht scheut und clever vorgeht,<br />
kann mit Windstrom <strong>vom</strong> Dach oder<br />
aus dem eigenen Garten Geld verdienen.<br />
Jochen Twele, Professor für Energietechnik<br />
an der Hochschule für Technik und Wirtschaft<br />
in Berlin, hat die wichtigsten Kriterien<br />
für den erfolgreichen Betrieb einer<br />
Kleinwindanlage aufgelistet.<br />
Der Jahresertrag hängt entscheidend<br />
von der Verteilung der Windgeschwindigkeiten<br />
am Standort und der Hauptwindrichtung<br />
ab. Doch Achtung, Bäume und<br />
Gebäude in der Umgebung können den<br />
Wind so verwirbeln, dass für die Flügel keine<br />
Kraft mehr übrig ist. „Selbst kleine Hindernisse<br />
können großen Einfluss auf den<br />
Energieertrag haben“, warnt Twele. In<br />
Lage-Frage<br />
Windradhöhe bestimmt<br />
Rentabilität<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 79<br />
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Technik&Wissen<br />
»<br />
Leise im Kreis Durch ihre Bauform arbeitet<br />
die Liam-F1-Turbine sehr geräuscharm<br />
Städten sollten Betreiber die Anlagen<br />
generell höher montieren als auf dem<br />
Land, um Strömungen ungestört nutzen zu<br />
können – etwa auf hohen Flachdächern.<br />
Die Suche nach der besten Position ist<br />
aufwendig. Twele empfiehlt, zuerst Daten<br />
der nächstgelegenen öffentlichen oder privaten<br />
Wetterstation auszuwerten. So lässt<br />
sich ein geeigneter Standort schon einmal<br />
eingrenzen. Um im zweiten Schritt den ergiebigsten<br />
Platz auf eigenem Grund zu finden,<br />
rät der Experte angehenden Windmüllern,<br />
mindestens ein Jahr lang Windstärke<br />
und -richtung an unterschiedlichen<br />
Stellen zu messen: Hinten links im Garten<br />
kann die Luft viel intensiver wehen als in<br />
der rechten Ecke. Und wenn sich die Mühle<br />
in 15 Meter Höhe dreht, liefert sie womöglich<br />
doppelt so viel Strom wie auf einem<br />
Zehn-Meter-Mast. Geeignete Messgeräte<br />
gibt es ab etwa 300 Euro.<br />
Entscheidend ist auch, für welche Windverhältnisse<br />
die jeweilige Mühle ausgelegt<br />
ist. Viele Hersteller liefern unterschiedliche<br />
Rotorblätter für Regionen mit starken oder<br />
mittleren Strömungen. Manche sind leichter<br />
gebaut und beginnen schon beim<br />
kleinsten Luftzug zu rotieren, andere, stabilere<br />
dagegen brauchen je nach Bauart<br />
schon eine stärkere Brise.<br />
Doch selbst wenn alle Messungen positiv<br />
sind, können Interessenten ihre Pläne<br />
nicht realisieren, weil sie keine Genehmigung<br />
für Masten bekommen, die höher<br />
Stark am Mast Der Generator WESpe 5.0<br />
liefert bis 9000 Kilowattstunden im Jahr<br />
sind als – genehmigungsfreie – zehn Meter.<br />
Oder der Nachbar legt Einspruch ein, weil<br />
er eine Geräuschbelästigung fürchtet.<br />
Ein Ausweg könnten dann vertikal rotierende<br />
Anlagen sein, denn sie laufen besonders<br />
leise. Allerdings ist ihr Wirkungsgrad<br />
meist geringer als der von Mühlen mit horizontal<br />
rotierenden Flügeln. Doch an einem<br />
Standort mit stark drehenden Winden<br />
sind sie oft trotzdem die bessere Wahl.<br />
Denn ehe sich ein horizontales Windrad<br />
neu ausgerichtet hat, vergeht einige Zeit,<br />
und die Stromproduktion sinkt merklich.<br />
Horizontale Mühlen dagegen laufen immer,<br />
egal, woher der Wind weht.<br />
In manchen Fällen ist die Stromausbeute<br />
eh sekundär – etwa, wenn die vertikalen<br />
Mühlen vor allem als Werbeträger dienen.<br />
Die Logos auf den Flügeln sind weithin zu<br />
sehen, das ist die Hauptsache. Netzstrom<br />
zu sparen ist dann ein lukratives Zubrot.<br />
Eine typische Mühle mit 3,5 Kilowatt<br />
Leistung kostet rund 9000 Euro. Sie liefert<br />
an guten Standorten bei einer durchschnittlichen<br />
Windgeschwindigkeit von<br />
fünf Metern pro Sekunde etwa 5000 Kilowattstunden<br />
Strom im Jahr. Das ist mehr<br />
als ein durchschnittlicher Vier-Personen-<br />
Haushalt verbraucht. Wer so erzeugten<br />
Strom einspeist, erhält dafür bei Anlagen,<br />
die dieses Jahr ans Netz gehen, nur noch<br />
9,13 Cent pro Kilowattstunde.<br />
Kraftmaschinen fürs Dach<br />
Ausgewählte Anbieter von Kleinwindanlagen<br />
Hersteller<br />
Leistung (in Kilowatt)<br />
Propeller-Durchmesser<br />
(in Meter)<br />
Jahresertrag 1<br />
(in Kilowattstunden)<br />
Montage<br />
Zertifizierung<br />
Preis (in Euro)<br />
Besonderheiten<br />
AC 120<br />
Energie- und<br />
Antriebstechnik,<br />
Rotenburg/Wümme<br />
0,12<br />
1,2<br />
100 2<br />
Mast<br />
keine<br />
ab 2050<br />
Bei sehr starkem<br />
Wind kippt der<br />
Rotor aus<br />
Sicherheitsgründen<br />
nach hinten<br />
SkyWind<br />
FuSystems SkyWind,<br />
Langenhagen<br />
1 berechnet für eine Windgeschwindigkeit von fünf Metern pro Sekunde; 2 Schätzung; Quellen: Patrick Jüttemann,<br />
The Archimedes;<br />
1<br />
1,5<br />
100 2<br />
Mast<br />
Verfahren läuft<br />
rund 2500<br />
Leicht zu befestigen;<br />
Nennleistung bei<br />
Windgeschwindigkeiten<br />
von 14 Meter pro<br />
Sekunde<br />
Liam F1<br />
Urban Wind Turbine<br />
The Archimedes,<br />
Rotterdam<br />
1,5<br />
1,5<br />
1000 2<br />
Mast<br />
keine<br />
5000<br />
Schneckenförmige<br />
Bauart ermöglicht<br />
einen sehr leisen<br />
Betrieb<br />
WESpe 5.0<br />
WES Energy GmbH,<br />
St. Michaelsdonn<br />
5<br />
4,5<br />
9000<br />
Mast<br />
keine<br />
ab 16000<br />
Propellerstellung<br />
passt sich<br />
automatisch an die<br />
Windstärke an<br />
LANGE AMORTISATIONSZEIT<br />
Da lohnt es, die Energie besser selbst zu<br />
nutzen. Wer etwa 80 Prozent des Windstroms<br />
im eigenen Haushalt verbraucht,<br />
kann rund 1000 Euro pro Jahr sparen. Das<br />
erfordert allerdings eine Batterie, die Strom<br />
für windarme Zeiten speichert. Sie kostet<br />
derzeit rund 10 000 Euro, was die Amortisationszeit<br />
etwa verdoppelt. Das macht einen<br />
erstklassigen Standort umso wichtiger: Wo<br />
nicht genug Wind weht, rechnet sich diese<br />
Art der Stromversorgung nicht.<br />
Wem weniger Rendite als Autarkie am<br />
Herzen liegt, der kann das Windrad noch<br />
um eine Solaranlage ergänzen. Das kostet<br />
allerdings 3000 bis 5000 Euro zusätzlich.<br />
Noch mehr Unabhängigkeit <strong>vom</strong> Versorger<br />
gewinnt, wer mit der Windkraft seine Heizung<br />
unterstützt. Denn gerade in der kalten<br />
Jahreszeit weht der Wind oft kräftig.<br />
Dann wärmt ein Heizstab nicht nur das<br />
Wasser im sonst etwa von der Gastherme<br />
befeuerten Speicher zusätzlich auf. Es<br />
treibt auch bei der persönlichen Energiewende<br />
den Selbstversorgungsgrad nochmals<br />
merklich Richtung 100 Prozent. n<br />
wolfgang.kempkens@wiwo.de<br />
80 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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VALLEY TALK | Die nächste Generation smarter<br />
Körpersensoren soll nicht nur unser Befinden<br />
messen, sondern es auch aktiv beeinflussen.<br />
Von Matthias Hohensee<br />
Stromstöße ins Gehirn<br />
FOTOS: PR(2), JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Neema Moraveji ist Experte für<br />
Konzentrationstechniken. Seit<br />
sieben Jahren untersucht<br />
der Wissenschaftler in einem<br />
eigens eingerichteten Labor an der Eliteuniversität<br />
Stanford im Silicon Valley, wie<br />
wir am besten die berühmte innere Ruhe<br />
finden. Einen Zustand, in dem wir Angst,<br />
Nervosität und Stress weitestgehend ausblenden<br />
und uns ganz auf die aktuelle<br />
Aufgabe konzentrieren – etwa wenn wir<br />
einen Vortrag vor Publikum halten oder<br />
eine Prüfung absolvieren.<br />
Am effektivsten und am leichtesten<br />
schaffen wir das, davon ist der Forscher<br />
überzeugt, wenn wir lernen, unser Atmen<br />
zu kontrollieren. „Richtiges und bewusstes<br />
Atmen beruhigt ungemein“, sagt Moraveji.<br />
Das überrascht niemanden, der sich schon<br />
einmal mit Yoga, Pilates oder autogenem<br />
Training beschäftigt hat. Doch selbst Menschen,<br />
denen die Bedeutung der Körperfunktion<br />
bewusst sei, bemerkten oft nicht,<br />
wenn sie zu kurz oder zu flach atmeten, so<br />
der Stanford-Forscher.<br />
Ganz im Stil des Silicon Valley will Moraveji<br />
dies Problem mit Technik lösen und hat<br />
ein Start-up namens Spire gegründet. Dessen<br />
Team hat einen gleichnamigen Sensor<br />
entwickelt, der die Atmung über die Aktivität<br />
der Bauchmuskeln misst und analysiert.<br />
Der Spire zeichnet nicht nur Bewegungen<br />
auf, sondern registriert auch, ob der Nutzer<br />
sitzt, steht oder liegt. Das Gerät sieht aus<br />
wie eine mit einem Bügel versehene Minimaus.<br />
Es muss am Körper getragen werden,<br />
braucht allerdings die Haut nicht zu<br />
berühren. Der Sensor funkt die Messdaten<br />
kontinuierlich via Bluetooth an eine iPhone-<br />
App. Die zeigt an, ob der Besitzer konzentriert,<br />
angespannt oder gestresst ist. Und<br />
empfiehlt die richtige Atemtechnik. Der<br />
Sensor kostet 149 Dollar. Die Spire-Leute<br />
wollen ihn nach Verzögerungen in der Produktion<br />
nun im November ausliefern. Wie<br />
gut das Gerät funktioniert, lässt sich derzeit<br />
deshalb noch nicht beurteilen.<br />
Klar ist aber: Moraveji repräsentiert einen<br />
neuen Trend bei Fitnessbändern und anderen<br />
Sensoren. Während die erste Generation<br />
wie das Fuelband des Sportartikelriesen<br />
Nike ausschließlich die körperliche Aktivität<br />
maß, versprechen die Nachfolger, das<br />
Wohlbefinden kontrollieren und aktiv stimulieren<br />
zu können.<br />
ENTSPANNT PER KNOPFDRUCK<br />
So wie das kanadische Start-up InteraXon.<br />
Es bietet ein 300 Dollar teures Stirnband<br />
an, das Gehirnwellen misst. Der Sensor<br />
kann laut Chefin Ariel Garten feststellen, ob<br />
der Nutzer konzentriert oder zerstreut ist.<br />
Der Zustand wird in Windgeräusche übersetzt,<br />
die der Anwender über eine App in<br />
einer dreiminütigen Sitzung durch Konzentration<br />
in Stille verwandeln soll. Gelingt ihm<br />
das, ertönt Vogelgezwitscher. InteraXon hat<br />
bislang sieben Millionen Dollar eingesammelt,<br />
einer seiner Investoren ist der Schauspieler<br />
Ashton Kutcher.<br />
Radikaleres plant das Start-up Thync aus<br />
dem Silicon Valley. Seit drei Jahren arbeitet<br />
es an einem Gerät, das über leichte Stromstöße<br />
das Hirn quasi per Knopfdruck in einen<br />
Zustand entweder höchster Konzentration<br />
oder tiefer Entspannung versetzen soll.<br />
Was wie ein Scherz klingt, ist dem Neurologen<br />
und Mitgründer Jamie Tyler ernst. „Wir<br />
arbeiten hart daran, Neurowissenschaften<br />
und Ingenieurkunst des 21. Jahrhunderts<br />
zusammenzubringen“, sagt er.<br />
In seiner ersten Finanzierungsrunde hat<br />
Thync kürzlich gleich 13 Millionen Dollar<br />
eingesammelt, unter anderem von Koshla<br />
Ventures, einem prominenten Risikokapitalgeber<br />
aus dem Silicon Valley. Mehr als 2000<br />
Personen sollen das Gerät bereits getestet<br />
haben. Angeblich soll der High-Tech-Schocker<br />
schon im nächsten Jahr auf den Markt<br />
kommen, der Preis ist noch unbekannt.<br />
Bis dahin müssen wir uns mit bewährten<br />
Konzentrationshelfern begnügen: Kaffee<br />
trinken oder tief durchatmen.<br />
Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />
im Silicon Valley und beobachtet<br />
von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />
wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 81<br />
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Management&Erfolg<br />
Rückkehr der<br />
Platzhirsche<br />
SPEZIAL | Best of Consulting Die Boston Consulting Group ist Deutschlands beste<br />
Unternehmensberatung. Der Wettbewerb zeigt: Die Universalberater wehren sich<br />
nach Kräften gegen den Angriff der Wirtschaftsprüfer und kleinerer Spezialisten.<br />
Ein charismatischer Menschenfänger?<br />
Ist er nicht<br />
unbedingt. Ein guter Zuhörer?<br />
Das ist er zweifellos.<br />
Er gilt als integrativ<br />
und teamorientiert. Und<br />
wenn er spricht, wirkt er<br />
so geerdet, dass seine Gesprächspartner<br />
regelmäßig unterschätzen, wie smart und<br />
geschäftstüchtig er ist: Rich Lesser, Chef<br />
der Boston Consulting Group, der zweitgrößten<br />
Unternehmensberatung der Welt.<br />
Anfang 2013 trat der Harvard-Absolvent<br />
als Erneuerer der viel gerühmten BCG-Unternehmenskultur<br />
an. Sein Amtsvorgänger,<br />
der eher wachstums- und vertriebsorientierte<br />
Deutsche Hans-Paul Bürkner, konnte<br />
zwar den Umsatz des Beratungshauses auf<br />
3,5 Milliarden Euro fast verdreifachen und<br />
zum Marktführer McKinsey aufschließen.<br />
Doch nach der kräftezehrenden und intern<br />
umstrittenen Expansionsphase hofften viele<br />
BCG-Partner auf einen neuen Chef, der<br />
wieder stärker an „das Erbe des innovativen<br />
Vordenkertums“ anknüpft. Lesser scheint<br />
das zu gelingen: „Teamplayer zu sein und<br />
nicht dem mittleren Management den Eindruck<br />
zu vermitteln, es liefere nur die Zahlen,<br />
damit der Berater anschließend vorm<br />
Vorstand oder Aufsichtsrat allein mit genialen<br />
Konzepten glänzen kann, kommt einfach<br />
besser an“, bestätigt Ulrich Becker, bei<br />
der Schweizer Bank UBS für Business Design<br />
und Effectiveness zuständig.<br />
Dass er auch ein exzellenter Stratege mit<br />
Gespür fürs Geschäft ist, bewies Lesser im<br />
Frühjahr: Damals setzte der Amerikaner<br />
die weltweite Gründung der Tochter BCG<br />
Digital Ventures durch. Die Idee: Junge Wilde<br />
aus der Digitalwirtschaft – <strong>vom</strong> Gründer<br />
bis zum Vermarkter – knüpfen strategische<br />
Allianzen mit BCG-Kunden und helfen ihnen<br />
bei der digitalen Transformation. In<br />
Deutschland gelang es, mit Stefan Groß-<br />
Selbeck, Ex-Deutschland-Chef von Xing<br />
und Ebay, einen Rockstar der Szene an<br />
Bord zu holen. Das Geschäft läuft – Konzerne<br />
wie Henkel, Lufthansa, Deutsche Bahn<br />
und Otto Group sollen zu den Kunden zählen.<br />
Damit gelang es Lesser, für BCG die intellektuelle<br />
Vorreiterrolle von Marktführer<br />
McKinsey zurückzuerobern.<br />
Ruf und Realität<br />
So angesehen und leistungsfähig sind Deutschlands beste Beratungshäuser 1<br />
Wertsteigerung<br />
2,15<br />
2,10<br />
2,05<br />
Pricewaterhouse-<br />
Coopers<br />
Roland Berger<br />
Boston Consulting Group<br />
2,00<br />
Bain McKinsey<br />
Simon-Kucher&Partners<br />
1,95<br />
1,90<br />
KPMG Porsche Consulting<br />
Oliver Wyman<br />
1,85<br />
EY<br />
1,80<br />
1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 1,7 1,8 1,9 2,0 2,1 2,2 2,3 2,4 2,5 2,6<br />
Markenstärke 2<br />
1 die Größe der Kreise entspricht den Umsatzverhältnissen, die Ampelfarben reflektieren den Ruf (dunkelgrün = sehr gut/gelb =<br />
gut); 2 ergibt sich aus den Werten für Ruf und Bekanntheit; Quelle: Prof. Lars Wellejus (Frankfurt University of Applied Sciences)<br />
Und den Spitzenplatz in der Branche:<br />
Das ist das Ergebnis des diesjährigen Best<br />
of Consulting (BoC), Deutschlands umfangreichstem<br />
Berater-Ranking, das Markenstärke,<br />
Renditebeitrag und Projekterfolg<br />
aus der Perspektive der Kunden misst<br />
(siehe Methode Seite 84) Nach dem Sieg<br />
vor zwei Jahren im Vorjahr auf Platz 3 abgerutscht,<br />
hat BCG nun die Spitze zurückerobert<br />
– vor Dauerrivale McKinsey und Vorjahressieger<br />
Porsche Consulting.<br />
„BCG und McKinsey haben in Sachen<br />
Qualität noch einmal eine Schippe draufgelegt“,<br />
bestätigt Frank Höselbarth, Gründer<br />
der Markenberatung People&Brand<br />
Agency und Mitentwickler der BoC-Wettbewerbsmethode<br />
„Die Platzhirsche feiern<br />
in diesem Jahr ihr Comeback.“<br />
HONORAR? FEHLANZEIGE<br />
Dabei spielt den beiden mit Abstand größten<br />
Beratungshäusern das Selbstbewusstsein<br />
der Auftraggeber in die Karten: Wer<br />
sich bei einem Unternehmen heute um ein<br />
Beratungsmandat bewirbt, muss – ähnlich<br />
wie Werbeagenturen in einem Pitch um<br />
einen Marketingetat – konkrete Lösungen<br />
für konkrete Projekte präsentieren. Also arbeiten,<br />
als wäre der Vertrag mit dem umworbenen<br />
Unternehmen schon unterschrieben.<br />
Honorar? Fehlanzeige.<br />
„Die Anforderungen in diesen Beauty<br />
Contests sind extrem gestiegen, die Berater<br />
müssen heute umfangreich in Vorleistung<br />
gehen“, sagt Horst Kayser, Leiter der Siemens-Konzernstrategie.<br />
„Kleinere Spezialisten<br />
sind oft nicht in der Lage, solche Vorab-Investments<br />
einzugehen.“ Einerseits.<br />
Andererseits aber lässt sich eine weitere<br />
Entwicklung nicht wegdiskutieren: der<br />
FOTO: ANGELIKA ZINZOW FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
82 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Aufstieg von einst als Nischenplayer belächelten<br />
Spezialisten. Pricing-Experte<br />
Simon-Kucher & Partners etwa schaffte<br />
erstmals den Sprung in die Top Ten, Ex-Inhouseberater<br />
Porsche Consulting konnte<br />
den Spitzenplatz aus dem Vorjahr zwar<br />
nicht halten, aber mit Platz drei seinen Anspruch<br />
untermauern, sich dauerhaft an der<br />
Spitze der Branche zu etablieren.<br />
„Diese Berater verstehen es, gemeinsam<br />
mit dem Kunden die Prozesse zu optimieren<br />
und Erfahrungswissen zu schaffen, dass<br />
am Ende die optimale Lösung umgesetzt<br />
Stratege mit Weitblick BCG-Chef Rich<br />
Lesser hat die Beratung auf Kurs gebracht<br />
wird“, sagt BoC-Juror Axel Wachholz, beim<br />
Bad- und Armaturenhersteller Viega verantwortlich<br />
für die Ressorts Finanzen und IT.<br />
Darauf setzen auch die Wirtschaftsprüfungskonzerne,<br />
die ihre Beratungssparten<br />
zuletzt flächendeckend aufgerüstet haben<br />
und in der Gunst der Kunden nach oben<br />
geschossen sind: neben KPMG und EY vor<br />
allem PricewaterhouseCoopers. Die hatten<br />
in diesem Jahr mit der Übernahme des Rivalen<br />
Booz für Schlagzeilen gesorgt, aber<br />
offenbar schon vorher den Nerv ihrer<br />
Klienten getroffen. Der Lohn: Sie gelten als<br />
die Beratung, die in ihren Projekten für die<br />
höchste Rendite ihrer Kunden sorgt.<br />
„Ob sich ein Beratereinsatz möglichst<br />
zeitnah, aber auch genauso nachhaltig in<br />
der Gewinn-und-Verlust-Rechnung bemerkbar<br />
macht“, sagt UBS-Manager und<br />
BoC-Juror Becker, „steht heute mehr denn<br />
je ganz oben auf der Agenda bei der Auftragsvergabe<br />
an Consultants.“<br />
»<br />
julia leendertse | management@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 83<br />
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Management&Erfolg<br />
IT-ECONOMICS<br />
Maßanzüge im<br />
Minutentakt<br />
Jeden zweiten Mittwoch traf sich die<br />
20-köpfige Truppe abends im Münchner<br />
Löwenbräu-Bierkeller auf eigene Rechnung<br />
– Berater von IT-Economics auf der<br />
einen und Mitarbeiter des Energiekonzerns<br />
E.On auf der anderen Seite. Der<br />
Grund: in lockerer Atmosphäre den jeweils<br />
neuen, turnusgemäß vereinbarten Abschnitt<br />
im Projekt Pegasus einzuläuten.<br />
Der Auftrag hinter dem blumigen Decknamen:<br />
ein IT-Kalkulationssystem für das<br />
Erdgasgeschäft des Energiekonzerns, mit<br />
dem die 470 Außendienstmitarbeiter für<br />
Großkunden wie die Stadtwerke Düsseldorf,<br />
aber auch die Pricing-Spezialisten im<br />
Innendienst binnen Minuten die richtigen<br />
Angebote abrufen können.<br />
Ein hochsensibles Unterfangen –<br />
schließlich kann ein Anwender-Fehler im<br />
Tausendstel-Cent-Bereich bei Größenkalkulationen<br />
dieser Art gleich einen Verlust<br />
von 35 Millionen Euro bedeuten. Vor allem<br />
aber eine hochkomplexe Aufgabe – gilt es<br />
doch, bei der Preisgestaltung zahlreiche<br />
Parameter zu berücksichtigen, die sich<br />
kurz- und langfristig auf die Preisgestaltung<br />
auswirken: von Vertragslaufzeiten,<br />
Abnahmemengen, Standorten, klimatischen<br />
Bedingungen und Temperaturschwankungen<br />
über steigende Rohstoffpreise<br />
oder die Koppelung an verschiedene<br />
Indizes bis hin zu Börsenpreisen, die<br />
sich im Minutentakt ändern.<br />
Sieger Kategorie<br />
IT-MANAGEMENT<br />
Projekt: Kalkulationssoftware<br />
konzipieren und implementieren<br />
Kunde: E.On<br />
Julian Lipinski (rechts, E.On),<br />
Torsten Klein (IT-Economics)<br />
Exzellent: Deloitte Consulting<br />
Prämiert: Mieschke Hofmann & Partner<br />
Der Grund für Projekt Pegasus: E.On ist<br />
zwar im Erdgasgeschäft Marktführer mit<br />
rund einem Drittel Marktanteil. Doch<br />
durch die Liberalisierung des Erdgasmarktes<br />
muss der Konzern nicht nur gegen<br />
ein paar andere große Konkurrenten wie<br />
RWE oder Wingas, sondern auch viele kleine<br />
regionale Mitbewerber antreten. „Der<br />
Markt hatte sich in den vergangenen fünf<br />
Jahren extrem verändert und beschleunigt,<br />
er wird den Finanzmärkten immer ähnlicher“,<br />
sagt Julian Lipinski, Geschäftsführer<br />
von E.On Energy Sales. „Unsere Kunden<br />
wünschen stets marktaktuelle Angebote –<br />
sie warten zu lassen können wir uns weder<br />
leisten, noch entspricht es unseren Vorstellungen<br />
von exzellentem Service.“<br />
Das Ziel: eine stabile, schnell arbeitende<br />
IT-Lösung mit 37 000 verschiedenen voll<br />
automatisierten Kalkulationen, die die Vertriebler<br />
intuitiv auch ohne tagelange Schulungen<br />
nutzen können sollten. „Wir wollten<br />
keine IT-Lösung von der Stange, sondern<br />
brauchten einen Maßanzug“, sagt<br />
Torsten Klein, geschäftsführender Gesellschafter<br />
von IT-Economics.<br />
Also wird das Projekt in 14-Tages-Häppchen<br />
eingeteilt – damit nicht erst am Ende<br />
Heerscharen von Leuten einen Prototyp<br />
testen, sondern neue Erkenntnisse laufend<br />
eingearbeitet werden konnten. Und<br />
ein Projektteam aus Beratern und E.On-<br />
Mitarbeitern wird installiert, das ohne<br />
klassische Auftraggeber-Auftragnehmer-<br />
Attitüde arbeitet.<br />
Mit Erfolg: Der erste Abschnitt war nach<br />
sieben Monaten erledigt – doppelt so<br />
schnell wie geplant. Und die neue IT-Lösung<br />
kalkuliert Angebote zehn Mal so<br />
schnell wie das bisherige System.<br />
„Eine überzeugende Lösung“, sagt Nils<br />
Urbach, IT-Professor an der Universität<br />
Bayreuth und BoC-Fachbeirat, „weil E.On<br />
mit der Einführung der neuen Software einen<br />
echten Wettbewerbsvorteil erzielt und<br />
gleichzeitig Betriebs- und Prozesskosten<br />
senken konnte.“<br />
»<br />
claudia.toedtmann@wiwo.de<br />
Das Imperium schlägt zurück<br />
Deutschlands beste Berater<br />
Platz<br />
(Vorjahr)<br />
1 (2)<br />
2 (3)<br />
3 (1)<br />
4 (6)<br />
5 (5)<br />
6 (4)<br />
7 (12)<br />
8 (11)<br />
9 (9)<br />
10 (14)<br />
Beratung<br />
Boston Consulting Group<br />
McKinsey<br />
Porsche Consulting<br />
Bain<br />
Roland Berger<br />
PricewaterhouseCoopers<br />
EY<br />
KPMG<br />
Oliver Wyman<br />
Simon-Kucher & Partners<br />
Punkte*<br />
2,15<br />
1,99<br />
1,95<br />
1,91<br />
1,84<br />
1,83<br />
1,77<br />
1,72<br />
1,68<br />
1,67<br />
* die Punktzahl ergibt sich als gewichtete Durchschnittsnote<br />
der Einzelkategorien Markenstärke, Wertsteigerung<br />
und Projekterfolg (siehe Methode)<br />
METHODE<br />
Auf drei Säulen<br />
So funktioniert Deutschlands<br />
umfangreichster Berater-Check.<br />
Im Auftrag der WirtschaftsWoche entwickelten<br />
Branchenexperte Frank Höselbarth<br />
und Lars Wellejus, Professor für<br />
Finanzierung an der Frankfurt University<br />
of Applied Sciences, Deutschlands bislang<br />
umfangreichsten Berater-Check: In<br />
einem dreiteiligen Verfahren ermittelten<br />
sie zuerst die Markenstärke der Beratungshäuser<br />
sowie deren Fähigkeit zur<br />
Wertsteigerung, jeweils anhand des Ur-<br />
teils von Top-Managern aus Deutschlands<br />
1500 größten Unternehmen.<br />
Punkten konnten die Beratungen außerdem<br />
mit Projekten, die sie in sieben<br />
Kategorien einreichen konnten und die<br />
von einem Fachbeirat und einer Jury<br />
bewertet wurden. Aus den drei Einzelergebnissen<br />
errechnet sich die Gesamtnote.<br />
Aufgrund dieser Methode ist es möglich,<br />
die Arbeit von Platzhirschen wie<br />
McKinsey oder der Boston Consulting<br />
Group mit Leistungen weniger bekannter,<br />
aber ambitionierter Spezialberatungen zu<br />
vergleichen. Und so Licht in eine bislang<br />
recht intransparente Branche zu bringen.<br />
Ausführliche Informationen unter<br />
award.wiwo.de/boc2014<br />
FOTO: DIETR MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
84 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Management&Erfolg<br />
Sieger Kategorie<br />
WETTBEWERBSSTRATEGIE<br />
Projekt: Lean Management<br />
Kunde: Meyer Werft<br />
Jochen Busch (links), Lambert Kruse<br />
(rechts, beide Meyer Werft), Sven Schärffe<br />
(Mitte, Porsche Consulting)<br />
Exzellent: ROI Management Consulting<br />
Prämiert: Deloitte Consulting<br />
PORSCHE CONSULTING<br />
Lernen von der<br />
Fischgräte<br />
Der Auftrag war so klar wie komplex:<br />
„Macht uns zum Porsche unserer Branche“,<br />
forderte Bernard Meyer, als er 2009<br />
Porsche Consulting ins Haus holte, um mit<br />
der traditionsreichen Meyer Werft langfristig<br />
unter den weltweit gefragten Anbietern<br />
im harten Kampf um den Bau großer<br />
Kreuzfahrtschiffe zu bleiben.<br />
Das Problem: Die schwimmenden Fünf-<br />
Sterne-Hotels mit angeschlossenem Freizeitpark,<br />
Gourmet- und Shoppingparadies<br />
sollen immer größer und komplexer, aber<br />
in immer kürzerer Zeit gebaut werden. Im<br />
Schnitt geben Reedereien weltweit jedes<br />
Jahr sieben solcher Großprojekte in Auftrag.<br />
19 Bauplätze weltweit kommen für<br />
derlei Großprojekte infrage.<br />
Um der wachsenden Konkurrenz vor<br />
allem aus Asien auch künftig eine Schiffslänge<br />
voraus zu sein, beschloss das 1795<br />
gegründete Familienunternehmen, den<br />
3000-Mann-Betrieb samt seiner 1800 Zulieferer<br />
auf japanische Lean-Management-<br />
Prinzipien, Just-in-time-Fertigung, Null-<br />
Fehler-Toleranz und null Verschwendung<br />
einzuschwören.<br />
„Porsche Consulting hat uns nähergebracht,<br />
uns regelmäßig zu hinterfragen“,<br />
sagt Jochen Busch, Leiter des Bereichs<br />
Kontinuierlicher Verbesserungsprozess bei<br />
der Meyer Werft. „Mache ich das heute<br />
noch richtig? Kann ich etwas verändern,<br />
oder muss ich etwas verändern? Und wie<br />
kann ich effektiver werden?“<br />
Kein einfaches Unterfangen – auch, weil<br />
in der Werft nur zwei überdachte Baudocks<br />
mit limitierter Kran-Kapazität zur Verfügung<br />
stehen. Oberstes Ziel der Reformen:<br />
die Belegungszeit dieser knappen Plätze<br />
verkürzen. Die Lösung: Die bisherige Fertigung<br />
der Schiffe im Blockbau – das Schiff<br />
wird dabei wie ein Lego-Modell aus rund<br />
80 Blöcken zusammengesetzt – ergänzt die<br />
Werft nach dem Vorbild der Porsche-Autoproduktion<br />
um ein Modul- und Fließprinzip.<br />
Statt besagte Blöcke ohne Vorausrüstung<br />
zusammenzusetzen und erst danach<br />
Deck für Deck mit dem gewünschten Innenleben<br />
auszustatten, werden die Monteure<br />
<strong>vom</strong> Klimatechniker bis zum Raumausstatter<br />
an den 80 Blöcken der rund 400<br />
Meter langen und etwa 40 Meter breiten<br />
Ozeanriesen parallel tätig. Das senkt die<br />
Durchlaufzeiten, macht aber hocheffiziente<br />
Abläufe notwendig – auch in der Zusammenarbeit<br />
mit den Zulieferern, die inzwischen<br />
75 Prozent der Elemente herstellen,<br />
bis hin zur kompletten Kabine. Die landen<br />
nach einem System, das einer Fischgräte<br />
nachempfunden ist, im Baudock.<br />
Von der Konzeption bis zur Auslieferung<br />
optimierte die Meyer Werft auch die übrigen<br />
Unternehmensbereiche nach dem<br />
Kaizen-Prinzip, zu Deutsch: Veränderung<br />
zum Besseren.<br />
Mit Erfolg: Die Durchlaufzeit für die Baudock-Belegung<br />
schrumpfte von neun auf<br />
sechs Monate. Statt wie bisher nur ein<br />
Kreuzfahrtschiff pro Jahr baut die Meyer<br />
Werft heute zwei und kann dabei sogar<br />
noch flexibler als früher auf Änderungswünsche<br />
reagieren – auch, wenn der Kunde<br />
diese erst sehr spät äußert.<br />
julia leendertse | management@wiwo.de<br />
HORVÁTH & PARTNERS<br />
Totale<br />
Transparenz<br />
Auf den ersten Blick mutete das Projekt bei<br />
Faurecia an wie der Versuch, die Zukunft<br />
aus dem Kaffeesatz zu lesen: Wie kann<br />
man als Automobilzulieferer mit der Produktion<br />
einer Auspuffanlage für einen großen<br />
Hersteller wie Mercedes 20 Jahre lang<br />
Profit machen, obwohl einem der Auftraggeber<br />
über den gesamten Zeitraum dieses<br />
Produktzyklus bestenfalls den gleichen<br />
Preis für das Teil bezahlt? Oder diesen im<br />
Laufe der Vertragsdauer gar immer weiter<br />
drückt, weil er davon ausgeht, dass der Zulieferer<br />
über die Automatisierung des Produktionsprozesses<br />
Geld spart? Dass im<br />
gleichen Zeitraum gegebenenfalls Rohstoffpreise<br />
steigen oder neue Umweltvorschriften<br />
die Produktion verteuern? Lässt<br />
den Autohersteller zumindest kalt.<br />
FOTOS: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
86 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
„Wir wollten möglichst hohe Transparenz<br />
über die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen<br />
Programms bekommen – um jederzeit<br />
eingreifen und gegensteuern zu können,<br />
sobald sich Bedingungen ändern“, beschreibt<br />
Altfrid Neugebauer, verantwortlicher<br />
Partner von Horváth & Partners, die<br />
Grundidee des Projekts. „Mit der neu gewonnenen<br />
Transparenz können Lerneffekte<br />
aus laufenden Programmen unmittelbar<br />
auf neue Angebote übertragen werden,<br />
und so kann die Wettbewerbsfähigkeit von<br />
Faurecia gesteigert werden.“<br />
Eine Mammutaufgabe für den Zulieferer<br />
mit seinen 80 000 Mitarbeitern weltweit.<br />
Mehrere Teams mit bis zu 40 Personen aus<br />
verschiedenen Standorten des Konzerns<br />
arbeiteten mit sieben Horváth-Beratern<br />
zusammen.<br />
Die Lösung, die sie dann im vergangenen<br />
Jahr in allen Werken umsetzten: eine<br />
einheitliche Wissensdatenbank mit sämtlichen<br />
<strong>Ausgabe</strong>n und Details zu den Produkten.<br />
Die Teams definierten, wie teuer<br />
die Herstellung sein darf, und entwickelten<br />
geeignete Mittel, um bei ausufernden Kosten<br />
rasch gegensteuern zu können. Zum<br />
Beispiel über einen effizienteren Einkauf<br />
oder den Einsatz neuer Technologien. Bei<br />
einem weiteren Projekt am Standort Augsburg<br />
versuchten sie, die <strong>Ausgabe</strong>n so transparent<br />
wie möglich zu machen. Sogar die<br />
Energiekosten wurden auf jeden einzelnen<br />
produzierten Auspuff aufgeteilt.<br />
So kann das Controlling überwachen, ob<br />
Faurecia auch bei 20 Jahre laufenden Verträgen<br />
kontinuierlich Gewinne erwirtschaftet<br />
oder sich das Management in trügerischer<br />
Sicherheit wähnt, weil Kosten<br />
übersehen werden.<br />
„Faurecia kann heute schneller und genauer<br />
seine Angebote kalkulieren, wettbewerbsfähige<br />
Preise anbieten und frühzeitig<br />
seine Margen absichern“, fasst Horváth-<br />
Berater Neugebauer das Ergebnis des Projekts<br />
zusammen.<br />
Sieger Kategorie<br />
FINANZ- UND<br />
Eine Lösung, die sich für den Auftraggeber<br />
schnell gerechnet hat: Allein durch die<br />
RISIKO-MANAGEMENT<br />
Veränderung der Produktionsabläufe sowie<br />
der Preisgestaltung konnte Faurecia<br />
Projekt: Kosten transparenter machen<br />
Kunde: Faurecia<br />
seine Kosten in allen Werken zusammengenommen<br />
um rund 30 Millionen Euro<br />
Altfrid Neugebauer (links, Horváth),<br />
Markus Bergmann (rechts, Faurecia)<br />
senken. Damit hatten sich die Kosten für<br />
Exzellent: EY<br />
die Beauftragung der Berater bereits nach<br />
Prämiert: Equity Gate Advisors einem Monat amortisiert. »<br />
claudia.toedtmann@wiwo.de<br />
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Management&Erfolg<br />
ROLL & PASTUCH<br />
Wider das<br />
Bauchgefühl<br />
Wie viel verlangen die Wettbewerber? Welche<br />
Qualität liefern sie? Können wir dieses<br />
Angebot unterbieten? Oder für unsere Produkte<br />
mehr verlangen, weil sie besser sind?<br />
Nur einige Fragen, die man sich stellt,<br />
wenn man überlegt, zu welchem Preis man<br />
eine Ware oder Dienstleistung auf den<br />
Markt bringt. Normalerweise.<br />
Offenbar nicht bei TTS Marine: Statt sich<br />
über differenzierte, marktfähige Preise Gedanken<br />
zu machen, rechneten die Mitarbeiter<br />
des Bremer Schiffsausrüsters auf die<br />
Produktionskosten seiner rund 30 000 unterschiedlichen<br />
Produkte von der einfachen<br />
Schraube bis individuell angefertigten<br />
Motoren einfach nach Gefühl einen<br />
Faktor oben drauf – fertig war der Verkaufspreis.<br />
„Wir galten als Apotheke“, sagt TTS-<br />
Manager Frank Rudnik. „Manche Preise<br />
waren einfach zu hoch.“<br />
Zumindest für Produkte, die auch die<br />
Konkurrenz im Angebot hatte. Andere<br />
Teile wiederum, die nur TTS Marine liefern<br />
konnte, boten die Bremer dagegen zu<br />
günstig an. „Ein Ersatzmotor für eine<br />
Ankerwinde, den es nur bei TTS Marine<br />
gibt, kann nicht nach derselben Methode<br />
bepreist werden wie eine Standardschraube,<br />
die überall zu bekommen ist“, sagt Gregor<br />
Buchwald von der auf Preismodelle<br />
spezialisierten Beratung Roll & Pastuch.<br />
Die hatte TTS-Marine-Manager Rudnik<br />
engagiert im Kampf gegen das Sortiment<br />
nach Bauchgefühl.<br />
Also kategorisierten die Berater das riesige<br />
Produktportfolio ihres Kunden, analysierten<br />
den Wert jedes einzelnen Produkts<br />
und loteten dessen optimalen Preis aus.<br />
Die Folge: Bei mehr als 1000 Teilen wurden<br />
die Preise gesenkt, die für einige Spezialitäten<br />
erhöht.<br />
Ein lohnender Schritt, nicht nur aus finanziellen<br />
Gründen: Der Umsatz mit dem<br />
Verkauf der Ersatzteile stieg um 15 Prozent,<br />
das Beraterhonorar hatte sich nach vier<br />
Monaten amortisiert. „Und unser Image im<br />
Markt“, sagt TTS-Manager Rudnik, „hat sich<br />
gedreht.“<br />
„Das Projekt hilft, den Umsatz durch<br />
Wissenstransfer zu steigern“, sagt Christian<br />
Schmitz, Marketingprofessor an der Ruhr-<br />
Universität Bochum und Mitglied des<br />
Fachbeirats von Best of Consulting. „Kundenkenntnis,<br />
Fachwissen und klare Prioritäten<br />
werden optimal miteinander verzahnt.“<br />
Das hat sich offenbar bis nach Norwegen<br />
rumgesprochen – dort sitzt die Zentrale der<br />
TTS-Gruppe. Sie will ähnliche Projekte nun<br />
auch in ihren anderen Konzerntöchtern<br />
anschieben.<br />
claudia.toedtmann@wiwo.de<br />
Sieger Kategorie<br />
MARKETING & VERTRIEB<br />
Projekt: Preisstrategie<br />
Kunde: TTS Marine<br />
Maike Breithaupt (links), Frank Rudnik<br />
(rechts, beide TTS Marine), Gregor<br />
Buchwald (Mitte, Roll & Pastuch)<br />
Exzellent: Mücke Sturm & Company<br />
Prämiert: Allianz Consulting<br />
FOTOS: NILS HENDRIK MÜLLER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, KLAUS WEDDIG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
88 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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PROMERIT<br />
Wandel mit vier<br />
Buchstaben<br />
Sieger Kategorie<br />
PERSONAL<br />
Projekt: Kulturwandel<br />
Kunde: SEBN<br />
Barbara Graf-Detert (links, SEBN), Daniel<br />
Tasch (rechts, Promerit)<br />
„VW“ stand in großen Lettern auf dem<br />
Reservierungsschild im Restaurant. Dabei<br />
trafen sich an dem Tisch des Gasthauses<br />
Exzellent: Detecon International<br />
im Städtchen Nitra keine Vertreter des<br />
Prämiert: Deloitte Consulting<br />
deutschen Automobilbauers, sondern<br />
Manager des japanischen Automobilzulieferers<br />
Sumitomo Electric Bordnetze<br />
zu einem internen Geschäftsessen in einer<br />
Lokalität an ihrem slowakischen<br />
Standort.<br />
Das war im Sommer 2012 – und so ähnlich<br />
auch immer wieder an vielen anderen<br />
der knapp zwei Dutzend weltweiten SEBN-<br />
Standorte zu beobachten. Und das, obwohl<br />
der japanische Elektronikkonzern Sumitomo<br />
den Gemeinschaftseigentümern Volkswagen<br />
und Siemens das Unternehmen,<br />
das die gesamte Elektrik im Auto verkabelt,<br />
schon 2006 abgekauft hatte.<br />
„Wir waren viele Jahre nicht Fisch, nicht<br />
sich mit dem neuen Eigentümer zu identifizieren.<br />
Die Personalmanagerin wollte das ändern<br />
– und holte ein Beraterteam von Promerit<br />
ins Haus. Zunächst in die SEBN-Zentrale<br />
in Wolfsburg, dann an jeden der 23<br />
Standorte weltweit. Werksleiter, Teamchefs,<br />
Personalverantwortliche und Mitarbeitervertreter<br />
erarbeiteten in Workshops,<br />
was künftig zählen sollte: Stabilität, Respekt,<br />
Verantwortung, Freiraum, Fairness.<br />
Keine Worthülsen sollten das sein, sondern<br />
Begriffe, die dazu beitragen, Management<br />
und Mitarbeiter stärker mit Job und<br />
managerin Graf-Detert. „Denn die alten<br />
Lateiner hatten recht:Nomen est omen.“<br />
Was die rund 25 000 Mitarbeiter des<br />
Unternehmens besonders schätzten: Die<br />
Geschäftsführer gingen höchstselbst auf<br />
weltweite Werbetour. Im Dialog mit Mitarbeitern<br />
in Marokko und Mexiko, in Bulgarien<br />
und Belgien warben sie für das neue<br />
Selbstverständnis des Unternehmens. Von<br />
dem angestrebten Kulturwandel allerdings<br />
war offiziell keine Rede.<br />
„Wir sprachen in der Vergangenheit immer<br />
von eher abstrakten Zielen wie neuer<br />
Unternehmensstrategie, mehr Marktanteilen,<br />
einer höheren Umsatzrendite“, sagt<br />
Fleisch“, erinnert sich Barbara Graf-Detert Arbeitgeber zu identifizieren. „SEBN sollte<br />
an die Schwierigkeiten der Mitarbeiter, zu unserem Signal werden“, sagt Personal- Promerit-Berater Daniel Tasch. „Ohne »<br />
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Management&Erfolg<br />
»<br />
die nötige Identifikation mit dem Unternehmen<br />
erreicht man diese Ziele natürlich<br />
nicht – der Kulturwandel purzelte da fast<br />
von selbst hinten heraus.“<br />
Zu diesem Kulturwandel gehört auch, eigene<br />
Talente stärker zu fördern – bald sollen<br />
auch standortübergreifende, internationale<br />
Karrieren systematisch gefördert<br />
werden. „Auch ein attraktiver Arbeitgeber“,<br />
sagt Promerit-Berater Tasch, „wird man<br />
eben nur von innen heraus.“<br />
Dass der Umschwung nicht nur intern,<br />
sondern auch außerhalb des Unternehmens<br />
angekommen ist, zeigt Personalmanagerin<br />
Graf-Deter ein Blick auf die unternehmenseigene<br />
Karriere-Web-Site. „Die<br />
Kandidaten, die sich bei uns bewerben, haben<br />
eine höhere Qualität als vor unserem<br />
Projekt“, sagt die Personalmanagerin<br />
– einen Qualitätsmanager<br />
etwa konnte sie ohne Headhunter<br />
für das Unternehmen gewinnen.<br />
„Die Berater entwickelten eine<br />
durchdachte umfassende Lösung,<br />
die gut strukturiert, pragmatisch<br />
und maßgeschneidert<br />
war“, sagt Fachbeirat Torsten Biemann,<br />
der an der Universität Mannheim<br />
Personalmanagement lehrt. „Besonders<br />
beeindruckend war, wie sich die Manager<br />
systematisch Werk für Werk vornahmen.“<br />
Und so steigt die Chance, dass das Kürzel<br />
SEBN künftig auch in Restaurants an den<br />
anderen Standorten des Unternehmens<br />
ein Begriff ist – in Changchun im Nordosten<br />
Chinas wie im bayrischen Hepberg.<br />
ruth lemmer | management@wiwo.de<br />
Online<br />
Bilder von der<br />
Preisverleihung<br />
finden Sie in<br />
unserer App-<strong>Ausgabe</strong><br />
und auf<br />
wiwo.de/boc2014<br />
WASSERMANN<br />
Nah am Ideal<br />
Den ersten Spatenstich für das Großgetriebewerk<br />
in Bruchsal setzte SEW Eurodrive<br />
im Jahr 2008 – gerade mal zwei Jahre später<br />
begann die Produktion: Der inhabergeführte<br />
Maschinenbauer, spezialisiert auf<br />
Antriebstechnik, konstruiert und baut in<br />
den neuen Hallen Großgetriebe für Kräne,<br />
die in den Häfen von Duisburg bis Shenzen<br />
Container <strong>vom</strong> Schiff aufs Land hieven.<br />
Oder für kilometerlange Förderbänder, die<br />
Kohle und Kies transportieren.<br />
In dem Neubau lag die Chance, die Wertschöpfungskette<br />
von der Auftragsgewinnung<br />
bis zur Auslieferung präzise aufeinander<br />
abzustimmen. Denn<br />
während der Hallenboden aus<br />
Beton gegossen wurde, planten<br />
die künftigen Werksleiter die Arbeitsschritte<br />
in der Konstruktion,<br />
der Materialbeschaffung und der<br />
Fertigung. Schon in dieser Phase<br />
beauftragte SEW Eurodrive das<br />
Münchner Beratungsunternehmen<br />
Wassermann damit, die<br />
Übergänge von einem Schritt zum nächsten<br />
zu perfektionieren – auch mithilfe einer<br />
Software, die Wassermann entwickelte und<br />
die die Datenmassen permanent kontrolliert.<br />
Das Ergebnis: Vom Auftragseingang<br />
über die Montage bis zur Auslieferung an<br />
den Kunden können Mitarbeiter nun alle<br />
Schritte bequem und in Echtzeit beobachten.<br />
Sind die Gussmodelle des Getriebes<br />
Die Jury<br />
Vom Management-Professor bis<br />
zum Konzernstrategen: Wer die<br />
Consulting-Sieger kürte.<br />
ULRICH BECKER<br />
Managing Director für Business Design<br />
und Effectiveness bei der Schweizer Bank<br />
UBS.<br />
THOMAS DEELMANN<br />
verantwortet den Bereich Strategische<br />
Frühaufklärung und Planung bei T-Systems<br />
und lehrt als Professor für Corporate<br />
Management und Consulting an der BiTS-<br />
Hochschule in Iserlohn.<br />
HORST J. KAYSER<br />
leitet die Siemens-Konzernstrategie.<br />
ALEXANDER MEYER<br />
AUF DER HEYDE<br />
leitet die interne Unternehmensberatung<br />
bei Bayer. War zuvor Partner beim Beratungsunternehmen<br />
Accenture.<br />
AXEL WACHHOLZ<br />
verantwortet in der Geschäftsführung des<br />
Bad- und Armaturenherstellers Viega die<br />
Ressorts Finanzen und Informationstechnologie.<br />
LARS WELLEJUS<br />
Professor für Finanzierung an der Frankfurt<br />
University of Applied Sciences.<br />
90 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Sieger Kategorie<br />
SUPPLY CHAIN<br />
Projekt: Verzahnung der Wertschöpfung<br />
Kunde: SEW Eurodrive<br />
Andreas Schulz (links, Wassermann),<br />
Rainer Feßler (rechts, SEW Eurodrive)<br />
Exzellent: Barkawi<br />
Prämiert: 4Flow<br />
FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
fertig, an dem der Kunde einen Sensor<br />
links oben haben will? Fehlt die passende<br />
Schraubengröße? Auf acht großen Bildschirmen<br />
sehen Mitarbeiter und Manager,<br />
ob es an der einen oder anderen Stelle der<br />
Lieferkette Verzögerungen gibt – und können<br />
gleich einschreiten. Nachts läuft die<br />
Kontrolle automatisiert. Morgens in der<br />
Frühbesprechung werden die Planungsdaten<br />
mit dem Produktionsfortschritt abge-<br />
glichen. Nachmittags werden in einer<br />
Kurzrunde Problemlösungen besprochen<br />
– alle Fachleute arbeiten Hand in Hand.<br />
„Wir terminieren und überwachen Konstruktion,<br />
Produktion und Auslieferung mit<br />
der Software von Wassermann viel schneller<br />
und präziser als früher“, sagt Rainer Feßler,<br />
der das Projekt für SEW vorantrieb und heute<br />
das Auftragszentrum des Mittelständlers<br />
leitet. „Das schafft Wettbewerbsvorteile.“<br />
Auch, weil die Abstimmungsprozesse<br />
zwischen den Abteilungen klar geregelt<br />
sind. „Bei SEW Eurodrive“, sagt Wassermann-Berater<br />
Andreas Schulz, „wird nicht<br />
nur geredet, sondern gehandelt.“<br />
Beachtliche 99 Prozent der riesigen Metallgehäuse<br />
mit den rotierenden Motoren<br />
liefert das Unternehmen heute auf den Tag<br />
pünktlich aus. Anlass zum Nachbessern<br />
sieht das Management dennoch – nicht auf<br />
der Jagd nach dem fehlenden Quäntchen<br />
in Sachen Liefertreue, sondern bei der internen<br />
Verzahnung der einzelnen Schritte<br />
entlang der Wertschöpfungskette. Auch an<br />
diesem Feinschliff beteiligen sich die Wassermann-Berater.<br />
Das hat die Jury überzeugt. „Komplizierte<br />
Entwicklungs- und Produktionsstufen<br />
werden an diesem Standort von SEW Eurodrive<br />
genauso beherrscht wie das Einbeziehen<br />
aller Beteiligten“, sagt Lars Wellejus,<br />
BoC-Juror und Betriebswirtschaftsprofessor<br />
an der Frankfurt University for Applied<br />
Sciences. „Was dort passiert, kommt dem<br />
Ideal von Fabrik sehr nah.“<br />
n<br />
ruth lemmer | management@wiwo.de<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Geld&Börse<br />
Nicht schutzlos<br />
ausgeliefert<br />
LEBENSVERSICHERUNG | Welchen Versicherern Anleger noch ihr Geld anvertrauen dürfen,<br />
zeigt das große WirtschaftsWoche-Ranking. Je nach Lebenssituation und früherem<br />
Anlageverhalten sollten Investoren mit ihrem Ersparten umgehen. Wann eine Police zu<br />
halten, neu abzuschließen oder zu kündigen ist, erklären Fälle von fünf Kunden.<br />
Soeinen Unterschied zwischen<br />
Versprechen und Wirklichkeit<br />
gab es in der Welt der Versicherungen<br />
noch nie: Drei Prozent<br />
wollen die Assekuranzen ihren<br />
Lebensversicherungskunden im Durchschnitt<br />
Jahr für Jahr garantiert gutschreiben.<br />
Doch wenn die Versicherungsmanager<br />
das täglich in Millionenhöhe hereinströmende<br />
Geld anlegen wollen, haben sie<br />
ein Problem. Denn wenn sie sich wie gewohnt<br />
langfristig und extrem sicher binden<br />
wollen, in Bundesanleihen über zehn Jahre<br />
etwa, würden sie nicht einmal ein Prozent<br />
herausbekommen. Deshalb sinkt der Garantiezins<br />
in zwei Monaten erneut. Von<br />
2015 an liegt er bei nur noch 1,25 Prozent –<br />
aktuell sind es noch 1,75 Prozent. Daher<br />
trommeln Versicherer im Endspurt mit<br />
Slogans wie „Verschenken Sie kein Geld“<br />
und richten auf ihren Web-Seiten gar<br />
Countdowns ein. Zeit also, dass sich Anleger<br />
mit den Lebensversicherern auseinandersetzen.<br />
Wer kapitalstark ist und hohe<br />
Renditen verspricht, zeigt das große Exklusiv-Ranking<br />
der WirtschaftsWoche.<br />
FALL I<br />
Mit Kleinbeträgen<br />
lange sparen<br />
Schnell noch Langfristsparer zu einer Unterschrift<br />
unter einen Rentenvertrag zu bewegen,<br />
das hat bei Natalie Tiranno aus<br />
Frankfurt bereits geklappt. Die 35-Jährige<br />
hatte sich schon seit einiger Zeit immer<br />
wieder zum Thema Rente beraten lassen.<br />
Doch unterschrieben hat die Freiberuflerin<br />
erst diesen Oktober. „Ich wollte schon<br />
Am Tropf des Anleihenmarktes<br />
Wo Lebensversicherer investiert sind<br />
(in Prozent)<br />
Gesamt:<br />
811 Mrd. €<br />
Quelle: GDV<br />
Anleihenfonds<br />
24,9<br />
Pfandbriefe 20,1<br />
Bankdarlehen 11,5<br />
Staatsdarlehen 9,3<br />
Hypothekendarlehen 6,0<br />
Staatsanleihen 5,9<br />
Andere Anleihen und Darlehen 4,2<br />
Immobilien 3,9<br />
Unternehmensanleihen und -darlehen 3,7<br />
Aktien<br />
Beteiligungen<br />
Nachränge und Genussrechte<br />
Tagesgelder 1,4<br />
Sonstige Anlagen 1,7<br />
3,4<br />
2,3<br />
1,7<br />
lange was für die Rente machen, wusste<br />
aber nicht, wie und was“, sagt die Lehrerin,<br />
die Menschen über Musik Fremdsprachen<br />
beibringt. Melodie und Rhythmik nehmen<br />
ihren Schülern die Angst vor Sprachen –<br />
das Versprechen, mit kleinen Beiträgen flexibel<br />
fürs Alter vorzusorgen, nahm ihr jetzt<br />
die Scheu vor der Entscheidung für das<br />
Renten-Sparen. Fünf Jahre lang will die<br />
Selbstständige 70 Euro im Monat zahlen,<br />
danach soll der Beitrag auf 130 Euro steigen.<br />
„Ich denke, dass ich mir den höheren<br />
Betrag dann leisten kann.“ Falls nicht, dann<br />
darf sie auch bei dem niedrigeren Beitrag<br />
bleiben; die Vertriebsprovision bliebe aber<br />
wie gehabt und drückte dann die Rendite.<br />
Mit wie viel Geld sie im Rentenalter rechnen<br />
kann, weiß sie ohnehin nicht genau.<br />
Sicher sind ihr lediglich aktuell garantierte<br />
166 Euro im Monat, wenn sie 31 Jahre lang<br />
wie geplant einzahlen sollte.<br />
Und anders als es die Versicherer in ihrer<br />
Werbung hinausposaunen, ist der Garantiezins<br />
auch nur ein Teil der Wahrheit.<br />
Denn der wird nur auf denjenigen Anteil<br />
am Kapital gezahlt, den der Versicherer<br />
nach Abzug seiner Kosten anlegt – und das<br />
können je nach Höhe des in der Lebensversicherung<br />
eingebauten Todesfallschutzes<br />
plus weitere Kosten auch nur 70 bis 80 Prozent<br />
der eingezahlten Kundengelder sein.<br />
Folge: „Wegen der niedrigen Zinsen kann<br />
besonders bei kurzlaufenden Verträgen<br />
von bis zu zwölf Jahren die ausgezahlte<br />
Summe unter der eingezahlten liegen“, hat<br />
Axel Kleinlein, Vorstandschef beim Bund<br />
der Versicherten, ausgerechnet. Deshalb<br />
ist es für Kunden wichtig, dass ihr Versicherer<br />
geringe Kosten hat. Und da es bei insgesamt<br />
811 Milliarden Euro an Einlagen nicht<br />
um Kleingeld geht, muss der Versicherer<br />
zudem kapitalstark sein. Das bedeutet,<br />
dass er mit seinen Anlagen künftig deutlich<br />
mehr erwirtschaften kann, als er an Garantiezins<br />
zahlen muss.<br />
70 VERSICHERER IM CHECK<br />
Tiranno hat nicht nur die noch bis Jahresende<br />
geltenden höheren Garantiezinsen mitgenommen.<br />
Sie kann mit ihrer Entscheidung<br />
vor allem deswegen ruhig schlafen,<br />
weil sie ihre Versicherung bei der Debeka<br />
abgeschlossen hat. Diese zählt im Rating<br />
der WirtschaftsWoche seit Jahren zu den kapitalstärksten<br />
Lebensversicherern der Branche,<br />
2014 liegt sie auf Platz zwei. Damit Anleger<br />
vorbildliche Versicherer aufspüren<br />
oder ihre bestehenden Verträge abklopfen<br />
können, haben der Wiener Finanzwissenschaftler<br />
Jörg Finsinger und das Analysehaus<br />
Softfair zum 18. Mal im Auftrag der<br />
»<br />
ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />
92 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
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Geld&Börse<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 70 Lebensversicherer<br />
aus Sicht der Kunden analysiert (Rating und<br />
Methodik siehe Seite 98).<br />
Wer neu abschließt, muss zudem mit einem<br />
rechnen: Er könnte Kunden mit alten<br />
Verträgen subventionieren. Schuld ist das<br />
Gefälle zwischen hohen und niedrigen Garantien.<br />
1994 stieg der Garantiezins mit<br />
vier Prozent auf seinen höchsten Stand,<br />
seit Sommer 2000 aber ist er rückläufig<br />
(siehe Grafik unten). Wer noch einen Vertrag<br />
aus den goldenen Jahren hat, bekommt<br />
eben jene vier Prozent – bis zum<br />
Laufzeitende. Doch Zinsen auf sichere Anlagen,<br />
die Versicherer am Kapitalmarkt bekommen,<br />
sind niedrig – aktuell rentieren<br />
etwa 16-jährige Bundesanleihen bei 1,4<br />
Prozent. Die Finanzaufsicht BaFin hat die<br />
Branche daher dazu verdonnert, zusätzliches<br />
Geld speziell für Hochprozent-Verträge<br />
zurückzulegen, seit 2011 rund 19 Milliarden<br />
Euro.<br />
ZWEIKLASSENGESELLSCHAFT<br />
Bisher spielte der garantierte Zins nur im<br />
Einzelfall eine Rolle; die meisten Versicherer<br />
haben bei der Überschussbeteiligung<br />
(Garantiezins plus Bonus) alle Kunden<br />
gleich behandelt: Ende des Jahres legten<br />
sie die Mehrrendite für das kommende<br />
Jahr fest, zuletzt lag die Gesamtverzinsung<br />
laut der Ratingagentur Assekurata für alle,<br />
die bis zum Vertragsende durchhalten, im<br />
Schnitt bei 4,3 Prozent – egal, welcher Garantiezins<br />
im Vertrag stand. Doch Achtung:<br />
Einzelne Versicherer liegen drunter. Inklusive<br />
aller Bonusbeträge zahlt etwa die Ergo<br />
Lebensversicherung für 2014 nur eine Gesamtverzinsung<br />
von 3,55 Prozent. Das ist<br />
das Problem: Sinkt die Verzinsung unter<br />
4,0, dann bekommen Kunden mit einem<br />
4,0-Prozent-Vertrag weiter ihre Garantien –<br />
das Geld kann nicht mehr an andere ausgeschüttet<br />
werden. Ergo teilte dazu lapidar<br />
mit, dass Kunden „mindestens den Garantiezins“<br />
bekämen. Und der könne „höher<br />
sein als die für 2014 deklarierte Gesamtverzinsung“.<br />
Übersetzt heißt das: Jungen Kunden<br />
muss Ergo Rendite abknapsen, um alte<br />
vertragsgemäß zu bedienen. Willkommen<br />
in der Zweiklassengesellschaft.<br />
FALL II<br />
Vier Prozent<br />
bis zum Jahr 2034<br />
Simone G. ist eine der glücklich versicherten:<br />
Als 30-Jährige hat sie 1999 einen bis<br />
2034 laufenden Vertrag unterschrieben —<br />
zum Höchstgarantiezins. Die Entscheidung<br />
für die Police fiel der Frau aus Eisenberg<br />
leicht: Es sei schon damals „kein Geheimtipp<br />
mehr“ gewesen, dass „die spätere<br />
gesetzliche Rente nicht ausreichen wird“.<br />
Also unterschrieb sie – und hielt auch gegen<br />
Widerstände am Vertrag fest.<br />
Einmal wollte sie ein Verkäufer aus einem<br />
Strukturvertrieb zum Umschichten<br />
bewegen. „Bestehende Verträge sollten<br />
mal geprüft werden“, um mehr aus ihren<br />
Sparraten zu machen, warb der Vertriebler.<br />
Sein eigennütziger Vorschlag: Sie sollte auf<br />
eine Police setzen, die nicht mehr wie bisher<br />
garantierte Zinsen hat, sondern indirekt<br />
über Fonds an den Kapitalmarkt geht.<br />
„Durch die Anlage in Fonds könnte mehr<br />
als das Doppelte an Kapital bis zum Ablaufdatum<br />
erzielt werden, wurde mir versprochen“,<br />
so Simone G. Doch der Haken:<br />
Eine fondsbasierte Lebensversicherung<br />
garantiert keine Mindestrente. „Als sicherheitsorientierter<br />
Mensch wusste ich aber,<br />
dass meine bisherige Versicherung zum<br />
Ablauf garantiert fast 50 000 Euro auszahlen<br />
wird“, sagt Simone G. Das habe das<br />
neue Angebot nicht bieten können.<br />
Simone G. kann doppelt froh über ihre<br />
ablehnende Haltung sein, hätte sie doch<br />
Steuervorteile verloren (siehe Grafik unten).<br />
Sicherheit gab ihr zudem die Honorarberatung<br />
Zeroprov in Schkölen nahe Jena.<br />
Von der Kündigung ihrer Police hat Zeroprov<br />
nach Durchsicht der Unterlagen<br />
„klar abgeraten“. Grund: In 35 Jahren zahlt<br />
G. deutlich weniger ein, als sie herausbekommt.<br />
Für G. liegt die Rendite allein auf<br />
die Beiträge zur Lebensversicherung bei<br />
rund 2,7 Prozent – gerechnet ohne eine Beteiligung<br />
an möglichen Überschüssen. „Ich<br />
verliere kein Geld und bin während der<br />
Laufzeit noch gegen Berufsunfähigkeit abgesichert“,<br />
rechnet die Mittvierzigerin vor.<br />
Ihre Versicherung beinhaltet neben einem<br />
Todesfallschutz auch eine Absicherung gegen<br />
Berufsunfähigkeit, für die sie extra<br />
zahlt. Falls sie nicht mehr arbeiten könnte,<br />
bekäme sie 767 Euro pro Monat, und ihr<br />
Versicherer, die Alte Leipziger, würde ihren<br />
Versicherungsbeitrag bis zum planmäßigen<br />
Ablauf der Leben-Police übernehmen.<br />
Alte Vorteile nicht vorschnell aufgeben<br />
Wie sich Steuerförderung und Garantiezinsen bei Lebensversicherungen im Laufe der<br />
vergangenen drei Jahrzehnte entwickelt haben (in Prozent)<br />
Wer vor 2005 einen<br />
Vertrag unterschrieben<br />
hat, kassiert die einmalige<br />
Auszahlung<br />
steuerfrei, wenn der<br />
Vertrag mindestens<br />
zwölf Jahre lief<br />
Juli<br />
1986<br />
Für Verträge von<br />
2005 an gilt: Wird<br />
Kapital am Ende auf einen<br />
Schlag ausgezahlt, wird die<br />
Hälfte des Wertzuwachses mit<br />
dem persönlichen Einkommensteuersatz<br />
versteuert, wenn der<br />
Kunde bei der Auszahlung mindestens<br />
60 Jahre alt ist und der<br />
Vertrag minimum zwölf Jahre<br />
lief; sonst keine Steuervorteile<br />
seit Juli<br />
1994<br />
seit Juli<br />
2000<br />
Wurde der Vertrag seit<br />
2012 abgeschlossen,<br />
gilt die vorstehende<br />
Regelung erst für<br />
das 62. Lebensjahr<br />
seit Januar<br />
2004<br />
seit Januar<br />
2007<br />
* Beispiel: Fließen <strong>vom</strong> 65. Geburtstag an jährlich 12000 Euro aus einer Rentenversicherung, setzt der Fiskus den<br />
Wertzuwachs mit 18 Prozent an, macht 2160 Euro. Bei einem Steuersatz von 20 Prozent muss der Rentner dem Staat<br />
folglich 432 Euro jährlich überweisen; Quelle: GDV, eigene Recherche<br />
Für monatliche Renten<br />
gilt generell: Der Kunde<br />
muss nur den theoretischen<br />
Wertzuwachs<br />
mit seinem Steuersatz<br />
versteuern*<br />
seit Januar<br />
2012<br />
von Januar<br />
2015 an<br />
4,0<br />
3,5<br />
3,0<br />
2,5<br />
2,0<br />
1,5<br />
1,0<br />
KOPPELVERTRÄGE<br />
So wie Simone G. haben viele den Schutz<br />
gegen Berufsunfähigkeit an ihren Vertrag<br />
gekoppelt. Wer neu abschließt, sollte Verträge<br />
aber nicht zusammenfassen. Nur so<br />
können Sparer in einer Notlage entscheiden,<br />
welcher Vertrag wichtiger ist. Dann<br />
können Anleger den Leben-Vertrag kündigen,<br />
ohne ihre Absicherung gegen Berufsunfähigkeit<br />
zu verlieren – oder umgekehrt.<br />
Wer einen gekoppelten Vertrag kündigen<br />
muss und eine neue Absicherung abschließt,<br />
für den werden oft Vorerkrankungen<br />
zum Problem, die er beim Abschluss<br />
der alten Police nicht hatte. Vorbelastete<br />
Kunden sind ein höheres Risiko für die Versicherung,<br />
welches sie sich vergüten lässt.<br />
Wer krank ist, könnte allein wegen des integrierten<br />
Risikoschutzes seiner alten Police<br />
gezwungen sein, einen unrentablen Vertrag<br />
weiter zu besparen. Wer aussteigen<br />
muss und eine Absicherung gegen den To-<br />
94 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />
Menschen benötigen im Alter ein<br />
kalkulierbares Einkommen<br />
desfall braucht, sollte prüfen, ob er eine separate<br />
Risikolebensversicherung abschließen<br />
kann, die nur im Todesfall einspringt.<br />
Angesichts extrem niedriger Zinsen ist es<br />
ohnehin fragwürdig, ob es sich noch lohnt,<br />
eine Lebensversicherung abzuschließen<br />
oder eine unrentable zu halten. Die Antwort<br />
lautet erst einmal: nein.<br />
Zum einen liegen die Zinsen auf vermeintlich<br />
sichere Geldanlagen wie Pfandbriefe,<br />
Staatsanleihen oder Bankdarlehen,<br />
wie Lebensversicherer sie benötigen, seit<br />
Jahren tief: Laut dem Spezialisten für Lebensversicherungen,<br />
Assekurata, sinken<br />
die durchschnittlichen Überschüsse der<br />
Versicherten seit 2009 fortwährend.<br />
Hinzu belasten neue Eigenkapitalvorschriften,<br />
bei denen die Versicherer Extra-<br />
Geld als Sicherheitspuffer zur Seite legen<br />
müssen, wenn sie in chancenträchtige,<br />
aber riskantere Anlagen wie Aktien investieren<br />
wollen. Nur für Staatsanleihen sind<br />
keine Extra-Euro nötig. Politikern kommt<br />
* Name geändert<br />
das zupass: Versicherer werden in unrentable<br />
Staatsanleihen getrieben, Versicherte<br />
finanzieren so die klammen Staaten durch<br />
die Hintertür – der Regulierung sei Dank.<br />
Und doch spricht eins für den Rentenvertrag:<br />
Menschen brauchen im Alter kalkulierbares<br />
Einkommen. Wer weiß schon,<br />
wie alt er wird, wie viel er sparen muss? Daher<br />
ist es richtig, auf Sparen und Rente zu<br />
setzen. Wer sicher sein will, sollte umfassend<br />
vorsorgen – mit gesetzlicher und privater<br />
Rente sowie eigenen Spargroschen.<br />
FALL III<br />
Einmal zahlen,<br />
sofort Rente<br />
So wie Bernd Schneider*. Der 62-Jährige<br />
hat der Alten Leipziger im Februar 150 000<br />
Euro überwiesen. Gegenleistung: eine sofort<br />
beginnende Rentenzahlung. Monat für<br />
Monat bekommt der Privatier nun rund<br />
720 Euro aufs Konto, fest garantiert hat ihm<br />
der Versicherer davon 540 Euro. Den Aufschlag<br />
gibt es, wenn die Kapitalanlage der<br />
Versicherung gut läuft.<br />
Der Privatier aus Mühlacker bei Pforzheim<br />
ist happy mit seiner Sofortrente, als<br />
ehemaliger Selbstständiger ist er auf die private<br />
Rente voll angewiesen: „Für meine Versorgung<br />
im Alter brauche ich Sicherheit in<br />
Form von regelmäßigen Einnahmen“, sagt<br />
er. Schließlich wisse ja auch er nicht, wie alt<br />
er werde. „Meine Versicherung ist meine<br />
Wette auf ein langes Leben. Das Butterbrot<br />
muss sicher sein, nun kann ich mich um die<br />
Marmelade kümmern“, sagt er. Das Butterbrot<br />
sind die regelmäßigen Zahlungen, die<br />
Marmelade sein Erspartes. Das legt er auch<br />
schon mal riskanter an, etwa in Aktien.<br />
Dank Kunden wie Schneider boomt bei<br />
den Versicherern zumindest das Geschäft<br />
mit Einmalbeiträgen, bei denen Menschen<br />
eine große Summe auf einen Schlag einzahlen:<br />
Die Branche sammelte 2013 auf<br />
diese Weise rund 25 Milliarden Euro ein –<br />
ein Plus von über 14 Prozent.<br />
ALTERNATIVE GESETZLICHE RENTE<br />
Eine Alternative zur Privatversicherung<br />
gibt es laut Mathematiker Kleinlein mit der<br />
deutschen Rentenversicherung: „Wer früher<br />
als zum gesetzlichen Rentenbeginn in<br />
Rente geht, muss Abschläge in Kauf nehmen.<br />
Von diesen aber kann man sich freikaufen.“<br />
Zu diesem Zweck überweisen<br />
Frührentner dem Staat ein paar Tausend<br />
Euro, im Gegenzug gibt es ein paar Rentenpunkte<br />
mehr. „Die staatliche Rente, die<br />
man je 10 000 investierten Euro herausbekommt,<br />
ist höher als bei einem privaten<br />
Versicherer“, sagt Kleinlein.<br />
Wer lieber eine Lebensversicherung abschließt,<br />
darf sich keine zu hohe finanzielle<br />
Last aufbürden, das beweisen Tausende<br />
Kündiger jedes Jahr. Denn kaum ein Kunde<br />
hält bis zum Ende der Vertragslaufzeit<br />
durch – allein 2013 wurden 3,32 Prozent<br />
der Verträge gekündigt.<br />
Doch wer kündigt, verliert Geld. Versicherte<br />
erhalten zwar einen Rückkaufswert,<br />
doch der liegt gerade anfangs weit unter<br />
den eingezahlten Beiträgen. Kunden bekommen<br />
dann knapp die Hälfte ihres bereits<br />
angesparten Guthabens nach Abzug<br />
von Kosten zurück. Beinhaltet der Vertrag<br />
zudem einen Risikoschutz, wie eine hohe<br />
Zahlung im Todesfall, können die Verluste<br />
allerdings dramatischer sein.<br />
Die Kündigung hat weitere Nachteile: Der<br />
Versicherer kürzt das angesparte Guthaben<br />
um Stornokosten, zudem fallen Schlussüberschüsse<br />
weg, die erst am Ende gezahlt<br />
würden. Je nach bisheriger Laufzeit sind<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 95<br />
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Geld&Börse<br />
Sinnvoll kann sein, sich von Policen<br />
mit niedrigem Zins zu trennen<br />
»<br />
Steuervorteile in Gefahr. „Statt zu kündigen,<br />
wäre es dann sinnvoller, die Police beitragsfrei<br />
zu stellen“, rät der Stuttgarter Versicherungsberater<br />
Karsten George.<br />
Wer seine Police beitragsfrei stellt, lässt<br />
das Geld bei der Versicherung, zahlt aber<br />
keine Beiträge mehr ein. Gut ist das etwa<br />
für kurzfristig klamme Menschen, die nicht<br />
an das Geld müssen. Pferdefuß: „Lebensversicherungen<br />
lassen sich erst dann beitragsfrei<br />
stellen, wenn sie eine bestimmte<br />
Versicherungssumme oder Mindestrente<br />
erreicht haben“, sagt George. Wann der<br />
Wert erreicht ist, steht im Vertrag.<br />
FALL IV<br />
Viele Verträge,<br />
viele Probleme<br />
Schon eine Lebensversicherung kann also<br />
Probleme machen. Barbara Reinfeld* aus<br />
Hamburg hat den Schwierigkeitsgrad glatt<br />
vervierfacht. Schuld, so die selbstständige<br />
Psychotherapeutin, seien Ratschläge eines<br />
Finanzberaters, dem sie 2005 ihre Altersvorsorge<br />
anvertraute. „Eigentlich wollte ich<br />
mein Geld im Versorgungswerk der Psychotherapeuten<br />
anlegen, schließlich hatte<br />
ich nur eine geringe gesetzliche Rente zu<br />
erwarten“, sagt die Mitte 50-Jährige, „leider<br />
habe ich mich anders entschieden.“<br />
Sie ließ eine damals bereits laufende Kapitallebensversicherung<br />
der „neue leben“<br />
beitragsfrei stellen, weil ihr Finanzberater<br />
mehr Rendite versprach mit Policen, die in<br />
Fonds investieren. Als Ersatz für die Police<br />
der „neue leben“ schloss sie drei weitere<br />
Lebensversicherungen ab. Nur bei einer<br />
davon, der Police der Helvetia Versicherung,<br />
läuft es wie versprochen: Die Beiträge<br />
verzinsen sich positiv. Bei den beiden anderen<br />
fondsgebundenen Versicherungen –<br />
eine von der liechtensteinischen Vienna Life,<br />
eine andere von der britischen Friends<br />
for Provident – hat sie dagegen Geld verloren.<br />
Nun überlegt die Therapeutin juristisch<br />
gegen Vienna Life vorzugehen, weil es<br />
Streit um die Höhe des Guthabens gibt. Da<br />
ihre Rechtsschutzversicherung für einen<br />
Prozess nicht aufkommen will, müsste sie<br />
dafür etwa 6000 Euro aus eigener Tasche<br />
zahlen. Kein Wunder, dass sie noch zögert.<br />
Bereits entschieden hat sie sich dagegen<br />
bei Friends for Provident:Sie stellte die Police<br />
beitragsfrei. Zu schwach war ihr die<br />
Wird langsam mehr<br />
Wie viel die Versicherer bei gekündigten<br />
Lebensversicherungen seit 2002 ausgezahlt<br />
haben (in Milliarden Euro)<br />
9<br />
2002 2005 2008 2011 2013<br />
Quelle: GDV<br />
15<br />
14<br />
13<br />
12<br />
11<br />
10<br />
Performance der Fonds, in die Beiträge<br />
flossen. Wer wie Reinfeld mehrere Policen<br />
hat, sollte schauen, wie hoch der jeweilige<br />
Garantiezins ist. Sinnvoll könnte es sein,<br />
sich von Policen mit niedrigerem Zins zu<br />
trennen, wenn gleichzeitig der Anbieter<br />
auch noch kapitalschwach sein sollte.<br />
Oben auf der Streichliste stehen zudem<br />
Fondspolicen, die keine Garantie bieten.<br />
LEBENSZEIT 105 JAHRE<br />
Bei Rentenversicherungen kommt es zudem<br />
auf die Sterbetafeln an. Damit berechnen<br />
Versicherer die Höhe ihres Risikos: Je<br />
älter Kunden werden, desto länger fließt<br />
Rente. Die Sterbetafeln werden daher regelmäßig<br />
an die steigende Lebenserwartung<br />
angepasst. „Versicherer kalkulieren<br />
für Neugeborene inzwischen mit einer Lebenserwartung<br />
von 105 Jahren“, sagt Kleinlein.<br />
Fazit: Je älter die Sterbetafel, die alten<br />
Verträgen zugrunde liegt, desto eher lohnt<br />
es sich, weiter zu sparen, weil die Rente<br />
vergleichsweise hoch ist. Bei neueren Policen,<br />
bei denen Versicherer mit sehr hoher<br />
Lebenserwartung kalkulieren, fallen Renten<br />
niedriger aus. Solche Policen beitragsfrei<br />
zu stellen oder zu kündigen schmerzt<br />
daher weniger.<br />
Früher hatten Kündiger einen Puffer:<br />
Kunden, die ihre Police aufgaben, mussten<br />
seit 2008 zur Hälfte an den Bewertungsreserven<br />
beteiligt werden. Die entstehen,<br />
wenn Kursgewinne in den Büchern stehen,<br />
zugehörige Papiere aber noch nicht verkauft<br />
wurden. Je stärker die Zinsen sanken,<br />
desto höher stiegen vor allem die Kurse alter<br />
Anleihen mit hohen Kupons. Versicherer<br />
mussten Milliarden ausschütten.<br />
Doch im Sommer hat der Bundestag die<br />
Regel aufgeweicht. Anleger, deren Vertrag<br />
künftig ausläuft oder die ihn kündigen, erhalten<br />
nicht mehr zwangsläufig die Hälfte<br />
an Reserven von festverzinslichen Wertpapieren.<br />
Wenn die BaFin feststellt, dass ein<br />
Versicherer Grenzwerte erreicht hat, bei<br />
denen die an Kunden insgesamt zugesagten<br />
Leistungen gefährdet sind, darf der Versicherer<br />
keine Reserven auf Festzinspapiere<br />
mehr ausschütten, die durchschnittlich<br />
89 Prozent der Anlagen ausmachen.<br />
Bei vielen ist es schon eng. Besonders<br />
betroffen sieht Kleinlein Kunden, deren<br />
Vertrag in den kommenden zwei Jahren<br />
ausläuft. Wegen der Niedrigzinsphase<br />
„müssen sie damit rechnen, dass die Auszahlung<br />
um fünf bis zehn Prozent geringer<br />
ausfällt“, sagt er. Viele Versicherer haben ihren<br />
Kunden für 2014 aber bereits eine Beteiligung<br />
an den Reserven zugesagt.<br />
»»<br />
ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />
96 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse<br />
Die leistungsstärksten Lebensversicherer<br />
Die leistungsstärksten Lebensversicherer<br />
Nur Lebensversicherer mit hohen Überschüssen und niedrigen Kosten bieten Kunden die Aus<br />
Lebensversicherer<br />
(Neugeschäft eingestellt,<br />
rot markiert)<br />
Europa<br />
Debeka<br />
LVM<br />
Hannoversche<br />
HUK-Coburg<br />
Cosmos Direkt<br />
Mecklenburgische<br />
WGV<br />
Allianz<br />
Nürnberger Beamten<br />
Ergo Direkt<br />
Süddeutsche<br />
R+V<br />
Öff. LV-Anstalt Oldenburg<br />
Oeco Capital<br />
Bayern-Versicherung (VKB)<br />
Delta Lloyd<br />
Alte Leipziger<br />
Landeslebenshilfe<br />
neue leben<br />
VHV<br />
Concordia<br />
Öffentl. Braunschweig<br />
HanseMerkur<br />
Itzehoer<br />
Stuttgarter<br />
InterRisk<br />
Volkswohl-Bund<br />
Neue Bayerische<br />
Öff. Leben Sachsen-Anh.<br />
Vergleichsmaßstab 9 (Benchmark)<br />
LV von 1871<br />
Inter<br />
SV Versicherung<br />
Provinzial Rheinland<br />
Victoria<br />
Asstel<br />
Continentale Leben<br />
Condor<br />
Realistischer<br />
Zins auf<br />
Kapitalanlagen 1, 2<br />
3,2<br />
3,2<br />
3,1<br />
3,1<br />
2,9<br />
2,6<br />
3,2<br />
3,1<br />
3,0<br />
3,0<br />
3,1<br />
2,9<br />
3,0<br />
3,0<br />
2,9<br />
3,0<br />
3,0<br />
3,1<br />
3,5<br />
3,0<br />
3,4<br />
3,1<br />
3,0<br />
3,0<br />
3,0<br />
3,2<br />
3,0<br />
3,0<br />
3,1<br />
3,0<br />
3,0<br />
3,0<br />
3,0<br />
3,0<br />
2,9<br />
3,0<br />
3,0<br />
3,1<br />
3,1<br />
Zum Vergleich:<br />
Historischer Zins auf<br />
Kapitalanlagen 1, 3<br />
4,5<br />
4,8<br />
4,1<br />
4,2<br />
4,3<br />
3,9<br />
3,2<br />
4,5<br />
4,6<br />
3,8<br />
4,1<br />
4,5<br />
4,3<br />
4,1<br />
4,2<br />
4,3<br />
3,0<br />
5,1<br />
3,4<br />
4,5<br />
4,0<br />
4,1<br />
4,4<br />
4,0<br />
4,2<br />
4,5<br />
4,5<br />
4,5<br />
4,7<br />
4,4<br />
4,3<br />
4,2<br />
4,3<br />
4,2<br />
3,6<br />
3,9<br />
4,3<br />
4,6<br />
4,3<br />
Abschlusskostenquote<br />
1, 4<br />
3,5<br />
3,4<br />
3,2<br />
3,6<br />
3,1<br />
2,3<br />
4,1<br />
3,8<br />
4,2<br />
4,1<br />
4,2<br />
3,4<br />
4,4<br />
4,5<br />
3,9<br />
4,5<br />
3,1<br />
4,7<br />
5,9<br />
4,7<br />
5,7<br />
4,5<br />
4,3<br />
4,2<br />
4,7<br />
5,4<br />
3,5<br />
4,9<br />
5,3<br />
5,0<br />
4,9<br />
4,8<br />
4,2<br />
5,3<br />
5,3<br />
4,6<br />
5,4<br />
5,7<br />
5,3<br />
Verwaltungskostenquote<br />
1, 5<br />
0,8<br />
1,2<br />
1,8<br />
1,2<br />
1,5<br />
0,8<br />
2,4<br />
1,8<br />
1,1<br />
1,9<br />
2,2<br />
2,5<br />
1,5<br />
1,9<br />
2,9<br />
1,7<br />
3,5<br />
2,0<br />
2,9<br />
1,1<br />
3,3<br />
2,7<br />
2,1<br />
2,4<br />
1,3<br />
2,3<br />
4,9<br />
2,0<br />
2,6<br />
1,8<br />
2,5<br />
2,6<br />
3,9<br />
2,0<br />
1,8<br />
4,0<br />
1,9<br />
2,4<br />
3,2<br />
Ausschüttungsquote<br />
1, 6<br />
92,0<br />
88,0<br />
91,2<br />
93,1<br />
92,6<br />
90,0<br />
86,4<br />
88,3<br />
78,7<br />
89,1<br />
81,4<br />
84,3<br />
82,8<br />
94,7<br />
91,7<br />
81,8<br />
57,2<br />
83,4<br />
84,2<br />
80,4<br />
100,0<br />
85,8<br />
80,9<br />
80,5<br />
66,6<br />
89,2<br />
84,5<br />
91,3<br />
92,7<br />
86,4<br />
85,1<br />
90,5<br />
82,7<br />
83,6<br />
85,9<br />
88,9<br />
86,6<br />
91,5<br />
87,6<br />
Leistungsfähigkeit<br />
für den Kunden 1, 7<br />
268,8<br />
228,6<br />
198,0<br />
191,4<br />
173,4<br />
172,7<br />
146,8<br />
141,6<br />
86,1<br />
84,3<br />
81,6<br />
81,0<br />
71,2<br />
66,4<br />
53,2<br />
48,3<br />
44,7<br />
43,0<br />
42,9<br />
41,5<br />
39,4<br />
36,8<br />
34,5<br />
33,6<br />
22,9<br />
22,6<br />
16,3<br />
9,7<br />
0,9<br />
0,3<br />
–<br />
–14,2<br />
–16,5<br />
–17,7<br />
–26,4<br />
–38,3<br />
–39,2<br />
–39,9<br />
–46,0<br />
Sterne 8<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHHH<br />
HHHH<br />
HHHH<br />
HHHH<br />
HHHH<br />
HHHH<br />
HHHH<br />
–<br />
HHH<br />
HHH<br />
HHH<br />
HHH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
Ranking mit Methode<br />
Die WirtschaftsWoche ermittelt, welche Lebensversicherer<br />
finanziell so gut aufgestellt<br />
sind, dass sie in den kommenden Jahren ihren<br />
Kunden die höchsten Überschüsse zahlen<br />
können. Das Verfahren hat der Wiener<br />
Finanzwissenschaftler Jörg Finsinger entwickelt.<br />
Dazu analysiert das Hamburger Analysehaus<br />
Softfair die Geschäftsberichte der<br />
Lebensversicherer und leitet daraus gemeinsam<br />
mit Finsinger die Überschuss-<br />
Prognosen ab.<br />
KÜNFTIGE RENDITE ZÄHLT<br />
Anders als bei anderen Vergleichen geht es<br />
nicht um vergangene Erfolge der Lebensversicherer,<br />
sondern um die Rendite, die<br />
sie künftig erzielen können (realistischer<br />
Zins auf Kapitalanlagen, Spalte 2). Die bisherige<br />
Verzinsung ist nur ein Vergleichswert<br />
(historischer Zins, Spalte 3).<br />
Die zukünftige Kapitalverzinsung wird<br />
mithilfe eines Modells prognostiziert. Dazu<br />
errechnet Softfair für die Versicherer das<br />
frei verfügbare Kapital, das nicht durch Ansprüche<br />
von Kunden gebunden ist. Dieses<br />
freie Kapital kann der Versicherer riskanter<br />
anlegen als die übrigen Kundengelder und<br />
so mehr Rendite erwirtschaften. Je größer<br />
der Anteil des freien Kapitals am gesamten<br />
Anlageportfolio des Versicherers ist, desto<br />
höher ist daher die prognostizierte Rendite.<br />
98 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Nur Lebensversicherer mit hohen Überschüssen und niedrigen Kosten<br />
sicht auf bieten eine Kunden attraktive die Aussicht Rendite. auf eine attraktive Rendite.<br />
Lebensversicherer<br />
(Neugeschäft eingestellt,<br />
rot markiert)<br />
Provinzial Hannover<br />
SV Sachsen<br />
Universa<br />
Generali<br />
Saarland<br />
Öffentl. Berlin Brandb.<br />
Familienfürsorge<br />
Provinzial NordWest<br />
DEVK Allgemeine<br />
Gothaer LV<br />
DEVK<br />
Barmenia Leben<br />
WWK Leben<br />
Aachener und Münchener<br />
Iduna Vereinigte<br />
Rheinland<br />
Münchener Verein<br />
Swiss Life<br />
Ideal<br />
Deutsche Ärzteversicherung<br />
Württembergische<br />
Helvetia<br />
ARAG<br />
AXA<br />
Ergo<br />
Basler (Deutscher Ring)<br />
Nürnberger<br />
Zurich Deutscher Herold<br />
Hamburger Leben<br />
VPV Lebensvers.<br />
HDI<br />
Direkte Leben<br />
Realistischer<br />
Zins auf<br />
Kapitalanlagen 1, 2<br />
3,0<br />
2,9<br />
3,0<br />
2,9<br />
3,0<br />
2,9<br />
2,9<br />
3,1<br />
3,0<br />
3,0<br />
3,1<br />
3,0<br />
3,0<br />
2,8<br />
3,0<br />
3,0<br />
2,9<br />
2,9<br />
3,0<br />
2,9<br />
3,0<br />
3,0<br />
2,9<br />
2,9<br />
2,9<br />
2,9<br />
3,0<br />
2,9<br />
3,0<br />
2,9<br />
2,9<br />
3,2<br />
Zum Vergleich:<br />
Historischer Zins auf<br />
Kapitalanlagen 1, 3<br />
4,1<br />
4,2<br />
4,1<br />
3,6<br />
4,1<br />
4,0<br />
4,2<br />
4,0<br />
4,4<br />
4,3<br />
4,7<br />
3,9<br />
5,1<br />
4,3<br />
4,3<br />
4,1<br />
3,8<br />
4,6<br />
4,4<br />
4,5<br />
4,2<br />
4,0<br />
4,1<br />
3,8<br />
4,2<br />
4,1<br />
4,3<br />
4,7<br />
3,1<br />
4,1<br />
4,4<br />
4,1<br />
Abschlusskosten–<br />
quote 1, 4<br />
1 in Prozent, gerundet; 2 prognostizierte Rendite auf die Kapitalanlagen des Versicherers, unter realistischen Annahmen nach einem mathematischen Modell,<br />
Versicherte erhalten wegen der berechneten Kosten weniger; 3 bisherige Verzinsung der Kapitalanlagen des Versicherers, nach dem strengen Niederstwertprinzip<br />
(stille Lasten werden berücksichtigt, stille Reserven nicht), nur zum Vergleich, fließt nicht ins Rating ein, Mittelwert 2007 bis 2013; 4 Kosten, die beim Vertragsabschluss<br />
zum Beispiel für Provisionen an den Vermittler anfallen, als Anteil an den Gesamtbeiträgen aller neuen Verträge, Mittelwert 2011 bis 2013;<br />
5 jährliche Verwaltungskosten, als Anteil an den Versicherungsbeiträgen (Bruttobeiträge), Mittelwert 2011 bis 2013; 6 Anteil der Gesamtüberschüsse, den der<br />
Versicherer an Kunden ausschüttet, Mittelwert 2007 bis 2013; 7 Leistungsfähigkeit im Vergleich zum Benchmark–Versicherer (Durchschnittswert aus 25 besonders<br />
wachstumsstarken Versicherern), je höher der Wert, desto leistungsfähiger ist der Versicherer; 8 Ranking der Leistungsfähigkeit, von stark überdurchschnittlich<br />
(HHHHH) bis stark unterdurchschnittlich (H); 9 Durchschnitt der 25 wachstumsstärksten unter den 50 größten Versicherern;<br />
Quelle: Softfair Analyse, Professor Jörg Finsinger<br />
5,7<br />
5,5<br />
4,9<br />
4,9<br />
5,5<br />
5,2<br />
5,2<br />
5,7<br />
5,7<br />
5,4<br />
5,8<br />
5,0<br />
5,4<br />
5,0<br />
5,2<br />
4,5<br />
5,2<br />
5,5<br />
5,1<br />
5,2<br />
5,8<br />
5,9<br />
5,6<br />
5,7<br />
6,1<br />
6,0<br />
6,3<br />
6,6<br />
7,9<br />
6,9<br />
7,2<br />
9,2<br />
Verwaltungs–<br />
kostenquote 1, 5<br />
2,0<br />
1,7<br />
3,8<br />
2,9<br />
2,1<br />
2,2<br />
2,6<br />
2,4<br />
2,1<br />
2,3<br />
2,8<br />
3,8<br />
3,4<br />
2,7<br />
3,7<br />
5,0<br />
3,2<br />
2,4<br />
4,6<br />
3,2<br />
2,8<br />
3,1<br />
3,6<br />
3,5<br />
3,0<br />
3,1<br />
3,5<br />
2,8<br />
3,0<br />
3,1<br />
3,1<br />
2,4<br />
Ausschüttungs–<br />
quote 1, 6<br />
92,5<br />
91,8<br />
95,2<br />
90,0<br />
88,3<br />
93,4<br />
85,7<br />
87,3<br />
90,3<br />
81,3<br />
83,2<br />
86,0<br />
93,0<br />
83,4<br />
81,9<br />
79,8<br />
83,0<br />
83,2<br />
91,1<br />
80,2<br />
81,5<br />
83,0<br />
80,2<br />
78,7<br />
86,2<br />
87,3<br />
82,7<br />
78,1<br />
55,0<br />
85,4<br />
83,1<br />
77,9<br />
Leistungs–<br />
fähigkeit<br />
für den Kunden 1, 7<br />
–46,4<br />
–48,8<br />
–50,4<br />
–51,1<br />
–52,7<br />
–53,2<br />
–53,4<br />
–56,9<br />
–58,8<br />
–62,6<br />
–65,9<br />
–66,4<br />
–70,8<br />
–76,9<br />
–79,6<br />
–85,0<br />
–90,6<br />
–95,8<br />
–101,3<br />
–104,8<br />
–109,9<br />
–112,5<br />
–123,7<br />
–134,7<br />
–145,8<br />
–146,4<br />
–168,2<br />
–179,6<br />
–218,5<br />
–229,8<br />
–252,7<br />
–278,9<br />
Sterne 8<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
HH<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
H<br />
Anders als bisher sind Bewertungsreserven<br />
(Papiere sind mehr wert, als es in den Büchern<br />
steht) nicht mehr in die Kalkulation<br />
des Risikokapitals eingeflossen. Grund dafür<br />
sind neue Gesetze, nach denen die Versicherer<br />
Reserven auf Anleihen nicht ausschütten<br />
müssen, wenn Garantieleistungen<br />
gefährdet sind. Angesichts von Niedrigzinsen<br />
hat Softfair die Langfrist-Renditen für<br />
sichere Anlagen auf 2,8 und die für riskantere<br />
Anlagen auf 5,8 Prozent gesenkt.<br />
Das Ranking durchleuchtet auch, welchen<br />
Anteil an den eingezahlten Beiträgen Vertreter<br />
und Verwaltung kassieren (Kostenquoten,<br />
Spalten 4 und 5) und wie viel für<br />
die Anleger übrig bleibt (Ausschüttungsquote,<br />
Spalte 6). Mithilfe dieser Werte (realistischer<br />
Zins auf Kapitalanlagen, Kosten,<br />
Ausschüttungsquote) ermittelt Softfair, wie<br />
leistungsfähig der Versicherer aus Sicht der<br />
Anleger ist (Spalte 7). Die so berechnete<br />
Kennzahl orientiert sich am Durchschnitt<br />
der 25 wachstumsstärksten Versicherer unter<br />
den 50 größten Anbietern (Benchmark).<br />
BESSER ALS DER DURCHSCHNITT<br />
Liegt der Versicherer mit seiner prognostizierten<br />
Leistung über dem Branchenschnitt,<br />
ist die Kennzahl positiv. Schneidet<br />
er schlechter als die Benchmark ab, ist sie<br />
negativ. Je höher die Kennzahl, desto besser<br />
sind die Chancen der Anleger auf hohe<br />
Renditen.<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 99<br />
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Geld&Börse<br />
Im Notfall lässt sich die Versicherung<br />
beleihen und in Geld ummünzen<br />
»<br />
Diese Zusagen sind von der Reform<br />
nicht betroffen. Läuft also eine Police 2014<br />
aus oder kündigt der Versicherte bis spätestens<br />
Ende November seinen Vertrag,<br />
bleibt der zugesagte Teil der Reserven erhalten.<br />
Anleger, die ohnehin vorhaben, zu<br />
kündigen, sollten prüfen, ob ihnen noch<br />
eine Beteiligung zusteht.<br />
Einen Joker könnten Kunden in der<br />
Hand haben, die ihren Vertrag zwischen<br />
1994 und 2007 abgeschlossen haben. Der<br />
Bundesgerichtshof hat entschieden, dass<br />
Verbraucher mit Kapitallebens- und Rentenversicherungen<br />
ein unbefristetes Widerspruchsrecht<br />
haben, falls sie nicht ordnungsgemäß<br />
über ihr Recht auf Widerruf<br />
belehrt worden sind (IV ZR 76/11). Lag bei<br />
Abschluss keine oder nur eine fehlerhafte<br />
Widerspruchsbelehrung vor, können Kunden<br />
ihrem Vertrag heute noch widersprechen<br />
und gezahlte Prämien zurückfordern.<br />
Die Summe, um die es geht, ist groß: Experten<br />
gehen für die Lebensversicherungsbranche<br />
von einem Volumen von bis zu<br />
400 Milliarden Euro aus. Der Widerruf<br />
lohnt aber nicht immer, denn der Versicherer<br />
darf Kosten für den über Jahre gewährten<br />
Versicherungsschutz gegenrechnen.<br />
Für solche und alle anderen Fälle gilt eine<br />
Binse: Anleger sollten ihren Vertrag lesen.<br />
Er regelt nicht nur die Chance auf Widerspruch,<br />
sondern auch ob und wie man<br />
ihn etwa nach einer beitragsfreien Phase<br />
reaktivieren kann. Auch sollten Sparer ihren<br />
Versicherer fragen, ob bei einer beitragsfreien<br />
Zeit der Todesfallschutz eingeschränkt<br />
wird und wie man ihn aufrechterhalten<br />
kann. Berater George geht davon<br />
aus, dass sich Policen bis zu 24 Monate beitragsfrei<br />
stellen und dann zu alten Konditionen<br />
weiterführen lassen. So kann es von<br />
Vorteil sein, Zahlungen einzufrieren, statt<br />
zu kündigen. Haken: Nach sechs bis zwölf<br />
Monaten verlangt der Versicherer meist eine<br />
neue Gesundheitsprüfung, die für Berufsunfähigkeitsschutz<br />
und Todesfallleistungen<br />
gilt. Lösung: Bei vielen Policen können<br />
die Versicherten nur noch den Beitrag<br />
für den Risikoschutz (rund 20 Prozent der<br />
vollen Prämie) zahlen.<br />
FALL V<br />
Bei Ausstieg<br />
Schutz erhalten<br />
Mit diesen Problemen musste sich Andreas<br />
Endl, 35, aus Neumarkt in der Oberpfalz,<br />
herumschlagen. 2007 nach seinem BWL-<br />
Studium in Bayreuth schloss er eine Rürup-Rente<br />
der Heidelberger Leben ab. Er<br />
wollte sich als Steuerberater selbstständig<br />
machen. Sein Plan als Freiberufler zerschlug<br />
sich jedoch, stattdessen nahm er<br />
einen gut bezahlten Job als angestellter<br />
Controller an. Die auf Selbstständige<br />
zugeschnittene Basisrente, die ihm sein<br />
Finanzberater wegen der Steuervorteile<br />
schmackhaft gemacht hatte, passte nicht<br />
mehr zur Lebenssituation. „Eigentlich<br />
wollte ich die Police kündigen, was bei einer<br />
Basisrente aber nicht möglich ist“, sagt<br />
Endl. Ihm blieb daher nur, die Rürup-<br />
Rente beitragsfrei zu stellen. Nachteil: Die<br />
Beiträge für den Berufsunfähigkeitsschutz<br />
waren verloren. Auf diesen Baustein wollte<br />
er nicht verzichten, schließlich ist er verheiratet<br />
und hat ein Kind. Der Vermittler,<br />
der ihm die Police der Heidelberger Leben<br />
verkauft hatte, bot Endl jedoch keine Alternative<br />
zum Berufsunfähigkeitsschutz. Die<br />
Lösung: Ein unabhängiger Versicherungsberater<br />
verschaffte ihm eine kostengünstige<br />
neue Berufsunfähigkeitsversicherung<br />
eines anderen Anbieters. Das war für ihn<br />
deutlich günstiger, als weiter an Rürup<br />
festzuhalten.<br />
Wer Geld benötigt, aber nicht kündigen<br />
will, kann außerdem ein Policendarlehen<br />
aufnehmen. Der Versicherer zahlt einen<br />
Kredit aus, die Lebensversicherung dient<br />
als Sicherheit. Das Darlehen ist aber maximal<br />
nur so hoch, wie der meist mickrige<br />
Rückkaufswert der Police. Und „die Zinsen<br />
für ein Policendarlehen sind vergleichsweise<br />
hoch“, sagt Kleinlein. Wer seine Police<br />
beleiht, behält aber den Todesfallschutz.<br />
ZWEIFLER KÖNNEN VERKAUFEN<br />
Um Prämien zu verringern, kann der<br />
Kunde die Versicherungssumme herabsetzen,<br />
Anspruch darauf gibt es laut Kleinlein<br />
aber nicht. Der Kunde zahlt dann<br />
weniger Beitrag, bekommt aber später eine<br />
kleinere Rente. Bei manchen Versicherern<br />
können Kunden den Beitrag später auf das<br />
alte Niveau aufstocken, ohne dass dies wie<br />
ein neuer Abschluss gewertet wird. Falls<br />
doch, könnte eine neue Gesundheitsprüfung<br />
anfallen. Wer Vorerkrankungen<br />
hat, guckt in die Röhre. Betroffene sollten<br />
nachhaken –, auch ob erneut Abschlusskosten<br />
anfallen.<br />
Als Alternative können Zweifler ihre Police<br />
verkaufen. Seriöse Aufkäufer, beispielsweise<br />
Cash Life oder Policen Direkt,<br />
kaufen in der Regel nur Verträge renditestarker<br />
Anbieter an. Im Einzelfall können<br />
Versicherte bei einem Verkauf aber mehr<br />
Geld herausholen als mit einer Kündigung.<br />
Wer hingegen unbedingt noch eine Versicherung<br />
abschließen will, der sollte sich<br />
beeilen und tatsächlich zu 1,75 Prozent unterschreiben<br />
– bei einem kapitalstarken<br />
Anbieter. Dass gerade jetzt die Versicherungsvertreter<br />
noch einmal zu Hochform<br />
auflaufen, hat aber nicht nur mit dem bald<br />
sinkenden Garantiezins zu tun. 2015 sollen<br />
die Versicherer nämlich auch die Provisionen<br />
der Verkäufer eindampfen. In der<br />
Ebbe liegen eben alle Schiffe auf Grund. n<br />
annina.reimann@wiwo.de | Frankfurt, martin gerth<br />
ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />
100 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse<br />
Wenn Wences Casares detailreich<br />
doziert über die<br />
Geschichte des Geldes,<br />
<strong>vom</strong> Tauschhandel über Münzen,<br />
Banknoten, Goldstandard<br />
bis hin zu Kryptowährungen,<br />
dann ist seine Stimme kühl, so als<br />
ob er über einen abstrakten Gegenstand<br />
spricht. Nur einmal<br />
schwingt etwas Emotion in ihr.<br />
„Die meisten Menschen in den<br />
Industrieländern haben doch<br />
keinerlei Vorstellung davon, wie<br />
es ist, seine Ersparnisse durch<br />
Geldentwertung zu verlieren,<br />
manchmal quasi über Nacht“,<br />
sagt der 40-jährige Argentinier.<br />
Casares ist geprägt von Verlust.<br />
Seine Eltern, die Schafe auf einer<br />
Ranch in Ostpatagonien züchten,<br />
standen schon mehrmals vor<br />
dem Nichts; vor geschlossenen<br />
Banken, mit Geld auf dem Konto,<br />
dessen Währung sich fast auflöste.<br />
Wie schon so oft in den vergangenen<br />
Jahrzehnten kämpft<br />
sein Heimatland auch derzeit<br />
wieder mit hoher Inflation und<br />
Währungsverfall. Wer irgendwie<br />
kann, versucht seine Peso in harte<br />
Währung umzurubeln über Geldvermittler,<br />
die Dollar-Scheine<br />
über die Grenze schmuggeln und<br />
wegen der Gefahr Aufschläge von<br />
zehn Prozent und mehr verlangen.<br />
Weil das Bargeld wiederum<br />
Kriminelle anzieht, tauschen einige<br />
Argentinier ihr Geld gerne in<br />
die Elektrowährung Bitcoins um –<br />
vollständig elektronisch, ohne<br />
überbordende Gebühren und die<br />
Gefahr eines Überfalls.<br />
Casares hat vor drei Jahren<br />
über einen befreundeten Unternehmer<br />
die Kryptowährung entdeckt –<br />
und gekauft. Seitdem hat sie ihn nicht<br />
mehr losgelassen. Vor allem, dass ihre<br />
Menge limitiert ist, fasziniert ihn. „So<br />
könnten wir Stabilität beim Geld hinbekommen“,<br />
ist er überzeugt.<br />
Der Kryptonier<br />
WENCES CASARES | Wie der Sohn patagonischer<br />
Schafzüchter zum Internet-Tycoon aufstieg und<br />
nun mit Bitcoin den großen Wurf wagt.<br />
Das Gegenteil von jung und unerfahren Gründer Casares<br />
VIELE KUNDEN SIND DEUTSCHE<br />
Dass Bitcoin derzeit unter extremen Kursschwankungen<br />
leidet, vor allem ein Spekulationsgut<br />
ist und heiß umstritten, ist ihm<br />
bewusst. Momentan, so räumt er ein, würde<br />
er niemandem empfehlen, sein ganzes<br />
Geld in Bitcoin zu stecken. Die Kryptowährung<br />
stecke noch in den Anfängen. „Je<br />
mehr Leute sie einsetzen und im Zahlungsverkehr<br />
nutzen, umso stärker werden<br />
die Schwankungen zurückgehen“, meint er.<br />
Casares arbeitet daran. Vom Silicon Valley<br />
aus, unterstützt von Programmierern in<br />
Buenos Aires, betreibt er Xapo, einen der<br />
derzeit größten Bitcoin-Verwalter der Welt.<br />
Hedgefonds, Stiftungen und Privatpersonen<br />
lagern bei Xapo ihre digitalen Münzen<br />
auf Offline-Computern, die in mehreren<br />
Kontinenten in bewachten Untergrund-<br />
Tresoren untergebracht sind. An die Guthaben<br />
zu kommen und sie zu bewegen<br />
dauert daher mindestens 24 Stunden. Für<br />
schnelleren Zugriff lassen sich Teile des<br />
Guthabens online zwischenspeichern. Der<br />
größte Tresor befindet sich in den Alpen.<br />
Auch aus Marketinggründen.<br />
„Die Schweiz gilt noch immer als<br />
Hort der Sicherheit“, so der Xapo-<br />
Chef und „viele unserer Kunden<br />
sind Deutsche“. Vor allem aber<br />
wirbt er damit, dass die Bitcoins<br />
gegen Verlust durch Hacker-Angriffe<br />
oder Bankrott des Verwalters<br />
über einen eigenen Versicherer<br />
geschützt sind. Xapo selber finanziert<br />
sich aus Gebühren für<br />
Lagerung und Zugriff auf die Bitcoins.<br />
„Wir spekulieren nicht mit<br />
dem Vermögen unserer Kunden“,<br />
sagt Casares. Im Silicon Valley<br />
vertraut man dem Unternehmer.<br />
Mit 41 Millionen Dollar hat der<br />
Argentinier die derzeit größte Finanzierungssumme<br />
für ein Bitcoin-Start-up<br />
eingesammelt. Zu<br />
den Investoren gehören neben<br />
Risikokapitalgeber Benchmark<br />
Capital, der Ebay und Twitter finanziert,<br />
auch lokale Prominenz<br />
wie Yahoo-Gründer Jerry Yang,<br />
PayPal-Mitgründer Max Levchin<br />
und Facebook-Finanzier Yuri<br />
Milner. Der Argentinier ist auch<br />
deshalb so umworben, weil er etwas<br />
hat, was Risikokapitalgeber<br />
besonders schätzen – nachgewiesenen<br />
Erfolg als Unternehmer.<br />
Vier Start-ups hat Casares bereits<br />
gegründet und für über eine Milliarde<br />
Dollar verkauft. In Südamerika<br />
ist er deshalb so berühmt<br />
wie Facebook-Gründer<br />
Mark Zuckerberg oder Amazon-<br />
Chef Jeff Bezos in den USA. Trotzdem<br />
ist ihm Arroganz fremd. Er<br />
beantwortet an ihn gerichtete<br />
E-Mails immer noch selber. Und<br />
kann sich noch gut daran erinnern,<br />
wie er in eine Schublade gesteckt<br />
wurde, nur weil seine Eltern nicht<br />
mit Reichtum gesegnet waren.<br />
START MIT FEHLSCHLAG<br />
Weniger bekannt ist, dass seine Karriere<br />
mit einem persönlichen Fehlschlag startete.<br />
Anfang der Neunzigerjahre war Casares<br />
nach einem Jahr als Austauschschüler in<br />
den USA zur weiteren Ausbildung nach<br />
Buenos Aires gekommen. Richtig faszinierte<br />
ihn das Internet, Netscape hatte damals<br />
den ersten kommerziellen Browser vorgestellt.<br />
Er brach seine Ausbildung ab, hob<br />
dann Argentiniens ersten Internet-Provider<br />
aus der Taufe. Das nötige Kapital bekam<br />
der Student von einem Geldgeber per<br />
FOTO: LAIF/REDUX/JONATHAN SPRAGUE<br />
102 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Handschlag. „Ich habe ihm deshalb blind<br />
vertraut“, sagt Casares. Und als dieser ihn<br />
später bat, das Investment zu formalisieren,<br />
unterzeichnete er prompt die vorgelegten<br />
Verträge – und merkte nicht, dass er<br />
damit sein Unternehmen an den Geldgeber<br />
übereignet hatte. Was ihm erst bewusst<br />
wurde, als er überraschend gefeuert wurde<br />
und sein eigenes Unternehmen nicht mehr<br />
betreten durfte. „Ich war 20 Jahre alt, jung<br />
und unerfahren“, erinnert sich Casares. „Es<br />
war eine dunkle Zeit.“ Der Gründer hätte<br />
klagen können. Doch das hätte Jahre gedauert.<br />
„Ich treibe lieber Dinge aktiv voran,<br />
als abzuwarten“, erklärt er.<br />
Stattdessen studierte er Betriebswirtschaft<br />
und ging wieder unter die Gründer.<br />
Im Jahr 2000 kaufte Banco Santander seine<br />
1997 gegründete Online-Bank Patagon für<br />
750 Millionen Dollar. Sein nächstes Projekt,<br />
die Banco Lemon, eine brasilianische<br />
Bank für Kunden mit niedrigem Einkommen,<br />
übernahm Banco do Brasil 2009. Nebenbei<br />
gründete Casares noch den Spieleentwickler<br />
Wanako Games, bekannt für<br />
das preisgekrönte Ballerspiel „Assault Heroes“;<br />
hier griff später Vivendi Games zu.<br />
Stolz auf diese Erfolge ist Casares aber<br />
nicht. „Mein Ziel ist, etwas Langfristiges,<br />
richtig Großes zu schaffen, das überdauert“,<br />
sagt er. „Man ist ja auch nicht stolz darauf,<br />
wenn man fünfmal verheiratet war.“<br />
Xapo soll nun dieser große Wurf werden.<br />
Ursprünglich wollte Casares seine aktive<br />
Unternehmerkarriere beenden und sich<br />
»Ich fühle mich<br />
bei Bitcoin an die<br />
Anfangszeiten des<br />
Internets erinnert«<br />
mehr um seine Frau und seine drei Kinder<br />
kümmern, mit denen er in der idyllischen<br />
Silicon-Valley-Enklave-Woodside wohnt.<br />
Familie bedeutet ihm viel. 2004 nahm er<br />
eine Auszeit von drei Jahren, um mit seiner<br />
Frau Belle und Sohn Diogenes von Miami<br />
aus die Welt auf dem Katamaran „Simpatica“<br />
zu umrunden. Auf der Reise kam im<br />
neuseeländischen Auckland ihr zweiter<br />
Sohn Theodore zur Welt. „Start-ups hochzuziehen<br />
erschöpft ungemein“, sagt er.<br />
Doch seine Frau, eine Amerikanerin, ermunterte<br />
ihn, unter die Bitcoin-Unternehmer<br />
zu gehen. „Sie sah meine Passion“, sagt<br />
Casares. „Ich fühle mich bei Bitcoin an die<br />
Anfangszeiten des Internets erinnert.“<br />
Sein neuestes Projekt ist eine Scheckkarte,<br />
mit der Kunden mittels Bitcoin bezahlen<br />
können. Xapo prüft dabei das Guthaben<br />
der Kunden, wandelt die entsprechende<br />
Summe in die gewünschte Währung um<br />
und übergibt dann an Visa. Wegen der<br />
Komplexität gab es zum Start Verzögerungen.<br />
„Am schwersten war, einen Bankpartner<br />
zu finden“, sagt Casares. Er einigte sich<br />
mit Wave Crest aus Gibraltar, die Karten für<br />
Visa und Mastercard ausgeben darf. In<br />
Deutschland funktioniert die Karte bereits.<br />
In den USA laufen noch die Verhandlungen<br />
mit den Aufsichtsbehörden. Wird sich<br />
Bitcoin durchsetzen? Casares überlegt seine<br />
Antwort sorgfältig. „Ich würde sagen,<br />
die Wahrscheinlichkeit ist erheblich größer<br />
als 50 Prozent, vielleicht 20 Prozent dagegen“,<br />
sagt er dann. „Das sind doch gute<br />
Chancen, oder?“<br />
n<br />
matthias.hohensee@wiwo.de | Silicon Valley<br />
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Geld&Börse | Steuern und Recht<br />
DARLEHEN<br />
Unwirksame Klauseln<br />
Bankkunden können Bearbeitungsgebühren für Kredite zurückverlangen.<br />
Ein Kreditnehmer schloss bei<br />
den Banken Santander Consumer<br />
und CreditPlus zwischen<br />
2006 und 2011 mehrere Darlehen<br />
ab. Für die Kredite berechneten<br />
die beiden Banken Bearbeitungsgebühren.<br />
Diese<br />
Gebühren wollte der Bankkunde<br />
zurück, weil die zusätzlich<br />
zu den Zinsen berechneten Gebühren<br />
unzulässig seien. Die<br />
Banken lehnten eine Rückzahlung<br />
ab, weil die Ansprüche aus<br />
den Darlehen der Jahre 2006<br />
und 2008 bereits verjährt seien.<br />
Laut Gesetz gilt für solche Fälle<br />
eine Verjährungsfrist von drei<br />
Jahren. Diese Frist startet am<br />
Ende des Jahres, in dem der<br />
Bankkunde Kenntnis davon<br />
hat, dass er unzulässig benachteiligt<br />
wurde. Der Bundesgerichtshof<br />
musste in beiden<br />
Fällen entscheiden, ob der<br />
Bankkunde auch mehr als drei<br />
Jahre nach Abschluss des Darlehens<br />
Gebühren von den Banken<br />
zurückverlangen darf (XI<br />
ZR 348/13, XI ZR 17/14). Zunächst<br />
stellten die Richter klar,<br />
dass die Banken die Gebühren<br />
für die Darlehen unberechtigt<br />
verlangt hatten. Entsprechende<br />
Klauseln in den Allgemeinen<br />
Geschäftsbedingungen seien<br />
unwirksam.<br />
NOCH NICHT VERJÄHRT<br />
Zudem seien die Ansprüche der<br />
Bankkunden auf Rückzahlung<br />
der Gebühren nicht verjährt.<br />
Erst 2011 hätten mehrere Oberlandesgerichte<br />
Bearbeitungsgebühren<br />
für Kredite für unzulässig<br />
erklärt. Vor diesen Urteilen<br />
sei die Rechtslage nicht eindeutig<br />
gewesen. Der Kläger hätte<br />
gar nicht wissen können, dass<br />
die Bank die Gebühren zu Unrecht<br />
kassiert habe. Demnach<br />
habe die Verjährungsfrist erst<br />
2011 angefangen zu laufen,<br />
Santander und CreditPlus<br />
müssten daher die Gebühren<br />
erstatten. Grundsätzlich seien<br />
nur Ansprüche verjährt, die aus<br />
Verträgen stammten, die vor<br />
2004 abgeschlossen wurden, so<br />
die Richter. Für Ansprüche gegen<br />
Banken gilt, unabhängig<br />
von der Kenntnis von unzulässigen<br />
Gebühren oder einer fehlerhaften<br />
Beratung, eine Verjährungsfrist<br />
von zehn Jahren nach<br />
Vertragsschluss. Wer also beispielsweise<br />
im November 2004<br />
einen Kredit abgeschlossen hat,<br />
für den die Bank Bearbeitungsgebühren<br />
kassiert hat, könnte<br />
seine Ansprüche noch anmelden.<br />
Alle Ansprüche aus Verträgen<br />
der Jahre 2004 bis 2011 sind<br />
jedoch Ende dieses Jahres verjährt.<br />
Wer seine Ansprüche anmelden<br />
will, kann entsprechende<br />
Musterformulare der<br />
Verbraucherzentralen oder des<br />
Bundesverbands der Finanzplaner<br />
nutzen. „Sollte die Bank<br />
auf Zeit spielen, ist es sinnvoll,<br />
einen Anwalt einzuschalten“,<br />
sagt der Koblenzer Finanzprofessor<br />
Heinrich Bockholt. Meist<br />
reiche ein Anwaltsschreiben<br />
aus, um die Banken auf Trab zu<br />
bringen. Kreditnehmer könnten<br />
auch unzulässige Gebühren<br />
für Darlehenskonten zurückverlangen,<br />
so Bockholt. Ein entsprechendes<br />
Urteil habe der<br />
Bundesgerichtshof 2011 gefällt<br />
(XI ZR 388/10).<br />
RECHT EINFACH | Einkaufen<br />
Shoppen mit dem Nachwuchs<br />
kann im Desaster enden. Bei<br />
Kleinkindern nehmen die<br />
Gerichte die Eltern in die Pflicht.<br />
§<br />
Gürtel. Eine Vierjährige begleitete<br />
ihre Eltern in eine<br />
Herrenboutique. Nachdem<br />
sie sich in der Spielecke<br />
ausgetobt hatte, zog sie an einem<br />
Gürtelständer. Als der Ständer<br />
umfiel, verletzte sie ein Haken am<br />
Auge. Die Boutique musste 2000<br />
Euro zahlen. Selbst wenn sie ihr<br />
Kind lückenlos beaufsichtigt hät-<br />
ten, wäre dieser Unfall für die Eltern<br />
nicht zu verhindern gewesen, so die<br />
Richter (Oberlandesgericht Hamm,<br />
6 U 186/13).<br />
Bastelecke. Münchner Eltern<br />
besuchten mit ihrer zweijährigen<br />
Tochter ein Geschäft in der Innenstadt.<br />
Für Kinder hatte das Geschäft<br />
eine Bastelecke eingerichtet.<br />
Während die Eltern nach Bastelmaterial<br />
suchten, spielte die Tochter<br />
mit den Metallpfosten, die die<br />
Spielecke <strong>vom</strong> Rest des Ladens<br />
abtrennten. Einer der Pfosten fiel<br />
um und verletzte die Kleine an<br />
der Hand. Schadensersatz und<br />
Schmerzensgeld gab es nicht. Die<br />
Eltern hätten die Tochter nicht aus<br />
den Augen lassen dürfen (Amtsgericht<br />
München, 233 C 11346/08).<br />
Rutsche. Eine junge Mutter ging<br />
mit ihrem gut eineinhalb Jahre alten<br />
Sohn in ein Kaufhaus. Während<br />
Mama einkaufte, tollte der Kleine<br />
in einer Spielecke. Als er auf eine<br />
zwei Meter hohe Rutsche kletterte,<br />
fiel er von der Leiter und holte<br />
sich eine schwere Kopfverletzung.<br />
7000 Euro Schmerzensgeld verlangte<br />
die Familie von dem Besitzer<br />
des Kaufhauses – ohne Erfolg.<br />
Ein Sachverständiger stellte fest,<br />
dass die Rutsche allen Sicherheitsanforderungen<br />
genüge.<br />
Kinder unter drei Jahren, so die<br />
Richter, seien ständig zu beaufsichtigen<br />
(Landgericht Itzehoe, 4<br />
O 102/09).<br />
FOTOS: GETTY IMAGES/THOMAS BARWICK, FOTOLIA, PR<br />
104 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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ERSTATTUNGSZINSEN<br />
Fiskus darf rückwirkend kassieren<br />
Das Gros der Steuerzahler hat<br />
seinen Steuerbescheid für das<br />
vergangene Jahr bereits erhalten.<br />
Manchmal dauert es jedoch<br />
länger. Grundsätzlich sind<br />
die Finanzämter verpflichtet,<br />
die Steuererklärungen innerhalb<br />
von sechs Monaten zu bearbeiten,<br />
sofern die Finanzbeamten<br />
zwischenzeitlich keine<br />
weiteren Unterlagen angefordert<br />
haben oder der Steuerzahler<br />
selbst weitere Dokumente<br />
nachgereicht hat. Nach Ablauf<br />
dieser Frist können die Steuerzahler<br />
ihr Finanzamt mit einem<br />
Untätigkeitseinspruch abmahnen.<br />
Erhalten sie ihren Steuerbescheid<br />
erst 15 Monate nach<br />
BONUSMEILEN<br />
Weitergabe verboten<br />
SCHNELLGERICHT<br />
RAUCHVERBOT IST ZULÄSSIG<br />
§<br />
Ein Raucherclub klagte gegen das Rauchverbot in<br />
Bayern, weil nur Mitglieder Zutritt zur Club-Bar<br />
hätten. Das Verbot sei dennoch zulässig, weil die<br />
Räume grundsätzlich öffentlich zugänglich seien, so<br />
das Bundesverfassungsgericht (1 BvR 3017/11).<br />
ÜBERHOLEN RECHTZEITIG BEENDEN<br />
§<br />
Lkw-Fahrer, die auf einer Bundesstraße mehrere<br />
Fahrzeuge überholen, müssen den Vorgang beendet<br />
haben, bevor eine Überholverbotszone beginnt.<br />
Sie können sich vor Gericht nicht damit herausreden,<br />
sie konnten wegen einer fehlenden Lücke nicht vorher<br />
rechts wieder einscheren (Oberlandesgericht<br />
Hamm, (1 RBs 162/14).<br />
Ende des betreffenden Steuerjahres<br />
oder später, stehen ihnen<br />
pro Monat 0,5 Prozent Zinsen<br />
als Entschädigung zu. Diese Erstattungszinsen<br />
sind als Kapitaleinkünfte<br />
zu versteuern. Im<br />
Gegenzug lassen sich Zinsen<br />
auf Steuerzahlungen nicht steuermindernd<br />
geltend machen.<br />
Der Gesetzgeber hatte dies im<br />
Jahressteuergesetz 2010 durchgedrückt;<br />
es galt rückwirkend<br />
für alle zu diesem Zeitpunkt<br />
noch offenen Steuerbescheide.<br />
Gegen diese rückwirkende Gesetzesänderung<br />
klagte ein Steuerzahler,<br />
weil sie gegen das verfassungsrechtliche<br />
Rückwirkungsverbot<br />
verstoße. Jetzt<br />
Ein Kunde der Lufthansa erhielt<br />
im Juni 2010 den höchsten Status<br />
in deren Bonusmeilenprogramm.<br />
Im Januar 2011 löste er<br />
einen Teil seiner Bonusmeilen<br />
ein und kaufte für eine andere<br />
Person Flüge von Frankfurt<br />
nach Los Angeles und von New<br />
York nach Frankfurt. Die Lufthansa<br />
kündigte daraufhin den<br />
Vertrag für das Bonusprogramm<br />
fristlos. Der Verflieger<br />
war seinen Premium-Status los.<br />
Dagegen klagte der Lufthansa-<br />
Kunde. Er wolle wieder ins Bonusprogramm<br />
und zusätzlich<br />
den Schaden ersetzt haben, der<br />
ihm durch die Kündigung entstanden<br />
sei. Beim Bundesgerichtshof<br />
kam er damit jedoch<br />
nicht durch (X ZR 79/13). Bonusmeilen<br />
seien ein freiwilliger<br />
Service der Airlines, um Kunden<br />
zu binden. Fluggesellschaften<br />
stehe es daher frei, die Weitergabe<br />
von Tickets an Dritte zu<br />
verbieten. Die Kündigung der<br />
Lufthansa sei rechtens, der Vielflieger<br />
habe keine Ansprüche<br />
gegenüber der Airline.<br />
entschied der Bundesfinanzhof,<br />
dass die neue Steuerregel nicht<br />
gegen dieses Verbot verstoße,<br />
weil der Gesetzgeber nur die bis<br />
dahin geltende Rechtsprechung<br />
umgesetzt habe, nach der Erstattungszinsen<br />
steuerpflichtige<br />
Kapitaleinkünfte seien (VIII R<br />
29/12). Auch liege keine Ungleichbehandlung<br />
vor, da Nachzahlungszinsen<br />
nicht mit der<br />
Erzielung von Einkünften verknüpft<br />
seien, anders als beispielsweise<br />
bei Werbungskosten.<br />
Zinsen, die das Finanzamt<br />
zahlt, erhöhten dagegen das<br />
Einkommen der Steuerzahler<br />
und seien demnach zu besteuern.<br />
EINKOMMENSTEUER<br />
OP ist nicht<br />
absetzbar<br />
Die Eltern einer 20-jährigen<br />
Frau finanzierten ihr die Kosten<br />
für eine Brust-Operation. Ihre<br />
Tochter soll psychisch unter ihren<br />
verschieden großen Brüsten<br />
gelitten haben. Die Kosten<br />
für die Operation wollten die Eltern<br />
als außergewöhnliche Belastung<br />
absetzen. Dies sei unzulässig,<br />
weil die Tochter durch<br />
die Abweichung nicht entstellt<br />
sei (Finanzgericht Rheinland-<br />
Pfalz, 5 K 1753/13).<br />
EU MUSS ÜBER DATENSCHUTZ ENTSCHEIDEN<br />
§<br />
Der Bundesgerichtshof reichte eine Entscheidung<br />
darüber, ob Bundesbehörden IP-Adressen von<br />
Internet-Nutzern speichern dürfen, die Internet-Seiten<br />
des Bundes anwählen, an den Europäischen<br />
Gerichtshof weiter (VI ZR 135/13). Im Kern geht es<br />
darum, ob die IP-Adressen personenbezogene Daten<br />
sind und daher geschützt werden müssen.<br />
START-STOPP-TELEFONIEREN ERLAUBT<br />
§<br />
Fahrer eines Autos mit Start-Stopp-Automatik, bei<br />
der der Motor beim Halt ausgeschaltet wird, dürfen<br />
an einer roten Ampel mit dem Handy telefonieren<br />
(Oberlandesgericht Hamm, 1 RBs 1/14). Allerdings<br />
müssen sie das Gespräch beim Start beendet haben.<br />
MAKLERVERTRAG<br />
MARIANNE BEUKEMANN<br />
ist Fachanwältin<br />
für<br />
Maklerrecht<br />
bei der Kanzlei<br />
Dittmar Beukemann<br />
Grieb<br />
in Gießen.<br />
n Frau Beukemann, für alle,<br />
die eine Wohnung über einen<br />
Makler mieten oder<br />
kaufen, hat sich die Rechtslage<br />
verbessert. Was ist neu?<br />
Kunden können nun jeden<br />
Vertrag, den der Makler außerhalb<br />
seiner Geschäftsräume<br />
geschlossen hat, ohne Angabe<br />
von Gründen widerrufen.<br />
Das gilt auch, wenn der Makler<br />
bereits eine Immobilie vermittelt<br />
hat und die Courtage<br />
zu zahlen ist. Der Makler muss<br />
Kunden seit dem 13. Juni<br />
nachweislich über ihr Recht<br />
auf Widerruf belehren. Versäumt<br />
er es, verlängert sich<br />
das Widerrufsrecht von 14 Tagen<br />
auf zwölf Monate und 14<br />
Tage. Der Miet- oder Kaufvertrag<br />
bleibt unbeeinträchtigt.<br />
n Wie geht es in der Praxis?<br />
Widerruft der Kunde zu Recht,<br />
hat der Makler keinen Anspruch<br />
auf Courtage mehr. Gezahlte<br />
Provisionen können<br />
auch zurückverlangt werden,<br />
wenn der Makler den Vertrag<br />
erfüllt hat. Für Makler ist das<br />
ein Problem, denn Immobilien<br />
werden meist vor Ablauf der<br />
14-tägigen Widerrufsfrist vermittelt.<br />
Soll der Makler dennoch<br />
sofort tätig werden, geht<br />
das Widerrufsrecht des Kunden<br />
verloren, wenn der Makler<br />
ihn darüber belehrt und der<br />
Kunde die sofortige Tätigkeit<br />
trotzdem wünscht.<br />
n Wie erkenne ich eine korrekte<br />
Widerrufsbelehrung?<br />
Zunächst muss die Widerrufsbelehrung<br />
dem Kunden tatsächlich<br />
zugehen. Der Widerruf<br />
muss optisch hervorgehoben<br />
sein. Ein Muster hat die<br />
Regierung entworfen.<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 Redaktion: martin.gerth@wiwo.de, annina reimann | Frankfurt<br />
105<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
KOMMENTAR | Die Politik gibt vor,<br />
die private Altersvorsorge zu fördern –<br />
und tut doch meist das Gegenteil.<br />
Von Stefan Hajek<br />
Wasser zum Kochen<br />
In ihren Sonntagsreden betonen<br />
Politiker gern die<br />
Notwendigkeit der privaten<br />
Altersvorsorge. Tenor: Wer<br />
sich auf die staatliche Rente<br />
verlässt, nicht selbst fürs Alter<br />
noch zurücklegt, der fällt in die<br />
garstige „Versorgungslücke“.<br />
Der Begriff suggeriert: Da drinnen<br />
ist es klamm und dunkel;<br />
es fehlt an allem; das Geld ist<br />
knapp, die Heizung steht auf<br />
18 Grad, und eingekauft wird<br />
nur noch beim Discounter.<br />
Und hat der Staat nicht seinen<br />
Teil zur Lösung des Problems<br />
längst beigetragen? Hat<br />
er nicht Riester- und Rürup-Rente<br />
ersonnen, große Errungenschaften,<br />
die uns dabei helfen,<br />
ein Ruhekissen anzusparen?<br />
Sie ahnen es schon: So einfach<br />
ist es nicht. Im Vagen, im<br />
Generellen, da werden Wille und<br />
Notwendigkeit zur Vermögensbildung<br />
gern betont; geht es<br />
aber ans Konkrete, um das Geld<br />
der Bürger, dann ist Vater Staat<br />
das Hemd nach wie vor näher<br />
als der Rock, und aus der versprochenen<br />
Förderung wird das<br />
Gegenteil: die steuerliche Melkmaschine.<br />
Zur Erinnerung: Anders<br />
als die hybride Promotion-<br />
Maschine aus Staat und<br />
Finanzindustrie suggeriert, die<br />
Förderung und vermeintliche<br />
Steuervorteile in den Vordergrund<br />
rückt, nutzen Riester und<br />
Rürup nur einem kleinen Teil der<br />
Bevölkerung. Gut 20 Prozent<br />
verdienen so wenig, dass sie sowieso<br />
nichts zurücklegen können;<br />
sie profitieren also nicht davon.<br />
Und die meisten anderen<br />
müssen weit über 90 Jahre alt<br />
werden, damit ein Riester-Vertrag<br />
endlich mehr abwirft, als<br />
man einbezahlt hat. Das hindert<br />
einige besonders fürsorgliche<br />
Politiker nicht, den Zwangs-<br />
Riester für alle zu fordern. Freuen<br />
würde dies die Drückerkolonnen<br />
der Finanzvertriebe, die<br />
schon jetzt sehr gut an den –<br />
renditeschwachen – Vorsorgeprodukten<br />
verdienen.<br />
So sind die durchschnittlichen<br />
Verwaltungskosten deutscher<br />
Rentenprodukte im<br />
Schnitt gut 15 Mal höher als etwa<br />
die skandinavischer oder britischer<br />
Pensionsfonds, die einfach<br />
nur Aktien und Anleihen<br />
kaufen, seit Jahrzehnten bewährt.<br />
Stattdessen enthalten 70<br />
Prozent der 15,97 Millionen<br />
Riester-Verträge das renditeschwache<br />
und teure Produkt<br />
Rentenversicherung. Dafür hat<br />
die Finanzlobby gesorgt, die<br />
über Seilschaften in die Politik<br />
verfügt, links wie rechts. Sinnvoller<br />
wäre ein regelmäßiges Investieren<br />
in einfache Anlagen, die<br />
deswegen auch wenig Gebühren<br />
kosten: Aktien, Anleihen, Cash,<br />
Gold. Möglichst breit, möglichst<br />
oft und möglichst lange.<br />
TEURER GRUNDERWERB<br />
Über viele Jahre kämen durchaus<br />
annehmbare Wertsteigerungen<br />
heraus, die es breiten Bevölkerungsschichten<br />
erlaubten,<br />
ihre Angst vor Altersarmut ad<br />
acta zu legen. Hier aber wirft der<br />
Staat uns Knüppel zwischen die<br />
Beine, statt zu fördern: Die Abgeltungsteuer<br />
verringert den<br />
Zinseszinseffekt, der in der Altersvorsorge<br />
so nötig ist wie<br />
Wasser zum Kochen und der wegen<br />
der Zinspolitik schon arg zusammengeschmolzen<br />
ist.<br />
Grunderwerbsteuern werden<br />
kräftig erhöht: Sie stehen Menschen<br />
im Weg, die mit einer<br />
selbst genutzten Immobilie fürs<br />
Alter vorsorgen wollen. Wir sind<br />
eben ein Volk von Mietern und<br />
Sparern. Wenn das mal gut geht.<br />
TREND DER WOCHE<br />
Druck zum Drucken<br />
Gegen die einbrechenden Inflationserwartungen ist<br />
auch der Goldpreis nicht immun.<br />
Weltweit geprägt<br />
Gold bietet Schutz vor Systemrisiken<br />
Die Inflation ist tief, und die<br />
Märkte erwarten noch tiefere<br />
Raten. In den USA hat sich der<br />
Renditeabstand zwischen inflationsgeschützten<br />
und klassischen<br />
Staatsanleihen mit fünfjähriger<br />
Laufzeit seit Juli von 2,1<br />
auf 1,5 Prozent verringert. Sollten<br />
die Märkte recht behalten,<br />
stiegen die Realzinsen, und die<br />
Konjunktur würde geschwächt.<br />
Kurzum: Es hat sich deflationärer<br />
Druck aufgebaut. Gegen<br />
diesen ist auch der Goldpreis<br />
nicht immun. Gold schützt aber<br />
nicht nur vor Kaufkraftverlusten<br />
in der Heimatwährung, sondern<br />
auch gegen Systemrisiken.<br />
Letztere nehmen zu. In der<br />
Euro-Zone ist das zum Beispiel<br />
abzulesen an der wachsenden<br />
Skepsis der Anleger gegenüber<br />
dem Zusammenhalt des Währungsraumes.<br />
Der Euro-Breakup-Index<br />
des Analysehauses<br />
Sentix stieg im Oktober von 7,7<br />
auf 11,8 Prozent. Jeder neunte<br />
von Sentix befragte Anleger<br />
rechnet demnach damit, dass<br />
innerhalb der nächsten zwölf<br />
Monate wenigstens ein Land<br />
aus dem Euro ausscheiden<br />
könnte. Und der gerade gelaufene<br />
Banken-Stresstest ging an<br />
den ökonomischen Realitäten<br />
der Euro-Zone vorbei. Eine längere<br />
Deflationsphase wurde<br />
nicht berücksichtigt, obwohl<br />
die Zinsmärkte gegenwärtig genau<br />
diese antizipieren und Spanien,<br />
Italien und Griechenland<br />
bereits in der Deflation sind.<br />
Höhere Goldpreise kommen<br />
dann, wenn die Systemrisiken<br />
steigen und Notenbanken wieder<br />
massiv handeln müssen.<br />
Trends der Woche<br />
Entwicklung der wichtigsten Finanzmarkt-Indikatoren<br />
Stand: 30.10.2014 / 18.00 Uhr aktuell seit einer Woche 1 seit einem Jahr 1<br />
Dax 30 9114,84 +0,7 +1,2<br />
MDax 15855,09 +1,0 –0,5<br />
Euro Stoxx 50 3035,90 –0,3 –0,2<br />
S&P 500 1989,14 +2,0 +12,8<br />
Euro in Dollar 1,2598 –0,6 –8,4<br />
Bund-Rendite (10 Jahre) 1 0,81 –0,04 2 –0,90 2<br />
US-Rendite (10 Jahre) 1 2,30 +0,04 2 –0,20 2<br />
Rohöl (Brent) 3 86,28 +0,2 –21,2<br />
Gold 4 1202,00 –2,5 –11,3<br />
Kupfer 5 6785,00 +1,0 –6,7<br />
1<br />
in Prozent; 2 in Prozentpunkten; 3 in Dollar pro Barrel; 4 in Dollar pro Feinunze,<br />
umgerechnet 952,46 Euro; 5 in Dollar pro Tonne; Quelle: vwd group<br />
FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, ULLSTEIN BILD/ULRICH BAUMGARTEN, DDP IMAGES/JENS SCHLÜTER<br />
106 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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DAX-AKTIEN<br />
Der Stress bleibt<br />
Die Deutsche Bank ein Spielball von Prozessen, die<br />
Commerzbank ein Zock auf die Gewinnwende.<br />
HITLISTE<br />
Wären da nicht mehr als 1000<br />
Rechtsstreitigkeiten, die<br />
Deutsche Bank könnte in diesem<br />
Jahr netto zwei bis drei<br />
Milliarden Euro verdienen.<br />
Wegen Prozessrückstellungen<br />
aber dürfte 2014 kaum mehr<br />
übrig bleiben als die 1,3 Milliarden<br />
Euro, die die Deutsche<br />
dieses Jahr schon verdient<br />
hat. Geht die Vorsorge so weiter,<br />
wird auch 2015 ein mageres<br />
Jahr. Immerhin: Die dann<br />
vielleicht auf mehr als vier<br />
Milliarden aufgestockten<br />
Rückstellungen dürften auch<br />
für mittelschwere Strafzahlungen<br />
ausreichen.<br />
Zäh geht es auch bei der<br />
Commerzbank voran. Mit einem<br />
knappen Ertrag im dritten<br />
Quartal sollte sie 2014 insgesamt<br />
auf mehr als 500 Millionen<br />
Euro Reingewinn zusteuern.<br />
Dass sie beim Stresstest simulierte<br />
Belastungen für Kredite,<br />
Wertpapiere und Beteiligungen<br />
mit noch acht Prozent Kernkapital<br />
überstand, kommt der Aktie<br />
zugute. Nach oben dreht der<br />
Kurs aber erst, wenn die Coba<br />
wieder richtig Geld verdient.<br />
Forscher an die Börse<br />
Labor von Probiodrug<br />
BÖRSENGÄNGE<br />
Erfolg in Amsterdam<br />
Eine deutsche Biotech-Firma aus Halle an der Saale<br />
war die eigentliche Börsenrakete des Jahres.<br />
Dax<br />
Kurs Kursent- Gewinn KGV Börsen- Dividen-<br />
(€) wicklung pro Aktie (€) wert den-<br />
1 Woche 1 Jahr 2014 2015 2015<br />
(Mio. €) rendite<br />
(%) 1<br />
Dax 9114,84 +0,7 +1,2<br />
Aktie<br />
Stand: 30.10.2014 / 18.00 Uhr<br />
Adidas 56,95 –3,0 –32,2 3,10 3,61 16 11915 2,63<br />
Allianz 124,20 +0,7 +0,7 13,90 13,92 9 56629 4,27<br />
BASF NA 68,57 –3,5 –9,6 5,62 5,95 12 62980 3,94<br />
Bayer NA 109,95 +2,9 +18,8 5,99 6,91 16 90923 1,91<br />
Beiersdorf 63,99 +0,7 –9,1 2,48 2,75 23 16125 1,09<br />
BMW St 83,03 –0,1 +0,4 9,04 9,46 9 53325 3,13<br />
Commerzbank 11,71 +0,3 +21,2 0,53 0,97 12 13332 -<br />
Continental 153,80 +0,7 +14,7 12,71 14,08 11 30761 1,63<br />
Daimler 60,61 +0,4 +2,0 6,40 6,80 9 64818 3,71<br />
Deutsche Bank 24,30 –3,3 –28,4 2,27 3,17 8 24771 3,09<br />
Deutsche Börse 54,11 +1,5 –4,9 3,66 4,00 14 10443 3,88<br />
Deutsche Post 24,39 +2,0 –1,4 1,71 1,83 13 29488 3,28<br />
Deutsche Telekom 11,68 +7,2 +1,3 0,62 0,66 18 51967 4,28<br />
E.ON 13,32 +0,5 –1,8 0,94 0,97 14 26653 4,50<br />
Fresenius Med.C. St 58,18 +4,5 +18,9 3,52 3,87 15 17893 1,32<br />
Fresenius SE&Co 40,55 +4,9 +27,2 2,02 2,34 17 9151 3,08<br />
Heidelberg Cement St 53,47 +0,5 –8,3 3,83 4,83 11 10026 1,12<br />
Henkel Vz 77,58 +2,0 –2,2 4,28 4,68 17 32286 1,57<br />
Infineon 7,29 –3,9 +3,0 0,44 0,52 14 7877 1,65<br />
K+S NA 22,05 +4,7 +15,7 1,68 1,60 14 4219 1,13<br />
Lanxess 40,26 +0,3 –22,3 1,94 2,88 14 3350 1,24<br />
Linde 150,90 +0,2 +7,0 7,72 8,72 17 28014 1,99<br />
Lufthansa 11,52 –6,7 –21,6 1,35 2,21 5 5299 -<br />
Merck 71,68 +0,6 +17,3 4,66 4,97 14 4632 2,65<br />
Münchener Rückv. 153,45 +2,0 0 17,68 17,18 9 27520 4,72<br />
RWE St 27,74 +1,5 +0,9 2,22 2,23 12 16791 3,61<br />
SAP 52,66 +0,6 –8,6 3,40 3,68 14 64693 2,09<br />
Siemens 87,36 +0,8 –6,8 6,43 7,24 12 76964 3,43<br />
ThyssenKrupp 18,78 –1,2 –0,8 0,53 1,19 16 9660 -<br />
Volkswagen Vz. 165,15 +2,4 –10,0 21,39 23,52 7 77011 2,46<br />
1<br />
berechnet mit der zuletzt gezahlten Dividende<br />
Börsen sind nicht gegründet<br />
worden, um Anleger reich zu<br />
machen, sondern damit sich<br />
Unternehmen Geld beschaffen<br />
können, um ihre unternehmerischen<br />
Ziele zu verwirklichen.<br />
Manchmal<br />
machen sich Alteigentümer<br />
über einen Börsengang auch<br />
die eigenen Taschen voll.<br />
Aber das ist per se nicht verwerflich.<br />
Kein Anleger wird<br />
gezwungen zu zeichnen. Außerdem<br />
schafft die Aussicht<br />
auf einen Ausstieg über die<br />
Börse erst einen Anreiz für<br />
Gründer oder Private-Equity-<br />
Firmen, unternehmerische<br />
Risiken einzugehen. Im Idealfall<br />
geht keiner leer aus, wie<br />
Erfolgsbilanz ausgewählter Neuemissionen 2014<br />
Unternehmen<br />
Probiodrug<br />
TLG Immobilien<br />
SLM Solutions<br />
Snowbird<br />
Rocket Internet<br />
Zalando<br />
Feike<br />
JJ Auto<br />
Affimed<br />
Millionen Euro<br />
22,5<br />
460,6<br />
179,8<br />
60,0<br />
1400,0<br />
526,2<br />
7,9<br />
13,3<br />
41,1<br />
Quelle: Bloomberg; Stand: 29. Oktober 2014<br />
Emissionsvolumen<br />
<strong>Ausgabe</strong>preis<br />
etwa bei der Biotech-Gesellschaft<br />
Probiodrug. Die Aktien<br />
des 1997 gegründeten Unternehmens<br />
aus Halle an der Saale<br />
kamen am Montag zu 15,50 Euro<br />
an die Börse Amsterdam. Am<br />
Donnerstag lag der Kurs 60 Prozent<br />
über <strong>Ausgabe</strong>preis. Probiodrug<br />
will neue Therapien gegen<br />
Alzheimer entwickeln. Das<br />
frische Kapital geht in die Forschung.<br />
Garanten für den erfolgreichen<br />
Börsenstart waren<br />
die bestehenden Aktionäre, darunter<br />
BB Biotech und Biogen<br />
Idec. Altaktionäre zeichneten<br />
zwei Drittel der angebotenen<br />
Aktien und steuerten so rund 16<br />
Millionen Euro zum Emissionserlös<br />
von 22,5 Millionen bei.<br />
Euro<br />
15,25<br />
10,75<br />
18,00<br />
6,00<br />
42,50<br />
21,50<br />
7,50<br />
7,17<br />
7,00<br />
Preis<br />
festgesetzt<br />
am<br />
23.10.2014<br />
23.10.2014<br />
8.5.2014<br />
27.9.2014<br />
2.10.2014<br />
29.9.2014<br />
31.7.2014<br />
16.6.2014<br />
12.9.2014<br />
Kurs<br />
aktuell<br />
Euro<br />
22,10<br />
10,84<br />
17,91<br />
5,50<br />
38,82<br />
18,39<br />
6,14<br />
5,61<br />
4,51<br />
Performance<br />
seit<br />
Börsengang<br />
Prozent<br />
+44,9<br />
+0,8<br />
–0,5<br />
–8,3<br />
–8,7<br />
–14,5<br />
–18,1<br />
–21,8<br />
–35,6<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 107<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
AKTIE Travelers<br />
Defensiver Favorit<br />
mit Top-Rating<br />
Schirmt ab Travelers versichert<br />
Private und Firmen<br />
Mit 919 Millionen Dollar Nettogewinn,<br />
sechs Prozent mehr<br />
als im gleichen Zeitraum des<br />
Vorjahres, schnitt Travelers<br />
im dritten Quartal wesentlich<br />
besser ab als von Analysten<br />
erwartet. Der amerikanische<br />
Versicherungskonzern profitiert<br />
davon, dass Schadenszahlungen<br />
für Naturkatastrophen<br />
derzeit rückläufig sind.<br />
Nachdem bis Ende September<br />
unterm Strich 2,6 Milliarden<br />
Dollar geblieben sind,<br />
steuert Travelers im Gesamtjahr<br />
auf 3,4 Milliarden Dollar<br />
Reingewinn zu. Je Aktie wären<br />
das etwa zehn Dollar. Travelers<br />
ist einer der günstigsten<br />
US-Standardwerte, ein defensiver<br />
Favorit auch in schwächeren<br />
Börsenzeiten. Ein Signal<br />
dafür ist, dass Travelers<br />
von Standard & Poors’s mit<br />
der sehr guten Ratingnote AA<br />
bewertet ist.<br />
Das Geschäftsvolumen<br />
wächst. Nachdem die Amerikaner<br />
im November vergangenen<br />
Jahres für 1,1 Milliarden<br />
Dollar den kanadischen<br />
Versicherer Dominion of<br />
Canada übernommen haben,<br />
dürften die eingenommenen<br />
Prämien in diesem Jahr mit<br />
rund 27 Milliarden Dollar<br />
einen Rekordwert erreichen.<br />
Travelers entstand 2004 aus<br />
der Fusion des Versicherers<br />
Saint Paul aus Minnesota und<br />
dem <strong>vom</strong> ehemaligen Bankenkonzern<br />
Citicorp abgespalteten<br />
Assekuranzgeschäft.<br />
Die Wurzeln der Einzelunternehmen<br />
reichen bis in die Mitte<br />
des 19. Jahrhunderts zurück.<br />
Gut die Hälfte seines Geschäfts<br />
macht Travelers mit<br />
professionellen Kunden, <strong>vom</strong><br />
kleinen Ladenbesitzer bis zum<br />
internationalen Konzern. Zweiter<br />
Schwerpunkt sind Versicherungen<br />
für Privatkunden (Auto,<br />
Hausrat, Schaden, Unfall, Hagel,<br />
Feuer, Wind). Mit 90,3 Prozent<br />
hat Travelers ein gutes Verhältnis<br />
aus Aufwand und<br />
Schadenszahlung zu Prämieneinnahmen<br />
(Combined Ratio).<br />
Große Gewinnsprünge sind<br />
vorerst aber nicht drin. Wegen<br />
der allgemein niedrigen Renditen<br />
wird es nicht leicht sein, wie<br />
bisher gut drei Prozent Gewinn<br />
aus den angelegten Geldern zu<br />
holen. Ein Vorteil für Anleger:<br />
In den vergangenen zehn Jahren<br />
ist das Eigenkapital je Aktie<br />
kontinuierlich gestiegen. 78<br />
Dollar je Aktie sollte es Ende<br />
des Jahres betragen – das wären<br />
dann knapp vier Fünftel des aktuellen<br />
Kurses. Und bereits laufende<br />
Aktienrückkäufe über 4,8<br />
Milliarden Dollar treiben die<br />
Kennzahl weiter.<br />
Travelers<br />
ISIN: US89417E1091<br />
100<br />
80<br />
60<br />
50<br />
40<br />
200-Tage-Linie<br />
30<br />
06 08 10 12 14<br />
Kurs/Stoppkurs (in Dollar): 99,50/84,75<br />
KGV (2014/15): 9,9/10,4<br />
Dividendenrendite (in Prozent): 2,3<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
Hoch<br />
AKTIE Hasbro<br />
Monopoly auf dem<br />
Smartphone<br />
Alle Kinder orientieren sich<br />
stark an Marken. Entsprechend<br />
kümmert sich der US-<br />
Spielzeughersteller Hasbro<br />
konsequent um Markenbildung.<br />
So basieren die Kinoschlager<br />
„Transformers“ oder<br />
„G.I. Joe“ auf Figuren des<br />
Spielzeugherstellers. Hasbro<br />
besitzt Lizenzen auch für Figuren<br />
von „Star Wars“ und<br />
dem Comicverlag Marvel,<br />
dessen Film „Guardians of the<br />
Galaxy“ 2014 ebenfalls die Kinokassen<br />
klingeln ließ. Seit<br />
Oktober 2010 betreibt Hasbro<br />
gemeinsam mit dem Medienkonzern<br />
Discovery Communications<br />
einen eigenen TV-<br />
Sender (Dicovery Family) und<br />
produziert in den hauseigenen<br />
Studios Serien um Actionfiguren,<br />
Brettspiele und<br />
Spielshows.<br />
Im Juli 2013 kaufte Hasbro<br />
für 112 Millionen Dollar<br />
die Mehrheit (70 Prozent) an<br />
Backflip Studios, einem Entwickler<br />
erfolgreicher Smartphone-Spiele<br />
wie Dragonvale.<br />
Das Zusammenspiel<br />
zwischen digitalen Inhalten<br />
und physischen Produkten<br />
klappt bei Hasbro in beide<br />
Richtungen. Der digitale Hit<br />
Angry Birds wurde erfolgreich<br />
als Spielzeug etabliert,<br />
Profit-Monster<br />
„Transformers“ lässt<br />
die Kassen klingeln<br />
während Klassiker wie Monopoly,<br />
Risiko und Scrabble den<br />
Weg aufs Smartphone fanden.<br />
Der Umsatz im dritten Quartal<br />
stieg um 7,3 Prozent auf 1,47<br />
Milliarden Dollar. Der Nettogewinn<br />
verbesserte sich um 43<br />
Prozent auf 180,5 Millionen<br />
Dollar. Und Weihnachten steht<br />
erst noch vor der Tür. Hasbro<br />
produziert stete und solide freie<br />
Mittelzuflüsse, 2014 vermutlich<br />
400 Millionen Dollar. Das garantiert<br />
Aktionären verlässliche<br />
Dividenden. Aktuell wirft die<br />
Aktie drei Prozent Rendite ab.<br />
Das Kurs-Gewinn-Verhältnis<br />
2015 ist mit 16 im Rahmen.<br />
Hasbro<br />
ISIN: US4180561072<br />
60<br />
55<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
12 2013 2014<br />
Kurs/Stoppkurs (in Dollar): 57,60/48,30<br />
KGV (2014/15): 17,9/16,3<br />
Dividendenrendite (in Prozent): 3,0<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
50-Tage-Linie<br />
200-Tage-Linie<br />
Hoch<br />
FOTOS: CORBIS/REUTERS/CHIP EAST, INTERFOTO/NG COLLECTION, DPA PICTURE-ALLIANCE/FRANK RUMPENHORST, PR<br />
108 Redaktion: Geldwoche+Zertifikate: Frank Doll, Anton Riedl<br />
Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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ZERTIFIKAT Dax Reverse Bonus<br />
23 Prozent, wenn der<br />
Dax unter 10 800 bleibt<br />
ANLEIHE Fiat<br />
Franken<br />
mit Ferrari<br />
Dax zieht runter Strategien<br />
gegen Kursrisiken gefragt<br />
Die schwache Konjunktur,<br />
Enttäuschungen bei Unternehmensgewinnen<br />
und Finanzlöcher<br />
bei europäischen Banken<br />
trüben die Aussichten für den<br />
Dax. Zwar verspricht die Europäische<br />
Zentralbank (EZB),<br />
der Wirtschaft und den Anlagemärkten<br />
unter die Arme zu<br />
greifen. Doch ob sie mit noch<br />
expansiveren Maßnahmen als<br />
bisher Erfolg hat, bleibt offen.<br />
Wer skeptisch für den deutschen<br />
Aktienmarkt ist, für den<br />
kommen Reverse-Bonus-Zertifikate<br />
infrage. Diese Zertifikate<br />
werfen Gewinne ab, wenn<br />
der Dax auf der Stelle tritt<br />
oder sinkt. Für einen Reverse<br />
Bonus mit Barriere bei etwa<br />
10800 bedeutet das: Bleibt<br />
der Dax bis Ende der Laufzeit<br />
(18. Dezember 2015) unter dieser<br />
Grenze, gibt es 100 Euro<br />
zurück. Bei einem aktuellen<br />
Kaufkurs von etwa 81 Euro<br />
wären das 23,5 Prozent Gewinn.<br />
Ob der Dax im Extremfall<br />
bis 10799 steigt, um 9000<br />
schwankt oder auf 5000 kracht,<br />
ist egal. 100 Euro sind die maximale<br />
Rückzahlung.<br />
23 Prozent in 14 Monaten<br />
gibt es nicht umsonst. Das Zertifikat<br />
birgt durchaus Risiken.<br />
Steigt der Dax auf 10800 oder<br />
höher, geht die Rückzahlung<br />
von 100 Euro verloren. Als Rest<br />
bleibt der innere Wert, der sich<br />
aus Basispreis (in diesem Fall<br />
14000 Punkte) minus dann<br />
aktuellem Dax errechnet. Bei<br />
einem Index von 11000 wären<br />
das 3000 Punkte Differenz, die<br />
bei einem Bezugsverhältnis von<br />
0,01 einen Kurs von 30 Euro<br />
ergäben. Bei 81 Euro Kaufpreis<br />
wären das 63 Prozent minus.<br />
Steigt der Dax bis 14000, kommt<br />
es sogar zum Totalverlust.<br />
Wenn der Dax in den nächsten<br />
Monaten kräftig nachgibt,<br />
dürften die Zertifikate zügig in<br />
Richtung 100 Euro klettern.<br />
Auch wenn die Börsen auf der<br />
Stelle treten, sollten die Notierungen<br />
des Zertifikats zulegen,<br />
allerdings deutlich langsamer.<br />
Vorübergehende Erholungen im<br />
Dax bremsen die Zertifikate nur<br />
leicht. Gefährlich wird es erst,<br />
wenn der Aktienmarkt nachhaltig<br />
nach oben dreht, also etwa in<br />
die Nähe der bisherigen Höchstkurse<br />
kommt oder darüber hinaus<br />
steigt. Um dieses Risiko zu<br />
begrenzen, sollten Zertifikate-<br />
Anleger einen Stoppkurs setzen<br />
(etwa 10 bis 15 Prozent unter<br />
Einstand), bei dessen Unterschreiten<br />
sofort verkauft wird.<br />
Lukrative Baisse<br />
90<br />
85<br />
80<br />
75<br />
70<br />
65<br />
60<br />
55<br />
50<br />
Chance<br />
Risiko<br />
in Euro<br />
Reverse-Bonus-<br />
Zertifikat<br />
Niedrig<br />
Quelle: Bloomberg, Banken<br />
in Punkten 15 000<br />
Dax<br />
22.4.14 28.10.14<br />
14 000<br />
13 000<br />
12 000<br />
11 000<br />
10 000<br />
Kurs/Stoppkurs (in Euro): 80,80/68,70<br />
Maximale Rückzahlung (in Euro): 100,00<br />
Basispreis (in Punkten): 14 000<br />
Verlustbarriere (in Punkten): 10 800<br />
Laufzeit: bis 18. Dezember 2015<br />
Emittentin: Deutsche Bank<br />
ISIN: DE000DT4BC59<br />
9000<br />
8000<br />
Hoch<br />
Rot zieht hoch Mehr Rendite<br />
dank Ferrari (hier 458 Spider)<br />
Sebastian Vettel wird nächstes<br />
Jahr in der Formel 1 für Ferrari<br />
starten. Einen besonderen<br />
Schub gibt das dem Autokonzern<br />
Fiat: Je eher die roten<br />
Renner wieder vorne mitfahren,<br />
desto mehr steigt der<br />
Wert der Marke Ferrari – und<br />
die gehört zu 90 Prozent zu<br />
Fiat. Bei 2,6 Milliarden Euro<br />
Jahresumsatz kann es Ferrari,<br />
deren Aktien eigenständig an<br />
die Börse sollen, gut und gern<br />
auf fünf Milliarden Euro<br />
Marktwert bringen.<br />
Dass Fiat unter seinem umtriebigen<br />
Chef Sergio Marchionne<br />
mit dem Kapitalmarkt<br />
umgehen kann, zeigt der<br />
jüngste Börsengang des fusionierten<br />
Autoriesen Fiat Chrysler<br />
(FCA) in New York. FCA ist<br />
damit präsent auf dem wachstumsstarken<br />
amerikanischen<br />
Automarkt und erschließt sich<br />
neue, finanzkräftige Investoren.<br />
Mit Produktionsstätten in<br />
Europa und den USA, mit<br />
Sitz in den Niederlanden (das<br />
sichert Großaktionär John<br />
Elkann Mehrfachstimmrechte)<br />
und mit steuersparender<br />
Finanzverwaltung in London<br />
ist FCA für das weltweite<br />
Autogeschäft gut gerüstet.<br />
Nachdem im dritten Quartal<br />
vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen<br />
und Amortisationen<br />
(Ebitda) 2,1 Milliarden<br />
Euro geblieben sind, sollte<br />
das Ebitda von FCA im Gesamtjahr<br />
rund acht Milliarden<br />
erreichen. Daran gemessen<br />
wären die Nettoschulden<br />
(11,4 Milliarden Euro) verträglich.<br />
Allerdings, dass die<br />
Eigenkapitalquote im FCA-<br />
Gesamtkonzern (inklusive<br />
aller Finanzpositionen) nur<br />
bei elf Prozent liegt, zeigt, wie<br />
sehr Fiat jeden frischen Euro<br />
gebrauchen kann. Standard &<br />
Poor’s bewertet das Unternehmen<br />
mit BB- als spekulatives<br />
Investment. Immerhin, für<br />
Anleger sind deshalb ansehnliche<br />
Renditen möglich. Besonders<br />
interessant ist eine bis 2017<br />
laufende, in Schweizer Franken<br />
notierende Fiat-Anleihe (gesamter<br />
Nennwert: 450 Millionen<br />
Franken), die derzeit mehr<br />
als drei Prozent Jahresrendite<br />
abwirft. Handelbar ist das<br />
Papier an deutschen Börsen<br />
ab einer Stückelung von 5000<br />
Franken (4144 Euro).<br />
Schweizer Franken sind derzeit<br />
eine interessante Anlage.<br />
Offiziell ist die Schweizerische<br />
Nationalbank (SNB) angetreten,<br />
den Franken nicht zu stark<br />
werden zu lassen und den Euro<br />
über 1,20 Franken zu halten.<br />
Derzeit notiert der Euro bei<br />
1,2065 Franken (ein Franken ist<br />
gleich 0,8288 Euro). Ob die SNB<br />
diese Grenze auch bei weiteren,<br />
expansiven Maßnahmen der<br />
Europäischen Zentralbank verteidigen<br />
kann, ist fraglich. Für<br />
Euro-Anleger, die in Franken<br />
investieren, heißt das: Ihr Geld<br />
dürfte zumindest seinen Wert<br />
behalten. Und sollte die 1,20er-<br />
Grenze doch fallen, kämen<br />
Währungsgewinne obendrauf.<br />
Kurs (%) 102,60<br />
Kupon (%) 4,00<br />
Rendite (%) 3,10<br />
Laufzeit bis 22. November 2017<br />
Währung Schweizer Franken (CHF)<br />
ISIN<br />
CH0225173308<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 109<br />
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Geld&Börse | Geldwoche<br />
FONDS UBS Key Selection Dynamic Alpha<br />
»Noch 18 Monate<br />
Potenzial nach oben«<br />
Leuchten wieder heller Aktien<br />
Tokioter Konzerne mit Chancen<br />
Was von September bis Mitte<br />
Oktober an den Börsen passierte,<br />
das nennt Fondsmanager<br />
Andreas Köster einen<br />
„Showcase“: Der Dax fiel von<br />
9800 auf 8500 Punkte, zog jetzt<br />
wieder nach oben an. Gleiches<br />
Spiel an den US-Börsen. „Das<br />
war in geringem Ausmaß ein<br />
Beispiel dafür, was passiert,<br />
wenn die Märkte richtig einbrechen“,<br />
sagt Köster, der den<br />
UBS Key Selection Dynamic<br />
Alpha Fonds managt. Den großen<br />
Crash sieht er noch nicht<br />
kommen und reagiert gelassen<br />
auf Verluste, weil er mit<br />
seinem Fonds aktiv gegensteuern<br />
kann. Wie große Hedgefonds<br />
nutzt er die sogenannte<br />
Global-Macro-Strategie – handelt<br />
entlang makroökonomischer<br />
Trends, aktuell setzt er<br />
etwa mit zehn Prozent des<br />
Portfolios auf die Stärke der<br />
US-Konjunktur mit Dollar-<br />
Kaufpositionen, vor allem gegenüber<br />
der australischen<br />
Währung. Bei Bedarf kann er<br />
aber auch auf fallende Kurse<br />
setzen und Derivate kaufen.<br />
Seit September baute er deshalb<br />
im großen Stil Verkaufsoptionen<br />
auf, die auf sinkende<br />
Börsenpreise wetteten. „Als<br />
der Markt gedreht hat, haben<br />
wir sie dann im Oktober wieder<br />
mit Gewinn verkauft.“ So<br />
konnte er Verluste bei anderen<br />
Positionen auffangen.<br />
Anleger können ab 500 Euro<br />
in den 520 Millionen Dollar<br />
starken UBS-Fonds investieren,<br />
wenn sie von globalen Trends<br />
profitieren möchten, die Köster<br />
und sein Team auszuspielen<br />
versuchen. Jetzt, in der Erholungsphase<br />
an den Börsen, hält<br />
Köster wieder einen Anteil von<br />
40 Prozent Aktien nach zuvor<br />
31 Prozent in seinem Portfolio.<br />
„Ich denke, dass die Märkte<br />
noch 12 bis 18 Monate Potenzial<br />
nach oben haben, wenn auch<br />
mit starken Schwankungen“,<br />
sagt Köster. Weil ihm die Kurs-<br />
Gewinn-Verhältnisse der Aktien<br />
weltweit langsam zu teuer werden,<br />
geht er aber nicht volles<br />
Risiko, sondern parkt Gelder in<br />
US-Staatsanleihen.<br />
Die größten Chancen sieht er<br />
aktuell in Japan. „Gut acht Prozent<br />
des Portfolios sind japanische<br />
Aktien, wir sehen hier<br />
wichtige Unterstützung durch<br />
die für den Export günstige<br />
Währung und die japanische<br />
Zentralbank.“ Auch die Europäische<br />
Zentralbank biete langfristig<br />
verlässliche Unterstützung,<br />
sagt Köster. Deshalb<br />
stecken über sechs Prozent seines<br />
Portfolios in italienischen<br />
Staatsanleihen, mit Laufzeiten<br />
bis zu 30 Jahren.<br />
UBS Dynamic Alpha<br />
ISIN: LU0218832805<br />
160<br />
150<br />
140<br />
130<br />
120<br />
110<br />
100<br />
Chance<br />
Risiko<br />
2010 11 12 13 14<br />
Niedrig<br />
Indexiert: seit 5 Jahren (= 100);<br />
Quelle: Bloomberg<br />
S&P Global Macro Index<br />
Hoch<br />
Die besten internationalen Spezialfonds<br />
Wie die erfolgreichsten Portfolio-Manager abgeschnitten haben<br />
Fondsname<br />
Die Sieger der Long-Short-Kategorie<br />
DNB ECO Absolute Return<br />
Pictet Total Return Mandarin USD<br />
Ennismore Europ. Smaller Companies<br />
MS Broadmark Tactical Plus USD<br />
GAM Star Global Selector USD<br />
ACMBernstein Select Absolute Alpha<br />
Marshall Wace Developed Europe GBP<br />
GLG Alpha Select Alternative GBP<br />
Henderson Gartmore UK Abs. Return<br />
Morgan Stanley Alkeon USD<br />
Nordea-1 Stable Equity LongShort<br />
Henderson Horizon Pan European Alpha<br />
R Parus Fund Class I Euro Hedged<br />
Merrill Lynch Health Care Long-Short<br />
Melchior European Absolute Return<br />
Die besten Fonds mit globaler Makro-Trend-Strategie<br />
A Generix Global Macro Sub-Fund USD<br />
GAM Star Global Rates USD<br />
UBS Key Selection Dynamic Alpha USD<br />
Eaton Vance Global Macro USD<br />
BNP Paribas Plan Int. Derivatives<br />
HSBC Trinkaus Multi Markets Select<br />
Nordea-1 Multi Asset<br />
Nordea-1 Alpha 15<br />
M&G Episode Macro Hedged<br />
Bellevue Global Macro<br />
H2O Adagio<br />
GAM Star Emerging Market Rates<br />
Edmond de Rothschild Quadrim 4 C<br />
Morgan Stanley Diversified Alpha Plus<br />
Die Sieger unter den Volatilitätsfonds<br />
RP Vega RL<br />
OptoFlex P<br />
BNP Paribas Volatility Arbitrage USD<br />
HSBC Trinkaus Aktienstrukturen Europa<br />
HSBC Trinkaus Discountstrukturen<br />
Bayern Invest BILKU 1 EPOS<br />
Amundi Absolute Volatility World<br />
Lupus Alpha Volatility Invest<br />
HSBC Trinkaus Rendite Substanz<br />
ATHENA UI I<br />
Amundi Absolute Volatility Arbitrage<br />
Die besten Future-Fonds<br />
Montlake Dunn World Monetary Agric.<br />
SEB Asset Selection Opportunistic<br />
Vontobel Pure Momentum USD<br />
Lyxor Epsilon Global Trend<br />
Man AHL Trend<br />
SEB Asset Selection<br />
Salus Alpha Directional Markets<br />
GAM Star Keynes Quantitative Strat.<br />
Tungsten Trycon Basic Invest<br />
1 jährlicher Durchschnitt (in Euro gerechnet); 2 je höher die Jahresvolatilität<br />
(Schwankungsintensität) in den vergangenen drei Jahren, desto riskanter der Fonds;<br />
Quelle: Morningstar; Stand: 27. Oktober 2014<br />
ISIN<br />
LU0547714286<br />
LU0496443531<br />
IE0004515239<br />
IE00BC1JD990<br />
IE00B5BQX573<br />
LU0736558973<br />
IE00B3V2HM60<br />
IE00B60K3800<br />
LU0200083342<br />
IE00B6126197<br />
LU0826409327<br />
LU0264597450<br />
IE00BCBHZ754<br />
LU0860708394<br />
LU0476438642<br />
IE00B603XC32<br />
IE00B5BJ0779<br />
LU0218832805<br />
IE00B5VSG325<br />
LU0258897114<br />
DE000A0RAD67<br />
LU0445386369<br />
LU0607983896<br />
GB00B5LHB564<br />
LU0494761835<br />
FR0010923359<br />
IE00B5TN9J68<br />
FR0010459693<br />
LU0299413608<br />
DE000A1JSUB5<br />
LU0834815366<br />
FR0011528348<br />
LU0154656895<br />
DE000A0JDCK8<br />
LU0255487448<br />
LU0319687124<br />
DE000A0HHGG2<br />
DE000A0MMTQ4<br />
DE000A0Q2SF3<br />
LU0228157250<br />
IE00B6R2TJ21<br />
LU0425994844<br />
LU0971937973<br />
IE00B61N8946<br />
LU0424370004<br />
LU0256624742<br />
AT0000A0BJY9<br />
IE00B6388K89<br />
LU0451958135<br />
Wertentwicklung<br />
in Prozent<br />
seit 3<br />
Jahren 1<br />
3,5<br />
9,2<br />
14,5<br />
–<br />
15,1<br />
–<br />
14,4<br />
8,1<br />
10,6<br />
–<br />
–<br />
10,5<br />
–<br />
–<br />
–0,8<br />
–<br />
11,2<br />
10,0<br />
3,9<br />
22,0<br />
4,6<br />
4,0<br />
3,2<br />
2,7<br />
5,5<br />
6,5<br />
1,8<br />
0,6<br />
8,9<br />
–<br />
–<br />
–<br />
9,0<br />
5,3<br />
6,2<br />
–3,4<br />
2,5<br />
2,9<br />
0,9<br />
–0,3<br />
–<br />
5,0<br />
–<br />
–<br />
2,4<br />
2,6<br />
–2,1<br />
4,2<br />
1,0<br />
seit einem<br />
Jahr<br />
22,9<br />
17,7<br />
15,5<br />
15,1<br />
13,3<br />
13,2<br />
13,1<br />
12,0<br />
10,6<br />
9,0<br />
8,5<br />
8,1<br />
7,7<br />
7,6<br />
7,3<br />
15,8<br />
13,6<br />
13,3<br />
11,0<br />
9,6<br />
7,2<br />
6,7<br />
5,9<br />
5,5<br />
5,0<br />
3,6<br />
2,1<br />
1,6<br />
0,4<br />
8,4<br />
3,4<br />
3,1<br />
2,9<br />
2,7<br />
2,6<br />
1,7<br />
1,5<br />
0,4<br />
0,0<br />
–0,8<br />
24,9<br />
21,0<br />
20,0<br />
18,7<br />
17,3<br />
11,0<br />
10,8<br />
10,7<br />
10,2<br />
Volatilität<br />
2<br />
in<br />
Prozent<br />
17,2<br />
8,9<br />
5,1<br />
–<br />
8,4<br />
–<br />
5,9<br />
6,1<br />
4,7<br />
–<br />
–<br />
6,4<br />
–<br />
–<br />
3,3<br />
12,0<br />
10,6<br />
7,8<br />
8,2<br />
19,1<br />
3,0<br />
8,2<br />
11,0<br />
8,5<br />
5,5<br />
2,8<br />
3,2<br />
0,6<br />
6,7<br />
–<br />
–<br />
–<br />
6,6<br />
4,1<br />
4,6<br />
12,4<br />
2,1<br />
2,6<br />
2,3<br />
1,1<br />
–<br />
15,2<br />
–<br />
–<br />
12,0<br />
7,7<br />
11,1<br />
12,2<br />
5,7<br />
FOTO: ACTION PRESS/ALEX MAXIM<br />
110 Redaktion Fonds: Sebastian Kirsch<br />
Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
CHARTSIGNAL<br />
Wichtige Rückschlüsse<br />
Im Kupferpreis deutet sich eine weniger weiche<br />
Landung für Chinas Wirtschaft an.<br />
RELATIVE STÄRKE<br />
Schwer im Preiskampf<br />
Rückläufige Rohstoff-Notierungen drücken BHP<br />
Billiton. Eine hohe Dividende ist dennoch möglich.<br />
Kupfer ist das am stärksten<br />
gehandelte Industriemetall<br />
und gilt deshalb als guter<br />
Konjunkturindikator. Wegen<br />
dieser Eigenschaft wird das<br />
rote Metall auch als Dr. Copper<br />
bezeichnet. Auf China<br />
entfällt etwa 45 Prozent des<br />
weltweiten Kupferverbrauchs,<br />
davon die Hälfte auf<br />
die Immobilien- und Bauwirtschaft<br />
des Landes. Deshalb<br />
ziehen Investoren aus dem<br />
Kupferpreis Rückschlüsse auf<br />
das chinesische Wachstumsmodell,<br />
einem der wenigen<br />
noch verbliebenen Anker der<br />
Weltwirtschaft. Entsprechend<br />
könnte eine Kupferbaisse auf<br />
eine weniger sanfte Landung<br />
der chinesischen Wirtschaft<br />
hindeuten und in der Folge<br />
einen Kurseinbruch an den<br />
internationalen Aktienmärkten<br />
auslösen. Zumal sich die<br />
Preise anderer stark von der<br />
chinesischen Nachfrage bestimmten<br />
Rohstoffe wie Eisenerz,<br />
Kohle oder Zement im<br />
freien Fall befinden. Auch die<br />
Preiskurve für Kupfer mahnt<br />
jetzt zur Vorsicht.<br />
Gipfelbildung<br />
Nach dem Fall unter die Unterstützung<br />
bei 7000 Dollar pro Erzpreise in diesem Jahr ge-<br />
Schon um 40 Prozent sind die<br />
Tonne (1) hatte sich der Kupferpreis<br />
zunächst stabilisiert. Doch des Rohstoffkonzerns BHP<br />
sunken. Das drückt die Aktien<br />
der Rückeroberungsversuch Billiton (Rang 150), der mehr<br />
der 7000-Dollar-Marke ist gescheitert<br />
nach dem Unter-<br />
aus dem Erzgeschäft holt. Um<br />
als die Hälfte seiner Gewinne<br />
schreiten der Aufwärtstrendlinie<br />
T1 ( 2).<br />
kämpfen, erhöht BHP seine<br />
gegen den Preisverfall anzu-<br />
Die Nähe des aktuellen Preises<br />
zur langfristigen Abwärts-<br />
bisher um 17 Prozent. Kosten-<br />
Erzförderung; in diesem Jahr<br />
trendlinie T2 signalisiert jetzt senkungen kommen voran,<br />
ein sehr hohes Abwärtspotenzial<br />
für den Kupferpreis. Es könnte<br />
mindestens runtergehen bis Wer schlägt den Index?<br />
an eine untere, aktuell bei gut<br />
5000 Dollar verlaufende Begrenzung<br />
eines potenziellen<br />
Abwärtstrendkanals (3). Wegen<br />
der ausgedehnten Seitwärtsbewegung<br />
und der langen Dauer<br />
Gewinner<br />
der bis 2010 zurückgehenden<br />
Gipfelbildung könnte ein Einbruch<br />
noch heftiger ausfallen.<br />
Der Crash von 2008 hatte gezeigt,<br />
was mit dem Kupferpreis<br />
passieren kann, wenn die Weltwirtschaft<br />
ins Trudeln kommt.<br />
Eine solide historische Unterstützung<br />
findet der Preis erst<br />
wieder bei den Tiefstpreisen<br />
von 2008 und 2009 (4, 5).<br />
T2<br />
Unterstützung 1 2<br />
T1<br />
Verlierer<br />
3<br />
potenzieller Abwärtstrendkanal<br />
historische Unterstützung<br />
4 5<br />
Crashtief nicht ausgeschlossen<br />
Dem weltweit meistgehandelten Industriemetall droht ein heftiger<br />
Preiseinbruch (in Tausend Dollar pro Tonne)<br />
11<br />
10<br />
9<br />
8<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
2005<br />
200-Tage-Linie<br />
2006<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
2007<br />
Kupfer<br />
2008<br />
2009<br />
2010<br />
2011<br />
Gipfelbildung<br />
2012<br />
2013<br />
2014<br />
dazu werden Randgeschäftsfelder<br />
(Silber, Alu, Nickel) verkauft.<br />
Dennoch, dass auch die<br />
Preise für andere wichtige Rohstoffe<br />
(Kupfer, Öl) nachgeben,<br />
wird die Gewinne im laufenden<br />
Geschäftsjahr (bis Juni 2015)<br />
schwer belasten. Für eine Dividende,<br />
die rund vier Prozent<br />
Rendite auf den Kurs bringt,<br />
sollte es reichen, nicht aber für<br />
nachhaltig höhere Kurse.<br />
Die innerhalb der vergangenen drei Monate am stärksten gestiegenen<br />
und gefallenen Aktien 1<br />
Rang Aktie Index Kurs 2 Kursentwicklung Relative Trend 3<br />
(€) (in Prozent) Stärke<br />
3 Monate 1 Jahr<br />
(in Prozent)<br />
1 Dialog Semic. NA (GB) TecDax 25,97 +26,66 +82,34 27,7 4<br />
2 BB Biotech (CH) TecDax 162,15 +26,68 +46,48 27,1<br />
3 KUKA MDax 49,00 +16,46 +47,95 18,2<br />
4 Tui MDax 11,91 +16,15 +22,38 17,1 4<br />
5 Drägerwerk TecDax 74,50 +13,43 -15,77 14,6 4<br />
6 Symrise MDax 43,90 +14,47 +39,37 13,8<br />
7 Bayer NA Dax 107,90 +11,73 +16,62 12,7<br />
8 Aurubis MDax 40,68 +11,94 -14,80 12,5<br />
9 Merck Dax 70,53 +10,48 +15,39 11,9<br />
10 Novartis (CH) Stoxx50 86,55 +11,32 +21,99 11,6<br />
11 ING Groep (NL) Stoxx50 10,73 +10,43 +15,50 10,7 5<br />
12 Gea MDax 35,62 +9,60 +15,05 10,3 4<br />
13 Fresenius Med.C. St Dax 57,16 +8,48 +16,86 10,0<br />
14 Wacker Chemie MDax 91,50 +9,05 +31,54 10,0 4<br />
15 Fresenius SE&Co Dax 39,88 +7,93 +25,13 9,8 4<br />
16 RIB Software TecDax 11,03 +4,50 +67,12 9,6 4<br />
17 Freenet TecDax 20,39 +5,62 +5,95 9,4 4<br />
18 Morphosys TecDax 71,77 +7,65 +24,82 8,9 4<br />
19 Roche Holding (CH) Stoxx50 280,50 +8,43 +11,98 8,7<br />
20 Gagfah (LU) MDax 14,42 +10,42 +37,29 8,2 5<br />
21 Anh.-Busch Inbev (BE) Stoxx50 86,10 +7,81 +15,49 8,1 5<br />
22 Commerzbank Dax 11,21 +7,74 +16,05 7,4 5<br />
23 MTU Aero Engines MDax 67,65 +6,87 -7,73 7,3 4<br />
24 Zurich Insur. Grp (CH) Stoxx50 285,30 +6,93 +13,62 7,2 5<br />
152 QSC TecDax 1,45 -47,43 -68,44 -46,5<br />
151 Stand. Chartered (GB) Stoxx50 960,60 -20,48 -36,30 -20,5 5<br />
150 BHP Billiton (GB) Stoxx50 1607,00 -21,03 -17,67 -19,1<br />
149 Rheinmetall MDax 33,23 -20,81 -26,50 -18,7<br />
148 LPKF Laser&El. TecDax 9,94 -19,55 -33,84 -17,4<br />
147 Telefonica Deutschl. TecDax 3,76 -18,23 -18,35 -16,2<br />
146 Evotec TecDax 2,87 -16,91 -33,10 -16,0 4<br />
145 Lanxess Dax 39,56 -16,53 -23,67 -15,4<br />
144 BG Group (GB) Stoxx50 1020,00 -14,18 -18,11 -13,4 5<br />
1<br />
aus Dax, MDax, TecDax und Stoxx Europe 50 im Vergleich zum Stoxx Europe 600;<br />
2<br />
bei GB in Pence, bei CH in Franken; 3 Änderung um mindestens fünf Ränge; 30.10.2014,<br />
13:00 Uhr<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 111<br />
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Perspektiven&Debatte<br />
Iss einfach!<br />
ERNÄHRUNG | Unser Essen ist ein Spiegel unserer<br />
Persönlichkeit. Wir instrumentalisieren es inzwischen<br />
als Bekenntnis, Visitenkarte und Statussymbol.<br />
Ein Plädoyer für das Essen, das auf den Tisch kommt.<br />
Die Einladung zur Hochzeit ist<br />
auf transparentem Papier gedruckt<br />
und enthält Datum,<br />
Ort, Uhrzeit und Dresscode.<br />
Neben Zu- oder Absage bittet<br />
der Gastgeber noch um die Angabe von<br />
Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Das<br />
Menü sei, angesichts der zahlreich geladenen<br />
Vegetarier, frei von Fisch und Fleisch.<br />
Zurückhaltung, Vorsicht und politische<br />
Korrektheit sind die Würzmittel einer Feier,<br />
deren Atmosphäre Einschränkung, Verzicht<br />
und Vernunft atmet. So sehr, dass sich<br />
der Normalesser fast sehnt, stattdessen zu<br />
einem selbstmörderischen Gelage eingeladen<br />
zu sein, wie es in Marco Ferreris Film<br />
„Das große Fressen“ ausgemalt wird.<br />
Essen, wie es der Mensch sich wünscht,<br />
nicht, wie es ihm angeboten wird – das hat<br />
sich zu einem Erfolgsrezept entwickelt, mit<br />
dem bereits Kindergärten konfrontiert<br />
werden: Viele Eltern sind nicht mehr mit<br />
der Gemeinschaftsverpflegung einverstanden<br />
und fordern, die Betreuer mögen den<br />
Kindern das eigens mitgebrachte Essen<br />
servieren. Das Gemeinschaftsmahl im<br />
Kreis der Familie oder mit dem berufstätigen<br />
Partner, bei dem alle Tischgenossen<br />
das Gleiche essen, ist auf dem Rückzug.<br />
Unsere Ernährungsgewohnheiten werden<br />
in der Kindheit geprägt, sagt der Soziologe<br />
Simon Reitmeier. Was wir als Kinder<br />
nach der Schule zu Mittag auf den Tisch<br />
bekamen, verbinden wir im Rückblick mit<br />
Wärme, Nähe und Zuneigung. Im Erwachsenenalter<br />
lösen diese Gerichte, so Reitmeier<br />
in seiner Studie „Warum wir mögen,<br />
was wir essen“, im besten Fall genau diese<br />
Emotionen aus: Ein Kartoffelpuffer, der<br />
riecht, wie in der Küche der Kindheit, gibt<br />
uns das Gefühl von Sicherheit – mehr als<br />
jede Abschaltautomatik im Herd.<br />
Immer häufiger jedoch sind wir bereit,<br />
diese Emotionen einzutauschen gegen ein<br />
noch besseres Gefühl: die Überzeugung,<br />
mit unserem Essen etwas Richtiges zu tun.<br />
Jahrtausendelang, so der Historiker Gunther<br />
Hirschfelder von der Universität Regensburg,<br />
spielte das keine Rolle. Von der<br />
Notwendigkeit, etwas zu sich zu nehmen<br />
in prähistorischen Zeiten, über den späteren<br />
Glauben Ägyptens, dass Mangel göttliche<br />
Bestrafung und Überfluss Belohnung<br />
sei, entwickelten sich in der Antike Vorstellungen<br />
von gesunder Ernährung: Die<br />
Idee, mit ausgewähltem Essen das Leben<br />
zu verlängern, hatten schon die griechischen<br />
Gelehrten Herodot und Hippokrates.<br />
Während die Römer den Genuss<br />
feierten, prägte das Mittelalter, so Hirschfelder,<br />
die Idee, dass gottgefälliges Leben<br />
mit Fasten und fleischlosen Tagen einhergehe.<br />
Wir verdanken es Luther, so der Soziologe,<br />
dass bis heute Genuss mit<br />
schlechtem Gewissen verbunden wird: Er<br />
brach mit den Fastengeboten, aber nur,<br />
um uns dafür die Idee des moralischen<br />
Lebens in Eigenverantwortung einzupflanzen.<br />
ERST DIE MORAL, DANN DAS ESSEN<br />
Inzwischen kehren wir einen lange Zeit<br />
geltenden Spruch um. „Du isst, was du<br />
bist“, heißt das Credo unserer Gesellschaft.<br />
Wir hadern mit der Nahrungsmittelindustrie<br />
und den Produzenten, wir versuchen<br />
ein Leben zu führen, das möglichst keine<br />
schädlichen Spuren hinterlässt, so wie vor<br />
gut 2,5 Millionen Jahren, als unsere Vorfahren<br />
von Früchten und Blättern lebten.<br />
Der Veganismus dieser Tage ist das erfolgreichste<br />
Produkt einer Nahrungsgesellschaft,<br />
die „richtig“ leben möchte. Kein<br />
Tier soll für den Menschen leiden, gar sterben.<br />
Doch für Veganer ist es nicht damit<br />
getan, das Tier nicht zu verspeisen. Auch<br />
seine weitere Nutzung ist verpönt: Die<br />
Milch gehört den Kälbern, die Eier gehören<br />
den Hühnern. Vor 20 Jahren waren vegane<br />
Restaurants kulinarische Exoten. Wer<br />
heute in touristischen Schmelzpunkten<br />
wie Nieblum auf Föhr angesichts der allgegenwärtigen<br />
historisierenden Neubauten<br />
glaubt, hier solle alles werden, wie es war,<br />
FOTO: CINETEXT/DAS GROSSE FRESSEN<br />
112 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Hemmungslos Szene aus „Das große<br />
Fressen“ von Filmregisseur Mario Ferreri<br />
stutzt spätestens an der Schiefertafel des<br />
Hofcafés, das wie selbstverständlich wirbt:<br />
„Kuchen auch vegan und glutenfrei.“<br />
In den Städten ist Veganismus längst –<br />
neben Edel-Burger-Brätern – zum auffällig<br />
expandierenden Gastrotrend geworden.<br />
Kein Sternekoch, der nicht mittlerweile einen<br />
Abend mit Spargel in Variationen und<br />
in Heu gegartem Sellerie bestreiten könnte.<br />
Besonders leistungswillige Konsumenten<br />
vereinbaren Ausdauersport mit kulinarischer<br />
Kasteiung. Zu den politisch Motivierten<br />
gesellen sich die Selbstoptimierer in<br />
der Tradition der griechischen Philosophie.<br />
Allein – es wird weniger gefragt, was<br />
gut ist für den Körper, sondern vor allem<br />
festgehalten, was schlecht für ihn ist.<br />
Und die Liste wird immer länger: Fleisch,<br />
Milch und weißes Mehl. Das Kleber-Eiweiß<br />
Gluten ist derart in Verruf geraten, dass sich<br />
zwischen dem 14. und 21. Oktober die britischen<br />
Filialen von McDonald’s zu einer<br />
Testwoche entschlossen: Burger „gluten<br />
free“. Milch, einst Muntermacher für müde<br />
Männer, gilt zunehmend als unverträgliches<br />
Nahrungsmittel, das krank macht.<br />
Die Lactose-Intoleranz ist die jüngste<br />
Goldgrube für die Nahrungsmittelindustrie.<br />
Neben den tatsächlich betroffenen<br />
Menschen, deren Körper das Milcheiweiß<br />
nur schlecht oder gar nicht aufspalten<br />
kann, bedient sie eine weitere Gruppe: diejenigen,<br />
die Verdauungsschwierigkeiten<br />
per Selbstdiagnose auf den derzeitigen Prügelknaben<br />
des Kühlregals schieben. Folgerichtig<br />
bedient die Industrie diese Zielgruppe<br />
oftmals unter dem Label „Laktosefrei“<br />
mit einem Produkt, das wie viele Hartkäse<br />
von Anfang an nie Laktose enthielt.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 113<br />
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Perspektiven&Debatte<br />
Essen, was geht In den Fünfzigern war<br />
Sattwerden oberstes Ziel<br />
Die Gerichte unserer Kindheit geben<br />
uns Sicherheit als Erwachsene<br />
»<br />
Unsere Beschwerden sind dabei für uns<br />
kein Grund, beschämt zu schweigen. Im Gegenteil,<br />
sie mutieren zum Ausdruck unserer<br />
Individualität. Die Autorin Susanne Schäfer<br />
diagnostizierte in der Wochenzeitung „Die<br />
Zeit“: „Wer alles klaglos hinunterschluckt<br />
und verdaut, sitzt dazwischen wie ein Klotz:<br />
unsensibel, unreflektiert – kurz: von gestern.“<br />
Selbst die Normen der Diätprediger werden<br />
angepasst. Im Lanserhof am Tegernsee, wo<br />
sich zahlungskräftige Gäste nach der F.-X.-<br />
Mayr-Fastenkur schlank oder gesund oder<br />
beides hungern wollen, wurde das traditionelle<br />
Milchbrötchen ersetzt. Sah Diät-Erfinder<br />
Mayr vor, dass die Patienten 30-mal jeden<br />
Bissen eines Milchbrötchens kauten, tun sie<br />
das nun immer noch 30-mal: auf einem glutenfreien<br />
Dinkelbrötchen. Sicher ist sicher.<br />
Für jeden Trend die passende Diät – und<br />
wenn man dafür zurück in die Höhle muss.<br />
Die Paleo-Diät setzt auf Fleisch, Gemüse<br />
und Nüsse. Was schon für die Steinzeitmenschen,<br />
unsere Mammutfleisch verzehrenden<br />
Vorfahren vor rund 100000 Jahren<br />
gut war, so die Idee, kann für uns nicht<br />
schlecht sein.<br />
Doch selbst wer glaubt, er äße alles gern,<br />
kann sich mitunter der „Thematisierungskonjunktur“<br />
nicht entziehen, der, laut Gunther<br />
Hirschfelder, unser Essen heute unterliegt.<br />
Da wären etwa die Selbstkocher: Menschen,<br />
die sich die Mühe machen, Zwiebeln<br />
zu schneiden, Brühen aufzusetzen und Nudelteig<br />
durch die Maschine zu drehen, um<br />
ihn mit Ziegenfrischkäse zu Ravioli zu formen.<br />
Der Griff zu den Küchenhelferlein wie<br />
fertigen Fonds oder – der Küchengott möge<br />
es verhüten – Fertigmischungen für Carbonara<br />
oder Gulasch ist ihnen so zuwider wie<br />
Vegetariern der Biss ins Mettbrötchen. Die<br />
gefühlte moralische Überlegenheit speist<br />
sich aus der Überzeugung, durch das Kochen<br />
nicht den Kontakt zur Natur verloren<br />
zu haben.<br />
UNSER ESSEN ALS ERZÄHLUNG<br />
„All das gehört zu den narrativen Seiten des<br />
Essens, wir erzählen mit unserer Wahl der<br />
Speisen etwas über uns“, sagt Hirschfelder.<br />
Alltägliches wie Essen mit Bedeutung aufzuladen<br />
helfe uns, die Komplexität und Virtualität<br />
der Welt zu meistern.<br />
Oft schwingen jedoch ganz andere Dinge<br />
mit in unseren kulinarischen Geschichten.<br />
In dem Maß, wie die Kritik an der Herrschaft<br />
der Männer wächst, zelebrieren diese ihre<br />
Männlichkeit in der Küche. Das beginnt,<br />
sattsam bekannt, mit der Liebe zum schärfsten<br />
Messer, dem teuersten Dampfgarer oder<br />
gleich dem privaten Fleischreifeschrank,<br />
um aus dem normalen Steak ein Dry Aged<br />
werden zu lassen.<br />
Dazu kommt die Inszenierung des Archaischen,<br />
Verbotenen: So viel nacktes<br />
Fleisch zeigt kein klassisches Männermagazin,<br />
wie die sehr erfolgreiche Männerzeitschrift<br />
„Beef“. Sie präsentiert Hoden, erläutert<br />
detailliert das Zerlegen von Tieren und<br />
kokettiert mit dem Verbotenen: „Wie<br />
schmeckt eigentlich...?“ Das kann dann Wal,<br />
Giraffe oder Murmeltier sein.<br />
Heute ist der Mensch am Herd ein Kerl,<br />
hier darf er es sein. Oder am Grill, der jüngsten<br />
Technik-Sau, die durchs kulinarische<br />
Dorf getrieben wird. Statt sich über die PS-<br />
Zahlen ihrer Autos auszutauschen, stellen<br />
sich bei Grill-Seminaren die Teilnehmer<br />
auch mit dem Produktnamen ihres Gasgrills<br />
vor. 24 Stunden schmoren auf geschlossenen<br />
Kugelgrills und Smokern für mehrere<br />
Tausend Euro. Fleischstücke, überwacht mit<br />
Sonden-Thermometer und Weckruf per<br />
Smartphone, falls die Temperatur zu weit<br />
nach unten geht. Eine Wurst auf Kohle grillen<br />
– alles unter der Würde von Grillmeistern,<br />
die lieber Lachs auf Brettern räuchern<br />
und Eis mit Baiser kurz im Grill gratinieren.<br />
Wer nicht bei einem der Trends mitmacht,<br />
ist schnell raus aus der Gruppe. „Ernährungsstile<br />
eignen sich, um andere Menschen<br />
abzuwerten. Wer nicht kauft, wie man<br />
selbst, ist moralisch unterlegen“, sagt Soziologe<br />
Simon Reitmeier. Dabei übersieht man<br />
gern so manche Paradoxie: „Das Huhn muss<br />
glücklich sein, wie es aber der Küchenhilfe<br />
oder dem Stallmitarbeiter geht, interessiert<br />
nicht“, so Reitmeier.<br />
Wer isst, wie er sich sieht, wird damit selten<br />
hinter dem Berg halten. Das Sendungsbewusstsein<br />
eint Veganer wie Kulinariker.<br />
Jeder fühlt sich im Ernstfall den Vertretern<br />
anderer Ernährungsweisen überlegen. Aus<br />
der Mahlzeit wird eine Botschaft, transportiert<br />
via Instagram oder dem eigenen Foodblog.<br />
Die Nahrung wird zur Nachricht. Wir<br />
beladen den Teller mit gekochter Bedeutung.<br />
Und vergessen, dass neben dem Atmen<br />
das Essen vor allem eine Notwendigkeit<br />
ist, die sich zunächst einmal allen ideologischen<br />
Kategorien entzieht.<br />
Niemand würde die Luft, die er atmet, mit<br />
rigorosen Einschränkungen oder ehrgeizigen<br />
Deutungen belasten. Nur das Essen<br />
wird zum Bekenntnis stilisiert, bis sein eigentlicher<br />
Sinn fast vergessen scheint und<br />
aus der Lust die Last am Essen wird. Dabei<br />
könnte es so einfach sein: Gegessen wird,<br />
was auf den Tisch kommt.<br />
n<br />
thorsten.firlus@wiwo.de<br />
FOTO: CORBIS/MICHAEL OCHS ARCHIVES<br />
114 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Perspektiven&Debatte | Kost-Bar<br />
ALLES ODER NICHTS<br />
ANDREAS BAHR<br />
Gründer und Vorstand der<br />
Kommunikationsagentur<br />
Fluent AG<br />
Cabrio oder SUV?<br />
Cabrios sind nicht meine Welt,<br />
aber hoffentlich nächstes Jahr<br />
ein Mustang Coupé Bj. 1967.<br />
Apartment oder Villa?<br />
Hauptsache, viel Licht und in<br />
der Stadt.<br />
Fitnessstudio oder Waldlauf?<br />
Laufen ist so ziemlich der einzige<br />
Sport, den ich nicht mag.<br />
Buch oder E-Reader?<br />
Definitiv Buch – ich liebe das<br />
haptische Gefühl beim Lesen.<br />
Paris oder London?<br />
Sehr gut gehen auch Stockholm,<br />
Kopenhagen oder<br />
Perth.<br />
Dusche oder Wanne?<br />
Jeden Morgen Dusche und,<br />
wann immer es geht, Meer.<br />
Nass oder trocken rasieren?<br />
Es geht nur nass, muss aber<br />
nicht jeden Morgen sein.<br />
Jazz oder Klassik?<br />
Eigentlich Crossover, aber<br />
bitte ohne Jazz.<br />
Berge oder Meer?<br />
Meer geht immer und überall,<br />
wenn man an der Küste geboren<br />
ist.<br />
Fenster- oder Gangplatz?<br />
Gangplatz, bei meiner Größe<br />
am liebsten am Notausgang.<br />
Tee oder Kaffee?<br />
Kaffee, Espresso und viel<br />
Wasser.<br />
KUNST IN MÜNSTER<br />
Britischer Eigensinn<br />
Das Museum für Kunst und Kultur in Münster erinnert mit der Ausstellung „Das<br />
nackte Leben“ an die Tradition der figurativen Malerei in Großbritannien. Rund 100<br />
Werke dokumentieren <strong>vom</strong> 8. 11. an den eigensinnigen Weg der britischen Kunst der<br />
Fünfziger- bis Siebzigerjahre. Neben Werken von Malern wie Francis Bacon, Lucian<br />
Freud und David Hockney werden auch unbekanntere Meister wie Euan Uglow<br />
gezeigt, dessen Aktstudien durch ihre grafische Präzision bestechen (Bild). lwl.org<br />
ARCHITEKTUR AM MAIN<br />
Himmelhoch<br />
Unter dem Titel „Himmelstürmend“<br />
widmet sich das<br />
Deutsche Architekturmuseum<br />
<strong>vom</strong> 8. November an der Hochhausgeschichte<br />
der Stadt Frankfurt.<br />
Die Ausstellung richtet<br />
den Blick auf den Wiederaufbau<br />
nach 1945 und die Karriere zum<br />
globalen Finanzzentrum. Herausragende<br />
Bauwerke wie der<br />
Messeturm oder der Commerzbank<br />
Tower werden ebenso vorgestellt<br />
wie neue Planungen im<br />
Maintor Quartier. In der begleitenden<br />
Vortragsreihe sprechen<br />
Architekten und Planer wie<br />
Helmut Jahn, Christoph Mäckler<br />
und Albert Speer. dam.de<br />
THE NEW YORKER<br />
„Does this desk make my job look big?“<br />
FOTO: DET KEMPE; EUAN UGLOW: THE DIAGONAL, 1971–77, PRIVATBESITZ © THE ESTATE OF EUAN UGLOW/FOTO: COURTESY OF BROWSE & DARBY LTD;<br />
CARTOON: ROBERT LEIGHTON/CONDÉ NAST PUBLICATIONS/WWW.CARTOONBANK.COM<br />
116 Redaktion: christopher.schwarz@wiwo.de<br />
Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Schweiz CHF8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland €6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien €6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal €6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien €6,00 | Tschechische Rep. CZK 200,- | Ungarn FT 2140,-<br />
Leserforum<br />
Frau Dr. Seltsam<br />
Oder: Wie ich lernte, die schwarze Null zu lieben<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
Die Politik der schwarzen Null dient<br />
als Alibi für den wirtschaftlichen<br />
Stillstand. Heft 44/2014<br />
Kein Verständnis<br />
Mit Interesse habe ich den Beitrag<br />
gelesen. Ich stimme dem<br />
Autor in vielen Punkten zu. Für<br />
den Halbsatz: „Rüstungskäufe,<br />
deren rechtfertigendes Bedrohungsszenario<br />
längst überholt<br />
ist...“ habe ich jedoch keinerlei<br />
Verständnis. Seit der Wiedervereinigung<br />
hat unser Land keine<br />
so nahen und komplexen<br />
Krisenherde erlebt wie derzeit.<br />
Ukraine, Syrien, Irak, Libyen<br />
sind zwei bis drei Flugstunden<br />
entfernt. Außerdem können wir<br />
unsere Bündnisverpflichtungen<br />
im Rahmen der Nato nicht voll<br />
erfüllen.<br />
Dr. Jost Hammerschmidt<br />
via E-Mail<br />
Geld&Börse<br />
Wie Dividenden von ausländischen<br />
Unternehmen besteuert werden.<br />
Heft 44/2014<br />
Großes Erstaunen<br />
Der Artikel ist in Bezug auf<br />
Spanien nur bedingt richtig:<br />
Nachdem ich mich im vorigen<br />
Frühjahr erzürnt, aber ergebnislos<br />
durch die Formblätter<br />
und Ausfüllhilfen zur Rückerstattung<br />
zu viel bezahlter Quellensteuern<br />
auf Telefónica-Dividenden<br />
gewühlt hatte, war ich<br />
eigentlich entschlossen, mich<br />
von diesen Aktien zu trennen.<br />
Umso größer war mein Erstaunen,<br />
als mir die Deutsche Bank<br />
44<br />
27.10.2014|Deutschland €5,00<br />
4 4<br />
4 1 98065 805008<br />
am 8. August 2013 eine „Erstattung<br />
spanischer Quellensteuer“<br />
für 2007 und 2008 schickte.<br />
Demnach scheint es jetzt doch<br />
ein automatisiertes Verfahren<br />
zu geben. Der Deutschen Bank<br />
liegt von mir die übliche „Vollmacht<br />
zur Durchführung von<br />
Steuererstattungen und Vorabbefreiungen<br />
gemäß Doppelbesteuerungsabkommen“<br />
vor.<br />
Barbara Bernt, via E-Mail<br />
Düsseldorf<br />
Unproblematisch<br />
Ihr Artikel informiert sehr gut<br />
über die Problematik der Dividenden<br />
ausländischer Unternehmen.<br />
Nur fehlt leider bei<br />
den USA der wichtige Hinweis,<br />
dass nur 15 Prozent Quellensteuer<br />
in den USA abgezogen<br />
werden, wenn Sie vorab über<br />
die Bank einen Antrag abgeben.<br />
Somit sind diese Dividenden<br />
genauso unproblematisch wie<br />
die in den Niederlanden oder<br />
Großbritannien.<br />
Ralf Ortheil<br />
via E-Mail<br />
Menschen der Wirtschaft<br />
Die EU will den Schadstoffausstoß<br />
beim Pkw um 40 Prozent senken.<br />
Heft 43/2014<br />
Enorme Kosten<br />
Es ist ja sehr lobenswert, wenn<br />
Europa sich ökologisch korrekt<br />
verhalten möchte. Aber selbst<br />
wenn unsere Pkws gar kein CO 2<br />
mehr emittieren würden, hätte<br />
dies nahezu keinen Effekt. Einfache<br />
Rechnung: Großzügig<br />
geschätzte vier Prozent der<br />
weltweiten CO 2 -Produktion<br />
werden durch Menschen verursacht,<br />
davon relativ 2,23 Prozent<br />
in Deutschland und davon<br />
wiederum relativ 11,9 Prozent<br />
von Pkws. Das bedeutet, deutsche<br />
Pkws haben einen Anteil<br />
von 0,01 Prozent des weltweiten<br />
CO 2 -Ausstoßes. Wohlgemerkt<br />
alle Pkws in Deutschland zusammen.<br />
Rechtfertigt das wirklich<br />
all die Diskussionen,<br />
Grenzwerte und enormen Kosten,<br />
die letzten Endes wir als<br />
Verbraucher tragen müssen?<br />
Oliver Harloff, via E-Mail<br />
Lübeck<br />
Politik& Weltwirtschaft<br />
Berlin intern: Henning Krumrey über<br />
Politik und Charakter.<br />
Heft 42/2014<br />
Nützliche Idioten<br />
Will man derartige Zitate wirklich<br />
lesen? Sollen wir nun auch<br />
noch wortwörtlich erfahren,<br />
was Willy Brandt nach seinem<br />
Rücktritt 1974 über Wehner,<br />
Nollau und Genscher gesagt<br />
hat? Oder Helmut Schmidt<br />
nach seinem Sturz 1982 über<br />
Lambsdorff, Genscher und andere<br />
FDP-Politiker, die kurz zuvor<br />
noch mit ihm am Kabinettstisch<br />
gesessen hatten, oder über<br />
seine parteiinternen Gegner,<br />
insbesondere die Jusos? Das<br />
Spektakuläre bei Kohl ist doch<br />
Die Top Fünf der Woche<br />
Die beliebtesten Artikel auf WirtschaftsWoche Online<br />
1So kleiden sich Männer richtig<br />
http://www.wiwo.de/10879452.html<br />
2Discounter mischen den Weinhandel auf<br />
http://www.wiwo.de/10883972.html<br />
3Was die Mimik verrät<br />
http://www.wiwo.de/10887002.html<br />
4Wie wir zuckersüchtig werden<br />
http://www.wiwo.de/10864566.html<br />
5Den Börsen droht der Ausverkauf<br />
http://www.wiwo.de/10899212.html<br />
wohl allenfalls, dass er mit<br />
einem besonders ausgeprägten,<br />
äußerst schlichten Freund-<br />
Feind-Denken gesegnet war,<br />
was ihm machtpolitisch vermutlich<br />
oft geholfen hat, fast<br />
alle einstigen Gefolgsleute aber<br />
heute wie nützliche Idioten<br />
erscheinen lässt.<br />
Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann<br />
via E-Mail, Berlin<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
Der Zustrom von Flüchtlingen<br />
überfordert viele deutsche Städte.<br />
Heft 40/2014<br />
Alle überprüfen<br />
Der Großteil der nach Europa<br />
strömenden Flüchtlinge kommt<br />
nicht zu uns, weil er verfolgt<br />
wird, sondern er schiebt als<br />
Grund die Verfolgung vor. Ich<br />
habe zwei Jahre in der sudanesischen<br />
Provinz Darfur gelebt<br />
und gearbeitet, wo ab 2003 ein<br />
grausamer Genozid geschah.<br />
Viele Einheimische von dort<br />
wären auch gern nach Europa<br />
geflüchtet, sie schafften es aber<br />
nicht. Heute machen auf dem<br />
Mittelmeer skrupellose Menschenhändler<br />
ihr Geschäft mit<br />
Tausenden von afrikanischen<br />
Wirtschaftsflüchtlingen. Dennoch:<br />
Auch die Gesuche der<br />
Flüchtlinge aus Syrien und dem<br />
Irak müssen auf den Prüfstand.<br />
Nur die Flüchtlinge von dort,<br />
die in Lebensgefahr und der<br />
Folter ausgesetzt sind, sollten in<br />
Europa aufgenommen werden.<br />
Selbstverständlich sollte es<br />
auch sein, dass die Flüchtlinge<br />
auch wieder zurück in ihre<br />
Heimat gehen, um dort mit<br />
Fleiß und unserer Hilfe ihr Land<br />
wieder aufzubauen.<br />
Erwin Chudaska, via E-Mail<br />
Rödermark (Hessen)<br />
Leserbriefe geben die Meinung des<br />
Schreibers wieder, die nicht mit der<br />
Redaktionsmeinung übereinstimmen<br />
muss. Die Redaktion behält sich vor,<br />
Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen.<br />
WirtschaftsWoche<br />
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Bei Zuschriften per E-Mail bitten wir<br />
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TITEL: FOTOKOLLAGE DMITRI BROIDO; FOTOS: MARCO URBAN, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
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Die Angaben bezeichnen den<br />
Anfang des jeweiligen Artikels<br />
A<br />
Adidas..........................................................70<br />
Allianz Consulting......................................... 88<br />
Alte Leipziger............................................... 92<br />
Amazon..................................................10, 12<br />
Apple....................................................... 9, 10<br />
Assekurata...................................................92<br />
AT&T.............................................................. 9<br />
B<br />
Barkawi........................................................91<br />
Bayer........................................................... 48<br />
BB Biotech.................................................107<br />
Beats............................................................. 9<br />
Bebo............................................................74<br />
Beiersdorf.............................................. 10, 14<br />
BHP Billiton................................................111<br />
Biogen Idec................................................ 107<br />
BMW............................................................70<br />
Boehringer Ingelheim....................................48<br />
Bonnier........................................................ 16<br />
Boston Consulting Group...............................82<br />
Brandmeyer................................................. 70<br />
C<br />
Cash Life...................................................... 92<br />
CC Pharma................................................... 48<br />
Chevron....................................................... 74<br />
Cold Brew Labs.............................................74<br />
Commerzbank............................................ 107<br />
CVS................................................................9<br />
D<br />
Deloitte.................................................. 56, 84<br />
Detecon International................................... 89<br />
Deutsche Bahn.............................................82<br />
Deutsche Bank..................................... 62, 107<br />
Deutsche Börse............................................ 62<br />
Deutsche Lufthansa......................................82<br />
Deutsche Telekom.................................... 8, 74<br />
Dominion of Canada....................................108<br />
E<br />
E.On.............................................................84<br />
Ebay.......................................................10, 82<br />
E-Plus............................................................ 8<br />
Etsy............................................................. 74<br />
Europa Apotheek..........................................48<br />
Europcar...................................................... 10<br />
Expedia........................................................10<br />
EY................................................................82<br />
F<br />
4Flow...........................................................91<br />
Facebook............................................... 68, 74<br />
Faurecia.......................................................86<br />
Ferrari........................................................109<br />
Fiat Chrysler...............................................109<br />
Forrester Research....................................... 74<br />
Friends for Provident.................................... 92<br />
G<br />
GfK.............................................................. 70<br />
Goldman Sachs.............................................62<br />
Google......................................................... 74<br />
Groß & Cie....................................................18<br />
Groupon.......................................................74<br />
Gruner + Jahr............................................... 74<br />
H<br />
H&M............................................................ 70<br />
Hasbro....................................................... 108<br />
Henkel................................................... 14, 82<br />
Horváth & Partner.........................................86<br />
HSH Nordbank..............................................64<br />
HypoVereinsbank..........................................62<br />
I<br />
Infineon........................................................58<br />
InteraXon..................................................... 81<br />
IT-Economics................................................84<br />
J<br />
JP Morgan....................................................62<br />
K<br />
Kabel Deutschland..........................................8<br />
Kempinski.............................................. 16, 18<br />
klein-windkraftanlagen.com..........................79<br />
KPMG.....................................................64, 82<br />
L<br />
Liquid Broadband........................................... 8<br />
Lululemon Athletica......................................74<br />
M<br />
Mastercard.................................................102<br />
Stella McCartney.......................................... 70<br />
McKinsey............................................... 62, 82<br />
Merck.......................................................... 48<br />
MetOffice.....................................................16<br />
Meyer Werft................................................. 86<br />
Mieschke Hofmann&Partner......................... 84<br />
Moody’s....................................................... 64<br />
MyBook........................................................16<br />
MySpace......................................................74<br />
N<br />
Neo..............................................................70<br />
Net-a-porter.................................................74<br />
Netflix..........................................................68<br />
New York Times Mediengruppe......................74<br />
Nike....................................................... 70, 74<br />
Novo Nordisk................................................48<br />
NR Holding...................................................16<br />
O<br />
Obi...............................................................10<br />
Osram..........................................................58<br />
Otto Group................................................... 82<br />
P<br />
Path.............................................................74<br />
Payback....................................................... 10<br />
Paypal..........................................................10<br />
Pfizer........................................................... 48<br />
Philips..........................................................58<br />
Pinspire........................................................74<br />
Pinterest...................................................... 74<br />
Policen Direkt...............................................92<br />
Porsche Consulting.................................82, 86<br />
Pricewaterhouse Coopers............................. 82<br />
Probiodrug................................................. 107<br />
Procter & Gamble......................................... 70<br />
Promerit.......................................................89<br />
R<br />
Reebok........................................................ 70<br />
Rewe............................................................10<br />
Roche.......................................................... 48<br />
ROI Management Consulting......................... 86<br />
Roll & Pastuch..............................................88<br />
RWE.............................................................84<br />
S<br />
Saatchi & Saatchi......................................... 70<br />
Sanofi.......................................................... 16<br />
SAP..............................................................14<br />
SEBN........................................................... 89<br />
Second Life.................................................. 74<br />
SEW Eurodrive........................................90, 91<br />
Shareaholic.................................................. 74<br />
Shearman & Sterling.....................................64<br />
Siegel+Gale..................................................14<br />
Siemens....................................................... 89<br />
Simon Kucher & Partners.............................. 82<br />
Sixt.............................................................. 10<br />
Skype...........................................................68<br />
Spire............................................................ 81<br />
Sumitomo Electric........................................ 89<br />
T<br />
TaylorMade...................................................70<br />
Telefónica......................................................8<br />
Thync...........................................................81<br />
T-Mobile.........................................................9<br />
Toluna..........................................................79<br />
Travelers....................................................108<br />
TTS Marine...................................................88<br />
Twitter......................................................... 74<br />
U<br />
Uber.........................................................9, 74<br />
UBS....................................................... 62, 82<br />
Ullstein........................................................ 16<br />
V<br />
Verizon...........................................................9<br />
Viega............................................................82<br />
Vienna Life................................................... 92<br />
Visa............................................................102<br />
Vodafone..................................................8, 62<br />
Volkswagen.................................................. 89<br />
W<br />
Wal-Mart........................................................ 9<br />
Wassermann.................................................90<br />
Wingas.........................................................84<br />
X<br />
Xapo.......................................................... 102<br />
Xing............................................................. 82<br />
Y<br />
Yahoo...........................................................74<br />
Yohji Yamamoto............................................ 70<br />
Youtube........................................................68<br />
Z<br />
Zalando........................................................10<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 119<br />
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Ausblick<br />
„Wir werden nicht sofort<br />
unser Scheckbuch herausholen<br />
und einen Scheck über<br />
zwei Milliarden Euro schreiben.<br />
Wenn man so eine Rechnung<br />
erhält, ist das dann hilfreich<br />
für eine britische<br />
EU-Mitgliedschaft? – Nein!“<br />
David Cameron<br />
britischer Premierminister, über<br />
eine Nachzahlung an die EU über<br />
2,1 Milliarden Euro<br />
„Ich bin sehr zurückhaltend<br />
damit, ein einzelnes Unternehmen<br />
gefährlich zu nennen.“<br />
Andreas Mundt<br />
Präsident des Bundeskartellamtes,<br />
über den Internet-Konzern Google<br />
„Googles Macht ist groß. Ich<br />
habe keine Angst vor Google.“<br />
Timotheus Höttges<br />
Vorstandsvorsitzender der<br />
Deutschen Telekom<br />
„Die Europäer erscheinen<br />
in der Welt als alt, reich<br />
und schwach. Das ist keine gute<br />
Kombination, um in einer<br />
wenig friedlichen Welt eine gesicherte<br />
Zukunft anzustreben.“<br />
Joschka Fischer<br />
Ex-Bundesaußenminister<br />
(Die Grünen)<br />
„Die heimische Wirtschaftspolitik<br />
verunsichert die<br />
Unternehmen zunehmend,<br />
vor allem den Mittelstand.“<br />
Martin Wansleben<br />
Hauptgeschäftsführer des<br />
Deutschen Industrie- und Handelskammertages<br />
(DIHK)<br />
„Es war wunderschön.“<br />
Alan Eustace<br />
Google-Manager, nach<br />
seinem Fallschirmsprung aus<br />
41 Kilometer Höhe<br />
„Deutschland<br />
wird an dem Grundprinzip<br />
der Bewegungsfreiheit<br />
in der EU nicht rütteln.“<br />
Angela Merkel<br />
Bundeskanzlerin (CDU)<br />
„Wer will schon Quotilde sein?“<br />
Nicola Leibinger-Kammüller<br />
Geschäftsführerin des<br />
Maschinenbauers Trumpf,<br />
über die Frauenquote<br />
„Das Bankgeheimnis<br />
in seiner alten Form hat ausgedient.<br />
Ich fand es immer<br />
problematisch, mit Hehlern<br />
zusammenarbeiten zu müssen,<br />
um Recht zu wahren.“<br />
Wolfgang Schäuble<br />
Bundesfinanzminister (CDU), über<br />
Ankäufe von CDs mit gestohlenen<br />
Daten von Steuersündern<br />
„Ich werde kandidieren, sobald<br />
meine verheerende Verurteilung<br />
wegen Steuerbetrugs<br />
<strong>vom</strong> Gerichtshof für Menschenrechte<br />
aufgehoben wird.“<br />
Silvio Berlusconi<br />
Ex-Ministerpräsident Italiens,<br />
über seine politische Zukunft<br />
„Wenn Google intellektuelle<br />
Werte aus der EU bezieht,<br />
dann kann die EU diese Werte<br />
schützen und von Google eine<br />
Abgabe dafür verlangen.“<br />
Günther Oettinger<br />
EU-Internet-Kommissar, über<br />
seinen Vorschlag, ein<br />
einheitliches europäisches Urheberrecht<br />
einzuführen<br />
»Die EU ist wie ein durstiger<br />
Vampir, der sich <strong>vom</strong> Blut der<br />
britischen Steuerzahler ernährt.«<br />
Nigel Farage<br />
Chef der EU-feindlichen United Kingdom Independence Party (Ukip), über<br />
Nachzahlungen an die EU über 2,1 Milliarden Euro<br />
„Schon in 15 Jahren<br />
könnten wir Computer haben,<br />
die in der Lage sind, es<br />
mit dem menschlichen Gehirn<br />
aufzunehmen.“<br />
Shmuel Eden<br />
Chefvisionär des weltgrößten<br />
Chipherstellers Intel<br />
„Bisher habe ich weniger<br />
als ein Prozent verwendet.“<br />
Heribert Schwan<br />
Buchautor, zu den Tonbandaufnahmen<br />
für seine Biografie über Altbundeskanzler<br />
Helmut Kohl (CDU)<br />
„Ganz ehrlich, mir gehen<br />
diese Mitteilungen von<br />
Banalitäten und auch Selfies<br />
teilweise auf den Keks.“<br />
Oliver Bierhoff<br />
Manager der deutschen<br />
Fußballnationalmannschaft, über<br />
die Benutzung von Smartphones<br />
„Alles hat einmal ein Ende.“<br />
Reto Francioni<br />
Vorstandsvorsitzender der Deutschen<br />
Börse, über seinen altersbedingten<br />
Rücktritt Mitte Mai 2015<br />
ILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER<br />
120 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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<strong>Ausgabe</strong> 2, November 2014<br />
Karriere<br />
Veni. Digi. Vici.<br />
Welche Digitaljobs gefragt sind, was Sie wissen<br />
müssen – und wie viel Sie verdienen können<br />
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Editorial<br />
Die Digitalisierung krempelt unsere Arbeitswelt<br />
radikal um. Wer sich dem Wandel verweigert,<br />
setzt seine Karriere aufs Spiel. Von Manfred Engeser<br />
Digitaler Darwinismus<br />
Espresso oder Latte macchiato?<br />
Den Kaffee in mittlerer Stärke, als<br />
große oder kleine Portion? Und<br />
den Milchschaum ganz locker<br />
oder lieber fest? Mit ein paar schnellen Bewegungen<br />
wischt Carla Kriwet durch das<br />
Menü ihrer Smartphone-App. Und so ganz<br />
kann die Philips-Deutschland-Chefin ihren<br />
Stolz nicht verbergen, als sie mir nicht<br />
mal eine Minute später in der Versuchsküche<br />
im 14. Stock des Philips Towers in<br />
Hamburg einen Cappuccino mit perfektem<br />
Schaum kredenzt. „Eigentlich habe<br />
ich für solche Spielereien gar nicht viel übrig,<br />
aber das Produkt ist toll“, hatte mir die<br />
43-Jährige zuvor in einem ausführlichen<br />
Gespräch verraten. Auch, weil sie das<br />
Frühstück zu Hause zur gerätefreien Zone<br />
erklärt habe. Abseits des Esstischs aber hat<br />
sie den digitalen Wandel verinnerlicht:<br />
„Wir brauchen Mitarbeiter, für die der<br />
Umgang mit digitalen Technologien<br />
selbstverständlich ist“ (siehe Seite 20).<br />
Digitaler Daumen gesucht:Das gilt nicht<br />
nur für Kriwet und ihre rund 7000 Mitarbeiter.<br />
Vom Konzern bis zum Start-up, <strong>vom</strong><br />
Automobilhersteller bis zum Zahnlabor,<br />
<strong>vom</strong> Datenbankspezialisten bis zum Logistiker<br />
transformiert die Digitalisierung nicht<br />
nur die Wertschöpfungsketten vieler Unternehmen,<br />
sondern auch unsere Art, zu<br />
arbeiten. Schon 2012 schuf die Digitalisierung<br />
hierzulande 1,5 Millionen neue Jobs,<br />
so der High-Tech-Verband Bitkom – Tendenz<br />
steigend.<br />
Paradiesische Zustände? Von wegen.<br />
Wer die Revolution verschläft, setzt seine<br />
Karriere aufs Spiel. Willkommen im Zeitalter<br />
des digitalen Darwinismus.<br />
GEH DEINEN WEG!<br />
Welche Chancen also habe ich in einer digitalisierten<br />
Berufswelt? Welche Jobprofile<br />
sind künftig gefragt, welche nicht? Welche<br />
Qualifikationen muss ich künftig mitbringen?<br />
Wie viel kann ich in diesen Berufen<br />
verdienen? Wie finden mich die Unternehmen<br />
überhaupt in der Welt der Algorithmen?<br />
Welche Unternehmen suchen welche<br />
Spezialisten? Wie mache ich im digitalen<br />
Dickicht überhaupt auf mich aufmerksam?<br />
Und bin ich überhaupt gemacht für eine digitale<br />
Karriere in einem klassischen Konzern?<br />
Oder bin ich in der lockeren Kultur eines<br />
Start-ups nicht besser aufgehoben?<br />
Fragen, bei deren Beantwortung wir auf<br />
den kommenden Seiten Orientierung bieten<br />
wollen. Die aber letztlich jeder für sich<br />
selbst klären sollte. „Jeder muss seinen eigenen<br />
Weg gehen, seine eigenen Stärken<br />
finden“, empfiehlt auch Philips-Chefin Kriwet.<br />
„Und Spaß dabei haben.“<br />
n<br />
Inhalt<br />
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
SCHWERPUNKT: KARRIERE DIGITAL<br />
4 Zahlen und Fakten<br />
6 Branchenreport Die Digitalisierung<br />
revolutioniert nicht nur die Wertschöpfungsketten<br />
aller Branchen und<br />
Unternehmen, sondern auch unsere<br />
Art zu arbeiten. Welche Jobs gesucht<br />
sind, was Arbeitgeber erwarten<br />
12 Berufe der Zukunft 13 Jobs mit Perspektive<br />
im Profil: Was Sie können<br />
müssen, welche Unternehmen Sie einstellen.<br />
Und wie viel Sie verdienen<br />
können<br />
16 Gründen Wie man als Entrepreneur in<br />
Residence ohne Startkapital, mit wenig<br />
Risiko und festem Gehalt zum Unternehmer<br />
wird<br />
18 Karriereleiter So wird Ihr digitales<br />
Profil zum Kickstarter Ihrer Karriere<br />
20 Mein Weg | Interview Carla Kriwet<br />
Wie sich die Philips-Deutschland-Chefin<br />
den Mitarbeiter für die digitale Zukunft<br />
vorstellt. Warum sie Job und Familie<br />
problemlos koordinieren kann,<br />
keine Urlaubsfotos postet und mit der<br />
U-Bahn ins Büro fährt<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 3<br />
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Zahlen und Fakten<br />
Unaufhaltsamer Umbruch<br />
DIGITALE TRANSFORMATION | Innovative Geschäftsmodelle, neue Jobprofile,<br />
veränderte Qualifikationen: Wie die Digitalisierung die Wirtschaft verändert.<br />
Was Führungskräfte von der<br />
Digitalisierung erwarten...<br />
Sie wird die Wettbewerbsfähigkeit Europas steigern<br />
Sie wird bestehende Geschäftsmodelle in den nächsten Monaten grundlegend ändern<br />
Sie führt zur Abwanderung von Kunden, sollten Unternehmen nicht zeitnah reagieren<br />
96%<br />
62%<br />
63%<br />
Quelle: Accenture<br />
...welche Herausforderungen<br />
sie an die Unternehmen stellt...<br />
28%<br />
Geeignete Mitarbeiter<br />
finden<br />
22%<br />
Die Organisationsstruktur<br />
anpassen<br />
19%<br />
Unflexible<br />
Prozesse abschaffen<br />
18% Die Qualität der<br />
Daten verbessern<br />
Quelle: McKinsey<br />
...wie hoch der digitale IQ in einzelnen Branchen ist...<br />
46% 53% Industriegüter 55% 59% 66%<br />
Energie und<br />
Handel und<br />
Bergbau<br />
Konsumgüter<br />
Versorger 62% 65% Gesundheit<br />
Automobil<br />
Unternehmensdienstleistungen<br />
69% 71%<br />
87%<br />
68% Finanzdienstleistungen<br />
Freizeit<br />
Medien und<br />
Unterhaltung<br />
Technologie<br />
Quelle: PwC<br />
...in welchen Bereichen Mitarbeiter<br />
für die Transformation gebraucht<br />
werden...<br />
40%<br />
23%<br />
44%<br />
28%<br />
...wer für die digitale Strategie<br />
verantwortlich ist...<br />
CIO<br />
CEO<br />
2012<br />
2013<br />
2014<br />
2012<br />
2013<br />
2014<br />
59%<br />
63%<br />
69%<br />
46%<br />
55%<br />
61%<br />
...und wie viel Führungskräfte<br />
in der Digitalwirtschaft<br />
verdienen können<br />
Quelle: Cribb<br />
16% 18%<br />
Datenanalyse<br />
Projektmanagement<br />
Softwarearchitektur<br />
IT-Sicherheit<br />
Cloud Computing<br />
Mobile- und Online-Entwicklung<br />
Quelle: McKinsey<br />
CMO<br />
CFO<br />
CDO<br />
2012<br />
2013<br />
2014<br />
2012<br />
2013<br />
2014<br />
2012 k.A.<br />
2013<br />
2014<br />
2012<br />
2013<br />
2014<br />
24%<br />
30%<br />
24%<br />
25%<br />
27%<br />
32%<br />
37%<br />
46%<br />
59%<br />
54%<br />
61%<br />
Andere<br />
Vorstandsmitglieder<br />
0% 30% 60%<br />
General Management<br />
Digitalisierung<br />
Vertrieb<br />
Marketing<br />
Kreation<br />
IT<br />
Organisation<br />
Personal<br />
Einkauf<br />
Produktmanagement<br />
Finanzen<br />
Beratung<br />
ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT<br />
4 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Branchenreport<br />
Digitaler Daumen<br />
gesucht<br />
KARRIERE DIGITAL | Die Digitalisierung verändert nicht nur die Wertschöpfungsketten<br />
vieler Unternehmen, sondern auch unsere Art zu arbeiten.<br />
Wie Einsteiger in der digitalen Welt ganz real Karriere machen.<br />
So wird sich Marketing<br />
innerhalb der nächsten<br />
fünf Jahre ändern<br />
Datenanalyse wird zur Kernkompetenz<br />
im Marketing<br />
42 %<br />
Mehr als 75 Prozent des<br />
Marketingbudgets wird in<br />
digitale Kanäle fließen<br />
37 %<br />
Mehr als 50 Prozent des<br />
Marketingbudgets wird für<br />
Mobile ausgegeben<br />
35 %<br />
Quelle: Accenture<br />
Erst erläuft er den Pass mit drei, vier schnellen<br />
Schritten, hält den gegnerischen Verteidiger<br />
auf Distanz, schiebt den Ball schließlich mit<br />
einem platzierten Linksschuss vorbei am<br />
Torwart flach ins Eck. Und bereitet kurz darauf<br />
mit einem Zuspiel in den Strafraum das zweite Tor<br />
der Partie durch seinen Mannschaftskollegen Danny<br />
Welbeck vor: Mit einem Tor und einer Vorlage beim<br />
Auswärtsspiel gegen Aston Villa feierte Mesut Özil im<br />
Trikot seines Clubs Arsenal London am 20. September<br />
ein viel beachtetes Comeback in der englischen Premier<br />
League – nach langer Verletzung und Formtief.<br />
„Finally! 79 sec for a goal and one assist“, postete Özil<br />
kurz nach dem Spiel auf Facebook, „really happy with<br />
it. Let your #instincttakeover.“ Nur 79 Sekunden habe<br />
er für ein Tor und eine Vorlage gebraucht und sei wirklich<br />
glücklich damit – „lass deinen Instinkt das Kommando<br />
übernehmen“.<br />
Hinter den Zeilen, die sich wie ein spontan verfasster<br />
Gefühlsausbruch des Fußballprofis lesen, steckt jedoch<br />
nicht Özil selbst, sondern Birgit Schönlein. Die<br />
30-Jährige kümmert sich als Digital Marketing Manager<br />
beim Sportausrüster Adidas um die Fußballsparte<br />
und hat Özils Post eingefädelt. Der Hashtag am Schluss<br />
von Özils Kommentar ist Teil einer gezielten Marketingkampagne<br />
ihres Arbeitgebers. „Instinct takes over“<br />
lautet nämlich auch der Slogan für den neuen Fußballschuh<br />
des Konzerns, für den Schönlein Özil zum Helden<br />
aufbaute. Der Link führt die User auf Adidas-Seiten<br />
bei Facebook, den Kurznachrichtendienst Twitter<br />
und über weitere Hashtags zu mehreren Clips auf der<br />
Videoplattform YouTube.<br />
Schönlein spielt auf der gesamten Klaviatur des Digitalmarketings:<br />
Legt wöchentlich fest, welche Werbebotschaften<br />
sich an aktuelle Termine koppeln lassen,<br />
welche Ereignisse sich für Imagewerbung anbieten,<br />
welche Blogs oder Posts sich mit den Adidas-Produkten<br />
verlinken lassen und welche Werbung mit dem<br />
E-Commerce-Shop verknüpft werden sollte. Mit der<br />
Social-Media-Agentur der Firma beaufsichtigt sie außerdem<br />
Fotoshootings und Filmaufnahmen, ersteigert<br />
Werbeplätze im Internet und schaltet Fotos, Filme,<br />
Posts und Tweets in allen für Adidas relevanten Web-<br />
Kanälen – von Google+ über Instagram bis zur App des<br />
Fußballmagazins Kicker.<br />
BESTES ANTI-AGING-PROGRAMM<br />
Schönlein startete 2009 als Praktikantin im Adidas-<br />
Marketingteam, „als QR-Codes noch neu und sexy waren“.<br />
Nach einem ersten Job im klassischen Marketing<br />
wechselt Schönlein ins digitale Fach, weil sie hier „ständig<br />
Neues ausprobieren“, „so nah wie nie mit der Zielgruppe<br />
kommunizieren“ und „die Werbewirkung einer<br />
Kampagne sofort messen“ kann. Ihre Zielgruppe: 14-<br />
bis 19-jährige Jungs. „Den Spruch ,Das haben wir schon<br />
immer so gemacht‘ gibt es in diesem Job nicht“, sagt sie.<br />
„Digital ist das beste Anti-Aging der Welt.“<br />
Und ein Karriereturbo: Die Wirtschaft reißt sich um<br />
Leute wie Schönlein. Leute mit Business-Denke und<br />
digitalem Daumen. Die wissen, wie man über soziale<br />
Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram Kunden<br />
erreicht, die Wertschöpfung steigert, Abläufe vereinfachen<br />
kann. Die aus den Unmengen digitaler Spuren<br />
und Daten, die Kunden im Netz hinterlassen, deren<br />
Bedürfnisse analysieren und daraus digitale Geschäftsmodelle<br />
ableiten. Und damit Karriere machen.<br />
Der Bedarf an Digitalprofis wie Schönlein ist riesig.<br />
Laut der Studie „The Digital Talent Gap“, für die Capgemini<br />
Consulting 2013 weltweit rund 130 Top-Manager<br />
befragte, fehlt es 90 Prozent aller Unternehmen an digitalem<br />
Wissen. Zugleich räumen 87 Prozent ein, dass die<br />
digitale Transformation ihnen Wettbewerbsvorteile verschaffen<br />
würde. Klar ist:Die Digitalisierung wird die Art,<br />
wie wir wirtschaften, immer weiter auf den Kopf stellen.<br />
Vom Großkonzern über den Mittelständler bis zum<br />
Fünf-Mann-Betrieb, <strong>vom</strong> Automobilhersteller über den<br />
Maschinenbauer bis zum Sportartikelhersteller: Die<br />
Wertschöpfungsketten aller Unternehmen werden über<br />
kurz oder lang neu zusammengesetzt, viele Stufen werden<br />
verschwinden, neue hinzukommen.<br />
»<br />
FOTO: MATTHIAS SCHMIEDEL FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
6 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Birgit Schönlein, 30<br />
Ausbildung Sportökonomin<br />
Unternehmen Adidas<br />
Job Digital Marketing Managerin<br />
Motto Ein Digitaljob ist das<br />
beste Anti-Aging-Programm<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 7<br />
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Branchenreport<br />
Johann Schießer, 30<br />
Ausbildung Kulturwissenschaftler<br />
Unternehmen TUI<br />
Job Manager Digital Business Solutions<br />
Motto Technik und Kommunikation vereinen<br />
Wie die Deutschen ihre<br />
Reisen buchen*<br />
Über den<br />
Computer<br />
Im<br />
Reisebüro<br />
Am Verkaufsautomaten<br />
63 %<br />
17 %<br />
6%<br />
* Werte gerundet; Quelle:<br />
German Digitalization<br />
Consumer Report 2014<br />
»<br />
Die Folge: Ein Jobparadies für digitale Talente. Allein<br />
2012 brachte die Digitalisierung hierzulande 1,5<br />
Millionen neue Jobs hervor, so der High-Tech-Verband<br />
Bitkom – Tendenz steigend. Schon weil Produktion, IT<br />
und Internet immer mehr zusammenwachsen. Für<br />
Entwicklung und Management von Daten-Clouds, die<br />
intelligente Analyse großer Datenmengen, die fortschreitende<br />
Automatisierung der Produktion durch<br />
die Kommunikation zwischen Maschinen und Robotern<br />
braucht die Wirtschaft Könner mit Technik- und<br />
Geschäftsverstand, die diese neuen Abläufe und Strukturen<br />
entwickeln, bedienen und steuern können.<br />
Paradiesische Zustände also für Software- und Programmierspezialisten<br />
wie Data Scientists, Cloud Specialists<br />
oder App Developer – Berufsbilder, die es teilweise<br />
erst seit wenigen Jahren gibt (siehe Seite 12). Einerseits.<br />
Andererseits bleiben auch traditionelle Branchen<br />
von der Digitalisierung nicht unberührt. Weder<br />
die Großbäckerei, die exotischste Brotsorten auf Kundenwunsch<br />
per Knopfdruck mischt. Noch der Chirurg,<br />
der kleine Eingriffe an Hüfte oder Herz, Magen, Knie<br />
oder Bandscheibe an Patienten in Kiel per Computer,<br />
Internet und Roboter auch von Konstanz aus operieren<br />
kann. Oder der Archäologe, der Kamera-Roboter<br />
vorschickt, um Ruinen zu erforschen.<br />
„Die Digitalisierung wirbelt den Arbeitsmarkt<br />
durcheinander“, sagt Katharina Wolff, Gründerin und<br />
Geschäftsführerin der auf die Vermittlung digitaler<br />
Fach- und Führungskräfte spezialisierten Personalberatung<br />
Premium Consultants. „Die Arbeitswelt digitalisiert<br />
sich und die Jobs aller Bereiche mit ihr.“<br />
MIT APPS DIE ARBEIT ERLEICHTERN<br />
Einen dieser Jobs trat Diana Basso im März dieses Jahres<br />
an – beim Hamburger Start-up MyTaxi. Die Softwareentwicklerin<br />
gestaltet das Herzstück des Unternehmens:<br />
eine App, die es möglich macht, dass Taxikunden<br />
ohne Bargeld oder Karte bezahlen. Dass Fahrer<br />
Kunden eine Nachricht schreiben können, sollte im<br />
Wagen etwas liegen geblieben sein. Und dass Fahrgast<br />
und Fahrer sich gegenseitig bewerten können.<br />
Schon im Studium hatte die auf Kuba geborene<br />
Deutsche Apps entwickelt – etwa Mount Vista, ein Miniprogramm,<br />
das Globetrottern auf einer interaktiven<br />
Karte Web-Cams und Fotos von mehr als 25 000 Reisezielen<br />
bereitstellt. „Tausenden von Menschen die Arbeit<br />
zu erleichtern und dafür auch noch bezahlt zu<br />
werden“, sagt Basso, „das genieße ich.“<br />
Ebenso wie das Start-up-Flair und den Ausblick aus<br />
ihrem Büro: Vor den bodentiefen Fenstern schippern alle<br />
paar Minuten große Elbkähne vorüber. Allein unter<br />
acht Männern zu sein stört Basso nicht, das war an der<br />
Uni nicht anders. Als bei ihrem Vorstellungsgespräch in<br />
der Firmenküche gekickert wurde, hielt sie das für Show.<br />
Heute spielt sie selbst mit – und gewinnt auch mal.<br />
„Work hard – play hard“ heißt es bei MyTaxi – von<br />
den Meetings um 10 Uhr morgens über Salatclubs am<br />
Mittag, in denen jeder mal für die Kollegen einkauft<br />
FOTOS: WERNER SCHUERING UND REINER PFISTERER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
8 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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und kocht, bis zur abendlichen Pizza <strong>vom</strong> Lieferservice,<br />
wenn mal Überstunden anfallen. Bassos Höhepunkt:ein<br />
zweiwöchiges Boot Camp im dänischen Rømø.<br />
„Mit den Kollegen in einem Ferienhaus coole Sachen<br />
zu entwickeln – genauso habe ich mir die Arbeit<br />
bei einem Start-up vorgestellt.“<br />
Auch den nächsten Entwicklungsschritt hat die<br />
28-Jährige klar vor Augen: Product Owner – also IT-<br />
Projektleiter, der Produkte plant, Mitarbeiter führt und<br />
als Schnittstelle zu anderen Teams dient.<br />
„Mitarbeiter müssen heute digitale Wellenreiter<br />
sein“, sagt Ewald Manz von der Personalberatung Odgers<br />
Berndtson. „Sie müssen stets aufs Neue beobachten,<br />
wie sich die nächste Welle entwickelt, um sie dann<br />
möglichst geschickt abzusurfen.“<br />
Jessica Vogt weiß, wie das geht – obwohl die Maschinenbauerin<br />
auf den ersten Blick in einem ganz konventionellen<br />
Job arbeitet: in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung<br />
des Getriebeherstellers Wittenstein<br />
im fränkischen Igersheim. Die Entwicklungsingenieurin<br />
testet neue Getriebe für Roboter und Werkzeugmaschinen.<br />
Versuchsplanung und Aufbau an den<br />
Prüfständen laufen noch in Handarbeit. Anders als ihre<br />
Vorgänger muss Vogt aber weder Sicherheitsschuhe<br />
noch Schutzbrille anziehen, um, über Maschinen gebeugt,<br />
Ergebnisse mühsam abzulesen – die Daten kontrolliert<br />
sie per Rechner von ihrem Schreibtisch aus.<br />
Schon in ihren Praktika während des Studiums hatte<br />
die 28-Jährige nicht nur gelernt, wie man schweißt,<br />
sägt, feilt oder fräst. Sondern auch, wie man Halbleiterchips<br />
programmiert oder Kaffeeautomaten elektronisch<br />
steuert. Kenntnisse, die sie bei Wittenstein gut<br />
gebrauchen kann. Während die Kollegen früher die per<br />
Jessica Vogt, 28<br />
Ausbildung Maschinenbauingenieurin<br />
Unternehmen Wittenstein<br />
Job Entwicklungsingenieurin<br />
Motto Mit Software umgehen ist wie Fahrrad fahren<br />
Post gelieferten Wälzlager-Kataloge Seite für Seite nach<br />
geeigneten Produkten durchforsten mussten, sucht sie<br />
online. Statt Messprotokolle auszudrucken und abzuheften,<br />
greift sie übers digitale Firmennetz darauf zu.<br />
Und Versuchsaufbauten dokumentiert sie per Digicam,<br />
statt sie zu zeichnen oder analog abzulichten und<br />
den Film zum Entwickeln ins Labor zu schicken.<br />
DIGITALE UND ANALOGE WELT VERKNÜPFEN<br />
„Jobeinsteiger können nicht länger damit punkten, als<br />
Digital Natives aufgewachsen zu sein. Denn das sind<br />
alle Vertreter ihrer Generation – und die aller nachkommenden<br />
erst recht“, warnt Christian Hoffmeister,<br />
Dozent an der Hochschule Fresenius für Medienökonomie<br />
und Digital Business. Er verlangt von seinen<br />
Studenten, neue Verknüpfungen zwischen digitaler<br />
und analoger Welt herzustellen – egal, ob sie ein Leben<br />
als Angestellte oder Selbstständige planen. „Ob sie ihre<br />
Ideen ihrem Chef verkaufen müssen oder einem Investor,<br />
macht keinen Unterschied.“<br />
Und wer neben technischem Verständnis Einfühlungsvermögen<br />
und Kommunikationstalent mitbringt,<br />
hat potenzielle Arbeitgeber schnell überzeugt.<br />
So wie Johann Schießer, Kulturwissenschaftler mit<br />
Auslandssemester in Australien, sozialisiert mit Stu-<br />
»<br />
Industrie 4.0<br />
In fünf Jahren<br />
werden mehr als<br />
80 Prozent der<br />
Unternehmen<br />
ihre Wertschöpfungskette<br />
digitalisiert<br />
haben.*<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 *Quelle: PwC<br />
9<br />
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Branchenreport<br />
Diana Basso, 28<br />
Ausbildung Informatikerin<br />
Unternehmen MyTaxi<br />
Job App-Programmiererin<br />
Motto Work hard – play hard<br />
So viele Apps gibt es im<br />
App-Store<br />
3000<br />
2008 100 000<br />
2009<br />
500 000<br />
2011<br />
950 000<br />
2013<br />
Quelle: Apple<br />
300 000<br />
2010<br />
700 000<br />
2012<br />
1 300 000<br />
2014<br />
»<br />
diVZ, YouTube und Instagram. Dass er sein digitales<br />
Wissen auch anderen vermitteln kann, hat der heute<br />
30-Jährige schon in seinem Studentenjob bewiesen: Als<br />
Kundenberater bei einer Social-Media-Agentur führte er<br />
Marketingabteilungen in die Welt des Web 2.0 ein. Seit<br />
Juli 2013 entwickelt er für den Reisekonzern TUI digitale<br />
Konzepte. Nicht in der Zentrale in Hannover, sondern in<br />
Berlin, wo TUI sein Social-Media-Team angesiedelt hat –<br />
am Hausvogteiplatz im trendigen Stadtbezirk Mitte.<br />
Schießer hat daran mitgearbeitet, dass Kommentare<br />
und Fotos der TUI-Kunden auf den griechischen Inseln<br />
auch groß auf den Flachbildschirmen in den Hotellobbys<br />
zu sehen sind – selbst die negativen. Und auf<br />
Kos organisierte Schießer kürzlich den ersten TUI Photowalk<br />
mit Goldie Berlin, einer in der Reiseszene bekannten<br />
Bloggerin, auf der Fotoplattform Instagram.<br />
Sie zeigte TUI-Kunden vor Ort, wie man Sonnenuntergänge<br />
perfekt in Szene setzt oder die schönsten Selfies<br />
schießt. Schießers jüngstes Projekt: das Verlinken von<br />
Urlaubsschnappschüssen mit virtuellen Hotelrundgängen<br />
und Apps des entsprechenden Anbieters, über<br />
den sich mit wenigen Klicks eine Reise buchen lässt.<br />
Kollegen, denen die neuen Möglichkeiten nicht so<br />
eingängig sind, bietet TUI digitale Nachhilfe in Blog-<br />
Workshops. „Im Gespräch mit älteren Kollegen“, sagt<br />
Schießer, „muss ich schon mal Überzeugungsarbeit<br />
leisten.“<br />
Auch andere Unternehmen lassen sich inzwischen einiges<br />
einfallen, um ihre Belegschaften auf die digitalen<br />
Herausforderungen einzustellen. Über seine Networking<br />
Academy macht Cisco IT-Dozenten und -Auszubildende<br />
an Berufsschulen fit für die digitale Zukunft. Neben<br />
klassischen Aufgaben können Teilnehmer in Lernspielen<br />
bundesweit gegeneinander antreten, auf einer<br />
Selbstlernplattform ihr Wissen vertiefen und Web-Konferenzen<br />
abhalten. „Die Technologie ändert sich rasant“,<br />
sagt Akademieleiter Carsten Johnson. „Wir können<br />
nicht erwarten, dass das Bildungswesen allein mithält.“<br />
Die Initiatoren des Software Campus sehen das genauso.<br />
Das Ziel der 19 Partner aus Wirtschaft und Wissenschaft,<br />
darunter Bosch, Siemens und Telekom: aus<br />
ausgewählten IT-Doktoranden Top-Manager von morgen<br />
machen. Und IBM fordert mit der internen Weiterbildungsinitiative<br />
Think 40 seine Mitarbeiter auf, laufende<br />
Projekte liegen zu lassen, um sich weiterzubilden – 40<br />
Stunden pro Jahr. Das lohnt sich, denn Führungskräfte<br />
werden mehr und mehr zu E-Managern, so die Prognose<br />
von empirica: Bis 2020 lässt die Digitalisierung den<br />
Anteil anspruchsvoller Jobs im Management am stärksten<br />
wachsen – um 44 Prozent im Vergleich zu 2011.<br />
Steffen Müller hat schon heute einen von ihnen –<br />
ganz ohne Informatik-Hintergrund. Der 28-jährige Betriebswirt<br />
ist bei der Deutschen Post als Leiter Briefzustellung<br />
in der Region Schwetzingen für den Einsatz<br />
von 250 Mitarbeitern an 18 Standorten zuständig – vor<br />
allem Postboten. Statt wie seine Vorgänger mit handgezeichneten<br />
Straßenkarten, Wandkalendern und<br />
Umlaufmappen plant Müller alles am Bildschirm: Personaleinsatz-<br />
und Urlaubsplanung, Reports und Budgets,<br />
Kennzahlenvergleiche und Prognosen. „Durch<br />
die Digitalisierung ist die Arbeit viel schneller und effizienter<br />
geworden“, sagt Müller. „Die täglichen Updates<br />
sind für mich wie Wasserstandsmeldungen.“<br />
HÖHERE ANSPRÜCHE<br />
Konnten seine Vorgänger Mitarbeiterengpässe häufig<br />
erst erkennen, wenn sie kaum noch Reaktionsmöglichkeiten<br />
hatten, ist Müller in der Lage, drohenden Personalengpässen<br />
nicht nur frühzeitig gegenzusteuern – er<br />
sieht auch rasch, ob seine Maßnahmen gegriffen haben.<br />
So rasant wie für Post-Manager Müller hat sich das<br />
Arbeiten für viele Mitarbeiter der Logistikbranche verändert:<br />
Dank computergesteuerter Abläufe können<br />
Kunden Waren heute sehr viel kleinteiliger und kurzfristiger<br />
bestellen – und Unternehmen schneller und<br />
auf mehr Vertriebswegen liefern. Suchten Kommissionierer<br />
früher mit ausgedruckten Picklisten Warenkörbe<br />
nacheinander zusammen, läuft heute alles über drahtlose<br />
Datenübermittlung in Echtzeit. Die Packer arbeiten<br />
für mehrere Kunden, sehen am Terminal die Waren, der<br />
Rechner ermittelt ihnen die kürzeste Route. Auf den<br />
Kartons aufgeklebte Barcodes versprechen eine fehlerfreie<br />
Zuordnung der Bestellungen, die Kunden können<br />
den Weg ihrer Bestellungen verfolgen. Und DHL kann<br />
in Echtzeit auf Kundennachfragen reagieren. „Die Ansprüche<br />
an die Mitarbeiter“, heißt es bei der Post, „sind<br />
durch die Digitalisierung eindeutig gestiegen.“<br />
FOTO: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
10 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Davon kann auch Florian Kreis ein Lied singen: Nach<br />
seiner Lehre zum Landmaschinenmechaniker schien<br />
sein Berufsleben vorgezeichnet – geprägt von der Reparatur<br />
von Getrieben und dem Austausch von Hydraulikschläuchen.<br />
Weil er sich aber eher für Software-Updates<br />
für Mähdrescher-Terminals und Fehlerdiagnosen<br />
per Laptop interessierte, sattelte er ein Studium für<br />
Wirtschaftsingenieurwesen drauf und kam als studentische<br />
Hilfskraft mit iGreen in Kontakt – ein Projekt, für<br />
das sich rund zwei Dutzend Unternehmen wie John<br />
Deere, Claas, SAP und Deutsche Telekom zusammengeschlossen<br />
hatten, um Landmaschinen digital zu verknüpfen<br />
und Daten auszutauschen. „Damals“, sagt<br />
Kreis, „habe ich meinen digitalen Daumen entdeckt.“<br />
Heute arbeitet der 29-Jährige beim Landmaschinenhersteller<br />
Claas in Harsewinkel als Prozessingenieur<br />
und Produktmanager. Ein Job, für den er Anzug und<br />
Krawatte genauso häufig braucht wie Outdoorjacke<br />
und Arbeitsschuhe – „der perfekte Mix aus Bürojob<br />
und Arbeit beim Kunden auf dem Feld“.<br />
Sein Projekt: Farming 4.0. Das System vernetzt die<br />
Softwaresysteme von Traktoren und Mähdreschern,<br />
sodass der Traktorfahrer dank seines Bordcomputers<br />
weiß, wann der Korntank der Mähdrescher wie voll ist<br />
und wann und wo er die Ernte abholen muss. Ein Paradigmenwechsel:<br />
Mussten Mähdrescherfahrer doch<br />
früher ihre Maschinen nach Gefühl ständig neu einstellen<br />
– je nach Beschaffenheit des Feldes, Getreideart<br />
und Wetter. Heute steuert diesen Prozess eine Software,<br />
die die Daten Tausender Ernten berücksichtigt.<br />
Ziehen am Horizont dicke Wolken auf, arbeitet der<br />
Mähdrescher automatisch schneller, um das Getreide<br />
noch rechtzeitig einzubringen. Ist das Wetter stabil<br />
und freundlich, stellt der Mähdrescher automatisch<br />
auf kraftstoffsparenden Einsatz um.<br />
KALKULIERTER KARRIERESCHUB<br />
Die Bedürfnisse der Bauern vermittelt Kreis seinen Informatikern,<br />
die die Software für die Maschinen entwickeln.<br />
Mit Projektpartner Telekom entwickelt er Geschäftsmodelle,<br />
betreut Tests auf dem Feld, hilft bei der Fehlersuche.<br />
„Faszinierend, wie wir klassischen Maschinenbau<br />
mit modernster Technik tunen können“, sagt Kreis. „Die<br />
Digitalisierung hilft unseren Kunden und verschafft uns<br />
einen wichtigen Wettbewerbsvorteil.“<br />
Und ihm einen Karriereschub: Ob im Vertrieb oder<br />
im Ausland – Kreis stehen viele Wege offen. „Claas hat<br />
mehr als 11 000 Jobs, und die Digitalisierung macht vor<br />
keinem von ihnen halt“, sagt er. „Da lässt sich also ganz<br />
sicher etwas Passendes finden.“<br />
Davon ist auch TUI-Jungmanager Schießer überzeugt:<br />
„Die Digitalisierung verändert die Geschäftsmodelle<br />
so schnell, dass voraussagbare Karrieren fast unmöglich<br />
sind“, sagt er. „Den Job, den ich in zehn Jahren<br />
machen werde, gibt es heute noch gar nicht.“<br />
n<br />
judith-maria gillies | mangement@wiwo.de<br />
Fachkräftemangel<br />
58 Prozent<br />
der Online-Shop-<br />
Betreiber<br />
glauben, dass<br />
fehlende<br />
Fachkräfte im<br />
E-Commerce in<br />
den kommenden<br />
fünf Jahren zum<br />
Problem der<br />
Branche werden.*<br />
*Quelle: PwC<br />
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Berufe der Zukunft<br />
Irgendwas mit digital<br />
JOBPROFILE | Diese 13 Berufe werden künftig gefragt sein. Welche Aufgaben Sie in diesen Jobs haben,<br />
was Sie können müssen, wer Sie einstellt und wie viel Sie damit verdienen können.<br />
BIG DATA SCIENTIST<br />
Was muss ich tun? Zunächst muss der Big Data Scientist<br />
herausfinden, in welchen Abteilungen welche Daten<br />
anfallen. Diese muss er zusammentragen, um sie<br />
anschließend auszuwerten. Dazu bedient er sich verschiedener<br />
Analysetools und programmiert Abfragen,<br />
damit der Datenwust auch die richtigen Antworten<br />
preisgibt. Je nach Größe des Unternehmens ist er aber<br />
nicht nur für die Auswertung der Daten zuständig, sondern<br />
entwickelt aus den gewonnenen Informationen<br />
auch selbst Ideen für neue Geschäftsmodelle und strategische<br />
Konzepte.<br />
Was muss ich können? Der Big Data Scientist sollte in<br />
jedem Fall Informatik studiert haben, braucht gleichzeitig<br />
aber eine hohe soziale Kompetenz und muss<br />
sich durchsetzen können. Schließlich ist es seine Aufgabe,<br />
den Egoismus der Fachabteilungen zu überwinden<br />
und diese dazu zu bringen, ihre jeweiligen Daten<br />
offenzulegen.<br />
Wo kann ich arbeiten? Vor allem in der Finanzwirtschaft,<br />
in der Logistikbranche, im Handel und in der<br />
Industrie werden sie eingesetzt.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Ein Big Data Scientist<br />
kann bis zu 80 000 Euro verdienen.<br />
s<br />
Riesenwust<br />
Die Datenmenge<br />
soll sich weltweit<br />
bis 2020<br />
verzehnfachen –<br />
auf 44 Billionen<br />
Gigabyte*<br />
CATEGORY MANAGER<br />
Was muss ich tun? Das Sortiment eines Online-Shops<br />
zu organisieren ist sein Job. Über Marktrecherchen findet<br />
er heraus, was die Konkurrenz anbietet, und passt<br />
das eigene Angebot bei Bedarf an. Außerdem achtet er<br />
auf die Benutzerfreundlichkeit der Web-Site. Er platziert<br />
Produkte und besondere Angebote so, dass Käufer sie<br />
möglichst leicht finden. Er wird auch als Online-Shop-<br />
Manager oder E-Commerce-Manager bezeichnet.<br />
Was muss ich können? Er ist in der Regel studierter Betriebswirt.<br />
Und bringt erste Erfahrung aus der E-Commerce-Branche<br />
mit.<br />
Wo kann ich arbeiten? In Unternehmen, die ihre Produkte<br />
oder Dienstleistungen online anbieten und ein<br />
vielschichtiges Sortiment haben.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Je nach Berufserfahrung<br />
zwischen 60 000 und 80 000 Euro.<br />
CHIEF DIGITAL OFFICER (CDO)<br />
Was muss ich tun? Der CDO ist der oberste Digitalisierungsbeauftragte<br />
eines Unternehmens – oftmals sogar<br />
auf Vorstandsebene. Er gibt die Leitlinien für die Digitalisierung<br />
vor: entwickelt neue Geschäftsmodelle,<br />
führt innovative Technologien ein und fördert vernetztes<br />
Arbeiten in seinem Konzern.<br />
Was muss ich können? Der CDO sollte ein Wirtschaftswissenschaftler<br />
mit großem Interesse an technologischen<br />
Neuerungen sein. In seiner Position<br />
muss er die zukünftige Richtung vorgeben, Mitarbeiter<br />
und Anteilseigner in die digitale Transformation<br />
mitnehmen. Dazu braucht er neben fachlichen Qualifikationen<br />
vor allem Überzeugungskraft, Risikobereitschaft<br />
und Neugier.<br />
Wo kann ich arbeiten? Bislang beschäftigen nur wenige<br />
Unternehmen einen CDO. Das wird sich jedoch ändern,<br />
da der digitale Wandel letztlich in allen Branchen<br />
Einzug hält.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Hängt von der Größe des<br />
Unternehmens und dem Stellenwert der Digitalisierung<br />
in der jeweiligen Branche ab – 200000 bis 700000 Euro.<br />
CONTENT MARKETING MANAGER<br />
Was muss ich tun? Die Unternehmen haben erkannt,<br />
dass die Zeiten platter Werbebotschaften vorbei sind<br />
und es auf die Kommunikation mit dem Kunden ankommt.<br />
Deshalb ist es Aufgabe des Content Marketing<br />
Managers, diese Kunden gezielt mit individuell für sie<br />
relevanten Inhalten anzusprechen. Allerdings schreibt<br />
er nicht selbst Einträge auf Facebook-Pinnwänden<br />
oder einen Artikel für E-Mail-Newsletter. Er ist eher eine<br />
Art Chefredakteur, der die Leitlinien und Inhalte für<br />
die Kommunikation mit den Kunden vorgibt.<br />
ILLUSTRATIOENN. THOMAS FUCHS<br />
12 *Quelle: EMC<br />
Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Was muss ich können? Content Marketing Manager<br />
bringen oft Erfahrung aus dem Journalismus oder<br />
der PR mit. Sie brauchen ein Gespür für ihre Zielgruppe<br />
und Marketingerfahrung, müssen die verschiedenen<br />
Verbreitungskanäle kennen und einschätzen<br />
können. Wer sich für diesen Beruf interessiert,<br />
sollte auch eine hohe Technologie-Affinität mitbringen.<br />
Wo kann ich arbeiten? In Unternehmen aller Branchen<br />
und Agenturen.<br />
Wie viel kann ich verdienen? 40 000 bis 60 000 Euro.<br />
DATA STRATEGIST<br />
Was muss ich tun? Er gibt die Leitlinien für den Umgang<br />
mit Daten vor. Welche Informationen können<br />
bedenkenlos in welchem Zusammenhang verwendet<br />
werden? Wo liegen rechtliche Grauzonen bei der<br />
Auswertung von Daten? Wo ethische Barrieren? Seine<br />
Position ist meist nah am Vorstand angesiedelt, da<br />
eine Fehlentscheidung schnell ernsthafte Probleme<br />
verursachen kann.<br />
Was muss ich können? Sowohl Mathematiker und Informatiker<br />
als auch Physiker sind für die Tätigkeit des<br />
Data Strategist besonders geeignet. Denn hohes technisches<br />
Verständnis ist Grundvoraussetzung, um<br />
nachvollziehen zu können, wie die Daten überhaupt<br />
erhoben werden.<br />
Wo kann ich arbeiten? Dieser Spezialist ist vor allem<br />
in Branchen gefragt, in denen große Mengen sensibler<br />
Daten anfallen: beispielsweise bei Banken, Versicherungen,<br />
Krankenkassen oder Kreditkartenunternehmen.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Je nach Berufserfahrung<br />
und Unternehmensgröße zwischen 100 000 und<br />
300 000 Euro.<br />
FEEL GOOD MANAGER<br />
Was muss ich tun? Dieser Beruf ist die moderne Variante<br />
des Personalmanagers. Der Feel Good Manager<br />
kümmert sich um das Wohlbefinden der Angestellten.<br />
Er findet heraus, was ihnen wichtig ist, und versucht,<br />
diesen Anforderungen gerecht zu werden. Das kann<br />
von der wöchentlichen Bestellung eines Obstkorbes<br />
über die Organisation eines Familienfests bis hin zur<br />
Buchung eines Firmen-Yogakurses gehen.<br />
Was muss ich können? Die meisten Feel Good Manager<br />
kommen aus dem Personalbereich, aber auch<br />
Quereinsteiger sind nicht selten. Ein Studium ist für<br />
diesen Job keine Voraussetzung. Wichtig sind vielmehr<br />
Fähigkeiten wie Kommunikationsbereitschaft, Empathie<br />
und Organisationstalent.<br />
Wo kann ich arbeiten? Derzeit finden sich vor allem in<br />
der Digitalbranche viele Unternehmen, die einen solchen<br />
Feel Good Manager beschäftigen. Erstens, weil in<br />
diesem Bereich viele Mitarbeiter der Generation Y einsteigen,<br />
und zweitens, da der Kampf um die besten<br />
Köpfe dort besonders groß ist.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Das Einstiegsgehalt liegt<br />
bei etwa 35 000 Euro und steigt mit zunehmender Berufserfahrung<br />
bis auf 45 000 Euro an.<br />
s<br />
Top 5<br />
Die beliebtesten<br />
Arbeitgeber unter<br />
Informatikern*:<br />
1. Google<br />
2. Microsoft<br />
3. Apple<br />
4. Audi<br />
5. SAP<br />
MOBILE DEVELOPER<br />
Was muss ich tun? Dieser Entwickler kümmert sich<br />
um neue Programme für Smartphones und Tablets.<br />
Bei kleineren Unternehmen ist er nicht nur Ideengeber,<br />
sondern programmiert die Anwendungen auch<br />
selbst.<br />
Was muss ich können? Die meisten Mobile Developer<br />
sind entweder auf das Apple-Betriebssystem iOs<br />
oder Googles Konkurrenzprodukt Android spezialisiert.<br />
Früher ein Feld für Autodidakten, ist dieser Job<br />
heutzutage am besten für Informatiker geeignet –<br />
egal, ob studiert oder mit Berufsausbildung zum<br />
Fachinformatiker.<br />
Wo kann ich arbeiten? In Konzernen aus allen Branchen,<br />
Agenturen mit einem Schwerpunkt auf mobiles<br />
Marketing und bei Spieleentwickler.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Je nach Berufserfahrung<br />
verdienen Mobile Developer zwischen 40 000 und<br />
50 000 Euro.<br />
NETZPLANER ENERGIE<br />
Was muss ich tun? Wer diesen Job macht, ist verantwortlich<br />
für eine zuverlässige Stromversorgung. Netzplaner<br />
prognostizieren den Strombedarf, analysieren<br />
Kapazitäten und berechnen anhand von Computersimulationen<br />
etwa, was passiert, wenn ein Kurzschluss<br />
im Netz für eine Störung sorgt. Bedingt durch die<br />
Energiewende – also die Abkehr <strong>vom</strong> Atomstrom zugunsten<br />
einer stärkeren Nutzung regenerativer Energien<br />
–, müssen Netzplaner die Spezifika neuer Energiequellen<br />
in ihre Planungen einbeziehen – etwa dass<br />
Fotovoltaik- oder Windkraftanlagen nur bei Sonnenschein<br />
beziehungsweise Wind Strom liefern. Außerdem<br />
stellen die studierten Ingenieure fest, zu welcher<br />
Uhrzeit Arbeiten am Netz den Stromfluss am wenigsten<br />
behindern.<br />
Was muss ich können? Jeder Netzplaner sollte ein Studium<br />
der elektrischen Energietechnik absolviert haben<br />
– egal, ob an einer Universität oder einer Fachhochschule.<br />
Weitere Voraussetzungen: analytisches<br />
»<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 *Quelle: Universum Communications<br />
13<br />
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Berufe der Zukunft<br />
»<br />
Denkvermögen und der Wille zur ständigen Weiterbildung.<br />
Nicht zuletzt auch die Bereitschaft, sich langfristig<br />
an ein Unternehmen zu binden. Da jedes Stromnetz<br />
seine Eigenheiten hat und die Einarbeitung sehr<br />
lange dauert, sind Arbeitgeber in diesem Berufsfeld<br />
überdurchschnittlich stark an stabilen Verhältnissen<br />
interessiert.<br />
Wo kann ich arbeiten? Bei Energieversorgern und<br />
Stadtwerken, aber auch bei Projektplanern, die zum<br />
Beispiel Windparks hochziehen. Vor allem weil einige<br />
Kommunen ihre Stromnetze zurückkaufen, werden<br />
künftig mehr Netzplaner gebraucht – dennoch sind<br />
diese Stellen auch künftig eher rar gesät.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Das Gehalt liegt zwischen<br />
50 000 und 70 000 Euro, wer Personalverantwortung<br />
hat, kann auch etwas mehr verlangen.<br />
OPERATIONS MANAGER<br />
Was muss ich tun? Hinter diesem Berufsbild steckt die<br />
digitale Weiterentwicklung des Logistikmanagers. Ein<br />
Operations Manager arbeitet vor allem im Bereich<br />
E-Commerce und muss dafür sorgen, dass das Sortiment<br />
eines Online-Shops auch im Lager verfügbar ist<br />
und die im Netz publizierten Liefertermine realistisch<br />
sind. Außerdem organisiert er das Lager so, dass häufig<br />
bestellte Produkte gut zu erreichen sind.<br />
Was muss ich können? Ein betriebswirtschaftliches<br />
Studium mit dem Schwerpunkt Logistik ist empfehlenswert,<br />
aber nicht zwingend notwendig. Wichtig ist,<br />
dass die Betriebswirte verstehen, wie Online-Shops<br />
funktionieren, und schon erste Erfahrungen im<br />
E-Commerce-Bereich gesammelt haben.<br />
Wo kann ich arbeiten? In jedem Unternehmen, das<br />
seine Produkte online anbietet – von Amazon bis Zalando.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Einstiegsgehälter liegen<br />
bei etwa 50 000 Euro. Mit erster Berufserfahrung steigen<br />
sie auf bis zu 70 000 Euro.<br />
So viele Unternehmen<br />
haben Probleme,<br />
Spezialisten für IT-<br />
Sicherheit zu finden<br />
13 %<br />
2013 2014<br />
Quelle: Robert Half<br />
28 %<br />
PERFORMANCE MARKETING MANAGER<br />
Was muss ich tun? Der SEO-Manager – die Abkürzung<br />
steht für Search Engine Optimization, zu Deutsch:<br />
Suchmaschinen-Optimierung – ist der wohl bekannteste<br />
unter der Gruppe der Performance Marketing<br />
Manager. Er ist dafür verantwortlich, Inhalte von Web-<br />
Seiten so zu optimieren, dass sie von Suchmaschinen<br />
möglichst gut gefunden werden. Ebenfalls zu dieser<br />
Gruppe gehören der SEM- und der SEA-Manager. Sie<br />
sind für Search Engine Marketing beziehungsweise<br />
Search Engine Advertising zuständig. Das heißt, sie entscheiden<br />
unter anderem, bei welchen Suchbegriffen eine<br />
Anzeige ihres Arbeitgebers erscheint, und kontrollieren<br />
den Erfolg solcher Maßnahmen. Ebenfalls in den<br />
Aufgabenbereich von Performance Marketing Managern<br />
fallen Direktmarketingaktionen zum Beispiel via<br />
E-Mail oder die Schaltung von Werbebannern.<br />
Was muss ich können? Wirtschaftswissenschaftler, am<br />
besten mit Schwerpunkt Marketing, aber auch Wirtschaftsinformatiker<br />
passen auf diese Stellen. Voraussetzung:<br />
Neben Wissen über und Gespür für Vermarktungsstrategien<br />
sollten sie technische Affinität mitbringen.<br />
Denn sie müssen verstehen, wie Suchmaschinen<br />
funktionieren und Internet-Seiten aufgebaut sind.<br />
Wo kann ich arbeiten? Bei Unternehmen, die Produkte<br />
online vertreiben – <strong>vom</strong> Versandhändler über den Reiseanbieter<br />
bis hin zum Modelabel.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Mit erster Berufserfahrung<br />
verdient er zwischen 45 000 und 55 000 Euro. Mit<br />
Führungsverantwortung, steigt das Gehalt schnell auf<br />
mehr als 65 000 Euro.<br />
PRODUKTIONSINGENIEUR<br />
Was muss ich tun? Diese Ingenieure überwachen, leiten<br />
und optimieren Produktionsabläufe. Sie entscheiden,<br />
welche Maschinen zur Herstellung der von ihrem<br />
Arbeitgeber zu produzierenden Güter taugen, und geben<br />
deren Entwicklung in Auftrag. Produktionsingenieure<br />
übernehmen aber auch organisatorische Aufgaben,<br />
wie Personalplanung und die Gestaltung von<br />
Arbeitsplätzen im Werk.<br />
Was muss ich können? Das Berufsbild des Produktionsingenieurs<br />
ändert sich durch die Digitalisierung<br />
gewaltig. Seit die Maschinenkommunikation Einzug in<br />
deutsche Fabriken hält, müssen die Ingenieure zunehmend<br />
IT-Kenntnisse mitbringen, die immer häufiger<br />
als Zusatz in den klassischen ingenieurwissenschaftlichen<br />
Studiengängen vermittelt werden.<br />
Wo kann ich arbeiten? In Industrieunternehmen aller<br />
Branchen.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Je nach Berufserfahrung<br />
und Komplexität der Aufgaben zwischen 55 000 und<br />
100 000 Euro.<br />
SECURITY MANAGER<br />
Was muss ich tun? Datenlecks vermeiden und eine<br />
Strategie zur IT-Sicherheit entwickeln, das sind die<br />
zentralen Aufgaben des IT Security Managers. Dafür<br />
muss er beispielsweise folgende Fragen beantworten:<br />
Können wir den Mitarbeitern erlauben, berufliche<br />
ILLUSTRATION. THOMAS FUCHS<br />
14 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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E-Mails auf ihrem privaten Handy abzurufen? Welchen<br />
Zugang zu unseren Systemen gewähren wir Lieferanten?<br />
Welche Daten können wir ohne Sicherheitsbedenken<br />
in die Cloud auslagern? Außerdem schult<br />
der IT Security Manager die Mitarbeiter im Umgang<br />
mit ihren eigenen Daten und denen der Kunden.<br />
Was muss ich können? Er muss ein großes technisches<br />
Verständnis mitbringen, gleichzeitig juristische Fallstricke<br />
zum Beispiel beim Datenschutz im Auge behalten.<br />
Diese Position ist ideal für Wirtschaftsinformatiker,<br />
weil sie im ökonomischen Teil des Studiums zumindest<br />
einige Rechtsvorlesungen besuchen müssen.<br />
Aber auch Informatiker sind geeignet, wenn sie sich in<br />
die juristischen Zusammenhänge einarbeiten können<br />
oder für diesen Teil der Arbeit externes Wissen einkaufen.<br />
Ein umfassendes Wissen über die IT-Architektur<br />
des Arbeitgebers ist unerlässlich.<br />
Wo kann ich arbeiten? In jedem Unternehmen, das eine<br />
komplexe IT-Infrastruktur hat.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Die Gehaltsspanne reicht<br />
von etwa 60 000 Euro bis über 120 000 Euro. Denn je<br />
nach Unternehmen kann die Position direkt unterhalb<br />
des Vorstandes angesiedelt sein.<br />
SOCIAL MEDIA MANAGER<br />
Was muss ich tun? Während so manchem Angestellten<br />
das Surfen im Netz während der Arbeitszeit strikt untersagt<br />
ist, bekommt der Social Media Manager genau<br />
Facebook<br />
& Co.<br />
28 Prozent der<br />
Arbeitnehmer<br />
nutzen soziale<br />
Medien täglich<br />
zur geschäftlichen<br />
Kommunikation*<br />
*Quelle: ibi research<br />
s<br />
dafür Geld. Er kümmert sich um die Internet-Gemeinde<br />
seines Arbeitgebers, versorgt diese mit ständig neuen<br />
Inhalten, hält die Community so am Leben. Doch<br />
um dieses Ziel zu erreichen, muss er wissen, welche<br />
Infos auf den jeweiligen Kanälen fruchten. Passt ein<br />
Gewinnspiel nur zu den Facebook-Fans, oder soll es<br />
auch an die Twitter-Follower gehen? Auf welcher Plattform<br />
finden Fotoaktionen am meisten Anklang? Wo<br />
werden unsere Inhalte verlinkt? Wer tummelt sich auf<br />
unseren Seiten? Antworten auf diese Fragen liefern die<br />
Statistiken, die ein Social Media Manager ebenfalls regelmäßig<br />
auswerten muss, um die Strategie in den sozialen<br />
Netzwerken daraufhin anzupassen.<br />
Was muss ich können? In diesem Bereich gibt es viele<br />
Quereinsteiger. Wichtig ist vor allem Interesse an den<br />
sozialen Netzwerken und der dahinterstehenden<br />
Technik sowie Freude an intensiver Kommunikation.<br />
Viele Social Media Manager haben Medieninformatik<br />
studiert, ein Muss ist dieser Studiengang aber keineswegs.<br />
Wo kann ich arbeiten? In Unternehmen, die mehrere<br />
soziale Netzwerke nutzen oder deren einziger Vertriebskanal<br />
das Internet ist.<br />
Wie viel kann ich verdienen? Je nach Unternehmensgröße,<br />
Branche und Aufgaben rangiert das Gehalt zwischen<br />
30 000 und 70 000 Euro. Mit Personalverantwortung<br />
ist auch mehr drin.<br />
n<br />
kristin.schmidt@wiwo.de<br />
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Gründen<br />
Betreutes Gründen<br />
ENTREPRENEUR IN RESIDENCE | Wer die Start-up-Kultur dem Arbeiten im Konzern vorzieht, das Risiko<br />
der Selbstständigkeit aber noch scheut, kann unter dem Dach von Inkubatoren unternehmerische<br />
Erfahrung sammeln und erste Geschäftsideen umsetzen.<br />
Fruchtbarer Schulterschluss<br />
Etventure-Mitgründer<br />
Philipp Herrmann<br />
(links) mit Steffen<br />
Manes, Entrepreneur<br />
in Residence<br />
und Mitgründer des<br />
Internet-Start-ups<br />
Mobile Job<br />
Eines Tages ein Start-up zu gründen, davon träumt<br />
Kerem Köksal schon lange. Erst während seines<br />
Management-Studiums, später bei Praktika beim<br />
Autozulieferer Knorr-Bremse und der Wirtschaftsauskunftei<br />
Schufa grübelt er über Apps für Smartphones,<br />
innovative Internet-Plattformen und neuartige<br />
E-Books. Allein: „Keine Idee hat mich restlos überzeugt“,<br />
sagt der 27-Jährige heute. Also legt Köksal auf<br />
dem Weg zum Unternehmer einen Zwischenschritt<br />
ein: Im Mai heuerte er beim Hamburger Unternehmen<br />
Hanse Ventures an – als Entrepreneur in Residence<br />
(EiR) – zu Deutsch: Unternehmer im Hause.<br />
In den USA gibt es solche Programme seit dem Internet-Boom<br />
Ende der Neunzigerjahre – damals holten<br />
sich Wagnisfinanzierer Gründer ins Haus, um gemeinsam<br />
Geschäftsideen umzusetzen. Inzwischen verbreitet<br />
sich das Konzept auch in Deutschland. Mal gleicht<br />
es eher einem Praktikum, mal gründet der Teilnehmer<br />
ein eigenes Unternehmen. So sucht das Bergisch Gladbacher<br />
Biotech-Unternehmen Miltenyi derzeit einen<br />
EiR, der helfen soll, ein internes Online-Start-up-Projekt<br />
zu etablieren. Der Berliner Sportnahrungshändler<br />
Egg wiederum wirbt um Praktikanten, die „operativ<br />
und strategisch voll durchstarten“ wollen.<br />
„Wir gründen nicht mit jedem Entrepreneur in Residence<br />
ein Unternehmen“, sagt auch Tobias Seikel.<br />
„Aber als EiR kannst du Start-up-Luft atmen und zusammen<br />
mit uns nach guten Geschäftsideen suchen.“<br />
Seikel ist Partner bei Hanse Ventures, wo auch<br />
Kerem Köksal gelandet ist. Hanse Ventures ist ein Inkubator,<br />
brütet Start-ups am Fließband aus, finanziert sie<br />
und verkauft seine Anteile daran nach einigen Jahren.<br />
Gründer und Mitarbeiter sitzen am Sandtorkai in der<br />
Hamburger Speicherstadt Tisch an Tisch, was es leicht<br />
macht, voneinander zu lernen – und wo sie während<br />
ihrer ersten Schritte von Hanse Ventures unterstützt<br />
werden. Hier sitzt auch Köksal, ein halbes Jahr, für 1500<br />
Euro monatlich. Reich wird er damit nicht, aber er<br />
kann hinter die Kulissen diverser Start-ups blicken,<br />
den Gründeralltag kennenlernen, an Workshops teilnehmen.<br />
„Von Anfang an ging es Schlag auf Schlag“,<br />
sagt Köksal. Erst half er dabei, pflege.de, ein Online-<br />
Portal für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, weiterzuentwickeln.<br />
Dann suchte Köksal für Hanse Ventures<br />
neue Geschäftsideen. „Wir werfen die Leute mit<br />
Ideen zu, damit sie sich ausprobieren“, sagt Partner<br />
Seikel. Auch Köksal: „Eins ist klar – auch ich werde<br />
gründen.“<br />
Lukas Zels hat diesen Schritt schon hinter sich. Der<br />
Berliner hat im Frühjahr 2012 bei Rocket Internet angeheuert.<br />
Der börsennotierte Start-up-Brüter bewirbt<br />
sein EiR-Angebot als „globales Rotationsprogramm“, in<br />
dem die Teilnehmer alle drei, vier Monate zum nächs-<br />
»Ohne die Hilfe von<br />
Etventure hätte ich<br />
Mobile Job nie gestartet«<br />
FOTOS: ANDREAS CHUDOWSKI UND ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
16 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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»Wir werfen die Leute<br />
mit Ideen zu, damit sie<br />
sich ausprobieren«<br />
ten Start-up wechseln – in einem neuen Land, mit<br />
neuem Job. Zels’ Stationen: Kambodscha, Philippinen,<br />
Nigeria. „Mein Leben steckte in einem Rollkoffer.“<br />
Inzwischen baut er in Berlin sein eigenes Start-up<br />
auf: Locafox, das Online-Kunden mit Einzelhändlern<br />
in ihrer Umgebung zusammenbringt. Motto: online<br />
nach Produkten suchen, offline kaufen. Kaum gestartet,<br />
konnten Zels und seine Mitgründer ein siebenstelliges<br />
Investment einsammeln und beschäftigen mehr<br />
als 30 Mitarbeiter aus 14 Ländern. Zels ist überzeugt,<br />
dass er dieses schnelle Wachstum den Erfahrungen<br />
verdankt, die er bei Rocket Internet gesammelt hat –<br />
von der Finanzplanung über die Logistik bis zur Mitarbeiterführung.<br />
„Meine Lernkurve war so steil wie nie<br />
sonst in meinem Leben.“<br />
Er profitiert nicht nur <strong>vom</strong> Rocket-Netzwerk, etwa<br />
bei der Suche nach Partnern und Investoren. „Ich habe<br />
damals auch gelernt: Gründen ist nicht schwer“, sagt<br />
Zels. „Und wenn du scheiterst, ist das keine Blamage,<br />
sondern eine sehr wertvolle Erfahrung, um es beim<br />
nächsten Mal besser zu machen.“<br />
WO SCHEITERN ZUM ALLTAG GEHÖRT<br />
Auch in den Ackerhöfen in Berlin-Mitte gehört Scheitern<br />
zum Alltag. Auf mehreren Etagen eines alten Fabrikgebäudes<br />
hat sich die Start-up-Schmiede Etventure<br />
eingerichtet. „Aus 150 Ideen werden etwa zehn<br />
Gründungen“, sagt Philipp Herrmann, der Etventure<br />
2010 mit Philipp Depiereux und Christian Lüdtke gestartet<br />
hat. Etventure beschäftigt inzwischen mehr als<br />
60 Mitarbeiter, die Hälfte davon in einem Dutzend<br />
Start-up-Projekten. Die Ideen sucht das Team in<br />
der Welt der Konzerne und Mittelständler. „Dort heißt<br />
es oft: Man müsste mal dieses oder jenes besser machen“,<br />
sagt Herrmann, der lange für Bertelsmann gearbeitet<br />
hat, „und genau diese Man-müsste-mal-Probleme<br />
lösen wir.“<br />
Etventure setzt dabei auf die Lean-Startup-Methode<br />
des US-Unternehmers Eric Ries, die Herrmann an der<br />
Stanford University kennengelernt hat. In einem kreativen<br />
Prozess entwickelt das Unternehmen dabei ein<br />
„minimum viable product“, also eine Art kleinstmöglichen<br />
Prototypen, der die wesentlichen Funktionen des<br />
späteren Produkts erfüllt, sich aber schnell und günstig<br />
herstellen und am Markt testen lässt. Je nach Feedback<br />
verwirft Etventure die Idee, passt sie an oder gründet<br />
ein Start-up mit einem seiner Entrepreneure in Residence.<br />
„Sie sind von Anfang an Gründer“, sagt Herrmann,<br />
„und haben in der Regel schon Berufserfahrung,<br />
wenn sie bei uns anfangen.“<br />
So wie Steffen Manes. Der 29-Jährige hatte schon im<br />
Design-Studium eine Agentur gegründet, als er merkte,<br />
dass er besser Geschäfte machen konnte als zeichnen:<br />
Als sein Vater ein Buch schrieb, aber keinen Verlag<br />
finden konnte, baute er mit ihm selbst einen auf. Anschließend<br />
arbeitete er als Fund Manager bei einem<br />
Wagnisfinanzierer, wo er aber nach eigenen Worten zu<br />
viel verdiente und zu viel schlief: „Ich musste wieder<br />
etwas Operatives machen.“<br />
Schließlich wagte er sich mit Etventure an ein Problem,<br />
mit dem sich viele Unternehmen herumschlagen:<br />
Wenn sie Elektriker, Lageristen oder Kfz-Mechaniker<br />
einstellen, finden sie nur schwer genügend gute<br />
Kandidaten. Denn Arbeiter suchen online kaum nach<br />
Jobs, tun sich mit Bewerbungen schwer und erscheinen<br />
oft nicht zu Vorstellungsgesprächen. Manes und<br />
seine Mitstreiter entwickelten eine Plattform, über die<br />
Unternehmen diese Mitarbeiter via Handy rekrutieren<br />
können. Die Bewerber beantworten per SMS einige<br />
Fragen zu ihrem Lebenslauf, erhalten über diesen Kanal<br />
auch eine Einladung zum Vorstellungsgespräch<br />
und werden per SMS an den Termin erinnert.<br />
Die ersten SMS von Bewerbern beantwortete Manes<br />
noch selbst und manuell – auch mitten in der Nacht. Das<br />
Geschäft lief, er gründete Mobile Job mit Startkapital von<br />
Etventure, baute eine Online-Plattform auf, die die Jobinterviews<br />
per SMS komplett automatisiert führt. Das<br />
war im Januar – inzwischen hat das Start-up fast 2000<br />
Bewerber vermittelt und beschäftigt sieben Mitarbeiter.<br />
Zwar halten Manes und sein Mitgründer nur ein Drittel<br />
der Anteile an seinem Unternehmen, der Rest gehört Etventure<br />
und Investoren. „Das ist schmerzhaft, aber anders<br />
als die meisten Gründer erhalte ich von Anfang Finanzierung,<br />
Infrastruktur und ein Gehalt“, sagt Manes.<br />
„Ohne Etventure hätte ich Mobile Job nie gestartet.“ n<br />
jens.tönnesmann@wiwo.de<br />
Helfer im<br />
Hintergrund Kerem<br />
Köksal (vorne),<br />
Entrepreneur in<br />
Residence bei<br />
Tobias Seikel <strong>vom</strong><br />
Inkubator Hanse<br />
Ventures<br />
WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 17<br />
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Karriereleiter<br />
»Google-Alarm auf Ihren Namen«<br />
DIGITALE SELBSTVERMARKTUNG | Sechs Profis verraten, wie Berufseinsteiger ihre Karriere im Netz<br />
vorantreiben können.<br />
»Was würde ein Headhunter oder Interessent wohl eingeben,<br />
wenn er beispielsweise die Detailsuche bei Xing nutzt, um jemand wie<br />
Sie zu finden? Stimmen Sie Ihr Profil darauf ab, streichen Sie Überflüssiges.<br />
So wird niemand nach Teamfähigkeit suchen, wohl aber nach<br />
Kenntnissen in agilem Projektmanagement wie Six Sigma und Scrum.<br />
Denken Sie auch an verschiedene Schreibweisen, wie Product Manager<br />
und Produktmanager und nehmen Sie beide Möglichkeiten in<br />
Ihr Profil auf.«<br />
Svenja Hofert berät Unternehmen und Privatleute in Karrierefragen<br />
»Es mag altbacken klingen:<br />
Aber auch im Netz ist ein kräftiges Profilbild das A und O –<br />
aussageschließlich<br />
hinterlassen Sie darüber<br />
bei potenziellen Arbeitgebern den<br />
ersten Eindruck. Achten Sie auf das<br />
richtige Format und einen hellen<br />
Hintergrund. Und natürlich sollten<br />
Sie gut erkennbar sein.«<br />
Joachim Rumohr<br />
Coach mit Schwerpunkt berufliche Netzwerke<br />
»Investieren Sie Zeit, um sich gezielt<br />
eine Online-Reputation aufzubauen.<br />
Dazu empfiehlt sich beispielsweise das<br />
regelmäßige Publizieren von fachlichen<br />
Inhalten in einem professionellen Blog.<br />
Verlinken Sie die Texte auf Ihren<br />
anderen Online-Profilen.«<br />
Klaus Eck<br />
entwickelt Social-Media-Strategien für Unternehmen<br />
und Privatpersonen<br />
»Berufseinsteiger sollten in ihren<br />
Online-Profilen auch Fähigkeiten und<br />
Erfahrungen außerhalb der formalen<br />
Qualifikationen angeben – etwa ein<br />
Ehrenamt, politisches Engagement oder<br />
sportliche Erfolge. Und zwar nicht als<br />
Hobby, sondern unter dem Punkt<br />
Berufserfahrung – schließlich werden<br />
auch hier relevante Kompetenzen<br />
erworben und vertieft.«<br />
Constanze Wolff<br />
schreibt Karriereratgeber für die sozialen Netzwerke<br />
»Richten Sie sich einen Google<br />
Alert mit Ihrem Namen ein, um<br />
stets zu wissen, was über Sie<br />
geschrieben wird. Denn alles,<br />
was Sie auf diese Weise über sich<br />
erfahren, bringt auch ein<br />
Personaler in Erfahrung.«<br />
Michael Wurster<br />
ist Autor des Buchs „Karriere-Schmiede“<br />
»Wählen Sie lieber einige wenige<br />
Portale oder Netzwerke aus, aber pflegen<br />
Sie Ihre Profile dort nachhaltig.<br />
Seien Sie keine Eintagsfliege. Treten Sie<br />
Gruppen bei, die in Ihr Interessengebiet<br />
gehören. Kontaktieren Sie alte<br />
Kommilitonen, Professoren und<br />
Kollegen früherer Arbeitgeber.<br />
Je aktiver Sie sind, desto<br />
besser können Sie gefunden werden.«<br />
Kathrin Südmeyer<br />
Coach für Bewerbungstrainings<br />
So viele Mitglieder hat<br />
Xing (in Millionen)*<br />
4,8 8,8 11,7 14<br />
2007 2009 2011 2013<br />
*Zahlen gerundet; Quelle: Xing<br />
«<br />
FOTO: SIMONE SCARDOVELLI<br />
18 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Mein Weg<br />
»Geh deinen<br />
Weg«<br />
INTERVIEW | Carla Kriwet Wie sich die Philips-<br />
Deutschland-Chefin den Mitarbeiter<br />
der Zukunft vorstellt. Und warum sie mit<br />
der U-Bahn ins Büro fährt.<br />
Frau Kriwet, haben Sie heute beim Frühstück schon<br />
mit Ihrem iPad gesprochen?<br />
Das Frühstück gehört der Familie, in dieser Zeit sind<br />
diese Geräte für uns tabu. Aber warum sollte ich mit<br />
meinem iPad sprechen?<br />
Um Ihrer Kaffeemaschine mitzuteilen, ob Sie den<br />
Kaffee mild oder lieber kräftig mögen. So wie Philips<br />
es gerade auf der IFA demonstriert hat.<br />
Ein tolles Produkt. Ich bin aber kein Typ für technische<br />
Spielereien, sondern brauche Innovationen, die einen<br />
echten Nutzen haben.<br />
Wie können solche Spielereien eine Traditionsmarke<br />
wie Philips fit machen fürs digitale Zeitalter?<br />
Ein schickes Design oder eine lustige Idee reichen da<br />
sicher nicht. Wichtig ist nicht die Entwicklung isolierter<br />
Produkte, sondern integrierter Lösungen, über die wir<br />
nach unserem Motto „Innovation&You“ bis 2025 weltweit<br />
drei Milliarden Menschen erreichen wollen.<br />
An welche Lösungen denken Sie?<br />
Künftig wird man mit wenigen Personen in der Lage<br />
sein, die Beleuchtung ganzer Städte individuell zu<br />
steuern – von Parkhäusern, deren Leuchten den Weg<br />
zu Ihrem Auto weisen, bis zur Beleuchtung eines<br />
Schulwegs, um Kinder sicher zum Unterricht zu bringen.<br />
Mehr Komfort bei weniger Energieverbrauch –<br />
das ist Mehrwert, den ich meine.<br />
Wie stark wird die Digitalisierung Struktur, Organisation<br />
und Jobs bei Philips verändern?<br />
Signifikant. So ziemlich jeder Job wird sich in den kommenden<br />
zehn Jahren durch die Digitalisierung verändern,<br />
manche Profile werden verschwinden, viele sich<br />
graduell verändern, andere neu entstehen. Letztlich<br />
brauchen wir auf vielen Ebenen Mitarbeiter mit erweiterten<br />
Profilen. Auch wer nicht mit der Digitalisierung<br />
aufgewachsen ist, kann sich nicht zurücklehnen – ob<br />
im Verkauf, im Marketing oder in der Produktion. Wir<br />
brauchen Mitarbeiter, für die der Umgang mit digitalen<br />
Technologien selbstverständlich ist.<br />
Mit dem iPad kann heute jedes Kleinkind umgehen...<br />
Das genügt genauso wenig, wie Innovationen isoliert<br />
in der Forschungsabteilung zu entwickeln.<br />
Was braucht es also?<br />
Innovatives Denken über klassische Abteilungs-, ja<br />
Unternehmensgrenzen hinweg. Die wichtigsten Anregungen<br />
kommen von unseren Kunden, wir kooperieren<br />
mit Start-ups. Die ganze Art, zu denken und zu interagieren,<br />
muss und wird sich ändern.<br />
Woran machen Sie fest, ob jemand dieses neue<br />
digitale Denken mitbringt?<br />
Jeder muss lernbereit sein, egal, in welchem Alter. Neulich<br />
habe ich mich mit einem Kollegen unterhalten, der<br />
digitale Themen mit seinem Enkel diskutiert und dann<br />
selbst ausprobiert. Klasse! Wir brauchen in jedem Alter,<br />
auf jeder Hierarchiestufe Neugier, Offenheit und Flexibilität.<br />
Wir brauchen Mitarbeiter, die überlegen, was sie<br />
tun würden, wenn Philips ihr Unternehmen wäre. Die<br />
lieber einmal mehr um Entschuldigung fragen als um<br />
Erlaubnis. Die mit offenen Augen durchs Leben gehen<br />
und daraus Geschäftsideen ableiten statt darauf warten,<br />
dass ein anderer ihnen sagt, was sie zu tun haben.<br />
FOTO: CHRISTIAN O. BRUCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
20 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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Oder eine andere?<br />
DIE ZIELSTREBIGE<br />
Das kann mal nach Mitternacht sein, weil ich noch einen<br />
Auftrag verhandelt habe. Oder auch mal um vier<br />
Diversity ist ein wichtiges Thema, aber das Geschlecht<br />
ist kein allein entscheidendes Kriterium. Es geht auch Kriwet, 43, steht seit Uhr nachmittags, wenn ich meinem Sohn bei einem<br />
um Internationalität, Altersstruktur, unterschiedliches April 2013 an der Fußballspiel zusehen will. Da unterwerfe ich weder<br />
Denken. Und am Ende gilt: Am richtigen Platz ist die Spitze von Philips meine Mitarbeiter noch mich starren Normen. Menschen<br />
sollen dort und dann arbeiten, wo es für ihren<br />
Deutschland. Nach<br />
Person, die eine Aufgabe am besten erfüllen kann.<br />
dem Abitur half sie<br />
Sie gehören derzeit noch zu den wenigen Frauen, die mehrere Monate in Job oder ihr Projekt am sinnvollsten ist.<br />
es in deutschen Unternehmen ins Top-Management einer Aidsstation in Sie haben drei kleine Kinder – wie schaffen Sie es,<br />
geschafft haben. Wie fühlen Sie sich als Exotin in<br />
einer stark von Männern dominierten Welt?<br />
Burundi. 1995 startete<br />
die promovierte<br />
Job und Familie zu vereinbaren?<br />
Ich bin auch nicht die Superduper-mache-alles-Mutter.<br />
Bei uns kümmert sich hauptsächlich mein Mann<br />
Ich fühle mich gar nicht als Exotin. Unser Managementteam<br />
besteht zur Hälfte aus Frauen. Ich hatte in<br />
um die Kinder.<br />
Ökonomin bei<br />
Adtranz in Indien,<br />
wechselte 1997 zur<br />
meiner Karriere auch nie das Gefühl, als Frau benachteiligt<br />
worden zu sein.<br />
Group, 2003 zu Nie. Er findet unsere Aufteilung gut, genau wie ich. Als<br />
Boston Consulting<br />
Wie oft ist diese Rollenverteilung Thema bei Ihnen?<br />
Welche Ihrer Eigenschaften haben Sie dahin<br />
Linde und 2011 zu Freiberufler kann er sich flexibel organisieren und hat<br />
gebracht, wo Sie jetzt sind?<br />
Dräger. Die dreifache viel Zeit für die Kinder. Ich habe es diesbezüglich ziemlich<br />
einfach.<br />
Ich denke, dass ich viel Unternehmertum mitbringe Mutter ist Vize-Auf-<br />
und Menschen begeistern kann. Ich bin eine sehr ehrgeizige<br />
Lernerin. Ob von meinen Kollegen, Mitarbei-<br />
Gar nicht. Wir sind ein holländisches Unternehmen,<br />
sichtsratsvorsitzen-<br />
de der Kinderrechts-<br />
Bei Philips duzt man sich. Wie schwer fällt Ihnen das?<br />
organisation Save<br />
tern, Kunden – ich lerne jeden Tag und bin neugierig the Children. mich duzt hier jeder.<br />
auf neue Ideen.<br />
Neben Frauenpower und lockeren Umgangsformen<br />
Kriegen Sie die auch, wenn Sie mit Rad und U-Bahn<br />
ins Büro fahren?<br />
Das mache ich, weil es viel praktischer ist, als im Stau<br />
zu stehen. Ich brauche keine Statussymbole und genieße<br />
es, Zeit zu haben, um mich auf Themen vorbereiten<br />
steht Philips derzeit für Jobabbau und Restrukturierung:<br />
Der Konzern wird aufgespalten, bis Ende 2014<br />
sollen weltweit 1,5 Milliarden Euro gespart werden.<br />
Nicht optimal im Kampf um die besten Talente...<br />
Philips steht vor allem für ein Unternehmen mit klarer<br />
zu können und in Ruhe den Tag zu planen.<br />
Wachstumsstrategie, das den Menschen in den Mittel-<br />
Wann ist der Tag für Sie zu Ende? punkt stellt...<br />
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Mein Weg<br />
»Ratschläge von oben halte ich für<br />
schwierig. Jeder muss seine Stärken<br />
finden und Spaß dabei haben«<br />
»<br />
...und bis Jahresende 6700 Stellen abbauen will.<br />
Wir zählen in einschlägigen Wettbewerben seit vielen<br />
Jahren regelmäßig zu den besten Arbeitgebern und bekommen<br />
viele herausragende Bewerbungen. Natürlich:<br />
Es gibt immer Lebenszyklen für Produkte und Geschäftsmodelle.<br />
Aber wir investieren viel in innovative<br />
Forschung, stellen viele Spezialisten ein, wollen aber<br />
auch die gesamte Organisation voranbringen, haben<br />
den Trainingsetat für Digitales verdreifacht.<br />
Für wie digital halten Sie sich selbst?<br />
Ich treibe bei Philips digitale Geschäftsmodelle voran,<br />
sie sind Kern unserer Wachstumsstrategie.<br />
Der letzte Eintrag auf Ihrem Facebook-Account ist<br />
allerdings gut zwei Jahre alt...<br />
Stimmt, ich poste nicht und kann auch aus Zeitgründen<br />
nicht alle Anfragen beantworten.<br />
Opel-Marketing-Vorstand Tina Müller twittert auch<br />
mal ein Foto aus dem Urlaub...<br />
Ich nicht. Ich halte mein Privatleben privat. Meine Kinder<br />
sollen selbst entscheiden, was sie von sich preisgeben<br />
und was nicht. Aber ich nutze digitale Plattformen,<br />
um geschäftsrelevante Informationen zu teilen.<br />
Haben Sie die neue Apple Watch bestellt?<br />
Ich probiere diverse Fitnessuhren aus und sehe mir die<br />
dazugehörigen Apps an – schon weil wir selbst große<br />
Hoffnungen auf die Digitalisierung des Gesundheitsbereichs<br />
setzen. Ich kenne auch die Uhr von Apple –<br />
das Design finde ich beeindruckend, halte sie aber<br />
eher für ein cooles Gadget. Und ich glaube, dass die<br />
Welt mehr als Gadgets braucht – nämlich Lösungsketten<br />
dahinter, wie die Verbindung zum Hausarzt oder<br />
zu einer Klinik, die über all ihre Messdaten verfügen<br />
und daraus individuelle Therapien ableiten können.<br />
Das Thema Gesundheit zieht sich wie ein roter Faden<br />
durch Ihre Biografie. Wie kamen Sie auf die Idee, in<br />
Burundi bei der Behandlung von Aidskranken zu<br />
helfen und dafür sogar Ihre Abi-Feier zu schwänzen?<br />
Auf der Abi-Feier hab ich wohl nicht so viel verpasst.<br />
Mich hat dieser Bereich einfach immer interessiert, ich<br />
habe auch lange überlegt, in der Entwicklungshilfe zu<br />
arbeiten oder Medizin zu studieren.<br />
Sie haben sich dann doch für ein BWL-Studium und<br />
eine Managerkarriere entschieden. Weil Ihnen Ihr<br />
Vater, damals Vorstandsvorsitzender von Thyssen,<br />
auf die Finger geklopft hat?<br />
(Lacht) Keinesfalls. Ich war damals 18, konnte also tun,<br />
was ich wollte. Und mein Vater hätte sich bei dieser<br />
Entscheidung auch nicht eingemischt. Ich habe nach<br />
dem Projekt die Region mit dem Rucksack bereist und<br />
mir Zeit gelassen – damals waren Mobiltelefone noch<br />
nicht verbreitet, man war nicht ständig erreichbar.<br />
Was Carla Kriwet in<br />
Afrika gelernt hat<br />
• Sich selbst nicht so<br />
wichtig zu nehmen<br />
• Sich nicht so schnell<br />
über alles aufzuregen<br />
• Scheinbar große<br />
Probleme zu relativieren<br />
BURUNDI<br />
Ärztin oder Entwicklungshelferin sind Sie trotzdem<br />
nicht geworden...<br />
Ich glaube, dass ich als Ökonomin auch meinen Beitrag<br />
leisten kann. Ich engagiere mich als stellvertretende<br />
Aufsichtsratsvorsitzende der Kinderrechtsorganisation<br />
Save the Children Deutschland. Und bei Philips<br />
kann ich Hilfe und Geschäft sogar verbinden: Wir haben<br />
mit Partnern vor Ort eine zuverlässige, leicht zu<br />
wartende Solarleuchte entwickelt, die Slums, Marktstände<br />
oder Schulwege beleuchten kann. Damit fördern<br />
wir Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung und<br />
über Hilfe zur Selbsthilfe die Bildung vor Ort. Diese<br />
Möglichkeiten berühren mich extrem. Spenden sind<br />
sehr wichtig, aber schlaue Ideen, die als Multiplikator<br />
wirken, sind noch besser.<br />
Was haben Sie aus Ihrer Zeit in Burundi mitgenommen<br />
fürs Leben?<br />
Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Das hilft vor allem,<br />
wenn es mal nicht so gut läuft, ein Auftrag floppt,<br />
ich mit den Kindern über die Wahl des richtigen Fußballclubs<br />
diskutiere. Man kann sich ja schnell über alles<br />
Mögliche aufregen. Aber wenn man Menschen hat<br />
sterben sehen, dann relativiert sich vieles.<br />
Sie haben eine Karriere im Raketentempo hingelegt,<br />
bis es nach Ihrem Wechsel zu Dräger mit Ende 30 zu<br />
einem unerwarteten Knick kam: Sie mussten nach elf<br />
Monaten wieder gehen. Wie haben Sie diesen Rückschlag<br />
verdaut?<br />
Ich bin selbst gegangen, und es gab gute Gründe dafür.<br />
Ich möchte die Zeit bei Dräger auch nicht missen – gerade<br />
aus Rückschlägen kann man extrem viel lernen.<br />
Warum haben Sie bald danach das Engagement für<br />
Save the Children angenommen, statt einfach<br />
mal mehr Zeit für Ihre eigenen Kinder zu haben?<br />
Das sollte man nicht aufrechnen. Ich engagiere mich<br />
für die Organisation, weil sie Millionen von Kindern<br />
die Chance auf eine gute Zukunft gibt. Das ist eine unheimliche<br />
Bereicherung.<br />
Warum haben Sie sich dann für Philips entschieden?<br />
Weil mich die für einen Konzern ungewöhnlich offene<br />
Unternehmenskultur anspricht. Die soll sich dann<br />
auch in unseren neuen Räumen spiegeln, die wir 2015<br />
mit den 1100 Mitarbeitern beziehen werden, die derzeit<br />
hier im Tower arbeiten. Momentan sitzen wir zwar<br />
im Zentrum Hamburgs, und ich habe einen fantastischen<br />
Blick über die Stadt. Aber wir verbringen viel zu<br />
viel Zeit im Aufzug. Künftig schaffen wir mehr Raum<br />
für zufällige Begegnungen und übergreifende Projekte.<br />
Aber Sie haben weiter ein Einzelbüro?<br />
Nein, das brauche ich auch nicht.<br />
Ihr Vater zählte über Jahrzehnte zu den mächtigsten<br />
Managern Deutschlands. Was war sein bester Rat?<br />
Dass er nie Ratschläge gegeben hat. Er hat uns fünf Kinder<br />
so genommen, wie wir waren, und hatte nie den<br />
Anspruch, einem von uns den Lebensweg vorzudefinieren.<br />
So mache ich es auch bei meinen Kindern, aber<br />
auch mit Mitarbeitern: Ratschläge von oben halte ich<br />
für schwierig. Jeder muss seinen eigenen Weg gehen,<br />
seine eigenen Stärken finden und Spaß dabei haben. n<br />
manfred.engeser@wiwo.de<br />
22 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />
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