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Wirtschaftswoche Ausgabe vom 03.11.2014 (Vorschau)

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45<br />

3.11.2014|Deutschland €5,00<br />

4 5<br />

4 1 98065 805008<br />

Gefährliches Vertrauen<br />

Die Pillenmafia schleust gefälschte Medikamente<br />

in den Markt. Jetzt auch in Ihrer Apotheke?<br />

Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-<br />

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Einblick<br />

Ein Hauch von Separatismus durchweht die EU. Der<br />

Wunsch nach neuen Grenzen und mehr Autonomie<br />

zeigt: Europa fehlt die Idee. Von Miriam Meckel<br />

Ermüdungsbruch<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Eine Grenze löst sich selten auf:<br />

Am Sonntag, dem 9. November,<br />

wird das in Berlin geschehen. In<br />

abendlicher Dunkelheit sollen<br />

viele Tausend weiß leuchtende Ballons<br />

entlang des früheren Verlaufs der Mauer<br />

in den Himmel steigen. Ein schönes Bild<br />

und ein schönes Symbol zum 25. Jahrestag<br />

des Mauerfalls: Es wuchs zusammen,<br />

was zusammengehört.<br />

Berlin wird an diesem Abend eine Insel<br />

des seligen Entgrenzens in einem Europa<br />

der neuen Sollbruchstellen sein. Jedenfalls<br />

wenn es nach den Wünschen vieler Menschen<br />

in einzelnen europäischen Regionen<br />

geht. Sie wollen nicht mehr Integration,<br />

sondern neue Grenzen. Ebenfalls am 9.<br />

November findet in Katalonien eine Abstimmung<br />

über die Abgrenzung der Region<br />

von Spanien statt. Das spanische Verfassungsgericht<br />

hat das Referendum<br />

verboten. Wie immer es nun am Sonntag<br />

heißen wird, ein Wort lässt sich auswechseln,<br />

die Motive bleiben gleich. Die Katalanen<br />

werden an die Urnen gehen, um zu<br />

zeigen: Wir wollen unabhängig werden.<br />

In vielen EU-Staaten haben separatistische<br />

oder sezessionistische Bewegungen<br />

einen Riesenzulauf. Mit dem Baskenland<br />

bekundet in Spanien gleich eine zweite<br />

nördliche Region lautstark ihre Abspaltungswünsche.<br />

Das norditalienische Veneto<br />

sammelt fleißig Spenden, um die Selbstständigkeit<br />

schon einmal finanziell<br />

vorzubereiten. Vertreter eines unabhängigen<br />

Flandern sitzen seit einigen Wochen<br />

im belgischen Parlament. Die Probe aufs<br />

Exempel ist gemacht: Die Schotten haben<br />

sich im September gegen die Unabhängigkeit<br />

ausgesprochen. Danach brachten Busse<br />

die Unterstützertrupps frustrierter Katalanen,<br />

Südtiroler, Korsen, Bretonen und<br />

Finnland-Schweden wieder in ihre jeweils<br />

falsche Heimat zurück.<br />

Es ist kein Zufall, dass es die wirtschaftlich<br />

starken Regionen sind, die sich auf die<br />

eigenen Füße stellen wollen. Die Schotten<br />

sitzen auf großen Ölvorräten in der Nordsee.<br />

Nach einer Abspaltung von Großbritannien<br />

hätten sie die Milliardeneinnahmen<br />

aus dem Ölgeschäft endlich alleine<br />

verbuchen können. Katalonien trägt etwa<br />

20 Prozent zur Gesamtwirtschaftsleistung<br />

Spaniens bei. Von jedem Steuer-Euro, den<br />

die Region zahlt, bekommt sie 57 Cent zurück,<br />

der Rest geht in den Finanzausgleich<br />

für die ärmeren Regionen Spaniens. Ein Zustand,<br />

den viele Katalanen als „Steuerplünderung“<br />

bezeichnen. Sie wollen endlich<br />

auch fiskalpolitisch unabhängig werden.<br />

EU: GRENZEN DES WACHSTUMS<br />

Die Europa-Idee schwächelt. Sie löst keine<br />

Fantasie mehr aus, nicht an den Märkten<br />

und auch nicht bei den Menschen. Die Gegenbewegungen,<br />

die wir derzeit beobachten,<br />

setzen wieder auf den Dreiklang des<br />

Nationalstaats: Volkszugehörigkeit, geografische<br />

Abgrenzbarkeit, Selbstbestimmung.<br />

Grenzen werden immer dort besonders<br />

vehement neu gezogen, wo<br />

Entgrenzung das Leben unübersichtlich<br />

macht. Man wünscht sich die Welt kleiner,<br />

nicht größer.<br />

Es wächst zusammen, was zusammengehört.<br />

Das gilt für die deutsche Einheit,<br />

aber vielleicht nicht für Europa. Denn was<br />

nicht zusammengehört, wächst auch nicht<br />

zusammen, es sei denn, es gibt dafür überzeugende<br />

Gründe. Wachstum und Wohlstand<br />

sind die Treiber für Integration. So<br />

viel europäischer Realismus muss sein,<br />

auch wenn die Gründungsväter der Europäischen<br />

Gemeinschaft es gerne idealistischer<br />

gehabt hätten. Die Finanz- und Euro-<br />

Krise haben Europa die dämpfenden<br />

Fettpölsterchen von den dürren Knochen<br />

gefressen. Jetzt liegt das Skelett ziemlich<br />

blank und offenbart Ermüdungsbrüche.<br />

Man kann versuchen, die mit Beschwörungsformeln<br />

der europäischen Integration<br />

zu heilen. Oder man setzt auf stärkere<br />

Medizin: solide Staatsfinanzen, Investitionen<br />

in Wettbewerbsfähigkeit und transparente<br />

Sanktionsmechanismen.<br />

Im Internet kursiert eine Karte, die das<br />

Bild eines Patchwork-Europa zeigt:So sähe<br />

es aus, wenn alle separatistischen Bewegungen<br />

umgesetzt würden. Es ist eine Erinnerung<br />

an das düstere Mittelalter: als ob es<br />

Tausend Grenzen gäbe und hinter Tausend<br />

Grenzen keine Welt.<br />

n<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 3<br />

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Überblick<br />

VORGESTELLT<br />

Chefredakteurin Miriam Meckel<br />

präsentiert im Video diese <strong>Ausgabe</strong>.<br />

QR-Code bitte mit dem Smartphone scannen.<br />

Sie benötigen dafür eine App wie RedLaser.<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

6 Seitenblick Berliner Mauer-Blüten<br />

8 Mobilfunk: Mittelständler greifen an<br />

9 Uber: Fahrer subventioniert | Stasi-Akten:<br />

Kein Geld mehr für Aufarbeitung<br />

10 Interview: Payback-Chef Dominik<br />

Dommick will Apple Konkurrenz machen |<br />

Schwarzfahrer: Duisburg liegt vorn<br />

12 Amazon: Verdi drängt in Aufsichtsräte |<br />

Geldwäsche: Länder verschärfen den<br />

Kampf | Drei Fragen zum Streikrecht<br />

14 Beiersdorf:Wirbel um Asienchef | Finanzaufsicht:<br />

Geiz ist geil | SAP: Neues Logo ist<br />

noch geheim<br />

16 Chefsessel | Start-up MyBook<br />

18 Chefbüro Michael Groß, Olympiasieger<br />

und Chef der Beratung Groß & Cie.<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

20 Serie Mauerfall (I) Von Ost nach West, von<br />

West nach Ost: Porträts zweier Grenzgänger<br />

28 Interview: Christian Schmidt Der deutsche<br />

Agrarminister über die Zukunft der<br />

Biobauern – und den Nutzen von Algen<br />

30 Separatismus Droht in Europa eine neue<br />

Kleinstaaterei? | Schweiz: Die zunehmende<br />

Abschottung sorgt die Wirtschaft<br />

38 Essay Eine kleine Geschichte des<br />

Nationalismus<br />

39 USA Vor den Wahlen am 4. November buhlen<br />

die Parteien um die Gunst der Latinos<br />

41 Global Briefing | Berlin intern<br />

Der Volkswirt<br />

44 Kommentar | New Economics<br />

45 Konjunktur Deutschland Die IG Metall<br />

eröffnet die Tarifrunde 2015<br />

46 Weltwirtschaft Wie tief fällt der Ölpreis?<br />

47 Denkfabrik RWI-Vizepräsident Thomas<br />

Bauer kritisiert die Flut von ökonomischen<br />

Rankings<br />

Titel Im Visier der Pillen-Mafia<br />

Die<br />

Grenzgänger<br />

Serie Mauerfall (I) Auch<br />

25 Jahre nach dem Fall der<br />

Mauer sind Manager mit Ost-<br />

West-Biografie selten. Doch<br />

es gibt Ausnahmen wie den<br />

bayrischen Bauern Siegfried<br />

Hofreiter – er baute im Osten<br />

einen Agrarkonzern auf.<br />

Seite 20<br />

Gefälschte Medikamente tauchen nicht<br />

nur im Internet, sondern zunehmend<br />

auch in Apotheken auf. Organisierte<br />

Kriminelle erzielen damit höhere Gewinne<br />

als im Drogenhandel. Behörden<br />

und Politiker schlagen Alarm.<br />

Seite 48<br />

Auf Bewährung<br />

Adidas-Chef Herbert Hainer ist Deutschlands dienstältester Leiter<br />

eines Dax-Konzerns. Nun muss er das Unternehmen neu erfinden –<br />

andernfalls droht ein hartes Ende seiner Karriere Seite 70<br />

Unternehmen&Märkte<br />

48 Arzneimittelfälschungen Organisierte<br />

Kriminelle schleusen gestreckte und<br />

manipulierte Präparate in die Apotheken<br />

58 Osram Vorstandschef Wolfgang Dehen ist<br />

als Stratege und Führungskraft überfordert<br />

62 Goldman Sachs Ex-Manager der US-Bank<br />

besetzen immer mehr Schlüsselpositionen<br />

64 Banken Die EZB will auch nach dem Stresstest<br />

strenger prüfen als nationale Aufseher<br />

68 Internet Pro und Contra: Sollte es bald ein<br />

Zwei-Klassen-Internet geben?<br />

TITELILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

4 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Nr. 45, 3.11.2014<br />

70 Adidas Konzernchef Herbert Hainer hat bei<br />

seinen Wachstumsplänen die Innovationen<br />

vernachlässigt<br />

Technik&Wissen<br />

74 Social Media Das Foto-Netzwerk Pinterest<br />

ist eines der wertvollsten Start-ups der Welt.<br />

Kann es Facebook den Rang ablaufen?<br />

79 Energie Wer mit Windstrom <strong>vom</strong> eigenen<br />

Dach Geld verdienen will, muss genaue<br />

Regeln beachten. Sonst wird es teuer<br />

81 Valley Talk<br />

FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CHRIS GLOAG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE; ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />

Abgeschirmt<br />

Welchen Lebensversicherern<br />

Anleger noch ihr Geld<br />

anvertrauen dürfen, zeigt<br />

das große Wirtschafts-<br />

Woche-Ranking. Wann<br />

es sich lohnt, Policen zu<br />

behalten, abzuschließen<br />

oder zu kündigen, erklären<br />

fünf Fallbeispiele<br />

von Kunden. Seite 92<br />

Das größte Schaufenster der Welt<br />

Whisky, Laufschuhe oder Tattoos – 800 Millionen Fotosammlungen<br />

machen das soziale Netzwerk Pinterest zum globalen Warenkatalog.<br />

Nur wie lässt sich damit Geld verdienen? Seite 74<br />

<strong>Ausgabe</strong> 2, November 2014<br />

Karriere<br />

Veni. Digi. Vici.<br />

Welche Digitaljobs gefragt sind, was Sie wissen<br />

müssen – und wie viel Sie verdienen können<br />

WiWo Karriere Mit<br />

digitalem Daumen<br />

Karriere digital: Was Bewerber wissen<br />

müssen | Plus: Was macht ein Big Data<br />

Scientist? 13 Digitaljobs mit Perspektive |<br />

Tipps für ein perfektes digitales Profil |<br />

Interview: Philips-Deutschland-Chefin<br />

Carla Kriwet (Start auf der Rückseite)<br />

Management&Erfolg<br />

82 Best of Consulting Das sind Deutschlands<br />

beste Unternehmensberater<br />

Geld&Börse<br />

92 Lebensversicherungen Kaufen, halten<br />

oder kündigen? Welche Police sich rechnet<br />

102 Wences Casares Wie der Sohn von Schafzüchtern<br />

zum Internet-Tycoon aufstieg und<br />

nun mit Bitcoin den großen Wurf wagt<br />

104 Steuern und Recht Kreditgebühren | Maklervertrag<br />

| Bonusmeilen | Schönheits-OPs<br />

106 Geldwoche Kommentar: Politik und Altersvorsorge<br />

| Trend der Woche: Gold | Dax-<br />

Aktien: Deutsche Bank, Commerzbank |<br />

Hitliste: Neuemissionen | Aktien: Travelers,<br />

Hasbro | Anleihe: Fiat | Zertifikat: Dax<br />

Reverse Bonus | Investmentfonds: UBS Key<br />

Selection Dynamic Alpha | Chartsignal:<br />

Kupfer | Relative Stärke: BHP Billiton<br />

Perspektiven&Debatte<br />

112 Ernährung Plädoyer für das Essen,<br />

das auf den Tisch kommt<br />

116 Kost-Bar<br />

Rubriken<br />

3 Einblick, 118 Leserforum,<br />

119 Firmenindex | Impressum, 120 Ausblick<br />

n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />

weltweit auf iPad oder iPhone:<br />

Diese Woche mit einem Video-<br />

Kommentar zum Ölpreis, einer<br />

Fotoreportage zum<br />

sportlichen Zweikampf<br />

zwischen Adidas und<br />

Nike sowie einem 360-<br />

Grad-Blick ins Chefbüro.<br />

wiwo.de/apps<br />

n Veganismus Ein Gespräch mit der<br />

Veganerin und Buchautorin Bettina<br />

Hennig über Milch zum Frühstück,<br />

Entschleunigung und Fleisch als<br />

Potenzprojektion. wiwo.de/vegan<br />

facebook.com/<br />

wirtschaftswoche<br />

twitter.com/<br />

wiwo<br />

plus.google.com/<br />

+wirtschaftswoche<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 5<br />

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Seitenblick<br />

25 JAHRE WENDE<br />

Mauer-Blüten<br />

Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner<br />

Mauer tobt das Leben auf dem einstigen<br />

Todesstreifen. Hier wird gegründet, geshoppt, gebaut,<br />

gelernt und gefeiert.<br />

2<br />

1<br />

FLOHMARKT IM MAUERPARK<br />

Rainer Perske<br />

Bernauer Straße 63/64<br />

Seit 2014<br />

Bis zu 40 000 Menschen strömen<br />

sonntags in den Mauerpark. Für<br />

Touristen ist der Markt längst ein<br />

Muss, so wie Alex oder Museumsinsel.<br />

Der neue Betreiber ist über<br />

zehn Jahre im Geschäft, „aber<br />

das ist mein größtes Ding“.<br />

MALL OF BERLIN<br />

Leipziger Platz 12<br />

Seit 2014<br />

Noch vor drei Jahren<br />

konnte man die Ödnis<br />

des geteilten Berlins<br />

keine fünf Minuten südlich<br />

<strong>vom</strong> Brandenburger<br />

Tor spüren. 800 Millionen<br />

Euro kostete es, die<br />

alte trostlose Brache<br />

durch neue Granittristesse<br />

zu ersetzen. Vom<br />

Kaufhaus Wertheim,<br />

das hier einst stand,<br />

künden nur historische<br />

Fotos an den Wänden.<br />

4<br />

4<br />

MEHR ZUM THEMA<br />

Die Porträts zweier<br />

unternehmerischer<br />

Grenzgänger lesen Sie<br />

ab Seite 20<br />

X-BERLIN<br />

Susanne Wiggert<br />

Sebastianstraße 14/15<br />

Seit 2012<br />

Für eine siebenstellige Summe<br />

hat die Entwicklerin das<br />

Grundstück erworben. Für<br />

eine Baugemeinschaft entstehen<br />

jetzt 27 Wohnungen.<br />

„Sein Haus auf der Mauer<br />

zu bauen – toll, oder?“<br />

5<br />

6 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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1<br />

JUGENDVERKEHRSSCHULE<br />

PANKOW<br />

Straße vor Schönholz 20<br />

Seit 1996<br />

Alles da, was man so braucht:<br />

Eine kleine Einbahnstraße,<br />

Kreisverkehr und Vorfahrtstraßen,<br />

Stoppschilder,<br />

Halteverbote, und auch die<br />

Ampeln an der Kreuzung<br />

leuchten alle einwandfrei.<br />

Früher wachten hier die DDR-<br />

Grenzer, jetzt nur noch<br />

freundliche Verkehrspolizisten<br />

über radelnde Schüler.<br />

3<br />

2<br />

3<br />

MERISIER<br />

Anna Bojic & Marc Lampe<br />

Brunnenstraße 141<br />

Seit 2013<br />

Ihre Sehnsucht nach stilvollen,<br />

edlen Geschenken<br />

konnte das Paar nirgendwo<br />

stillen im Netz. Also entwickelten<br />

die beiden mit<br />

ihrem Ersparten selbst,<br />

wonach sie immer gesucht<br />

hatten: Merisier ist ein Präsente-Service<br />

für gehobene<br />

Ansprüche. Ihr Konzept<br />

überzeugte auch in der<br />

Factory, dem Google-Gründercampus<br />

direkt an der<br />

Mauergedenkstätte. „Die<br />

Aura dieses Ortes“, sagt<br />

Lampe, „ist einmalig.“<br />

5<br />

6<br />

HENNE<br />

Angela Leistner<br />

Leuschnerdamm 25<br />

Seit 1986<br />

Das Interieur dieser Kneipe ist<br />

von 1908. Zwei Weltkriege, der<br />

Mauerbau fünf Meter entfernt,<br />

nur die Henne blieb wie immer.<br />

Obwohl, nicht ganz: So viel Englisch,<br />

sagt die Pächterin, habe<br />

sie im Laden früher nie gehört.<br />

6<br />

FOTOS: GOOGLE EARTH, ACTION PRESS/PHOTOWEB/REINER ZENSEN<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 7<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

Auf dem Sprung<br />

Liquid-Broadband-<br />

Chefin Rickert<br />

MOBILFUNK<br />

Angriff auf Telekom und Co.<br />

Deutsche Mittelständler wollen bei der<br />

Mobilfunkauktion im nächsten Jahr<br />

mitbieten. Die Idee: Die Bürger bauen<br />

ihr eigenes Mobilfunknetz.<br />

Durch die Fusion der beiden kleinen Netzbetreiber<br />

Telefónica und E-Plus hatte der deutsche Mobilfunkmarkt<br />

eigentlich seine endgültige Struktur gefunden:<br />

Die 116 Millionen im Umlauf befindlichen<br />

SIM-Karten stammen von drei Konzernen: Deutsche<br />

Telekom, Vodafone und Telefónica/E-Plus.<br />

Der Markt ist gesättigt, die besten Standorte für Mobilfunkmasten<br />

sind besetzt. Bisher galt es als unwahrscheinlich,<br />

dass ein Neuling den drei Großen<br />

den Kampf ansagt, wenn im kommenden Frühjahr<br />

Mobilfunkfrequenzen versteigert werden.<br />

Eine Reihe deutscher Mittelständler will jedoch<br />

mit einem Start-up beweisen, dass doch Platz für<br />

einen vierten, viel preiswerteren Mobilfunkbetreiber<br />

ist. Die Firma heißt Liquid Broadband und hat<br />

ihr erstes Büro in Frankfurt am Main eröffnet. Ihr<br />

Plan: „Wir bauen flächendeckend ein Volksnetz, an<br />

dem sich Bürger, Unternehmen und Kommunen<br />

direkt beteiligen können“, sagt Geschäftsführerin<br />

Beate Rickert. Möglich ist das durch ein neues<br />

Übertragungsverfahren. Liquid Broadband benötigt<br />

keine teuren Funkmasten auf Dächern. Die<br />

Technik passt in so handliche Boxen, dass sie sich –<br />

ähnlich wie WLAN-Router – auf Fensterbänken in<br />

Wohnungen oder Büros aufstellen lassen. Die Investition<br />

in den Netzausbau lässt sich damit auf unter<br />

eine Milliarde Euro drücken. Die Sendeleistung<br />

einer Box reicht aus, um ein Areal im Umkreis von<br />

bis zu 500 Metern zu versorgen. Ein Teil der Kunden<br />

wird so Mitbetreiber des Netzes und soll im Gegenzug<br />

kostenlos oder zum symbolischen Preis von<br />

fünf Euro mobil surfen und telefonieren können.<br />

Wer genau die Gründer von Liquid Broadband<br />

sind, will Geschäftsführerin Rickert noch nicht<br />

verraten. Nur so viel deutet sie an: „Hinter uns steht<br />

eine Gruppe mittelständischer Investoren.“ Mehr<br />

wissen auch das Bundeswirtschaftsministerium<br />

und die Bundesnetzagentur noch nicht. Dort<br />

kämpft die Ex-Cheflobbyistin von Kabel Deutschland<br />

für eine Änderung des Auktionsverfahrens.<br />

Nach den derzeit geltenden Regeln können die drei<br />

finanzkräftigen Mobilfunkkonzerne den Markteintritt<br />

von Liquid Broadband mit höheren Geboten<br />

verhindern. Rickert fordert deshalb, „einen Teil des<br />

Funkspektrums für einen Neueinsteiger zu reservieren“.<br />

Bisher ist das nicht geplant. Im Gegenteil:<br />

Die Bundesnetzagentur will die Mindestgebote für<br />

einen Block von zwei Mal fünf Megahertz in den<br />

Frequenzbändern 700 und 900 Megahertz von fünf<br />

auf 150 Millionen Euro anheben. Nach Ansicht von<br />

Rickert ist das ein Gesetzverstoß: Das Telekommunikationsgesetz<br />

schreibt bei Auktionen ausdrücklich<br />

vor, „die Belange kleinerer und mittlerer Unternehmen<br />

zu berücksichtigen“. juergen.berke@wiwo.de<br />

Riesen unter sich<br />

Wie sich der deutsche<br />

Mobilfunkmarkt aufteilt<br />

Kundenzahl und Marktanteil<br />

45,3<br />

Mio.<br />

(38,9%)<br />

Telefónica/<br />

E-Plus<br />

39,3<br />

Mio.<br />

(33,7%)<br />

Deutsche<br />

Telekom<br />

Stand: 30. Juni 2014;<br />

Quelle: Bundesnetzagentur<br />

31,9<br />

Mio.<br />

(27,4%)<br />

Vodafone<br />

8 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, BLOOMBERG NEWS/BRENT LEWIN, PR; JOCHEN MÜHLENBECK VG BILD-KUNST BONN 2014<br />

UBER<br />

Subventionen für Fahrer<br />

Der Taxikonkurrent Uber greift<br />

seinen deutschen Fahrern zurzeit<br />

finanziell massiv unter die<br />

Arme. Eigentlich erhält Uber eine<br />

Provision von 20 Prozent des<br />

Fahrerlohns, doch stattdessen<br />

zahlt das US-Unternehmen<br />

nach Informationen der WirtschaftsWoche<br />

bei den Fahrten<br />

drauf. So erhalten beispielsweise<br />

Wagenlenker in Düsseldorf<br />

von Uber pro Strecke zusätzlich<br />

um die acht Euro zum eigentlichen<br />

Fahrpreis. Der liegt nicht<br />

selten bei nur vier bis fünf Euro.<br />

So will Uber-Chef Travis<br />

Kalanick die UberPop-Fahrer<br />

bei der Stange halten, die per<br />

Smartphone-App gerufen werden<br />

und mit ihren Privatautos<br />

Fahrgäste durch Großstädte wie<br />

Berlin, Hamburg und München<br />

chauffieren. Denn dem Vernehmen<br />

nach läuft das Geschäft –<br />

etwa wegen anhaltender juristischer<br />

Auseinandersetzungen<br />

mit der Taxibranche – hierzulande<br />

nur mühsam an. Die Subvention<br />

soll im Laufe der Zeit<br />

reduziert werden. „Die nähern<br />

sich schrittweise dem eigentlichen<br />

Geschäftsmodell“, sagt ein<br />

Fahrer. Uber wollte sich auf Anfrage<br />

zu Vertragsdetails nicht<br />

äußern.<br />

Auch in den USA wird derzeit<br />

heftig gestritten, wie viel die<br />

Naturtrübe Aussichten<br />

Pro-Kopf-Verbrauch von Apfel- und<br />

Orangensaft in Deutschland<br />

2005<br />

12,5 l<br />

Apfelsaft<br />

2013*<br />

8,4 l<br />

2005<br />

9,5 l<br />

Mühsames Wachstum<br />

Uber-Gründer Kalanick<br />

Fahrer bei UberX (dem US-<br />

Pendant zu UberPop in Europa)<br />

wirklich verdienen. Uber behauptet,<br />

das mittlere Jahreseinkommen<br />

liege bei 90 000 Dollar.<br />

Viele Fahrer jedoch klagen, bei<br />

Vollzeitbeschäftigung nur zwischen<br />

10 000 und 41 000 Dollar<br />

zu schaffen. Bei einigen bleibe<br />

unter dem Strich deutlich weniger<br />

als der in den USA geltende<br />

gesetzliche Mindestlohn von<br />

7,25 Dollar pro Stunde übrig.<br />

Orangensaft<br />

2013*<br />

8,0 l<br />

thomas.stoelzel@wiwo.de<br />

* vorläufige Daten; Quelle: Verband der deutschen Fruchtsaftindustrie, 2014<br />

Aufgeschnappt<br />

Schreckensname In den USA<br />

tobt ein Machtkampf um das<br />

Bezahlen mit dem Smartphone.<br />

Große Händler wie Walmart und<br />

CVS boykottieren Apple-Pay, sie<br />

wollen lieber ein eigenes System<br />

aufbauen. Auch die Telekomriesen<br />

AT&T, T-Mobile und Verizon<br />

bieten eine gemeinsame Eigenlösung<br />

an: Softcard. Den Namen<br />

ihres 2010 gegründeten Joint<br />

Ventures mussten sie aber kürzlich<br />

ändern. Ursprünglich hieß<br />

der Bezahldienst Isis, so wie die<br />

Terrorgruppe in Nahost.<br />

Katzenkopfhörer Nachdem<br />

Apple die Kultkopfhörermarke<br />

Beats für drei Milliarden Dollar<br />

gekauft hatte, rätselten selbst<br />

Experten, was die Mannschaft<br />

um Designer-Ikone Johnny Ive<br />

mit der Marke plant. Die neueste<br />

Beats-Edition hätten die Fans<br />

des minimalistischen Apple-Designs<br />

aber sicher nicht erwartet:<br />

Kopfhörer im knallbunten Hello-<br />

Kitty-Look.<br />

STASI-AKTEN<br />

Kein Geld<br />

zum Puzzeln<br />

Pro-Kopf-Verbrauch an Fruchtsäften<br />

und Fruchtnektaren in ausgewählten<br />

Ländern (2013)<br />

33,0 l<br />

Das Projekt zur virtuellen Rekonstruktion<br />

zerrissener Stasi-<br />

Akten steht vor dem Aus. Der<br />

<strong>vom</strong> Fraunhofer-Institut für<br />

Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik<br />

(IPK) entwickelte<br />

„ePuzzler“ hat den Inhalt<br />

von 23 Säcken zusammengesetzt<br />

– insgesamt 700 000<br />

Schnipsel. Um die Papiere aller<br />

16 000 Säcke zu digitalisieren,<br />

bräuchten die Wissenschaftler<br />

nun einen leistungsfähigeren<br />

Scanner. Doch das bisher mit<br />

acht Millionen Euro aus Bundesmitteln<br />

finanzierte Projekt<br />

läuft zum Jahresende aus. Die<br />

zuständige Staatsministerin<br />

Monika Grütters fordert eine<br />

„grundsätzliche Entscheidung<br />

des Parlaments über die Fortführung<br />

des Projektes“. Für die<br />

nächsten drei Jahre benötigt<br />

Fraunhofer sechs Millionen Euro.<br />

„25 Jahre nach dem Mauerfall<br />

können wir die zerrissenen<br />

Stasi-Unterlagen nicht einfach<br />

wegschmeißen“, sagt CDU-Forschungspolitiker<br />

Philipp Lengsfeld.<br />

Am 13. November beraten<br />

die Abgeordneten ein letztes<br />

Mal den Bundesetat;da könnten<br />

sie noch beschließen, das<br />

Projekt fortzuführen.<br />

28,1 l<br />

24,6 l<br />

marc etzold | mdw@wiwo.de<br />

20,1 l 11,8 l<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 9<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

SCHWARZFAHRER<br />

Duisburg<br />

liegt vorn<br />

Deutschlands Schwarzfahrer-<br />

Hochburg ist Duisburg. Mehr<br />

als vier Prozent der kontrollierten<br />

Fahrgäste dort nutzten<br />

Busse und Bahnen 2013 ohne<br />

Ticket. Fast genauso hoch war<br />

die Schwarzfahrerquote in<br />

Bonn, Berlin und Bielefeld.<br />

Das ergab eine Umfrage der<br />

WirtschaftsWoche (siehe Grafik).<br />

Pro Jahr entgehen den<br />

Nahverkehrsbetrieben in<br />

Deutschland so Einnahmen in<br />

Höhe von 250 Millionen Euro,<br />

schätzt der Verband Deutscher<br />

Verkehrsunternehmen.<br />

Allein Duisburg musste<br />

2013 auf rund fünf Millionen<br />

Euro Umsatz verzichten. Seit<br />

Anfang des laufenden Jahres<br />

setzt die Stadt daher auf ein<br />

Konzept, das sich in den<br />

Nachbarstädten Mülheim und<br />

Essen bewährt hat: Der<br />

Schwarzfahrer spart das Bußgeld,<br />

wenn er noch im Fahrzeug<br />

ein Monatsticket kauft<br />

oder ein Abo abschließt.<br />

Die Verkehrsminister der<br />

Bundesländer wollen das „erhöhte<br />

Beförderungsentgelt“<br />

zudem von 40 auf 60 Euro<br />

anheben. Eine Initiative des<br />

Bundesrats läuft, angestoßen<br />

<strong>vom</strong> schleswig-holsteinischen<br />

Wirtschaftsminister<br />

Reinhard Meyer (SPD).<br />

Ohne Ticket<br />

Städte mit der höchsten Schwarzfahrerquote<br />

(in Prozent der<br />

kontrollierten Fahrgäste)*<br />

Duisburg<br />

Bonn<br />

Berlin<br />

Bielefeld<br />

Köln<br />

München<br />

Stuttgart<br />

Hamburg<br />

Bremen<br />

Dresden<br />

christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />

* unter den 20 größten Städten<br />

Deutschlands (Frankfurt: k.A.);<br />

Quelle: Nahverkehrsbetriebe<br />

4<br />

3,5–4<br />

3–4<br />

3–4<br />

3,3<br />

3<br />

3<br />

2,5–3<br />

2,5<br />

2,4<br />

INTERVIEW Dominik Dommick<br />

»Selbst Apple ist<br />

nicht stark genug«<br />

Der Payback-Chef will die Plastikkarte durch<br />

Smartphones ersetzen und Apple beim Bezahlen<br />

mit dem Handy Konkurrenz machen.<br />

Herr Dommick, die Frage nach<br />

der Payback-Karte an der Ladenkasse<br />

nervt. Gewinnen Sie<br />

so überhaupt noch Kunden?<br />

Weltweit sind wir unter anderem<br />

dank der Expansion nach<br />

Italien jetzt fast bei 75 Millionen<br />

Kunden, 2013 waren es 50 Millionen.<br />

In Deutschland haben<br />

wir über 24 Millionen aktive<br />

Nutzer, vier Millionen mehr als<br />

im Vorjahr. Natürlich nicht nur,<br />

weil an der Kasse nach der Karte<br />

gefragt wird, sondern da wir<br />

starke Partner dazugewonnen<br />

haben – wie dieses Jahr Rewe.<br />

Dafür haben Sie Obi oder<br />

Europcar verloren.<br />

Der Obi-Ausstieg war schon vor<br />

acht Jahren. Aber ja, natürlich<br />

hätten unsere Kunden und wir<br />

wieder gerne einen Baumarkt<br />

an Bord. Und mit Sixt statt Europcar<br />

fahren unsere Kunden<br />

auch nicht schlecht.<br />

Auch bei Amazon gibt es keine<br />

Payback-Punkte mehr.<br />

Amazon war nie offizieller Partner,<br />

sondern ein Affiliate-Partner<br />

im Online-Shop. Die Partnerschaft<br />

wurde übrigens nicht<br />

von Amazon beendet.<br />

Weil Amazon nicht für alle Produkte<br />

Punkte geben wollte?<br />

DER PUNKTEVERTEILER<br />

Dommick, 42, ist seit drei Jahren<br />

Geschäftsführer von Payback.<br />

Zuvor leitete er den Bezahldienst<br />

PayPal im deutschsprachigen<br />

Raum und war bei Beiersdorf für<br />

das digitale Marketing von Nivea<br />

verantwortlich.<br />

Zu den Details darf ich nichts<br />

sagen. Aber Sie bekommen weiterhin<br />

bei 600 anderen E-Commerce-Shops<br />

Punkte, wenn sie<br />

über Payback.de einkaufen.<br />

Darunter sind 80 der 100 größten<br />

Online-Händler, wie Ebay,<br />

Expedia oder Zalando.<br />

Welchen Anteil macht der<br />

Online-Handel bei Ihnen?<br />

Wir liegen im Digitalbereich<br />

über 30 Prozent. Auch im Online-Handel<br />

wird die Bindung<br />

von Bestandskunden wichtiger<br />

als die Gewinnung von Neukunden.<br />

Wann kann ich mein Smartphone<br />

statt der Karte zeigen?<br />

Wir selbst könnten es technisch<br />

sofort anbieten, aber die meisten<br />

Kassen der Partnerunternehmen<br />

können noch keine<br />

Smartphones scannen. Eines<br />

der großen Probleme ist die Suche<br />

nach einem gemeinsamen<br />

technischen Standard. Das wird<br />

sich jedoch sehr bald ändern.<br />

Weil Apple den mit seinem<br />

Bezahldienst setzt?<br />

Bislang gibt es viele Einzellösungen,<br />

aber keiner ist stark genug,<br />

sie zum Standard zu machen.<br />

Ich glaube, selbst der<br />

Marktanteil von Apple reicht<br />

dafür nicht. Wir werden daher<br />

auch in Zukunft zwei, drei oder<br />

vier Standards sehen.<br />

Und Sie docken überall an?<br />

Derzeit haben wir in Deutschland<br />

zugleich ein Technologieproblem<br />

und ein Mehrwertproblem.<br />

Mobile Payment schafft<br />

alleine nicht genug Mehrwert.<br />

Der Kunde hat erst etwas davon,<br />

wenn verschiedene Vorgänge<br />

digitalisiert werden: <strong>vom</strong><br />

Zeigen der Treuekarte bis zum<br />

Bezahlen. Ich denke, dass wir in<br />

der Lage sind, einen eigenen<br />

Payback-Standard zu schaffen.<br />

Denn wir können große Händler<br />

zusammenbringen und<br />

mehrere Nutzerschritte zusammenfassen.<br />

Wann kommt so eine Lösung?<br />

Das ist schwer zu prognostizieren,<br />

da wir uns im Verbund mit<br />

unseren Partnern abstimmen.<br />

Aber wir sind in der Testphase.<br />

Sind Sie schnell genug?<br />

In der Branche ist es das heißeste<br />

Thema, aber in der Realität<br />

noch klein. Ich glaube auch<br />

nicht, dass Mobile Payment in<br />

ein, zwei Jahren explodiert.<br />

Sind nach Polen, Mexiko und<br />

Indien weitere Märkte geplant?<br />

Ja, wir wollen in weiteren Ländern<br />

starten. Es gibt konkrete<br />

Gespräche, aber noch nichts<br />

anzukündigen. Optimal ist es,<br />

mit jeweils fünf marktführenden<br />

Unternehmen zu launchen,<br />

daher kann man schwer<br />

sagen, wann es so weit ist.<br />

Jährlich werden für Bezahlvorgänge<br />

von 15 Milliarden Euro<br />

Payback-Punkte vergeben. Wie<br />

viel bleibt bei Ihnen hängen?<br />

Wir erhalten eine fixe Gebühr<br />

und variable Beteiligungen für<br />

Marketingaktionen. Insgesamt<br />

liegt die Summe im niedrigen<br />

Hundert-Millionen-Bereich.<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

FOTO: THOMAS DASHUBER<br />

10 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

AMAZON<br />

Verdi drängt in Aufsichtsräte<br />

Im Tarifstreit mit Amazon erhöht<br />

die Gewerkschaft Verdi<br />

den Druck auf das Management<br />

des Netzgiganten um Deutschland-Chef<br />

Ralf Kleber. Neben<br />

Streiks im Weihnachtsgeschäft<br />

drängt die Gewerkschaft auch<br />

in die Aufsichtsräte von Ama-<br />

GELDWÄSCHE<br />

Späte<br />

Aufholjagd<br />

Die Bundesländer haben den<br />

Kampf gegen die Geldwäsche<br />

erheblich verstärkt. Gab es 2011<br />

kein einziges Bußgeldverfahren<br />

wegen Verstößen gegen das<br />

Geldwäschegesetz und 2012 gerade<br />

einmal 24, so wurden 2013<br />

bereits 244 Verfahren eingeleitet.<br />

Am Ende wurden in 137 Fällen<br />

tatsächlich Bußgelder verhängt.<br />

Im ersten Quartal dieses<br />

Jahres gab es 23 Verfahren, sieben<br />

endeten mit einem Bußgeld.<br />

Das ergibt sich aus einer<br />

Auflistung des Bundesfinanzministeriums<br />

für den Finanzausschuss<br />

des Bundestages, die<br />

der WirtschaftsWoche vorliegt.<br />

Stark ausgeweitet wurden in<br />

diesem Jahr vor allem die Vor-<br />

Neuer Ärger<br />

Amazon-<br />

Deutschland-Chef<br />

Kleber<br />

Ort-Kontrollen bei Autohändlern,<br />

Versicherungsvermittlern<br />

und Juwelieren (siehe Tabelle).<br />

Der Eifer der Bundesländer<br />

ist unterschiedlich. Rheinland-<br />

Pfalz kontrolliert relativ am<br />

häufigsten, auch Baden-Württemberg<br />

spürt intensiv nach.<br />

Bayern und Sachsen, zunächst<br />

untätig, haben seit 2013 aufge-<br />

Autohändler im Visier<br />

Geldwäsche-Kontrollen nach Branchen<br />

Branche<br />

Finanzunternehmen<br />

Versicherungsvermittler<br />

Immobilienmakler<br />

Spielbanken<br />

Kfz-Händler<br />

Immobilienhändler<br />

Juweliere (inkl. Goldoder<br />

Edelsteinhändler)<br />

Quelle: Bundesfinanzministerium<br />

2011<br />

0<br />

20<br />

230<br />

2<br />

63<br />

0<br />

2<br />

zon-Tochterunternehmen.<br />

„Ziel ist es, künftig auch über<br />

die Gremien gegen die Tarif-<br />

Blockade des Konzerns vorzugehen“,<br />

kündigt Stefan Najda<br />

an, der bei Verdi für den Online-<br />

Handel zuständig ist. So hat<br />

Verdi in den vergangenen Wochen<br />

an den Amazon-Standorten<br />

Leipzig, Graben, Koblenz<br />

und Rheinberg sogenannte Statusverfahren<br />

eingeleitet. Dabei<br />

wird gerichtlich überprüft, ob<br />

die jeweiligen Amazon-Tochterunternehmen<br />

mehr als 2000<br />

Mitarbeiter beschäftigen und<br />

entsprechend Aufsichtsräte<br />

bilden müssen, bei denen die<br />

Beschäftigten die Hälfte der<br />

Mitglieder stellen.<br />

Vorbild der Aktion ist das<br />

Amazon-Lager in Bad Hersfeld.<br />

Dort wurden Ende August zwei<br />

Verdi-Vertreter in den Aufsichtsrat<br />

gewählt. Zuvor war das<br />

Kontrollgremium über ein Statusverfahren<br />

erweitert worden.<br />

„Bad Hersfeld war der Anfang“,<br />

sagt Verdi-Vertreter Najda. Nun<br />

seien die vier anderen Standorte<br />

dran. Amazon sieht die Voraussetzungen<br />

für paritätisch<br />

besetzte Aufsichtsräte dagegen<br />

nicht erfüllt. Das Unternehmen<br />

werde an den vier Standorten<br />

„dauerhaft weniger als 2000<br />

Mitarbeiter“ beschäftigen, sagt<br />

eine Sprecherin.<br />

henryk.hielscher@wiwo.de<br />

holt. Hamburg und Nordrhein-<br />

Westfalen wollten nicht einmal<br />

mitteilen, wie die Arbeit läuft.<br />

Der Fahndungsdruck wird<br />

steigen: Das Parlament will in<br />

der Abgabenordnung den Finanzämtern<br />

erlauben, bei Verdacht<br />

von sich aus die Aufsichtsbehörden<br />

zu informieren.<br />

2012<br />

100<br />

813<br />

828<br />

21<br />

776<br />

135<br />

206<br />

henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />

Anzahl<br />

2013<br />

145<br />

673<br />

3152<br />

7<br />

1318<br />

246<br />

289<br />

1. Vj. 2014<br />

62<br />

347<br />

196<br />

0<br />

453<br />

21<br />

164<br />

DREI FRAGEN...<br />

...zum Streikrecht<br />

Gregor<br />

Thüsing<br />

43, Professor<br />

für Arbeitsrecht<br />

an der Universität<br />

Bonn<br />

n Arbeitsministerin Andrea<br />

Nahles hat am vergangenen<br />

Dienstag ihren Gesetzentwurf<br />

zur Tarifeinheit vorgelegt.<br />

Ein gelungenes Werk?<br />

Nein. Das Kernproblem sind<br />

nicht die Tarifverträge konkurrierender<br />

Gewerkschaften,<br />

sondern die ausufernden<br />

Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge,<br />

etwa im Verkehrssektor.<br />

Ich hätte mir eine<br />

Neujustierung des Streikrechts<br />

gewünscht.<br />

n Mit welchem Inhalt?<br />

Streiks sollten mehrere Tage<br />

vorher angekündigt werden<br />

und erst nach dem Versuch<br />

einer Schlichtung erfolgen.<br />

Zudem kann man erwägen,<br />

dass ein Arbeitskampf erst<br />

nach einer Urabstimmung<br />

erlaubt ist. Derzeit ist diese<br />

nur eine moralische Unterfütterung<br />

ohne arbeitsrechtliche<br />

Relevanz. Selbst wenn<br />

nur zehn Prozent der Mitglieder<br />

dafür sind, darf eine<br />

Gewerkschaft streiken.<br />

n Die Spartengewerkschaften<br />

wollen nun vor das Bundesverfassungsgericht<br />

ziehen.<br />

Wie sind ihre Chancen?<br />

Der direkte Weg nach Karlsruhe<br />

ist nur in Ausnahmefällen<br />

möglich – wenn der Instanzenweg<br />

für den Kläger nach<br />

Ansicht der Verfassungsrichter<br />

unzumutbar ist. Ansonsten<br />

gilt: Die Gewerkschaften müssen<br />

sich durch alle Instanzen<br />

kämpfen. Faktisch könnte es<br />

so laufen, dass eine Gewerkschaft<br />

für einen Tarifvertrag<br />

streikt, der nach dem neuen<br />

Gesetz nicht gilt – und sie der<br />

Arbeitgeber dafür verklagt.<br />

bert.losse@wiwo.de<br />

FOTOS: IMAGO/PLUSPHOTO, EICKE LENZ<br />

12 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

BEIERSDORF<br />

Vom Coup<br />

zum Flop<br />

Als Rauswerfer berüchtigt<br />

Beiersdorf-Chef Heidenreich<br />

Der personelle Kahlschlag von<br />

Beiersdorf-Chef Stefan<br />

Heidenreich fordert ein neues<br />

Opfer: Patrick Kaminski, bisher<br />

Corporate Senior Vice President<br />

Fernost und verantwortlich<br />

für das Geschäft in China,<br />

Thailand, Vietnam, Indonesien<br />

und Australien. Der Hamburger<br />

Nivea-Hersteller behauptet<br />

zwar, Kaminski sei noch bei Beiersdorf<br />

tätig und verantworte<br />

Projekte in Asien. Insider berichten<br />

aber, Kaminski sei freigestellt,<br />

bis seine Kündigungsfrist<br />

abgelaufen sei.<br />

Der als eigenwillig und ruppig<br />

geltende Heidenreich hat<br />

seit seinem Amtsantritt vor zwei<br />

Jahren fast den gesamten Vorstand<br />

und einen Großteil der<br />

zweiten Führungsebene gefeuert.<br />

Mit Kaminski trifft es jetzt<br />

seine eigene Akquisition: 2012<br />

hatte Heidenreich ihn von Henkel<br />

abgeworben. Die Branche<br />

wertete die Aktion als Coup und<br />

feindlichen Akt gegenüber<br />

Henkel-Chef Kasper Rorsted.<br />

Denn Kaminski war ein Eigengewächs<br />

des Düsseldorfer Konzerns.<br />

Zuletzt arbeitete der Manager<br />

für das Unternehmen in<br />

China. Heidenreichs Anwälte<br />

hatten dann mithilfe des chinesischen<br />

Rechts Kündigungsfrist<br />

und Wettbewerbsverbot ausgehebelt.<br />

mario.brueck@wiwo.de<br />

04.11. US-Wahlen Die Amerikaner wählen<br />

am Dienstag die 435 Abgeordneten<br />

des Repräsentantenhauses<br />

und 36 der 100 Mitglieder des Senats.<br />

Die Republikaner dürften<br />

ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus<br />

halten und im<br />

Senat die Mehrheit der Sitze gewinnen.<br />

Harte Zeiten für den demokratischen<br />

Präsidenten Barack<br />

Obama. Zudem stimmen die Bürger<br />

über die Parlamente in 48 der<br />

50 Bundesstaaten ab und<br />

über 36 Gouverneursposten.<br />

Arbeitgebertag Zum Jahrestreffen der Bundesvereinigung<br />

der Deutschen Arbeitgeberverbände<br />

(BDA) in Berlin kommen Bundeskanzlerin und<br />

CDU-Chefin Angela Merkel, Bundeswirtschaftsminister<br />

und SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel sowie<br />

CSU-Chef Horst Seehofer.<br />

06.11. Geldpolitik Der Rat der Europäischen Zentralbank<br />

berät am Donnerstag in Frankfurt die weitere<br />

Geldpolitik. Gleichzeitig treffen sich in Brüssel die<br />

Finanzminister der Euro-Länder.<br />

Steuer Der Arbeitskreis Steuerschätzung, ein Beirat<br />

beim Bundesfinanzministerium, prognostiziert,<br />

wie sich die Steuereinnahmen in den nächsten<br />

Jahren entwickeln.<br />

07.11. Export Das Statistische Bundesamt berichtet am<br />

Freitag über die deutschen Ausfuhren im September.<br />

Im August waren sie gegenüber dem Vormonat<br />

um 5,8 Prozent gesunken.<br />

Ärzte Die Hauptversammlung des Marburger<br />

Bundes steht unter dem Motto: „Freiheit statt<br />

Tarifdiktatur“. Die Gewerkschaft der angestellten<br />

und beamteten Mediziner lehnt das geplante<br />

Gesetz zur Tarifeinheit ab.<br />

SAP<br />

Neues Logo<br />

geheim<br />

Logos sollen leuchten, für ein<br />

Unternehmen werben. Doch<br />

davon will SAP-Chef Bill<br />

McDermott derzeit nichts<br />

wissen. Leise führt er das neue<br />

Logo des Walldorfer Softwarekonzerns<br />

ein. Statt im vertrauten<br />

Blau schimmert die Marke<br />

nun in Orange, zudem bekam<br />

das Zeichen eine andere Form.<br />

TOP-TERMINE VOM 03.11. BIS 09.11.<br />

Der Schritt ist schon deshalb<br />

bemerkenswert, weil SAP erst<br />

2011 ein neues Logo vorgestellt<br />

hatte und dieses gerade flächendeckend<br />

gegen den Vorgänger<br />

ausgetauscht hat.<br />

Äußern möchte sich SAP jetzt<br />

nicht zum neuesten Logo. Zu<br />

sehen ist es aktuell nur auf der<br />

Web-Site des Unternehmens.<br />

SAP hat es<br />

mit der Unterstützung<br />

der Branding-<br />

Agentur Siegel+Gale<br />

entworfen. Es soll in<br />

seiner Schlichtheit<br />

FINANZAUFSICHT<br />

Knapsen bei<br />

der Kontrolle<br />

Zwar hat die EU beschlossen,<br />

die Finanzmärkte künftig stärker<br />

zu kontrollieren. Aber die<br />

finanzielle Ausstattung der Aufsichtsbehörden<br />

scheint etwas<br />

zu üppig ausgefallen zu sein.<br />

Denn nun wollen EU-Kommission<br />

und Bundesregierung die<br />

Budgets für die drei beteiligten<br />

Institutionen beschneiden; betroffen<br />

sind die Europäische<br />

Bankenaufsicht (EBA), die<br />

Wertpapier- und Marktaufsicht<br />

(ESMA) und die Versicherungsaufsicht<br />

(EIOPA). Das geht aus<br />

einem Schreiben hervor, das<br />

Finanzstaatssekretär Michael<br />

Meister an den Bundestag geschickt<br />

hat.<br />

Darin weist er auf einen rasanten<br />

Anstieg der Etatmittel<br />

hin. Allein von 2011 bis 2014<br />

hätten sie sich mehr als verdoppelt<br />

und lägen in diesem Jahr<br />

bei 88,4 Millionen Euro. Darüber<br />

hinaus trage Deutschland<br />

noch einen Teil der Personalkosten.<br />

Nach Ansicht des Bundesfinanzministeriums<br />

und der EU-<br />

Kommission lässt sich bei den<br />

Institutionen der Finanzaufsicht<br />

Geld einsparen, ohne dass<br />

dadurch die Kontrollen beeinträchtigt<br />

werden.<br />

christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />

das Firmenmotto „Run Simple“<br />

unterstreichen, das McDermott<br />

Mitte des Jahres ausgerufen<br />

hat, als er dem Softwareriesen<br />

einen Umbau hin zum Cloud-<br />

Geschäft verordnete.<br />

SAP-Mitgründer und -Aufsichtsratschef<br />

Hasso Plattner<br />

war zwar vorab über den Wandel<br />

des Logos informiert<br />

worden, will<br />

aber nichts zu den<br />

Gründen und den<br />

Kosten der Aktion<br />

sagen.<br />

michael.kroker@wiwo.de<br />

FOTOS: DDP IMAGES/DAVID HECKER, REUTERS/JIM BOURG<br />

14 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

CHEFSESSEL<br />

START-UP<br />

NÜRBURGRING<br />

Robertino Wild schien<br />

aus dem Spiel zu sein, als bekannt<br />

wurde, dass der russische<br />

Milliardär Viktor Charitonin<br />

den Nürburgring kauft.<br />

Denn die Rennstrecke wollte<br />

zuvor Wild erwerben, konnte<br />

aber nicht rechtzeitig das geforderte<br />

Geld auftreiben. Tatsächlich<br />

aber ist der scheinbare<br />

Verlierer der heimliche<br />

Gewinner: Charitonin hat<br />

Wild zum stellvertretenden<br />

Aufsichtsratschef seiner NR<br />

Holding gekürt. Dies fädelte<br />

angeblich der Oligarch Roman<br />

Abramowitsch ein, eine<br />

Urlaubsbekanntschaft von<br />

Wild aus Österreich. Abramowitsch<br />

vermittelte den<br />

Kontakt zu Charitonin und<br />

stellte ein Konsortium zusammen,<br />

das das Geld für<br />

den Ring auf den Tisch legte.<br />

Abramowitsch soll sich dem<br />

Vernehmen nach finanziell<br />

beteiligt haben.<br />

SANOFI<br />

Chris Viehbacher, 54, Chef<br />

des französischen Pharmakonzerns,<br />

ist <strong>vom</strong> Verwaltungsrat<br />

gefeuert worden. Vorübergehend<br />

leitet Verwaltungsratschef<br />

Serge Weinberg, 63, Sanofi. Einen<br />

Grund für den Rauswurf<br />

nannte das Gremium nicht.<br />

Viehbacher und Weinberg sollen<br />

aber nie ziemlich beste<br />

Freunde gewesen sein. So kam<br />

intern nicht gut an, dass der<br />

Deutsch-Kanadier Viehbacher<br />

den französischen Konzern von<br />

Boston in den USA aus leiten<br />

wollte. Zudem wurden ihm Managementfehler<br />

vorgeworfen.<br />

KEMPINSKI<br />

Reto Wittwer, 65, seit 1995<br />

Präsident und Vorstandschef<br />

der Hotelbetreibergesellschaft,<br />

geht in den Ruhestand; sein<br />

Nachfolger ist der Spanier Alejandro<br />

Bernabé, der bisher das<br />

Asien-Geschäft von Kempinski<br />

führte. Bei seinem Amtsantritt<br />

verordnete Wittwer der damals<br />

defizitären Luxushotelkette, die<br />

mehrheitlich im Besitz des thailändischen<br />

Crown Property Bureaus<br />

ist, einen strikten Sanierungskurs,<br />

die Zahl der Hotels<br />

stieg von 21 auf heute 73, weitere<br />

35 Häuser kommen in den<br />

nächsten Jahren dazu. Wittwer-<br />

Nachfolger Bernabé studierte in<br />

der Schweiz, in den USA und in<br />

Frankreich und hat sein gesamtes<br />

Berufsleben bei Kempinski<br />

verbracht.<br />

WETTERBERICHT<br />

123 Millionen Euro<br />

kostet der Computer, den der britische Wetterdienst MetOffice<br />

bestellt hat. Die Supermaschine soll Ende 2015 starten, erhält<br />

einen Arbeitsspeicher von zwei Millionen Gigabyte und kann<br />

16 000 Billionen Berechnungen pro Sekunde ausführen. Dann<br />

sind auch Prognosen speziell für einzelne Stadtviertel möglich.<br />

MYBOOK<br />

Buchtipps ohne Algorithmus<br />

Im Internet stöbert Antonia Besse bislang ungern nach Büchern.<br />

„Bei Amazon kriege ich nur empfohlen, was andere Nutzer<br />

gut finden, und nicht, was mir gefällt“, sagt sie. Darum startete sie<br />

im Oktober ihr Unternehmen MyBook. Es empfiehlt ebenfalls<br />

Bücher – allerdings ohne Algorithmus.<br />

Wer den Service nutzt, muss zuerst zehn Fragen beantworten;<br />

neben den Lieblingsautoren und Genres will MyBook wissen, ob<br />

man lieber in der Natur, im Bett oder in der Badewanne liest. Soll<br />

das nächste Buch verblüffend, anspruchsvoll oder erschreckend<br />

sein? Nach rund ein bis drei Stunden verschickt MyBook online<br />

die Tipps. Sie stammen von derzeit 20 Experten, darunter frühere<br />

Buchhändler, Bibliothekare und Blogger. Dorothee Werner <strong>vom</strong><br />

Börsenverein des Deutschen Buchhandels findet die Idee clever:<br />

„Die Deutschen mögen Big Data bei Buchempfehlungen immer<br />

weniger.“ Der Umsatz im stationären Buchhandel sei 2013 um 0,9<br />

Prozent gestiegen, im Internet dagegen um 0,5 Prozent gesunken.<br />

Besse hat zuvor drei Jahre lang die Marketingabteilung der<br />

Ullstein-Verlage geleitet, die sich mehrheitlich an MyBook beteiligt<br />

haben. Innerhalb von<br />

Fakten zum Start<br />

Team derzeit 6 Mitarbeiter<br />

Finanzierung von Ullstein Buchverlage,<br />

Bonnier Media Deutschland<br />

und Etventure<br />

Kunden bisher über 2000 Nutzer<br />

mit 3000 versandten Büchern<br />

drei Jahren will die Gründerin<br />

nun knapp 150 000<br />

Kunden gewinnen. Derzeit<br />

sind 95 Prozent der<br />

Nutzer der Frauen.<br />

„Künftig wollen wir verstärkt<br />

auch Männer ansprechen.“<br />

marc etzold, mdw@wiwo.de<br />

FOTOS: ROBERT POORTEN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR, FOTOLIA<br />

16 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />

Michael Groß<br />

Olympiasieger und Chef der Beratung Groß & Cie.<br />

Ein Hauch von Exklusivität<br />

hat Michael Groß, 50, immer<br />

begleitet. Als der Ausnahmeschwimmer<br />

1991 seine Karriere<br />

beendete, hatte er drei olympische<br />

Goldmedaillen und fünf<br />

Weltmeisterschaften gewonnen<br />

sowie zwölf Weltrekorde<br />

aufgestellt. Das hat seither kein<br />

deutscher Schwimmer mehr<br />

geschafft. Heute hilft Groß Unternehmen<br />

auf dem Weg zum<br />

Erfolg. Gemeinsam mit seiner<br />

Frau Ilona Groß, einer Betriebswirtin<br />

und Managementtrainerin,<br />

führt der promovierte<br />

Philologe die Unternehmensberatung<br />

Groß & Cie. in Königstein<br />

bei Frankfurt. „Dort<br />

mache ich aber nur die Buchhaltung“,<br />

sagt Groß, „zu 90 Prozent<br />

bin ich draußen<br />

bei Kunden oder leite<br />

Seminare.“ Ein ansprechendes<br />

Ambiente<br />

sei manchmal<br />

hilfreich, „um Inhalte<br />

leichter transportieren<br />

zu können“,<br />

betont er. Deshalb<br />

360 Grad<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle ein interaktives<br />

360°-Bild<br />

wählt Groß für seine Seminare<br />

oft das Falkenstein Grand<br />

Kempinski Hotel in Königstein.<br />

Das luxuriöse Anwesen diente<br />

einst den Offizieren von Kaiser<br />

Wilhelm II. als Erholungsheim.<br />

Die historische Bibliothek dort<br />

nutzt Groß als Schulungsraum,<br />

um sein Kernthema Change<br />

Management zu vermitteln.<br />

Zwischen deckenhohen Mahagonischränken,<br />

Konferenztisch,<br />

Kamin<br />

und Sekretär skizziert<br />

er dann auf einem<br />

Flipchart, wie Unternehmer<br />

und Manager<br />

Neues wagen und<br />

konsequent Ziele verfolgen<br />

können. Drei<br />

Dinge braucht Groß dafür:<br />

McBook, iPhone und sein Notizbuch.<br />

Außerdem unterrichtet<br />

er an der Frankfurt School<br />

of Finance and Management<br />

Personalführung und Unternehmenskultur.<br />

Eigentlich<br />

wollte er Pilot werden. „Das ist<br />

bis heute meine Lebensvision“,<br />

sagt Groß. Gescheitert ist er<br />

an seiner Größe. „2,01 Meter<br />

waren acht Zentimeter zu viel,<br />

um die Ausbildung zu machen“,<br />

verrät er, „doch das ist<br />

Geschichte.“ So wie auch sein<br />

Spitzname „Albatros“ und der<br />

Anfeuerungsruf von Fernsehkommentator<br />

Jörg Wontorra:<br />

„Flieg, Albatros, flieg.“<br />

ulrich.groothuis@wiwo.de<br />

FOTO: DOMINIK PIETSCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

18 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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O ST<br />

WE ST<br />

Leben<br />

halb<br />

DIE NETZWERKERIN<br />

Kerstin Günther (geboren<br />

1967) verbrachte ihre Kindheit<br />

in Thüringen und studierte<br />

in Polen. Heute ist sie in Bonn<br />

Bereichsvorstand Technik<br />

für alle europäischen Tochtergesellschaften<br />

der Deutschen<br />

Telekom AG<br />

FOTO: DAVID KLAMMER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

20 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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WE ST<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

MAUERFALL | Auch ein Vierteljahrhundert nach der Wende sind erfolgreiche Manager mit<br />

Ost-West-Biografie selten. Von Bayern nach Brandenburg und von Thüringen nach Bonn:<br />

Porträts zweier Grenzgänger, die es geschafft haben.<br />

und<br />

halb<br />

FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

DER FELDHERR<br />

Siegfried Hofreiter (geboren<br />

1962) zog von Bayern erst in<br />

die USA und nach Frankreich.<br />

In den neuen Bundesländern<br />

schuf er den Agrarkonzern<br />

KTG, der seine Erzeugnisse<br />

direkt in den Tank und auf den<br />

Teller der Verbraucher bringt.<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 21<br />

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O ST<br />

WE ST<br />

An einem Sommertag des Jahres 1989 steht Kerstin<br />

Günther mit ihrem Bruder am Bahnhof in Budapest.<br />

Der Urlaub in Ungarn geht zu Ende. Vom Umbruch<br />

in der DDR hat die 22-Jährige bisher wenig mitbekommen,<br />

sie studiert Elektrotechnik im polnischen Breslau.<br />

„Die Leute haben uns gefragt, ob wir nicht in den falschen Zug<br />

einsteigen“, erinnert sich die heute 47-Jährige. Viele DDR-Bürger<br />

in der Stadt wollen in den Westen, sie fährt zurück in den Osten.<br />

„Die Frage habe ich erst gar nicht verstanden. Doch dann habe<br />

ich erkannt, dass sich Fundamentales tut.“<br />

Zum Jahresende gibt es kein<br />

DDR-Konsulat mehr in Breslau,<br />

bei dem sie sich zuvor regelmäßig<br />

melden musste. Zwischen Weihnachten<br />

und Silvester fährt sie mit<br />

ihren Eltern von Suhl über die<br />

grüne Grenze nach Bayern; in Coburg<br />

gibt es Begrüßungsgeld. „Es<br />

führte nur ein Feldweg bis zur<br />

Grenze. Dann war da eine Wiese,<br />

und auf der anderen Seite traf<br />

man auf eine Straße.“ Heute<br />

nimmt man die A 73.<br />

Im Sommer 1990, ein Jahr vor<br />

dem Studienabschluss, meldet<br />

sich die DDR noch einmal bei ihr.<br />

„Ich war vorgesehen als Dozentin<br />

an der Technischen Uni Ilmenau.“<br />

Doch rasch zerfallen der Plan und<br />

der Staat, in dem die bald diplomierte<br />

Elektroingenieurin aufgewachsen<br />

war.<br />

Für Kerstin Günther stellt der<br />

Mauerfall alles auf Anfang. Für<br />

den Neustart hat sie gute Voraussetzungen.<br />

Sie stellt sich schnell<br />

auf Ungewohntes ein. Hatte sie<br />

doch in Russland Außenwirtschaft<br />

studieren wollen und wurde<br />

zum Informatikstudium nach<br />

Warschau geschickt. Dort war<br />

kein Platz mehr, also fing sie in<br />

Breslau mit Elektrotechnik an.<br />

Am Balaton<br />

Günther beim Ausflug<br />

in Ungarn<br />

Nun begibt sich Günther auf einen langen Weg ins neue<br />

Deutschland.<br />

NEUES DEUTSCHLAND<br />

Heute arbeitet die erfolgreiche Exotin bei der Deutschen<br />

Telekom in Bonn, der früheren Hauptstadt der Westrepublik.<br />

Die Thüringerin ist Leiterin Technik und IT für alle Telekom-<br />

Tochtergesellschaften in Europa. Über ihr steht nur noch der<br />

sechsköpfige Konzernvorstand. Sie hat Verantwortung für 19 000<br />

Beschäftigte und soll das zurzeit anspruchsvollste Projekt des<br />

Konzerns zum Laufen bringen: ein einheitliches europäisches<br />

Telekom-Netz.<br />

Sie ist die einzige Frau im engeren Führungskreis der Telekom,<br />

die in der DDR aufwuchs (ihr fällt auch kein Mann ein). In der<br />

Generation um die 50, die ihr Leben halb und halb erst im<br />

getrennten und dann im vereinten Land zubrachte, scheint<br />

der Grenzgang nicht vorgesehen. Weder in der zweiten noch<br />

in der ersten Führungsriege großer Unternehmen. Unter rund<br />

180 Dax-Vorständen waren zuletzt nur vier Ostdeutsche – genauso<br />

viele wie Inder.<br />

DEN WARTBURG SELBST REPARIEREN<br />

Günther spürt stärker als ihre Umgebung, dass sie eine Ausnahme<br />

ist. Sie ist Zuwanderin aus einem fremden Land, auch wenn<br />

sie dieselbe Sprache spricht. Ihr hilft zunächst kein Netz beim<br />

Aufstieg. Kollegen haben es während des Studiums oder schon<br />

im Elternhaus gesponnen. Doch die groß gewachsene Ingenieurin<br />

verkörpert, warum sich Vielfalt für ein Unternehmen lohnt.<br />

Als gelernte DDR-Bürgerin sei sie sehr praktisch, zugewandt und<br />

schnörkellos, loben Mitarbeiter. „Ich bin eher wie ein Junge,“ sagt<br />

sie. „Ich kann Malern, Leitungen legen, all das.“ Wenn zu Hause<br />

der Wartburg kaputt gegangen<br />

sei, hätten sie ihn selbst repariert.<br />

„So bin ich aufgewachsen.“ Auch<br />

kennt sie Sprachen und Kulturen,<br />

bei denen andere nur Bratislava<br />

verstehen. Am Ende ist es naheliegend,<br />

dass gerade sie die oberste<br />

europäische Netzwerkerin der<br />

Telekom wurde.<br />

Ihr Team führt sie zupackend.<br />

Am Konferenztisch geht es an diesem<br />

Morgen um die Kunst, bisherige<br />

Telekom-Netze in Südosteuropa<br />

ohne Ausfälle und<br />

Kundenärger durch neue Infrastruktur<br />

zu ersetzen. Günther lässt<br />

berichten, tippt in ihr iPad.<br />

Manchmal gräbt sich eine steile<br />

Falte in die Stirn. Kurz pfeift sie einen<br />

jüngeren Mitarbeiter an, der<br />

verdeckt am Handy textet. Dann<br />

sitzt sie wieder aufmerksam da<br />

und knibbelt an ihren Fingern. Alle<br />

sprechen englisch, Witze zur Auflockerung<br />

sind erwünscht. Kerstin<br />

Günther lacht trocken. „Höhöhö“ –<br />

immer einen Ton treppauf.<br />

Günther startet mit 24 in dieses,<br />

1995 in Ungarn<br />

Günther verhandelt für<br />

die Telekom. Die Uhr trägt<br />

sie noch heute<br />

ihr zweites Leben. Das Studium<br />

ist vorbei, die DDR Geschichte.<br />

Aus der „Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung“ schneidet sie Annoncen<br />

aus. Sie schreibt an Siemens und<br />

die Detecon, eine Technologieberatung,<br />

die zur noch staatseigenen Deutschen Telekom gehört.<br />

Dort klappt es, sie suchen einen Ingenieur, der polnisch spricht.<br />

„Schön dumm“ sei sie gewesen, meint Günther. „Ich war viel zu<br />

billig, ich hatte ja keine Ahnung, was man verlangt.“ Zwei Monate<br />

lang lernt sie Westalltag. Der Vermieter bei Bonn fragt, ob es in<br />

der DDR Kaffee gab. Die Bank verweigert das Konto, ehe sie Arbeit<br />

und Wohnsitz nachweist.<br />

Doch der erste Job ist langweilig. „Da bot mir mein Chef an, ich<br />

solle morgen in die Ukraine fliegen.“ Russisch kann sie, in Kiew<br />

werden Mobilfunklizenzen versteigert. „Tatsächlich war gefragt,<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 24 »<br />

22 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Siegfried Hofreiter schiebt sich in den Edeka von Putlitz. Er<br />

sucht das, was er „meine liebsten anderthalb Meter“ nennt.<br />

Aufstriche, Müslis, Soßen, Backzutaten, das Biosortiment<br />

der Edeka-Märkte. Der Akazienhonig – in Kanada in die<br />

Flasche gegossen. Die Tomatensoße – der Bestseller. Er kennt alle<br />

Produkte der „Bio-Zentrale“. Weil es seine sind.<br />

Einst regierten hier die Gans Edlen Herren von Putlitz, märkischer<br />

Uradel mit dem Ort im Namen. Jetzt ist Hofreiter Herr in Putlitz.<br />

Sichtbar ist er nicht nur bei Edeka. Seine Leute beackern 7000 Hektar<br />

Land hier im Nordwesten Brandenburgs. So viel wie keiner sonst.<br />

Der 52-jährige Hofreiter ist Großbauer, sein Imperium reicht <strong>vom</strong><br />

Acker bis zum Tank und auf den Teller. Längst geht es ihm<br />

nicht mehr nur um Kartoffeln, Getreide, Mais und Soja. Er hat<br />

sich den Ökovermarkter „Bio-Zentrale“ und die Tiefkühlkost von<br />

„Frenzel“ einverleibt. Der Bayer in<br />

Preußen ist auch Energieerzeuger.<br />

In seinen Biogasanlagen gärt übers<br />

Jahr gerechnet Energie für 350 000<br />

Menschen.<br />

Der Bauernsohn aus Odelzhausen<br />

bei München kam 1993 im Osten<br />

an. Die Zukunft im Westen erschien<br />

ihm wenig golden. Den Hof<br />

hatte der ältere Bruder Josef geerbt,<br />

Siegfried brach mit dem jüngeren<br />

Bruder Werner in ein anderes Land<br />

auf. Heute bestimmt sein Konzern<br />

KTG Agrar SE, was dort wächst.<br />

Beim Aufstieg half ihm seine Herkunft,<br />

seine Erfahrung aus dem<br />

Westen, aber auch, dass er sich<br />

schnell in den Ostalltag hineinwühlte.<br />

Seine KTG bewirtschaftet im<br />

deutschen Osten heute an 18 Orten<br />

35 000 Hektar, zur Hälfte im Ökolandbau.<br />

In Litauen kommen 8000<br />

Hektar dazu. So viel hat in der EU<br />

keiner. Ein Ostlandwirt hat sonst im<br />

Schnitt 250 Hektar unterm Pflug,<br />

ein Bauer in Bayern 33. Auch bestellt<br />

Hofreiter mit Schlachthofbaron<br />

Clemens Tönnies Land in Russland<br />

und Rumänien – „ein Mann<br />

Junior und Senior<br />

Auf dem ostdeutschen<br />

aus meinem Schrot und Korn“.<br />

Acker mit Sohn Markus.<br />

Der 52-Jährige tickt anders als Der ist heute 16<br />

die Eingesessenen. Ostdeutsche im<br />

Westen versuchen eher, sich anzupassen,<br />

Hofreiter zeigt sich unverstellt. Er spricht bayrisch. Sein<br />

Wohnhaus, 100 Kilometer weiter in Oranienburg, wirkt wie aus den<br />

Voralpen gelandet – mit tiefgezogenem Dach und hölzernen Läden.<br />

Rechts der Spargelacker, links der Holzstadl mit Solarzellen. Das ist<br />

die Vergangenheit. „Heute kenne ich den Osten besser als Bayern.“<br />

Im Westen war Hofreiter der Zweitgeborene, der kaum gebraucht<br />

wird. Im Osten arbeitet er sich nach dem Mauerfall mit aller Macht<br />

zum Großbauern hoch. Seinen „Traum von großen Flächen“ kann<br />

er in den Neunzigerjahren verwirklichen. Das Ende der DDR erschüttert<br />

die Traditionen. Fort sind die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften<br />

(LPG), die die Geschicke bestimmen.<br />

bien. Heute ist er der Feldherr – kritisch beäugt von den Nachfolgern<br />

der adligen wie der sozialistischen Landwirte.<br />

Hofreiter vereint drei Eigenschaften, die ihn in der neuen Heimat<br />

erfolgreich wie umstritten machen. Er ist Bauer durch und durch –<br />

nicht nur beim Frühstück dreht sich alles um Landmaschinen,<br />

Fruchtfolge und Marktpreise. Doch wo andere erdverbunden und<br />

sesshaft blieben, zog er aus.<br />

Er ist auch Kaufmann mit Kalkül. Den Ökoanbau wählt er früh,<br />

weil er auf seinem Land nur wenig investieren kann. Heute<br />

schwimmt er auf der Biowelle, auch wenn naturnahe Bauern meckern,<br />

er halte nur das Minimum<br />

1997 in Brandenburg<br />

Hofreiter in seinem<br />

ersten Kellerbüro<br />

an Vorgaben ein.<br />

Und er ist nicht satt zu kriegen.<br />

Andere seien zu schnell zufrieden.<br />

„Das ist das Schlimmste, was uns in<br />

der Marktwirtschaft passieren<br />

kann.“ Er muss weiter: „Ich leide<br />

nicht Hunger, aber ich bin noch<br />

lange nicht satt.“<br />

Wenn es geht, klotzt der Unternehmer.<br />

30 Traktoren zu kaufen ist<br />

günstiger als nur 10. Stolpert er und<br />

fällt, steht er auf und schüttelt den<br />

Staub ab. So setzte er zum Beispiel<br />

in den Neunzigerjahren Investitionen<br />

in eine serbische Fahrradfabrik<br />

in den Sand. Der Betrieb wurde im<br />

Bürgerkrieg zerstört, Hofreiter laut<br />

KTG-Börsenprospekt der Konkursverschleppung<br />

und des Bankrotts<br />

schuldig gesprochen. Hofreiter heute:<br />

„Meine Erkenntnis war, ,Schuster,<br />

bleib bei deinem Leisten‘.“ In<br />

Rumänien war er zuerst erfolglos,<br />

mit Weizen und Mais. Heute baut<br />

er dort Sojabohnen an.<br />

DER BAUER<br />

Der junge Siegfried musste allerdings<br />

erst gen Westen, um im Osten<br />

zu landen. Während des Landwirtschaftsstudiums<br />

in den Achtzigerjahren<br />

jobbt er auf US-Farmen.<br />

„Die Unabhängigkeit und das Cowboyhafte haben mir gut gefallen.“<br />

Er scheute aber den großen Schritt. „Wir haben eine intakte Familie.<br />

Das war es mir nicht wert abzubrechen.“ Die Spielarten des<br />

Kapitalismus hat er aber in den USA gelernt und nutzt sie später im<br />

wilden Osten: „Am Ende geht’s ums Gewinnen.“ In der DDR, die gerade<br />

Teil eines anderen Staates wurde, gibt es nicht viele, die diesem<br />

Antrieb etwas entgegensetzen.<br />

Zunächst aber kaufen Siegfried und Werner 1988 in Frankreich,<br />

in der Nähe von Metz, zwei Nachbarhöfe. Land ist dort erschwinglich,<br />

der Alltag mühsam. „Die Franzosen waren nicht begeistert von<br />

Deutschen, die Fuß fassen wollten.“ Die Brüder kriegen kaum etwas<br />

aus Deutschland mit. „Die Wende haben wir in Frankreich verschlafen.“<br />

Die DDR hat er nie kennengelernt. Die Lehrjahre im Westen<br />

helfen aber später: „Wir traten nicht als Besserwessis auf.“ In<br />

Frankreich habe er Diplomatie gelernt.<br />

Noch früher walteten adlige Landjunker auf großen Gütern in Ostel- Lesen Sie weiter auf Seite 26 »<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 23<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

» Die Netzwerkerin<br />

Wodka zu trinken und den Deal zu bekommen.“ Neun Monate<br />

bleibt sie am Ende dort, ihr Team hat Erfolg. „Ich wusste, wie die<br />

Leute ticken.“ Das Gleiche soll sie dann in Ungarn schaffen. Sie<br />

schuftet ein Jahr lang in einem Team mit Engländern und Franzosen<br />

– für die Tonne. Im Sommer 1993 zieht sie enttäuscht ab<br />

nach London, um Englisch zu lernen. Das kann sie noch nicht.<br />

Im Dezember ist sie zurück in Budapest, sie bleibt insgesamt<br />

fast zehn Jahre. Die Telekom privatisiert die dortige Telefongesellschaft.<br />

Landeschef Elek Straub wird nicht nur ihr Chef, sondern<br />

auch ihr Mentor. Er lässt ihr Freiheit, berät sie. Sie ist selbstbewusst,<br />

schließlich haben Frauen in der DDR immer gearbeitet,<br />

auch in Führungspositionen. „Aber ich war nicht so aggressiv im<br />

Auftreten wie andere aus dem Westen.“<br />

Selbstbewusstsein und Selbstzweifel wechseln sich ab. Es helfen<br />

Ratgeber wie Straub und ihr späterer Mann, den sie in Ungarn kennenlernt.<br />

Mark von Lillienskiold ist 22 Jahre<br />

älter und „typischer Wessi“, wie sie sagt. Weltoffen<br />

aufgewachsen, Jurist, internationale<br />

Karriere, Telekom-Manager. Er ist ein Vorbild<br />

und hilft ihr bei Dingen, die für sie fremd<br />

sind: „Das fing bei der Kleiderordnung an.“<br />

Kurz bevor sie 30 wird, schaltet sie noch einen<br />

Gang rauf. Technisch ist sie fit, ihr fehlt<br />

kommerzielles Wissen. Also lernt sie nebenher<br />

fürs MBA-Studium. Die Urkunde der<br />

Weatherhead School of Management in Ohio<br />

hängt heute hinterm Schreibtisch in Bonn.<br />

Ihr Mann geht 2001 als Finanzvorstand<br />

zur slowakischen Telekom, auch eine Konzerntochter.<br />

Für sie ist es die Chance auf einen<br />

Vertrag bei der Deutschen Telekom,<br />

vorher war sie von der Detecon nur entliehen<br />

– zu bescheidenen Konditionen. Sie wird rechte Hand des<br />

Vorstandschefs in Bratislava. Nach zwei Jahren heißt es, es sei<br />

nicht gut, wenn sie zu nah bei ihrem Mann arbeite. „Ich habe nie<br />

für ihn gearbeitet, aber da musste ich mich umorientieren.“<br />

KEINE BEULEN MEHR<br />

In Deutschland, in der Zentrale, wartet 2003 niemand auf sie.<br />

Der Personalchef erbarmt sich. Ob sie alle Personalstellen im<br />

Unternehmen zu einem Servicecenter zusammenführen wolle?<br />

„Mir ist die Kinnlade runtergefallen, ich hatte gar keine Erfahrung<br />

in Personal- und Beamtenrecht.“ Bisher hatte der Sprung<br />

ins kalte Wasser aber immer geklappt. Und sie braucht einen Job.<br />

„2003 bin ich das erste Mal richtig in der Bundesrepublik angekommen“,<br />

erinnert sie sich. „Das war eine neue Welt.“ Freunde<br />

zweifeln, ob sie sich im geordneten Deutschland und in der noch<br />

beamtenlastigen Zentrale zurechtfindet. In Ungarn hatten Kollegen<br />

sie „hot-headed“ genannt, stürmisch und ungeduldig. Die<br />

Aufgaben in der Zentrale sind streng verteilt. Wieder berät ihr<br />

Mann. „Man braucht jemanden, der einen vor Torheiten schützt,<br />

einen bremst und ausgleichend wirkt“, sagt sie. Bald darf sie wieder<br />

raus, wird Leiterin der Telekom-Niederlassung in Frankfurt.<br />

Mittlerweile holt sie sich keine Beulen mehr. Vor zweieinhalb<br />

Jahren fragt die neue Frau im Telekom-Konzernvorstand, Claudia<br />

Nemat, ob sie die Technik- und IT-Sparte in Europa leiten<br />

will. „Mich hat ein Kollege aus Ungarn vorgeschlagen“ – Günthers<br />

Osteuropanetz funktioniert. Genauso wichtig im männer-<br />

Günther sammelt<br />

alte Telefone –<br />

schöne Modelle fand<br />

sie in Osteuropa<br />

geprägten Konzern ist, dass Nemat von außen kommt. „Sie war<br />

unvoreingenommen und hat Potenzial in mir gesehen.“<br />

Später am Tag bereitet sich Günther mit einem Netz-Spezialisten<br />

auf eine Konferenz vor, auf der sie die Telekom vertritt. „Ach<br />

du Scheiße“, rutscht ihr vergnügt auf Deutsch heraus, als sie hört,<br />

wie detailliert die Fragen des Veranstalters sind. Die Antworten<br />

hält sie aus Sicht des Publikums für nicht so spannend. Zur Sicherheit<br />

prägt sie sich doch alles ein.<br />

VERHANDELN MIT ORBÁN<br />

Ihr jetziger Job bietet ihr wieder die geschätzte Freiheit, aber erstmals<br />

auch öffentliche Aufmerksamkeit. Günther ist nicht nur für<br />

die Technik in zwölf vorrangig osteuropäischen Ländern verantwortlich.<br />

Sie sitzt im Aufsichtsrat der Telekom in Ungarn und der<br />

Slowakei. In Budapest heißt das als Chefin des Gremiums, die<br />

Beziehung zur Regierung Viktor Orbán zu verbessern. Ungarn sei<br />

extrem, findet Günther. In den Neunzigerjahren sei viel Aufbruch<br />

und Freiheit zu spüren gewesen. „Heute ist<br />

es umgekehrt.“<br />

Orbán hatte ausländischen Unternehmen<br />

zusätzliche Steuern auferlegt und sich mit<br />

nationalistischen Tönen abgegrenzt. Das<br />

traf auch die Telekom. „Es ist mein größter<br />

Erfolg, dass die Beziehungen wieder sehr<br />

stabil und gut sind“, sagt Günther. Als sie im<br />

Juni erneut in Budapest verhandelt, entlässt<br />

zeitgleich das größte ungarische Nachrichtenportal<br />

Origó.hu seinen Chefredakteur,<br />

der zuvor kritisch über einen Orbán-Berater<br />

berichten ließ. Pikant: Das Portal gehört zu<br />

Magyar Telekom, der Tochter der Deutschen<br />

Telekom. Demonstranten und Medien spekulieren,<br />

die Entlassung sei auf politischen<br />

Druck hin erfolgt. Das bestreitet Günther.<br />

„Wir haben verhandelt, aber zu keinem Zeitpunkt über Origó.“<br />

Das Thema ist Günther unangenehm. Damals wurde in Medien<br />

erstmals größer über sie berichtet – mit kritischem Ton. Die<br />

Pressefreiheit knebeln? „Mir geht so ein Vorwurf gegen den<br />

Strich, weil ich aus der DDR komme.“ Zu keinem Zeitpunkt habe<br />

sie sich verkehrt verhalten. „Aber es glaubt einem keiner, wenn<br />

man das sagt.“<br />

Als Nächstes soll sie die Technik in zwölf Tochtergesellschaften<br />

vereinheitlichen. „Das ist aus meiner Sicht das größte Projekt der<br />

Deutschen Telekom“, da ist sie ganz unbescheiden. Ein heikles<br />

dazu. „Jedes Land und jeder CEO ist wie ein Königreich. Und wir<br />

nehmen was weg.“ Sie könne durchaus Schiffbruch erleiden. Bis<br />

2020 soll das Netz eins sein. „Wenn ich das bis dahin geschafft<br />

habe, habe ich einen guten Marktwert.“ Sie lacht ihr trockenes<br />

„Höhöhö“.<br />

Dann erzählt sie <strong>vom</strong> Klassentreffen in Suhl. Sie weiß, wie unwahrscheinlich<br />

ihr Weg in die obere Führungsetage der Telekom<br />

war. Die Hälfte der Mitschüler aus ihrer Erweiterten Oberschule<br />

in der DDR war arbeitslos. Ihr eigenes Leben hätte im vereinten<br />

Land auch eine andere Wendung nehmen können, ist sie sicher.<br />

„Ich hatte ein Stellenangebot von einer kleinen Druckerei in<br />

Suhl.“ Nur weil sie schon im Ausland gewesen sei und sich dann<br />

bei einem Großunternehmen ausprobieren konnte, sei sie<br />

schrittweise gewachsen. „Wenn ich dort geblieben wäre, wäre<br />

ich Sekretärin. Oder versandet.“<br />

n<br />

cordula.tutt@wiwo.de | Bonn<br />

FOTO: DDP IMAGES/SHOTSHOP/MARC DIETRICH<br />

24 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

» Der Feldherr<br />

Im Spätsommer 1993 ruft ein befreundeter Viehhändler an. In<br />

Sachsen-Anhalt löse sich eine LPG auf. Damals sind die ersten<br />

Goldgräber auf der Suche nach Schätzen der Ex-DDR schon durch<br />

die Lande gezogen. Die Hofreiters übernehmen die 400 Hektar der<br />

LPG. In Frankreich ruht ihr Acker, die Europäische Gemeinschaft<br />

zahlt nun auch Subventionen für Brache.<br />

Hofreiter macht sich fortan bei Stendal die Hände schmutzig.<br />

„Wir haben geschuftet, sind mit den Leuten am Tisch gesessen,<br />

haben zusammen Wurst und Brot gegessen.“ Er bringt das Prinzip<br />

Familienbetrieb mit: „Der Traktorist, der keine Familie hat, feierte<br />

bei uns Weihnachten.“ Es ist seine ostdeutsche Lehrzeit.<br />

Entscheidend für die Lernkurve ist Beatrice Ams. Die Gärtnerin<br />

von der Müritz wird seine Lebenspartnerin – und Übersetzerin. Sie<br />

kann mit den Leuten. Umgekehrt erkennt sie, wie fremd man sich<br />

im nun vereinten Land fühlen kann. 1995 fährt sie mit aufs Oktoberfest<br />

nach München, später besucht sie Odelzhausen. „Ich habe<br />

niemanden in der Familie verstanden. Die sprachen richtig bayrisch<br />

und alle schnell.“<br />

Hofreiter pachtet und kauft, mal von Privatleuten, mal von der<br />

Treuhand-Anstalt, die ehemalige DDR-Betriebe privatisiert. Die<br />

Behörde bevorzugt Ostdeutsche und Jungbauern unter 30. Kein<br />

Problem für Hofreiter: Dann stehen eben Bruder Werner und noch<br />

öfter Beatrice Ams vorn als Bieter.<br />

Mit Ams und einigen Mitarbeitern zieht<br />

Hofreiter 1997 in ein Häuschen in Schönwalde<br />

bei Berlin – die neue Zentrale. Der Keller<br />

wird zum Büro. Oben leben die Brüder, Beatrice<br />

Ams und eine Handvoll Mitstreiter. Es ist<br />

nicht die einzige WG westdeutscher Männer<br />

in der Ex-DDR, wo es für Zugezogene mehr<br />

alte Häuser als moderne Wohnungen gibt.<br />

Auch der sächsische Ministerpräsident Kurt<br />

Biedenkopf startet so mit seiner Frau und<br />

seinem „Küchenkabinett“ in Dresden.<br />

„Gottlob hat Frau Ams mitgezogen, bei<br />

allem, was kam“, lobt er, der seine Lebensgefährtin<br />

vor anderen so nennt. Sohn Markus<br />

kommt zur Welt, erst zu seiner Einschulung<br />

2004 löst sich die WG auf.<br />

Beatrice Ams ist heute 43 Jahre alt, sie kümmert<br />

sich um den Spargel und die Beeren bei<br />

KTG. „Ich bin wohl die gute Seele im Haus“,<br />

sagt sie. Das trifft ihre Rolle nur unvollständig. Sie hält 43 Prozent<br />

der KTG-Anteile, ist damit Haupteignerin und Aufsichtsrätin.<br />

Hofreiter hat keine Aktien. Er sagt, hätte Ams ihm zum Börsengang<br />

Anteile abgegeben, wären zu hohe Steuern angefallen.<br />

DER KAUFMANN<br />

Zur Jahrtausendwende ist die Landwirtschaft so groß, dass er ein<br />

neues Unternehmen gründet. Es heißt KTG, ein Name<br />

muss rasch vor Jahresende her. K wie bei Sohn MarKus,<br />

T wie in BeaTrice und G in SieGfried. Spöttisch sagt<br />

Hofreiter: „Oder wie ‚Körner tun gut‘!“ Das schwierigste<br />

Jahr wird 2006, Weizen ist plötzlich billiger als der Kies<br />

für die Hofeinfahrt. Hofreiter will weg <strong>vom</strong> Weltmarkt. Er<br />

baut Biogasanlagen, die er mit eigenem Mais füttert.<br />

Wieder erkennt er schneller als andere: Für erneuerbare<br />

Energien gibt es satte Subventionen.<br />

Hofreiter verkauft<br />

Kartoffeln auch<br />

ohne Saison – dank<br />

Riesenlager<br />

Serie<br />

Mauerfall (I)<br />

Im nächsten Heft:<br />

Spurensuche –<br />

manche DDR-Staatsbetriebe<br />

sind heute<br />

blühende Unternehmen<br />

Er braucht mehr Land und Geld. „Kauft Ackerland, es wird keines<br />

mehr gemacht“, sagt er. Seinen eigenen Rat befolgt er konsequent.<br />

2007 geht Hofreiter als erster deutscher Landwirt an die Börse<br />

und wird KTG-Vorstandschef. Damals hat er erst 14 000 Hektar unterm<br />

Pflug, die meisten in Ostdeutschland, 2000 in Litauen.<br />

Die Landpreise steigen. In Ostdeutschland hat sich ein Hektar seit<br />

2009 von 10 000 Euro auf heute 25 000 Euro verteuert. Bedeutet doch<br />

mehr Wohlstand weltweit mehr Essen auf dem Teller; der Ökoboom<br />

bringt Pflanzen in den Tank. Also pachtet und kauft KTG, was das<br />

Zeug hält. Dem Geschäftsmodell helfen auch EU-Agrarsubventionen,<br />

von denen KTG heute nach Hofreiters Worten knapp 10 Millionen<br />

Euro im Jahr bekommt.<br />

Der Feldherr hält seine Leute an, schnell zu sein, wenn jemand<br />

verkaufen will. „Allein rund um Putlitz gibt es jede Woche einen<br />

Erbfall. Oder die Oma will verkaufen, weil die Kinder eine Einbauküche<br />

brauchen.“ Hat er große Flächen, sind die mehr wert als im<br />

Flickerlteppich. „Ums Land wird mit allen Waffen gekämpft, wir<br />

sind ordentlich mit drin“, sagt er, „auch mit Scheckbuchdiplomatie.“<br />

DER HUNGRIGE<br />

Obwohl sich Hofreiter traditionsbewusst zeigt, profitiert er in seiner<br />

neuen Heimat davon, dass er wenig Rücksicht auf Hergebrachtes<br />

nehmen muss. Hier guckt kein Pfarrer schräg auf Unverheiratete.<br />

Hier ist er der größte Gewerbesteuerzahler. Hofreiter testet seine<br />

Freiheit auch, wenn er bei 160 Stundenkilometern hinten links<br />

im Mercedes-Geländewagen sitzt. Der Sicherheitsgurt<br />

würde nur stören. Ängstlich – sind<br />

andere.<br />

Vor Investoren erklärt Hofreiter inzwischen,<br />

das wilde Wachstum im Osten sei vorbei.<br />

Doch noch immer kauft er Land und investiert<br />

viel in eine neue Lebensmittelmarke. „Die<br />

Landwirte“ sollen Gutverdienern Kartoffeln<br />

und Karotten aus der Region schmackhaft<br />

machen. Sein Unternehmen ist allerdings<br />

hoch verschuldet. Im ersten Halbjahr 2014<br />

lag der Umsatz der KTG bei 100 Millionen<br />

Euro, die Nettoschulden bei 424 Millionen<br />

Euro. Hofreiter beruhigt. Die Ackerpreise<br />

stiegen weiter. In den Büchern stünden nur<br />

die Kaufpreise, nicht der heutige Wert. Stillstand<br />

fürchtet er mehr als Schulden. Doch<br />

mit seiner jüngsten Anleihe konnte er Anleger<br />

wenig begeistern. Statt 50 Millionen Euro<br />

sammelte er nur 25 Millionen Euro ein.<br />

Jetzt investiert Hofreiter senior erst mal in den Junior. Sohn Markus<br />

sitzt seit Wochen irgendwo in Brandenburg auf dem Maishäcksler,<br />

übernachtet im Hotel. Von Sonnenaufgang bis -untergang<br />

jagt der 16-Jährige, der gerade die Realschule hinter sich hat, den<br />

500 000 Euro teuren und voll vernetzten Häcksler übers Feld. Für<br />

Hofreiter ist die Satellitentechnik praktisch, er kann Maschinen<br />

effizienter einsetzen. Manch altgedienten Traktoristen<br />

erinnert das eher an Stasi-Überwachung.<br />

Auf der Autobahn bei Herzsprung lässt der Senior den<br />

Fahrer abbiegen und am nahen Acker halten. Nur ein<br />

paar Sätze wechseln Vater und Sohn am Handy – jeder<br />

im Fahrzeug, aber auf Sicht. Zum Abschied gibt Hofreiter<br />

den strengen Lehrherrn. „Denk dran, dass ihr am<br />

Abend den Dreck von der Straße schippt.“<br />

n<br />

cordula.tutt@wiwo.de | Putlitz<br />

FOTO: DDP IMAGES/MEXRIX<br />

26 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»Putins Sticheleien«<br />

INTERVIEW | Christian Schmidt Der Landwirtschaftsminister über<br />

die Folgen der russischen Agrarsanktionen, die Bedeutung der<br />

deutschen Biobauern – und den Nutzen von Algen.<br />

zehn Prozent weniger als zu Beginn des<br />

Jahres. Hinzu kommt, dass im nächsten<br />

Frühjahr nach über 30 Jahren das Quotensystem<br />

für Milch endet. Wenn dann Milchviehhalter<br />

ein Produktionsfeuerwerk entzünden<br />

würden, kämen die Preise unter<br />

Druck. Es ist eine kluge Überlegung der<br />

Bauern, sich hier zurückzuhalten.<br />

Oder Sie fördern den Export.<br />

Ich bin sehr dafür, den Export in aufnahmefähige<br />

Märkte zu unterstützen, und da<br />

bin ich auch aktiv. Ich will aber nicht in den<br />

europäischen Wettbewerb eingreifen. Leider<br />

muss ich feststellen, dass es auch in<br />

einigen EU-Mitgliedstaaten wieder protektionistische<br />

Tendenzen gibt, die an Maggie<br />

Thatchers „buy british“ erinnern.<br />

Sie meinen Frankreich.<br />

Ich will in ganz Europa eine Marktteilnahme<br />

ohne Belastungen und Zwänge. Auch<br />

das Aufbauen von neuen Barrieren unter<br />

dem Deckmantel angeblicher Gesundheits-<br />

und Veterinärvorschriften halte ich<br />

für nicht akzeptabel. Hier geht es um Kernfragen<br />

der europäischen Integration. Außerdem<br />

bekenne ich mich zu verbindlichen<br />

Handelsabkommen.<br />

Sie sprechen TTIP an, das Handelsund<br />

Investitionsabkommen zwischen der<br />

EU und den USA. Sind Sie als Landwirtschaftsminister<br />

für das Chlorhühnchen?<br />

Es wird kein Chlorhühnchen in Deutschland<br />

geben. Das entspricht nicht unseren<br />

europäischen Standards. Wir versuchen<br />

schon im Vorfeld, die Entstehung von Keimen<br />

zu verhindern. Die Amerikaner behandeln<br />

die Oberfläche des Geflügels mit<br />

DER BIOJURIST<br />

Schmidt, 57, ist seit Februar 2014 Bundesminister<br />

für Ernährung und Landwirtschaft.<br />

Der studierte Jurist und CSU-Politiker war<br />

davor acht Jahre Parlamentarischer Staatssekretär<br />

im Verteidigungs- und für kurze Zeit<br />

im Entwicklungshilfeministerium tätig.<br />

Herr Minister, mit Ihrer Ansage „An apple<br />

a day keeps Putin away“ haben Sie jüngst<br />

für Aufsehen gesorgt. Haben Sie heute<br />

schon einen Apfel gegessen?<br />

Ja, zum Frühstück.<br />

Und? Dabei an Putin gedacht?<br />

Nicht heute morgen, wohl aber nach zahlreichen<br />

Gesprächen mit Vertretern der Ernährungswirtschaft.<br />

Die Marktlage ist<br />

schwierig. Bei Äpfeln kommt das aber<br />

mehr von der guten Ernte und weniger von<br />

den russischen Sanktionen gegenüber EU-<br />

Agrargütern.<br />

Wie stark greifen Putins Sanktionen?<br />

Die baltischen Staaten und Finnland sind<br />

schon stark betroffen. Für die deutsche<br />

Landwirtschaft sind Russlands Sanktionen<br />

eher eine Stichelei. Weniger als ein Prozent<br />

unseres Absatzes sind betroffen. Mit Sorge<br />

betrachte ich aber, dass einige Unternehmen<br />

versuchen, diese Lage auszunutzen<br />

und die Preise zulasten der Landwirte zu<br />

drücken. Das ist unsolidarisch.<br />

Wo geraten die Preise unter Druck?<br />

Bei Milch sind die Erzeugerpreise gegenwärtig<br />

so bei 37 Cent pro Liter, das sind<br />

Chlor, um alle Keime abzutöten. Das ist eine<br />

Frage unterschiedlicher Herangehensweisen.<br />

Wir bleiben aber aus Überzeugung<br />

bei unseren Verfahren.<br />

Sollen bei TTIP nicht die unterschiedlichen<br />

Behandlungsmethoden gegenseitig<br />

anerkannt werden?<br />

Ich respektiere die amerikanische Methode.<br />

Ich habe auch vermutlich in den USA schon<br />

mal Chlorhühnchen gegessen, unbewusst.<br />

Aber ich möchte nicht, dass die Bürger in<br />

Deutschland dies bewusst oder unbewusst<br />

tun müssen. Der Lebensmittelmarkt ist der-<br />

FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

28 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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art stark vertrauensorientiert, dass wir unsere<br />

eigenen Standards nicht zur Disposition<br />

stellen dürfen. Deswegen verhalte ich<br />

mich auch als Freihändler in diesem Punkt<br />

restriktiv, genau wie bei Hormonfleisch und<br />

gentechnisch veränderten Pflanzen.<br />

Werden die USA das akzeptieren?<br />

Das wird man sehen. Wir müssen uns als<br />

Europäer vor Augen führen, dass auch die<br />

Amerikaner mit manchen unserer Produkte<br />

Bedenken haben. Mit Rohmilchkäse...<br />

...und Salmonellenhühnchen...<br />

...auf jeden Fall kann es sein, dass wir vice<br />

versa keine vollkommene Öffnung der Lebensmittelmärkte<br />

erreichen. TTIP wird<br />

sich dennoch positiv auf unsere Landwirtschaft<br />

auswirken. Bei Milchprodukten,<br />

speziell Käse, rechne ich mit stark steigenden<br />

Exporten, da hier hohe Zölle wegfallen<br />

würden. Im Bereich von Getreide, etwa bei<br />

Weizen, kann der Wettbewerb zunehmen.<br />

Die Koalition will die Bioökonomie vorantreiben.<br />

Dazu gibt es am 3./4. November eine<br />

Konferenz. Ist das wieder etwas, das die<br />

Wirtschaft belastet, so wie Rente mit 63?<br />

Im Gegenteil, Bioökonomie stimuliert die<br />

Wirtschaft. Dafür steckt die Bundesregierung<br />

jetzt binnen vier Jahren insgesamt 2,4<br />

Milliarden Euro vor allem in die Forschung.<br />

Als federführender Minister will<br />

ich eine dauerhafte Förderung erreichen.<br />

Was ist Bioökonomie überhaupt?<br />

Das ist die Nutzung nachwachsender Ressourcen,<br />

die zu vielfältigen Produkten verarbeitet<br />

werden, für die vorher fossile Rohstoffe<br />

verwendet wurden. Neben der stofflichen<br />

Nutzung ist die Verwendung von<br />

nachhaltig erzeugter Biomasse als erneuerbare<br />

Energiequelle von Bedeutung.<br />

Provozieren Sie damit nicht wieder eine<br />

Teller-Tank-Debatte? Schließlich sind die<br />

Agrarflächen begrenzt, der größte Teil ist<br />

für die Ernährung unverzichtbar.<br />

Ernährung hat immer Vorrang. Mit der<br />

Bioökonomiestrategie will ich parallele<br />

Nachhaltigkeit schaffen. Das heißt, wir<br />

wollen sowohl die Ernährung als auch die<br />

Nutzung nachwachsender Rohstoffe auf sichere<br />

Beine stellen.<br />

Wie viel Erdöl kann die Landwirtschaft<br />

denn perspektivisch ersetzen?<br />

Im Bereich der Bioenergie liegt das Potenzial<br />

bei schätzungsweise 1640 Pikojoule im<br />

Jahr 2050. Um Ihnen eine Vorstellung zu<br />

vermitteln: Das entspricht fast einem Viertel<br />

des gesamten deutschen Energiebedarfs,<br />

also könnten wir langfristig 40 Millionen<br />

Tonnen Erdöl einsparen. Zudem hat<br />

Biomasse gegenüber Wind- oder Sonnenenergie<br />

den Vorteil, dass sie eine kontinuierlich<br />

verfügbare Rohstoffquelle ist und<br />

nicht <strong>vom</strong> Wetter abhängt. Jede Energie,<br />

die nicht aus russischen Gaspipelines importiert<br />

werden muss, ist zudem ein Beitrag<br />

zur Energiesicherung.<br />

Was ist denn Ihr großer Hoffnungsträger<br />

in der Bioökonomie?<br />

Wir wollen vor allem die Forschung vorantreiben<br />

und bessere Züchtungsmethoden<br />

erreichen. „Smart breeding“ heißt das auf<br />

Neudeutsch und ist nicht zu verwechseln<br />

mit Gentechnik, die wir in unserer Landwirtschaft<br />

nicht haben wollen. Und wenn<br />

Sie nach hoffnungsvollen Pflanzen fragen,<br />

denke ich an Algen. Die produzieren unter<br />

Sonnenlicht bis zu 20-mal mehr Biomasse<br />

als Raps oder Mais auf der gleichen Fläche.<br />

Allerdings ist der Herstellungsaufwand<br />

noch sehr hoch, womit wir wieder bei der<br />

Forschung wären.<br />

Gibt es bei dem Bemühen um eine möglichst<br />

effiziente Landnutzung überhaupt<br />

noch Platz für Biobauern, die ja nicht<br />

gerade hohe Erträge produzieren?<br />

Der ökologische Landbau hat seinen Platz<br />

in Deutschland. Die Biolandwirtschaft ist<br />

zu einem unverzichtbaren Bestandteil unserer<br />

Lebensführung geworden, für manche<br />

ist es gar ein Lebensgefühl.<br />

So sehr, dass die heimischen Bauern längst<br />

nicht die Nachfrage befriedigen können.<br />

Deshalb bin ich für eine Ausweitung des<br />

ökologischen Landbaus. Wieso sollten unsere<br />

Verbraucher auf Bioware aus nicht europäischen<br />

Ländern zurückgreifen müssen,<br />

wo gerade in der regionalen Produktion<br />

so großes Potenzial steckt? Unser Ziel<br />

muss es sein, Marktanteile deutscher Bioprodukte<br />

zu erhöhen.<br />

Was wollen Sie tun, um die heimische<br />

Bioproduktion anzukurbeln?<br />

Die Nachfrage der Konsumenten schafft<br />

Marktanreize. Dazu gehört auch, beim Einkauf<br />

auf deutsche und europäische Herkunft<br />

zu achten und nicht einfach zur<br />

günstigsten Ware zu greifen. Außerdem<br />

will ich verhindern, das der ökologische<br />

Landbau in Deutschland und Europa behindert<br />

wird. Dazu gehört leider auch der<br />

jüngste Entwurf der Brüsseler Kommission<br />

zur Revision der EU-Öko-Verordnung. Dieser<br />

Entwurf wird den Ökolandbau nicht<br />

stärken, er wird ihn schwächen. Das kann<br />

ich nicht zulassen. Der Entwurf ist ein Musterbeispiel<br />

für übertriebene Regulierung.<br />

Ökolandwirtschaft muss, wie ihre konventionelle<br />

Schwester, praktikabel und ökonomisch<br />

sinnvoll bleiben. Sonst können viele<br />

Biobauernhöfe nicht überleben.<br />

n<br />

christian.ramthun@wiwo.de | Berlin, matthias streit<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 29<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Übung in<br />

Nostalgie<br />

SEPARATISMUS | Die Misere der Wirtschaft<br />

und schlechte Politik fachen nicht nur in<br />

Katalonien den Wunsch nach regionaler<br />

Selbstbestimmung an. Doch neue Staaten<br />

können die Probleme nicht lösen.<br />

Madrid, nein danke<br />

Massendemo in<br />

Barcelona für die<br />

Unabhängigkeit<br />

Kataloniens<br />

30 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: LAIF/POLARIS/EDU BAYER<br />

Erhätte lieber ein anderes Trikot getragen.<br />

47 Mal trat Pep Guardiola,<br />

heute erfolgsverwöhnter Trainer<br />

des FC Bayern München, für die spanische<br />

Nationalmannschaft an. Aber sein<br />

wahrer Wunsch, so gestand er Jahre später,<br />

waren internationale Einsätze in den<br />

katalanischen Farben. „Katalonien ist<br />

meine Heimat“, sagt er. „Man kann Gefühle<br />

nicht unterdrücken.“<br />

Immer wieder hat er sich für die Unabhängigkeit<br />

seiner Region eingesetzt, hat<br />

an Demonstrationen teilgenommen, in<br />

New York oder wie an Pfingsten in Berlin<br />

auf dem Alexanderplatz. In einem Wahlspot<br />

der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung<br />

warb er noch Anfang September<br />

für ein Referendum.<br />

Sein Traum hat sich nicht erfüllt. Die<br />

Zentralregierung und das spanische Verfassungsgericht<br />

haben das Referendum<br />

untersagt, auf Druck aus Madrid darf der<br />

katalanische Ministerpräsident Artur Mas<br />

die Abstimmung am kommenden Sonntag<br />

nicht einmal mehr „Befragung“ nennen.<br />

Nachdem sich die Schotten im September<br />

– wenn auch knapp – für den Verbleib<br />

im Vereinigten Königreich entschieden<br />

haben, bleibt also auch diesmal das<br />

große politische Aufbruchsignal aus, auf<br />

das Separatisten in ganz Europa hofften.<br />

Die Katalanen werden trotzdem an die<br />

Urnen gehen. Und die katalanische Unabhängigkeitsbewegung<br />

wird weiter um<br />

einen eigenen Staat kämpfen.<br />

Keine Frage: Es rumort in Europa. Separatistische<br />

Kräfte setzen in mehreren<br />

Ländern auf den Rückzug in den eigenen<br />

Kleinstaat. So sammelt die norditalienische<br />

Region Veneto seit Anfang Oktober<br />

auf einem Konto Spenden, um ein Referendum<br />

über die Abspaltung von Italien<br />

abzuhalten – nachdem im März bei einer<br />

Online-Befragung bereits zwei Millionen<br />

Menschen für die Unabhängigkeit gestimmt<br />

haben. In Belgien wurde die nationalistische<br />

N-VA, die die Forderung<br />

nach einem unabhängigen Flandern in<br />

ihren Parteistatuten führt, stärkste Partei<br />

und gehört seit Mitte Oktober der Regierung<br />

an. Und auch im Baskenland, auf<br />

Korsika und in Schottland träumen viele<br />

Menschen nach wie vor von der Unabhängigkeit.<br />

BRÜCHIGE SOLIDARITÄT<br />

Das Phänomen Separatismus wird Europa<br />

in den kommenden Jahren aus gleich<br />

mehreren Gründen erhalten bleiben. Seit<br />

dem Ausbruch der Euro-Krise ist der zu<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 31<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Reichtum. Als eigener Staat käme der<br />

Veneto auf das siebthöchste Pro-Kopf-<br />

Einkommen in der gesamten EU.<br />

In Flandern ist die Unabhängigkeit im<br />

politischen Diskurs in der jüngsten Zeit<br />

zwar in den Hintergrund geraten. Aber viele<br />

Beobachter vermuten, dass N-VA-Parteichef<br />

Bart de Wever sich auf die Regierungsbeteiligung<br />

nur eingelassen hat, damit die<br />

Koalition scheitert und er den Beweis geliefert<br />

bekommt, dass Belgien als Ganzes<br />

nicht überleben kann. In der Zwischenzeit<br />

schürt seine Partei den Unmut über die<br />

Transfers aus dem reicheren flämischen<br />

Norden des Landes in den ärmeren französischsprachigen<br />

Süden. Seit der Krise seien<br />

die Zahlungen auf beinahe acht Milliarden<br />

Euro pro Jahr geschnellt, so die N-VA. Unabhängige<br />

Zahlen existieren nicht.<br />

»<br />

verteilende Wohlstand geschrumpft,<br />

was die schon vorher brüchige Solidarität<br />

zwischen unterschiedlich reichen Landesteilen<br />

strapaziert. Das Gefühl der Menschen,<br />

von der Zentralregierung schlecht<br />

regiert zu werden, wächst. Gleichzeitig erhöht<br />

die stärkere europäische Integration<br />

ungewollt die Zentrifugalkräfte, denn die<br />

EU bietet auch Kleinststaaten Sicherheit<br />

mit einem Zugang zum Binnenmarkt und<br />

Freihandel mit weiten Teilen der Welt.<br />

In der Euro-Zone, deren Wirtschaftsleistung<br />

immer noch um 2,4 Prozent unter<br />

dem Niveau vor der Krise liegt, verfangen<br />

vermeintlich einfache Lösungen wie Unabhängigkeit.<br />

In Katalonien hat der wirtschaftliche<br />

Absturz den Wunsch nach der<br />

Trennung massiv angeheizt. Im Oktober<br />

2006 sprachen sich in einer Umfrage der<br />

Regionalregierung gerade einmal 14 Prozent<br />

der Befragten für einen eigenen Staat<br />

aus. Im Oktober 2013 war diese Zahl auf<br />

48,5 Prozent hochgeschnellt.<br />

Knapp verloren Die schottischen Separatisten<br />

scheiterten mit ihrem Referendum<br />

UNGERECHTES STEUERSYSTEM<br />

Ein Punkt, der die Katalanen berechtigterweise<br />

erzürnt, ist die Steuerungerechtigkeit.<br />

„Das undurchsichtige System der<br />

Steuertransfers zwischen den spanischen<br />

Regionen ist verrückt“, sagt der spanische<br />

Ökonom Luis Garicano von der London<br />

School of Economics, der gegen die Unabhängigkeit<br />

Kataloniens plädiert. Die Regierung<br />

von Ministerpräsident Mas geht davon<br />

aus, dass Katalonien über den Länderfinanzausgleich<br />

pro Jahr 16 Milliarden Euro<br />

an andere Regionen Spaniens abtritt.<br />

Das entspricht etwa acht Prozent der katalanischen<br />

Wirtschaftsleistung.<br />

Im Veneto ist es ebenfalls die wirtschaftliche<br />

Misere, die den Ärger über die Alimentation<br />

von anderen Landesteilen anschwellen<br />

lässt. „Die Menschen wollen<br />

vermutlich auch deshalb Unabhängigkeit,<br />

weil sie sich von der Krise erdrosselt fühlen“,<br />

sagt Luca Zaia, der Regionalpräsident<br />

des Veneto. Vor allem forderten die Menschen<br />

niedrigere Steuern. Zaia gehört zur<br />

Partei Lega Nord-Liga Veneta und war unter<br />

Ministerpräsident Silvio Berlusconi italienischer<br />

Landwirtschaftsminister.<br />

Von sieben Euro, die die Region an Steuern<br />

zahlt, fließen nur fünf Euro in öffentlichen<br />

Leistungen zurück, rechnen seine<br />

Leute vor. „Ministerpräsident Renzi sollte<br />

den Mut haben zu sagen, dass die Hälfte<br />

Italiens, nämlich der Süden, bankrott ist“,<br />

fordert Zaia. In Venedig und Umgebung<br />

fantasieren sie schon <strong>vom</strong> ungeteilten<br />

KOSTEN UNTERSCHÄTZT<br />

Ein unfairer Finanzausgleich zwischen Regionen<br />

ist für den katalanischen Ökonomen<br />

Gerard Padró, der an der London<br />

School of Economics lehrt, einer der wichtigste<br />

Gründe für den Wunsch nach einem<br />

eigenen Staat: „Wer seine Regionen fair behandelt,<br />

muss Unabhängigkeitsbewegungen<br />

nicht fürchten.“<br />

Daraus ergibt sich allerdings nicht<br />

zwangsläufig, dass es den Regionen als<br />

souveränen Einheiten besser ginge. So neigen<br />

die Befürworter der Unabhängigkeit<br />

dazu, den Preis der Trennung zu unterschätzen.<br />

Die katalanische Regierung geht<br />

in ihrem Weißbuch zu einem unabhängigen<br />

Staat davon aus, dass der Handel mit<br />

Spanien kurzfristig um nicht mehr als zwei<br />

Prozent des katalanischen Bruttoinlandsprodukts<br />

einbräche, was jedoch abgefangen<br />

würde, weil keine Steuer nach Madrid<br />

mehr abzuführen wäre.<br />

Diese Sichtweise blendet jedoch völlig<br />

aus, dass die Trennung eine große Unsicherheit<br />

bei Investoren verursacht. Im<br />

zweiten Quartal 2014 flossen nur ein Drittel<br />

so viele Direktinvestitionen nach Katalonien<br />

wie im Vorjahr. Alleine die Diskussion<br />

um ein Referendum schreckt Investoren<br />

ab. Nationalisten raten mittlerweile schon<br />

offen davon ab, sich an der Privatisierung<br />

der spanischen Flughäfen zu beteiligen –<br />

weil die katalanischen Airports bald in einem<br />

anderen Staat liegen könnten.<br />

Auch das Aufteilen von Staatsbesitz und<br />

Staatsschulden wäre ein hoch komplizierter<br />

Prozess. Welchen Anteil der spanischen<br />

Staatsschuld, die sich aktuell auf 100 Prozent<br />

des Bruttoinlandsprodukts beläuft,<br />

würde Katalonien übernehmen? Ginge<br />

»<br />

FOTO: BULLS/MIRRORPIX<br />

32 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Politik auf die wahren Bedürfnisse zuschneiden<br />

könnten. Ökonomen gehen<br />

hingegen davon aus, dass große Länder öffentliche<br />

Güter wie innere Sicherheit (Polizei,<br />

Justiz) preisgünstiger bereitstellen können<br />

als kleine Länder, weil diese Bereiche<br />

nicht proportional zur Bevölkerung wachsen.<br />

„Die Pro-Kopf-Kosten öffentlicher Güter<br />

sind in großen Ländern niedriger, weil<br />

mehr Steuerzahler für sie aufkommen“,<br />

weiß Alesina. Er kam in einer Studie zu<br />

dem Ergebnis, dass kleinere Länder im<br />

Schnitt einen größeren Staatssektor haben.<br />

»<br />

es nach dem Anteil Kataloniens an Spaniens<br />

Gesamtbevölkerung, entfielen 16<br />

Prozent auf den neuen Staat. Da wären lange<br />

und zähe Verhandlungen unvermeidbar.<br />

In jedem Fall würde der Übergang zu einem<br />

neuen Staat Arbeit und Mittel binden, ganz<br />

besonders, wenn sich Katalonien einseitig<br />

verabschiedet. „Die Übergangskosten einer<br />

Scheidung in Unfrieden sind brutal“, prognostiziert<br />

Ökonom Garicano.<br />

NEUER EU-STAAT KATALONIEN?<br />

Die katalanische Regierung geht davon<br />

aus, dass ein neuer Staat in der EU verbliebe.<br />

„Die EU hat traditionell eine extrem flexible<br />

und pragmatische Haltung eingenommen,<br />

wenn es darum ging, Probleme<br />

zu lösen, die durch territoriale Veränderungen<br />

entstanden sind“, heißt es im Weißbuch<br />

zur Trennung. Bisher hat die EU-<br />

Kommission offiziell stets betont, ein neues<br />

Land müsse die Mitgliedschaft erst beantragen<br />

und den üblichen Beitrittsprozess<br />

durchlaufen. Kommissare, die Schottland<br />

vor dem Referendum besuchten, bekamen<br />

diese harte Linie auf ihren Sprechzetteln<br />

mit.<br />

Natürlich diente diese Art der Kommunikation<br />

der Abschreckung: Niemand in<br />

Brüssel wünscht sich das Chaos, das eine<br />

Abspaltung unweigerlich bringt. In der<br />

Kommission war die Erleichterung groß,<br />

als die Schotten gegen den Alleingang<br />

stimmten. Ohne es zu wollen, macht die<br />

EU die Unabhängigkeit allerdings attraktiv,<br />

sichert sie auch noch so kleinen Staaten<br />

Inländer raus Bart de Wever von der Partei<br />

N-VA will einen eigenen Staat für die Flamen<br />

die Integration der Wirtschaft in ein größeres<br />

Ganzes. Innerhalb der EU haben Unternehmen<br />

Zugang zum Binnenmarkt mit<br />

über 500 Millionen Verbrauchern und vor<br />

allem zum Weltmarkt, verfügt die EU doch<br />

über ein dichtes Netz an Freihandelsabkommen.<br />

Die Größe des Heimatsmarkts<br />

wird da zweitrangig. Und der Euro als<br />

Gemeinschaftswährung ist im Zweifel<br />

ebenfalls attraktiver als eine eigene Währung,<br />

die großen Schwankungen ausgesetzt<br />

sein könnte. „Ethnische und kulturelle<br />

Minderheiten haben das Gefühl, dass<br />

sie in einem europäischen Binnenmarkt<br />

wirtschaftlich überlebensfähig sind und<br />

sich deshalb von ihrem Heimatland abspalten<br />

können“, urteilt Harvard-Ökonom<br />

Alberto Alesina.<br />

Die Annahme, dass kleinere Staaten automatisch<br />

effizienter sind, wie etwa die katalanische<br />

Regierung argumentiert, hält<br />

Alesina für einen Irrtum. Die Katalanen betonen,<br />

dass sie in einem eigenen Land die<br />

IM ZUSTAND DER VORFREUDE<br />

Die Unabhängigkeitsbewegungen pflegen<br />

dagegen den Mythos, dass „klein“ automatisch<br />

„gut“ bedeutet, wie es schon die alten<br />

Griechen postulierten. Der Philosoph Aristoteles<br />

forderte, Stadtstaaten sollten nicht<br />

mehr als 5040 Haushalte umfassen, weil<br />

man in größeren Einheiten einander nicht<br />

mehr persönlich kenne.<br />

Bei den Unabhängigkeitsbewegungen<br />

der Neuzeit schwingt die fast schon naive<br />

Sehnsucht nach einer überschaubaren Gemeinschaft<br />

deutlich mit, etwa wenn die<br />

Katalanin Muriel Casals von ihrem neuen<br />

Staat spricht. „Unser Land wird nicht perfekt<br />

sein“, sagt die Vorsitzende des Vereins<br />

Òmnium, einer treibenden Kraft der katalanischen<br />

Unabhängigkeitsbewegung.<br />

„Aber wir leben in einem Zustand der Vorfreude,<br />

die uns hilft, besser zu sein.“<br />

Hier die Guten, dort die Bösen: Das ist<br />

ein Muster, das sich gleichermaßen durch<br />

den spanischen und katalanischen Diskurs<br />

zieht. Gerade erst hat der Cercle Català de<br />

Negocis, ein Unternehmenszusammenschluss<br />

für die Unabhängigkeit, ein prägnantes<br />

Beispiel für derartige Schwarz-<br />

Weiß-Malerei vorgelegt. Er veröffentlichte<br />

eine Studie, nach der Katalonien nur<br />

fünf Korruptionsfälle pro eine Million Einwohner<br />

zählt – wohingegen der Rest des<br />

Landes auf zwölf kommt. Wie viel sind solche<br />

Zahlen wert, wenn gegen den früheren<br />

Regionalpräsidenten Jordi Pujol und seinen<br />

Clan fünf Verfahren wegen Bestechung,<br />

Geldwäsche und Steuerhinterziehung<br />

laufen? Der Parteifreund von Mas hat<br />

Katalonien bis 2003 insgesamt 23 Jahre<br />

offenbar wie ein Feudalherrscher regiert.<br />

Lange Zeit war er trotzdem eine Galionsfigur<br />

der Katalanen.<br />

Das Recht auf Selbstbestimmung, das<br />

die Unabhängigkeitsbewegungen reklamieren,<br />

hört sich modern an; der Begriff<br />

Freiheit ist in Europa positiv besetzt. Dennoch<br />

haftet dem Separatismus etwas<br />

»<br />

FOTO: VISUM/PANOS PICTURES/DIETER TELEMANS<br />

34 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Rückwärtsgewandtes an, als könnte das<br />

Leben in kleineren Einheiten vor der Globalisierung<br />

und ihren Folgen schützen.<br />

„Wir wissen, dass manche sezessionistischen<br />

Bewegungen sich in Nostalgie üben<br />

– in der Sehnsucht nach kleineren, weniger<br />

offenen und weniger toleranten Gesellschaften“,<br />

sagt Alberto Mingardi, Direktor<br />

des liberalen italienischen Thinktanks Istituto<br />

Bruno Leoni. In einer immer komplexeren<br />

Welt verkaufen die Separatisten den<br />

Rückzug in einen überschaubaren Winkel<br />

mit selbst gezogenen Grenzen als die bessere<br />

Alternative zur chaotischen, unplanbaren<br />

Realität.<br />

Die katalanische Autorin Margarita Rivière<br />

sieht bereits die Gefahr einer „erzwungenen<br />

Homogenität“ heraufziehen,<br />

die soziale Vielfalt ersetzen soll. Für Andersdenkende<br />

bleibe kein Platz: „Wenn<br />

man weder katalanischer Nationalist noch<br />

spanischer Nationalist ist, dann befindet<br />

man sich im Niemandsland.“<br />

RÜDER TON<br />

Der rüde Ton, mit dem die Auseinandersetzung<br />

in Spanien geführt wird, deutet darauf<br />

hin, dass die reflexartige Trennung einer<br />

Gesellschaft in „die“ und „wir“ den<br />

Keim für Gewalt birgt. Kataloniens Präsident<br />

Mas bezeichnete die Zentralregierung<br />

in Madrid offen als „Feinde“. Woraufhin der<br />

Sprecher der bis 2004 regierenden konservativen<br />

Zentralregierung, Miguel Ángel<br />

Rodriguez , mit „Erschießung“ drohte.<br />

Der Ökonom und Nobelpreisträger<br />

Amartya Sen sieht in der Zuschreibung einer<br />

einzigen Identität eine gefährliche Vereinfachung.<br />

„Das Auferlegen einer angeblich<br />

einzigartigen Identität gehört oft als<br />

entscheidender Bestandteil zur Kampfkunst,<br />

sektiererische Auseinandersetzungen<br />

zu schüren“, schreibt er. „Das Gefühl<br />

der Identität mit einer Gruppe kann, entsprechend<br />

angestachelt, zu einer mächtigen<br />

Waffe werden, mit der man anderen<br />

grausam zusetzt.“ Sen, der sich selbst als<br />

Inder, Bengali, Briten und feministischen<br />

Mann bezeichnet, schildert, wie die „solitaristische“<br />

Identität, die Reduzierung des<br />

Individuums auf ein Merkmal, auf dem<br />

Balkan oder in Ruanda zu Massenmorden<br />

geführt hat.<br />

Aktuell ruft keine der Separatisten-Bewegungen<br />

in Europa zu Gewalt auf, selbst<br />

die baskische Untergrundorganisation ETA<br />

hat sich zu Jahresbeginn von ihren Waffen<br />

getrennt.<br />

Aber Gewalt beginnt im Kopf.<br />

n<br />

silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

SCHWEIZ<br />

Allein auf dem Berg<br />

Für Anhänger der Kleinstaaterei sind die Eidgenossen ein Vorbild. Dabei<br />

ist die größte Sorge der Schweizer Wirtschaft dieser Tage der boomende<br />

Nationalismus im Land.<br />

Abschied fällt schwer Tobias Erb forscht –<br />

noch – an der ETH Zürich<br />

Tobias Erbs Tage im Paradies sind gezählt.<br />

Zum 1. November tritt er eine Stelle an der<br />

Universität Marburg an, ein paar Wochen<br />

wird er noch hin- und herpendeln, bevor er<br />

sein Büro endgültig räumt. Schon jetzt ist Erb<br />

voller Wehmut, wenn er über den Campus<br />

der Eidgenössischen Technischen Hochschule<br />

Zürich schlendert. „Hier herrscht ein<br />

einzigartiger Geist, es gibt Weltklasse-Forscher<br />

und tolle Studenten“, schwärmt Erb.<br />

Hoch auf dem Hönggerberg thront die Universität<br />

über der Stadt. Erb hatte sich perfekt<br />

akklimatisiert hier oben, wissenschaftlich<br />

und privat. Er, der Leiter einer Forschungsgruppe<br />

im Fachbereich Biochemie, schon<br />

mit Mitte 30 eine Instanz auf seinem Feld.<br />

Seinen Espresso im Campus-Café bestellt er<br />

in einwandfreiem Schwyzerdütsch.<br />

Warum nun also Marburg? „Ich wäre gern<br />

in Zürich geblieben“, sagt Erb. Doch im Februar<br />

stimmten die Schweizer in einer Volksabstimmung<br />

völlig überraschend für die<br />

„Masseneinwanderungsinitiative“, die eine<br />

strikte Zuwanderungsbegrenzung fordert.<br />

Für Erb, den Biologen aus dem Schwarzwald,<br />

hat das Konsequenzen: Die Beteiligung<br />

aller Schweizer Universitäten an wis-<br />

senschaftlichen EU-Projekten war auf Eis<br />

gelegt worden. Genau so ein Projekt wollte<br />

Erb aber einreichen, Umfang zwei Millionen<br />

Euro; es sollte sein endgültiger Durchbruch<br />

werden. „Von einem auf den anderen Tag ist<br />

alles unsicher geworden“, sagt Erb.<br />

Unsicherheit – es ist ein Wort, das in Wirtschaft<br />

und Wissenschaft immer häufiger die<br />

Runde macht, wenn es um Schweizer Politik<br />

geht. Bisher machte das Gegenteil, die Sicherheit,<br />

die Verlässlichkeit, den Kern des<br />

nationalen Geschäftsmodells und patriotischen<br />

Stolzes aus. Weil die Schweizer sich<br />

von keinem etwas vorschreiben lassen, können<br />

sie so bleiben, wie sie wollen. Damit ist<br />

das Land zum beneideten Sonderfall geworden.<br />

Die Schweizer sind mittendrin in Europa<br />

und machen doch ihr eigenes Ding. Viele<br />

wünschen sich genau so einen Status. Die<br />

Katalanen, viele Schotten, manchmal sogar<br />

die Bayern. Umso erstaunlicher, dass gerade<br />

das vermeintliche Musterland dieser<br />

Tage zeigt, welche Schattenseiten zu viel<br />

Separatismus mit sich bringen kann.<br />

CHANCEN IM PROMILLEBEREICH<br />

Heinz Brand hat ein ambivalentes Verhältnis<br />

zu Übertreibungen. Er benutzt sie gern<br />

und prangert sie ebenso gern an. „Die<br />

Freunde der unbegrenzten Zuwanderung<br />

erzählen uns, dass wir sie brauchen, um<br />

wirtschaftlich erfolgreich zu sein“, sagt<br />

Brand, Nationalrat der rechtspopulistischen<br />

Schweizer Volkspartei (SVP). „Mit<br />

Verlaub gesagt, das ist absoluter Quatsch!“<br />

Brand verantwortet die Umsetzung der<br />

Masseneinwanderungsinitiative, die seine<br />

Partei erfunden hat. Bis 2017 hat das Parlament<br />

dafür formal Zeit, doch schon jetzt<br />

ist klar, dass sich die Schweizer in eine aussichtslose<br />

Situation manövriert haben. Die<br />

Bürger haben entschieden, dass die<br />

Schweiz ihre Zuwanderung über Kontingente<br />

regeln soll, so wie es früher schon mal<br />

war. Früher, das ist zwar noch nicht lange<br />

her, aber es war eine ganz andere Zeit. Seit<br />

2002 gelten zwischen der Schweiz und der<br />

EU bilaterale Verträge, mit denen die<br />

Schweiz an den vier Freiheiten im europäi-<br />

FOTO: TANJA DEMARMELS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

36 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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gen die „Masseneinwanderungsinitiative“<br />

votiert habe.<br />

Eichenberger benennt damit einen der<br />

vielen Widersprüche im schweizerischen<br />

Selbstverständnis der Gegenwart. Nicht nur<br />

in Basel fanden die Ausländerkontingente<br />

keine Zustimmung, sondern auch überall<br />

sonst, wo der Austausch mit den deutschen<br />

und französischen Nachbarn intensiv ist.<br />

Mehrheiten sammeln solche Initiativen dagegen<br />

in der Zentralschweiz, wo die Zuwanderung<br />

am geringsten ist. Dahinter steckt<br />

ein Muster, wie man es auch bei Separatismus-Bewegungen<br />

anderswo findet: Der<br />

Wunsch nach Abschottung spiegelt den<br />

Traum, die Errungenschaften der Gegenwart<br />

mit den verklärten Vorzügen der Verigelung<br />

der Schweiz. In den vergangenen<br />

Jahren hatte eine ganze Reihe von Initiativen<br />

Erfolg, die auf mehr Abschottung setzte.<br />

2013 gaben die Stimmbürger der<br />

„Swissness“-Initiative ihren Segen. Seitdem<br />

gelten deutlich strengere Regeln für Unternehmen,<br />

die ihren Produkten das Siegel<br />

made in Switzerland verleihen wollen. Es<br />

folgte die Zweitwohnungsinitiative. Die<br />

macht es Ausländern deutlich schwerer,<br />

Wohnraum in der Schweiz zu erwerben, ohne<br />

dort dauerhaft zu leben. Ende November<br />

kommt nun der radikalste Abschottungsvorschlag<br />

auf den Tisch: Sollte die „Ecopop“-Initiative<br />

Erfolg haben, würde die jährliche<br />

Zuwanderung in die Schweiz auf 0,2<br />

Prozent der aktuellen Bevölkerungszahl be-<br />

schen Wirtschaftsraum teilnimmt. Das<br />

heißt: Waren, Dienstleistungen, Personen<br />

und Kapital dürfen sich frei bewegen. Kontingente<br />

passen da schlecht hinein.<br />

SVP-Mann Brand sieht das anders.<br />

Schließlich erlaube die EU in Ausnahmesituationen<br />

eine Kontrolle der Zuwanderung.<br />

Diese Ausnahme sei gegeben, solange so<br />

viele Menschen in die Schweiz einwanderten,<br />

wie es aktuell der Fall ist. „Die Zuwanderung<br />

hat jedes erträgliche Maß überschritten,<br />

das hält unser Land nicht mehr<br />

aus“, ereifert sich Brand. 80 000 Menschen<br />

sind zuletzt pro Jahr in die Schweiz gezogen;<br />

wenn es nach Brand geht, sollen es<br />

höchstens noch 50 000 oder 60 000 sein.<br />

Die „Masseneinwanderungsinitiative“ ist<br />

ein Musterbeispiel für die wachsende Einschränkt.<br />

Momentan hieße das: auf 16 000<br />

Menschen im Jahr.<br />

Peter Eichenberger verzweifelt, wenn er<br />

solche Vorschläge hört. „30 Prozent unserer<br />

Mitarbeiter kommen aus dem Ausland“,<br />

sagt Eichenberger. „Wenn diese Initiative<br />

Erfolg hat, bekommen wir ernste Probleme.“<br />

Eichenberger leitet das Claraspital in<br />

Basel, 20 Prozent seiner Ärzte und Pfleger<br />

pendelt täglich aus Deutschland über die<br />

Grenze, weitere zehn Prozent kommen aus<br />

Frankreich. „Unsere Wirtschaft ist so verflochten<br />

mit dem Ausland, da ist es doch<br />

eine Illusion, zu glauben, dass man diese<br />

Verzahnung einfach schadlos wieder zurückdrehen<br />

könnte“, sagt Eichenberger.<br />

Wie zur persönlichen Ehrenrettung verweist<br />

er darauf, dass der Kanton Basel ge-<br />

gangenheit zu verbinden. Dass der Verlust<br />

des einen der Preis des anderen ist,<br />

wird dabei ignoriert.<br />

In der Schweiz ist das besonders augenfällig.<br />

Die Wirtschaft hat von der Integration<br />

in Europa stärker profitiert als die<br />

meisten Mitgliedstaaten. Seit der Einbindung<br />

in den Wirtschaftsraum ist das Pro-<br />

Kopf-Wachstum dreimal so hoch wie in<br />

der vorherigen Dekade. Zugleich hat sich<br />

in der Schweiz die Illusion gehalten, das<br />

eine habe mit dem anderen nichts zu tun.<br />

Dabei hat der neue Nationalismus erste<br />

negative Folgen in der Wirtschaft. Gerade<br />

schließt der schwedische Konzern Electrolux<br />

seinen Standort im Kanton Glarus,<br />

einer der Gründe sind die Auflagen der<br />

Swissness-Initiative. Der Chef des Industriekonzerns<br />

ABB gab jüngst zu Protokoll,<br />

dass der Schweizer Hauptsitz zur Disposition<br />

stehe, wenn die Zuwanderungsregeln<br />

zu restriktiv würden.<br />

Tobias Erb will mit seinem Abgang kein<br />

politisches Statement verbinden. Er kann<br />

sich vorstellen, eines Tages zurückzukommen.<br />

„Ich hoffe, dass sich hier die Erkenntnis<br />

durchsetzt, dass das Land von<br />

seiner Internationalität profitiert“, sagt<br />

Erb. Eigentlich sei eine Stadt wie Zürich<br />

„doch der beste Beleg, wie gut Weltoffenheit<br />

und Heimatverbundenheit zusammenpassen“.<br />

konrad.fischer@wiwo.de<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 38 »<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 37<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Beherrscht euch!<br />

ESSAY | Die Krise in Europa stärkt nicht seine regionale Vielfalt. Sie nährt nationale Egoismen. Das<br />

ist gefährlich. Souverän ist heute nicht, wer am Ideal staatlicher Selbstbestimmung festhält.<br />

Sondern wer sein Recht auf Autonomie einklagt – und auf Souveränität verzichtet. Von Dieter Schnaas<br />

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber manchmal kehrt sie<br />

an ihre Schauplätze zurück. Nach Spanien und Flandern<br />

zum Beispiel, Madrid und Brüssel. Folgt man Goethe und<br />

Schiller, nahm an diesen beiden Orten, vor rund 450 Jahren, die<br />

Doppelgeschichte der bürgerlichen Freiheit und nationalen<br />

Selbstbestimmung ihren Lauf. Als „Abgeordneter der ganzen<br />

Menschheit“ barmt Schillers Marquis de Posa, der spanisch-katholische<br />

König Philipp II. möge auch dem frühkapitalistisch-calvinistischen<br />

Volk in den niederländischen Provinzen ein guter Hirte<br />

sein. Als Vollstrecker des tyrannischen Königswillens weist Goethes<br />

Herzog Alba das Ansinnen<br />

brüsk zurück: Er wolle die<br />

Andersgläubigen „zu ihrem<br />

Besten“ zwingen, ihnen „ihr<br />

eigen Heil, wenns sein muss“,<br />

aufdrängen. Man weiß, wie die<br />

Geschichte endet. Die Hoffnung<br />

auf „den Frühling, der<br />

die Gestalt der Welt verjüngt“,<br />

wird von Philipp und Alba gewaltsam<br />

unterdrückt. Aber sie<br />

stirbt nicht mit Egmont und<br />

Don Carlos. Flandern lässt sich<br />

auf Dauer nicht aus der Welt<br />

schaffen, indem es Spanien<br />

gleich, katholisch, „ein ander<br />

Etwas“ wird. Der Aufstand gegen<br />

die Krone mündet in einen<br />

Sezessionskrieg, die sieben<br />

nördlichen Provinzen (die<br />

heutigen Niederlande) sagen<br />

sich 1581 von Spanien los. Zum ersten Mal verdichten sich bürgerlicher<br />

Leistungsstolz, Empörung über religiöse Bevormundung<br />

und Fremdherrschaft zum „nationalen“ Selbstbewusstsein einer<br />

politischen Pioniergesellschaft. Zum ersten Mal besiegt die Peripherie<br />

ein scheinbar übermächtiges Zentrum.<br />

DREIERLEI NATIONALISMEN<br />

Es ist die Geburtsstunde des Nationalismus, der territorial gebundenen<br />

Identität und des kollektiven Selbstbestimmungsrechts –<br />

kraftvolle Gedanken, die den Taten damals wie Blitze dem Donner<br />

vorauseilen. Als Antwort auf die sozioökonomischen Krisen des<br />

Absolutismus entwickelt sich der frühe Nationalismus analog zur<br />

Idee der individuellen Freiheit, entfaltet sein revolutionäres Potenzial<br />

in den amerikanisch-französischen Emanzipationskämpfen.<br />

Er legitimiert die Bildung von souveränen Flächenstaaten und<br />

integriert Bevölkerungen. Er konsolidiert Herrschaft und fördert<br />

die Institutionen- und Rechtssicherheit. Er bereitet dem Handelskapitalismus<br />

dadurch buchstäblich den Boden und „bereinigt“ die<br />

europäische Landkarte. Während der Kontinent Ende des 15. Jahrhunderts<br />

in rund 450 Herrschaftseinheiten zersplittert ist, wird Europa<br />

1914 nur noch aus zwei Dutzend Staaten bestehen.<br />

Der Erste Weltkrieg bedeutet für die Geschichte des Nationalismus<br />

daher eine tiefe Zäsur: Seine Vor- und Nachgeschichte ist <strong>vom</strong><br />

Zerfall multinationaler Reiche im Südosten Europas und einem<br />

neuen, „sezessionistischen“ Nationalismus (Hans-Ulrich Wehler)<br />

geprägt, der sich <strong>vom</strong> „integrierenden“ Gründungsnationalismus<br />

(England, Frankreich, USA) der Frühzeit und <strong>vom</strong> „unifizierenden“<br />

Nationalismus zusammenwachsender Kleinstaaten (Deutschland,<br />

Italien) im 19. Jahrhundert<br />

scharf unterscheidet. Alle Nationalismen<br />

schöpfen ihr Material<br />

aus historischen Ereignissen<br />

und bedienen sich dabei<br />

derselben säkularreligiösen Legitimationsmuster<br />

– auserwähltes<br />

Volk, historische Mission,<br />

Vaterland, Muttererde... Aber<br />

der neue Nationalismus ist<br />

nicht mehr unbedingt von liberalen<br />

Grundsätzen und der Leitidee<br />

getragen, „dass die Gewalt<br />

von unten aufsteigen müsse“<br />

(Leopold Ranke). Im Gegenteil:<br />

Das „Selbstbestimmungsrecht<br />

der Völker“, das Lenin und US-<br />

Präsident Woodrow Wilson<br />

1914/18 im Chor anstimmen,<br />

Geteilte Vielfalt, geeinte Vielfalt? Europa-Karte von 1579<br />

gerät im 20. Jahrhundert in tiefen<br />

Widerspruch zu den individuellen<br />

Menschenrechten. Der Nationalismus, der immer schon eine<br />

ausgrenzende Kehrseite hatte (Indianer, Schwarzafrikaner, Juden,<br />

Polen, nichtrussische Völker), wendet sich ins Chauvinistische<br />

und verliert seinen universalistischen Wert-Anstrich.<br />

Es spricht daher heute nicht viel für eine Politik, die das Ideal der<br />

homogenen Nation in festen Grenzen verfolgt – am wenigsten übrigens<br />

dort, wo diese Grenzen einst von Kolonialmächten willkürlich<br />

gezogen wurden. Stattdessen spricht viel dafür, die Legitimitätsgründe<br />

neonationaler Anliegen – der Schotten, Iren, Waliser,<br />

Wallonen, Korsen, Bretonen, Tiroler, Venetier, Albaner, Abchasen,<br />

Osseten, Tschetschenen – an der Garantie von Sicherheit, Grundrechten<br />

und regional-kultureller Autonomie zu messen. Bezogen<br />

auf Europa, hieße das, die EU weiter zu entwickeln von einer staatenbündlerischen<br />

League of Nations zu einem souveränen Bundesstaat<br />

mit starken Eigenrechten für die Regionen. Danach sieht<br />

es im Moment nicht aus. Die Krise stärkt nicht Dezentralität, sondern<br />

nährt nationale Egoismen. Das ist gefährlich. Souverän ist<br />

heute, frei nach Carl Schmitt, wer auf Souveränität verzichtet. n<br />

FOTO: GETTY IMAGES/HERITAGE IMAGES/FINE ART IMAGES<br />

38 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Politisches Labor<br />

USA | Bei den Kongresswahlen buhlen die Parteien um die am<br />

schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe – die Latinos.<br />

Ein Besuch im besonders hart umkämpften US-Staat Colorado.<br />

gress ein. Bleiben wie bei früheren Wahlen<br />

viele Latinos zu Hause, dürfte der Ex-Marinesoldat<br />

und Kriegsveteran Coffman seinen<br />

Job in Washington zum dritten Mal erfolgreich<br />

verteidigen.<br />

„No mas excusas“, mahnt Romanoff seine<br />

Parteifreunde aus der Latino-Community<br />

ein zweites Mal. „Da vorne liegen Listen<br />

von Wählern, die wir noch besuchen<br />

müssen. Ich hoffe, jeder von euch<br />

schnappt sich eine und legt los.“<br />

WAHLKAMPFKOSTEN VERDOPPELT<br />

Colorado ist einer der am härtesten umkämpften<br />

Bundesstaaten. Als „Swing State“<br />

– ein Bundesstaat, der nicht eindeutig republikanisch<br />

oder demokratisch ist – steht<br />

er traditionell im Blickpunkt der Wahlkampfstrategen.<br />

Doch so aufgeheizt wie<br />

diesmal war die Stimmung wohl noch nie.<br />

Und noch nie war der Einfluss der Latino-<br />

Präsident Obama<br />

hat viele Latinos<br />

enttäuscht<br />

FOTO: BRAD TORCHIA FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Auf dem tischgroßen Grill brutzelt das<br />

Taco-Fleisch, daneben tollen Kinder<br />

über den Rasen, im Hintergrund dudelt<br />

der Latin Pop der Radiostation Que<br />

Bueno 1280. An die 100 Menschen haben<br />

sich um eine kleine Bühne versammelt, wo<br />

ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters<br />

in Khakis und hellblauem Hemd redlich<br />

bemüht ist, gute Stimmung zu verbreiten.<br />

Die Fiesta in Aurora, einem Vorort von<br />

Denver, mutet an wie eine mexikanische<br />

Hochzeit. Doch es ist knallharter amerikanischer<br />

Wahlkampf. „No mas excusas!“, ruft<br />

Andrew Romanoff, der Mann auf der Bühne,<br />

ins Mikrofon. Soll heißen: Es gibt keine<br />

Entschuldigung, wenn die Latinos im Distrikt<br />

6 – einem Bezirk von Denver, den Romanoff<br />

künftig im US-Repräsentantenhaus<br />

Ihre Stimmen, bitte! Der Demokrat Andrew<br />

Romanoff beim Wahlkampf in Aurora<br />

vertreten will – nicht zur Wahl gehen. Beim<br />

Urnengang am 4. November werden in<br />

Amerika das Repräsentantenhaus mit seinen<br />

435 Sitzen, ein Drittel des 100-köpfigen<br />

Senats und 36 von 50 Gouverneuren neu<br />

gewählt. Und der 48-jährige Demokrat Romanoff<br />

will den Sitz des elf Jahre älteren<br />

Republikaners Mike Coffman erobern.<br />

In Umfragen liegen die Rivalen gleichauf.<br />

Deshalb sind die überwiegend demokratisch<br />

gesinnten Latinos in dem Wahlbezirk<br />

am Fuße der Rocky Mountains nun das<br />

Zünglein an der Waage: Gehen viele zur<br />

Wahl, zieht wohl Romanoff, ein Vertrauter<br />

von Ex-Präsident Bill Clinton, in den Kon-<br />

Community größer. Über 120 Millionen<br />

Dollar, doppelt so viel wie bei der vergangenen<br />

Halbzeitwahl, werden die Parteien<br />

und ihre Unterstützer aus der Wirtschaft in<br />

Colorado investiert haben, wenn am 4. November<br />

um 19 Uhr die Wahllokale schließen.<br />

Mit den Millionen pflasterten die<br />

Wahlkampfmanager über Wochen die TV-<br />

Werbeblöcke zu und zettelten Schlammschlachten<br />

an, die selbst für US-Verhältnisse<br />

ungewöhnlich schmutzig ausfielen.<br />

Die Demokraten müssen um jeden Preis<br />

ihre Mehrheit im Senat verteidigen. Von<br />

stark umkämpften Sitzen wie dem des demokratischen<br />

Senators Mark Udall aus Colorado<br />

wird abhängen, ob das klappt. Sollten<br />

die Demokraten die Kontrolle über den<br />

Senat verlieren, hätte Präsident Barack<br />

Obama künftig das gesamte Parlament gegen<br />

sich. Denn im Repräsentantenhaus,<br />

der zweiten Kammer des Parlaments, dürften<br />

die Republikaner ihre Mehrheit verteidigen.<br />

Obama könnte dann nur noch mit<br />

präsidialen Direktiven regieren, die keiner<br />

Zustimmung der Parlamentarier bedürfen.<br />

Dass in Washington trotz des absehbaren<br />

Wahlausgangs im Repräsentantenhaus<br />

die Elite der demokratischen Partei auf das<br />

Duell Romanoff versus Coffman starrt,»<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 39<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

wie ein demokratischer Senator hinter<br />

vorgehaltener Hand erzählt, hat einen besonderen<br />

Grund. Distrikt 6 ist wegen seiner<br />

Wählerstruktur das perfekte politische Labor:<br />

So wie in dem Wahlkreis die Zahl der<br />

Latino-Wähler anstieg, wird sie künftig<br />

auch im gesamten Land wachsen. „Hier<br />

kann man siegen lernen“, sagt der Senator.<br />

Bis vor drei Jahren war Distrikt 6 eine Republikaner-Hochburg,<br />

wo die weiße Mittel-<br />

und Oberschicht lebte. Durch einen<br />

neuen Zuschnitt des Distrikts, der von der<br />

Wahlbehörde 2011 verfügt wurde, lagen<br />

mehrere weiße Wohnviertel plötzlich außerhalb<br />

der Bezirksgrenzen. Mehrere Latino-Viertel<br />

wurden stattdessen integriert.<br />

Der Latino-Anteil in der Wahlbevölkerung<br />

stieg so von 9 auf 20 Prozent.<br />

Für Coffman, der als Hardliner bei Einwanderungsfragen<br />

gilt, war das eine Katastrophe.<br />

Romanoff dagegen, der sich in sozialen<br />

Projekten für Latinos engagiert und<br />

fließend Spanisch spricht, sah die Chance<br />

seines Lebens. Schnell zog er in Distrikt 6<br />

um und brachte sich als Kandidat in Stellung.<br />

Nun freut sich Romanoff auf das letzte<br />

öffentliche Rededuell mit Coffman: Es<br />

findet am 30. Oktober statt – in Spanisch.<br />

Coffman büffelt seit Monaten Vokabeln.<br />

MACHTBLOCK LATINOS<br />

17 Prozent der Bevölkerung, gut 53 Millionen<br />

Menschen, sind den Latinos zuzurechnen.<br />

Damit sind diese nach den europastämmigen<br />

Weißen (63 Prozent) die<br />

zweitgrößte ethnische Gruppe in den USA,<br />

noch vor den Afroamerikanern (13 Prozent).<br />

Zugleich sind die Latinos die am<br />

schnellsten wachsende Gruppe – weil sie<br />

mehr Nachwuchs bekommen und jedes<br />

Jahr rund 400 000 legale und unzählige illegale<br />

Immigranten aus Lateinamerika in die<br />

USA strömen. Monat für Monat steigt die<br />

Zahl der wahlberechtigten Latinos um<br />

65 000. Wahlforscher sind sich sicher: Bald<br />

ist Distrikt 6 überall. Ohne Rückhalt bei<br />

den Latinos wird in den USA niemand<br />

mehr eine Wahl gewinnen.<br />

Bereits bei der Wiederwahl von Präsident<br />

Obama 2012 gaben die Latinos womöglich<br />

den Ausschlag. Obama holte damals<br />

vier von fünf Latino-Stimmen. Nur:<br />

Ob sich das bei der anstehenden Wahl wiederholen<br />

lässt, ist unsicher. Denn der Präsident<br />

hat seine lateinamerikanischen<br />

Freunde enttäuscht. Während seiner Amtszeit<br />

kletterte die Abschiebung illegaler Einwanderer<br />

aus Lateinamerika auf neue Rekordwerte.<br />

Zudem steht er auch sechs Jahre<br />

nachdem er eine Einwanderungsreform<br />

Wo sind die Wähler? Aktivist Rudy Garcia bei<br />

Hausbesuchen im Latino-Viertel Swansea<br />

Entscheidende Gruppe<br />

Welche Themen für die Hispanics<br />

in den USA am wichtigsten sind<br />

(Angaben in Prozent)*<br />

6<br />

13<br />

Gesundheit<br />

16<br />

* Mehrfachnennungen möglich;<br />

Quelle: Latino Decisions, Oktober 2014<br />

35<br />

51<br />

Außenpolitik<br />

Bildung Arbeitsmarkt Einwanderung<br />

und<br />

Wirtschaft<br />

versprochen hatte, mit leeren Händen da.<br />

Ein Gesetzentwurf des Senats, der elf Millionen<br />

illegalen Einwanderern den Weg zu<br />

Aufenthaltsgenehmigungen geebnet hätte,<br />

scheiterte im Sommer an der republikanischen<br />

Mehrheit im Kongress. Obama versprach<br />

daraufhin, wenigstens mit präsidialen<br />

Anordnungen das Leid illegaler Immigranten<br />

zu mildern. Doch selbst das verschob<br />

er – wohl aus Angst, einwanderungskritische<br />

Wählerschichten zu verärgern –<br />

auf die Zeit nach den Wahlen.<br />

Der karge Laden „La Abeja“ ist keine 300<br />

Meter <strong>vom</strong> Parlamentsgebäude von Denver<br />

entfernt. Und doch scheinen Lichtjahre<br />

zwischen der Bäckerei, wo es die besten<br />

Burritos der Stadt geben soll, und der Politik<br />

zu liegen. „Politik“, sagt Bäcker Alexandro<br />

Valadez, der seit Jahrzehnten in den<br />

USA lebt und trotzdem kein Wahlrecht hat,<br />

„das ist nicht meine Welt.“ Es mischt sich<br />

ein Kunde ein: „Obama hat uns im Stich<br />

gelassen“, meint der ergraute Latino. „Aber<br />

sollen wir deshalb die Republikaner wählen?“<br />

Er habe sich für die Wahl angemeldet,<br />

sei aber nicht sicher, ob er hingehe.<br />

Das ist typisch. Vielen Latinos fällt es<br />

schwer, sich für Politik zu begeistern. Bei<br />

den vergangenen Halbzeitwahlen vor vier<br />

Jahren ließen sich nur 47 Prozent in die<br />

Wählerlisten eintragen – und davon gingen<br />

nur 67 Prozent tatsächlich wählen. Unterm<br />

Strich machte also nur jeder Dritte von seinem<br />

Wahlrecht Gebrauch.<br />

Bei den nun anstehenden Wahlen könnten<br />

gleichwohl über drei Dutzend politische<br />

Duelle durch die Latinos entschieden<br />

werden, hat Matt Barreto errechnet, Professor<br />

für Politikwissenschaften an der Universität<br />

des Bundesstaates Washington. Umfragen<br />

zufolge werden 7,8 Millionen Latinos<br />

wählen, 1,2 Millionen mehr als bei den<br />

vergangenen Halbzeitwahlen. Rund 50 Latino-Organisationen,<br />

darunter die einflussreiche<br />

Hispano-Amerikanische Handelskammer,<br />

werben für die Wahlteilnahme.<br />

VERSCHLOSSENE TÜREN<br />

Während Andrew Romanoff in Aurora<br />

Hände schüttelt, ackern 15 Kilometer entfernt<br />

seine verdeckten Helfer. Im Stadtteil<br />

Swansea ziehen Mitglieder der Organisation<br />

Mi Familia Vota von Haus zu Haus, um<br />

Latinos zur Wahlteilnahme zu bewegen.<br />

Offiziell ist Mi Familia Vota eine parteiunabhängige<br />

Organisation. Doch die Gruppe<br />

ist fest im linken Spektrum verankert und<br />

weiß sehr wohl, was eine höhere Wahlbeteiligung<br />

von Latinos in aller Regel bedeutet:<br />

mehr Stimmen für die Demokraten.<br />

Am Nachmittag haben die Mi-Familia-<br />

Vota-Aktivisten mit Rollenspielen ihren<br />

Einsatz geübt und den erfolgreichsten Aktivisten<br />

des Vortags mit einem Starbucks-<br />

Gutschein geehrt. Nun ziehen sie durch ein<br />

Stadtviertel, in das viele weiße Amerikaner<br />

keinen Fuß setzen würden: 83 Prozent der<br />

Einwohner hier sind Latinos, die Armut ist<br />

groß, die Kriminalitätsrate hoch.<br />

Für Rudy Garcia, der seinen Job in einer<br />

Hotelküche an den Nagel gehängt hat, um<br />

für einige Monate Aktivist zu werden, läuft<br />

es an diesem Nachmittag trotzdem nicht<br />

gut. Es bellen Hunde in den Häusern, hinter<br />

den Fenstern flackern Fernseher – doch die<br />

Türen bleiben zu. Wenn der 20-Jährige mal<br />

jemanden antrifft, sind die Gespräche kurz.<br />

„Heute ist ein wichtiges Football-Spiel“, sagt<br />

er. Wenn das Spiel angepfiffen werde, mache<br />

erst recht keiner mehr auf. Garcia<br />

resigniert: „Ich wünschte, die Leute würden<br />

sich für die Wahl annähernd so begeistern<br />

wie für die Denver Broncos.“<br />

n<br />

martin.seiwert@wiwo.de | New York<br />

FOTO: MATT NAGER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

40 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: JOHANN SEBASTIAN KOPP, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, LAIF/ZENIT/PAUL LANGROCK<br />

BRÜSSEL | Belgien<br />

hat eine neue Regierung<br />

– aber kaum<br />

jemand glaubt an<br />

eine lange Amtszeit.<br />

Von Silke Wettach<br />

Steuern auf<br />

Schönheits-OPs<br />

„Das Leben ist hart“, sagt<br />

die Kundin, die sich anhört,<br />

als ob die eben gekauften<br />

Zigaretten eine<br />

ihrer wenigen Freuden<br />

seien. „Und mit der neuen<br />

Regierung wird es noch härter“, antwortet<br />

Zeitungshändlerin Pascale, dank<br />

der Schlagzeilen immer gut informiert.<br />

Keine Frage, hier in Brüssel, aber auch im<br />

Rest des Landes hält sich die Freude über<br />

den neuen Premierminister Charles Michel<br />

arg in Grenzen.<br />

Mitte Oktober, exakt 136 Tage nach der<br />

Wahl, hat Belgien eine neue Regierung<br />

bekommen. Das ist für hiesige Verhältnisse<br />

rasend schnell, dauerte es in der vorigen<br />

Legislaturperiode doch 541 Tage, bis<br />

eine Koalition stand. Doch nur zu gerne<br />

versichern sich die Menschen seitdem,<br />

sie hätten weder den liberalen Michel<br />

noch seine Koalitionspartner gewählt.<br />

Dabei ist der Reformkurs von Michel,<br />

Europas jüngstem Regierungschef, verglichen<br />

mit den Einschnitten in anderen europäischen<br />

Ländern, moderat. Ab 2030<br />

kommt die Rente mit 67, Arbeitslosengeld<br />

wird weiter unbefristet bezahlt, und<br />

wenn die Regierung beschließt, Mehrwertsteuer<br />

fortan auch auf Schönheitsoperationen<br />

zu erheben, zeigt das nur,<br />

welche absurden Ausnahmen das Steuersystem<br />

bisher duldete.<br />

Die Gewerkschaften halten den Kurs<br />

dennoch für eine Zumutung und bereiten<br />

einen Generalstreik vor. Über die Hälfte<br />

der Belgier geht davon aus, dass die neue<br />

Regierung nicht bis zur nächsten Wahl<br />

2019 durchhalten wird. Dies hätte immerhin<br />

den Vorteil, dass sich niemand<br />

mehr rechtfertigen muss, wen er denn<br />

nun gewählt hat.<br />

Silke Wettach ist Brüssel-Korrespondentin<br />

der WirtschaftsWoche.<br />

BERLIN INTERN | Wer voll öko ist, kann mit einem<br />

Reiseführer die erneuerbaren Energien der Heimat<br />

erkunden. Und landet unweigerlich im „solaren<br />

Regierungsviertel“. Von Henning Krumrey<br />

Hackschnitzeljagd<br />

Das war wirklich ein goldener Oktober<br />

– also ein schwarzer Monat<br />

für die deutschen Stromkunden.<br />

Denn weil die Sonne in den<br />

vergangenen Wochen so schön schien, lieferten<br />

die Solaranlagen im ganzen Land<br />

gleich mehrmals rekordverdächtige 18 Gigawattstunden<br />

pro Tag in die Netze. In der<br />

Spitze um die Mittagszeit stammte ein<br />

Drittel des gesamten deutschen Strombedarfs<br />

von der Sonne. Die Kehrseite des<br />

Rekords: Je mehr die Zellenbesitzer abrechnen<br />

können, desto stärker steigt die<br />

EEG-Umlage.<br />

Klassisches Kuppelprodukt Sonne plus<br />

Sendungsbewusstsein gleich Energiewende<br />

Ein Herzstück dieser Entwicklung steht<br />

mitten in Berlin, rund um das Reichstagsgebäude.<br />

Denn der Deutsche Bundestag trägt<br />

gleich doppelt zur teuren Sonnenernte bei:<br />

In den Abgeordnetenbüros und Sitzungssälen<br />

entscheiden die Mandatsträger über jede<br />

neue Kurve der Energiewende. Und<br />

oben auf dem Dach des Plenargebäudes<br />

und manches angrenzenden Bürosilos stehen<br />

große spiegelnde Kollektorenrabatten.<br />

Die Bauten des Bundestages wurden<br />

schon im Zuge des Neubaus und der Sanierung<br />

ganz auf Energiesparen getrimmt.<br />

Etwa 15 Prozent des Stromverbrauchs im<br />

Parlament kommen heute aus erneuerbaren<br />

Quellen. Neben den Solarzellen auf den<br />

Dächern gibt es unter der Erde in 50 Meter<br />

Tiefe einen Speicher, in dem winters kaltes<br />

Wasser gesammelt wird, um in Hitzeperioden<br />

die Büros zu kühlen. Weitere 250 Meter<br />

tiefer läuft das warme Wasser aus dem<br />

Sommerbetrieb zusammen, das später für<br />

die Heizung genutzt wird. Die Beleuchtung<br />

des Plenarsaals wird durch 360 Spiegel<br />

unterstützt, die Tageslicht durch die Kuppel<br />

in den Rundbau darunter leiten. Hinter den<br />

Spiegeln wiederum steigt die heiße Luft der<br />

hitzigen Debatten nach oben, der ein<br />

Wärmetauscher die Energie entzieht. Im<br />

Untergrund tuckern zwei Blockheizkraftwerke,<br />

natürlich mit Biodiesel betrieben.<br />

Für Ökofreaks ist das Politik-Revier sogar<br />

eine der herausragenden Sehenswürdigkeiten.<br />

Das „solare Regierungsviertel“ ist<br />

die klare Nummer eins der Hauptstadt im<br />

„Baedeker Deutschland – Erneuerbare<br />

Energien erleben“ (ja, den gibt’s tatsächlich).<br />

Co-finanziert von der Agentur für Erneuerbare<br />

Energien leitet der Ökoreiseführer<br />

seine Leser zu spektakulären<br />

Rotoranlagen und historischen Windmühlen,<br />

zur „Solarkirche Zernin“, deren Feldsteinbau<br />

durch ein vollflächiges Solardach<br />

verschandelt wird, zum Bioenergiedorf<br />

Jühnde, in dem die Heizung jedes der rund<br />

130 Einfamilienhäuser unterm Strich<br />

700 000 Euro kostete, oder zur Solardraisinenbahn<br />

im Odenwald. Und eben zum<br />

Reichstagsgebäude.<br />

IN DER ZUKUNFT PROBEWOHNEN<br />

Autor Martin Frey wirbt, sein Routenplaner<br />

sei „kein Reiseführer für Technikfreaks“,<br />

sondern „vielleicht der Beginn neuer Bildungsreisen.<br />

Bei Reisen zu Erneuerbaren<br />

Energien treffen wir Leute, die die Zukunft<br />

schon erkunden.“ Und nicht zuletzt könnten<br />

die Gäste in den ausgewählten umweltorientierten<br />

Hotels und Gasthöfen „auf<br />

unverbindliche Weise in der Zukunft probewohnen“.<br />

Da landet man eher im schöpfungsbewahrenden<br />

Familienbetrieb als in<br />

den uninspiriert-uniformen Häusern einer<br />

kontinentalen Hotelkette.<br />

Das Handbuch für die touristische Hackschnitzeljagd<br />

lobt die Parlamentsgebäude<br />

als „weltweit einmalig – mit besonderer<br />

Symbolik für die von Deutschland ausgehende<br />

Energiewende“. Für die Touristen aus<br />

fernen Ländern haben die futuristischen<br />

Anlagen sogar noch einen zusätzlichen<br />

Reiz: Sie müssen die EEG-Umlage nicht<br />

bezahlen.<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 41<br />

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Der Volkswirt<br />

KOMMENTAR | Die US-Notenbank<br />

beendet ihre Anleihenkäufe. Das<br />

hat Folgen für die gesamte Weltwirtschaft.<br />

Von Malte Fischer<br />

Getrennte Wege<br />

Schluss, aus, vorbei. Am<br />

Mittwoch vergangener<br />

Woche gab die US-Notenbank<br />

Fed bekannt,<br />

dass sie fortan keine Staatsanleihen<br />

und hypothekenbesicherten<br />

Wertpapiere mehr kaufen<br />

werde. Die Entscheidung<br />

der Währungshüter ist eine<br />

geldpolitische Zäsur. In drei<br />

Runden hatten sie seit der Lehman-Pleite<br />

ihre Anleihenbestände<br />

von weniger als 1000<br />

Milliarden auf rund 4500 Milliarden<br />

Dollar aufgestockt und<br />

im Gegenzug Zentralbankgeld<br />

in das Bankensystem gepumpt.<br />

Die Währungshüter argumentieren,<br />

die Geldschwemme habe<br />

die US-Wirtschaft über Wasser<br />

gehalten und Millionen<br />

neuer Arbeitsplätze geschaffen.<br />

Kritiker hingegen führen die gute<br />

Performance der US-Wirtschaft<br />

– im dritten Quartal<br />

wuchs sie um annualisiert 3,5<br />

Prozent – vor allem auf den<br />

Fracking-Boom und den Rückgang<br />

der Ölpreise zurück.<br />

MEHR UNGLEICHHEIT<br />

Klar ist, dass die Fed den Besitzern<br />

von Staatsanleihen und Aktien<br />

massive Kursgewinne beschert<br />

hat. So ist der Standard &<br />

Poor’s-500-Aktienindex seit Beginn<br />

der geldpolitischen Lockerung<br />

um 131 Prozent gestiegen.<br />

Das hat zu einer wachsenden<br />

Vermögensungleichheit in der<br />

amerikanischen Gesellschaft<br />

beigetragen und Wasser auf die<br />

Mühlen derjenigen geleitet, die<br />

in höheren Steuern für Reiche<br />

das Heil suchen.<br />

Experten rechnen damit, dass<br />

die US-Notenbanker in wenigen<br />

Monaten damit beginnen, den<br />

Leitzins zu erhöhen, zumal sich<br />

die Lage auf dem Arbeitsmarkt<br />

deutlich verbessert hat. Der<br />

erste Zinsschritt wird für Mitte<br />

2015 erwartet. Dann werden die<br />

großen Zentralbanken der Welt<br />

getrennte Wege gehen. Während<br />

die Fed und vermutlich<br />

auch die Bank von England die<br />

geldpolitischen Zügel straffen,<br />

schicken sich die Europäische<br />

Zentralbank und die Bank von<br />

Japan an, durch zusätzliche<br />

Wertpapierkäufe frisches Geld<br />

in die Wirtschaft zu pumpen.<br />

Das schwächt den Yen und den<br />

Euro. Die Gemeinschaftswährung<br />

könnte mittelfristig<br />

Kurs auf die Parität zum Dollar<br />

nehmen.<br />

HÖHERE ZINSEN<br />

Die Aussicht auf einen weichen<br />

Euro lässt bei manchen Exporteuren<br />

vor allem im Süden Europas<br />

Vorfreude aufkommen,<br />

macht er ihre Waren doch für<br />

Abnehmer aus Nicht-Euro-<br />

Ländern erschwinglicher. Doch<br />

Vorsicht! Straffen die USA die<br />

geldpolitischen Zügel, dürften<br />

Investoren viel Geld aus Schwellenländern<br />

abziehen und es zu<br />

höheren Zinsen in Amerika anlegen.<br />

Um das Kapital zu halten<br />

und die Wechselkurse ihrer<br />

Währungen zum Dollar zu verteidigen,<br />

werden die Notenbanken<br />

in den Schwellenländern dann<br />

ihre Geldpolitik straffen und den<br />

Kurs der Fed nachvollziehen.<br />

Höhere Zinsen bremsen jedoch<br />

die Konjunktur und damit die<br />

Nachfrage dieser Länder nach<br />

deutschen Produkten. Das wird<br />

hässliche Bremsspuren in der<br />

deutschen Handelsbilanz hinterlassen,<br />

die auch der schwache<br />

Euro nicht verhindern kann.<br />

Der geldpolitische Kurswechsel<br />

in Amerika hat somit immense<br />

weltwirtschaftliche Folgen,<br />

denen sich die deutsche Wirtschaft<br />

nicht entziehen kann.<br />

NEW ECONOMICS<br />

Überschätztes Mittel<br />

Haben die viel gelobten Arbeitszeitkonten die Deutschen<br />

vor Massenarbeitslosigkeit während der Rezession<br />

bewahrt? Nein, sagt eine neue Studie.<br />

Arbeitsmarktpolitiker in Frankreich,<br />

Italien und Spanien blicken<br />

seit Jahren voller Neid auf<br />

Deutschland. Während in ihren<br />

Ländern die Arbeitslosigkeit<br />

nach der Lehman-Pleite in die<br />

Höhe schnellte, blieb sie in<br />

Deutschland vergleichsweise<br />

gering. Zwar brach die Wirtschaftsleistung<br />

hierzulande in<br />

der Rezession um insgesamt 6,6<br />

Prozent ein. Doch auf dem Arbeitsmarkt<br />

hinterließ dies kaum<br />

Spuren.<br />

Viele Ökonomen haben sich<br />

seitdem mit den Gründen für<br />

das deutsche Jobwunder auseinandergesetzt.<br />

Häufig ist zu<br />

hören, vor allem die weitverbreiteten<br />

Arbeitszeitkonten hätten<br />

die Beschäftigten vor Massenentlassungen<br />

geschützt. Die<br />

Konten erlauben es, in Boomzeiten<br />

Überstunden anzusammeln,<br />

um sie in Krisenzeiten<br />

abzufeiern. Die Betriebe können<br />

so bei schwächelnder<br />

Nachfrage die Produktion und<br />

die Arbeitszeiten zurückfahren,<br />

ohne Personal zu entlassen.<br />

Mehr als jeder dritte Betrieb hat<br />

mittlerweile Zeitkonten eingeführt,<br />

Ende der Neunzigerjahre<br />

waren es erst 18 Prozent.<br />

Doch auch wenn sich die<br />

Konten steigender Beliebtheit<br />

erfreuen und die Flexibilität des<br />

Personaleinsatzes erhöhen – für<br />

das Beschäftigungswunder<br />

spielen sie offenbar keine dominante<br />

Rolle. Das ist das Ergebnis<br />

einer aktuellen Studie des<br />

Kieler Instituts für Weltwirtschaft*.<br />

Die Forscher haben anhand<br />

von Befragungsdaten des<br />

Instituts für Arbeitsmarkt- und<br />

Berufsforschung unter 16 000<br />

Managern untersucht, ob sich<br />

* Almut Balleer, Britta Gehrke, Christian<br />

Merkl: Some Surprising Facts about<br />

Working Time Accounts and the Business<br />

Cycle, Kiel Working Papers Nr. 1955<br />

die personalpolitischen Entscheidungen<br />

von Unternehmen<br />

mit und ohne Zeitkonten voneinander<br />

unterscheiden.<br />

Mithilfe von Regressionsanalysen<br />

fanden die Forscher<br />

heraus, dass ein Anstieg des<br />

Gewinns um ein Prozent die<br />

Kündigungsquote im Schnitt<br />

um 0,018 Prozentpunkte<br />

senkt. Dabei zeigte sich jedoch<br />

kein Unterschied zwischen<br />

Unternehmen mit und ohne<br />

Zeitkonten. Beide Gruppen<br />

reagierten ähnlich auf Konjunkturschwankungen.<br />

Unternehmen<br />

mit Zeitkonten meldeten<br />

in Krisenzeiten sogar häufiger<br />

Kurzarbeit an.<br />

Zeitkonten auf dem<br />

Vormarsch<br />

Anteil der Betriebe mit Arbeitszeitkonten<br />

(in Prozent)<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

1999 2011<br />

Quelle: IAB<br />

Das spricht dafür, dass Zeitkonten<br />

allein keine ausreichende<br />

Flexibilität bieten, um ohne<br />

Beschäftigungsverluste durch<br />

Krisen zu kommen. Die IfW-<br />

Ökonomen vermuten, dass andere<br />

Gründe für die stabile Lage<br />

am Arbeitsmarkt maßgeblicher<br />

waren und sind. So dürfte die<br />

Lohnzurückhaltung vor der Krise<br />

den Entlassungsdruck verringert<br />

haben. Auch spricht einiges<br />

dafür, dass viele Firmen vor der<br />

Rezession personell unterbesetzt<br />

waren – was vielerorts den<br />

Rationalisierungsdruck senkte.<br />

malte.fischer@wiwo.de<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

44 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />

IG Metall eröffnet die<br />

Lohnrunde 2015<br />

Es ist ein altes Ritual in der IG<br />

Metall: Läuft der Tarifvertrag<br />

aus, trifft sich gut sechs Wochen<br />

vorher der Vorstand der Gewerkschaft,<br />

um die Leitlinien<br />

für die anstehende Lohnrunde<br />

festzuzurren. Heraus kommt<br />

dann zunächst eine „Forderungsempfehlung“.<br />

Die wird in<br />

den Bezirken diskutiert und wenig<br />

später – in der Regel unverändert<br />

– <strong>vom</strong> Vorstand als offizielle<br />

Forderung präsentiert.<br />

Genauso läuft es auch diesmal.<br />

Der Startschuss fällt am<br />

11. November, und die interne<br />

Debatte läuft auf eine „Forderungsempfehlung“<br />

zwischen<br />

fünf und sechs Prozent hinaus.<br />

Es geht der IG Metall aber nicht<br />

nur um mehr Geld für die 3,7<br />

Millionen Beschäftigten der<br />

Metall- und Elektroindustrie.<br />

Hinzu kommen „qualitative<br />

Forderungen“. Zum einen will<br />

die IG Metall eine Neuauflage<br />

der Altersteilzeit – die alten Verträge<br />

laufen wegen der von der<br />

Bundesregierung beschlossenen<br />

Rente mit 63 automatisch<br />

aus. Zum Zweiten verlangen<br />

die Metaller eine sogenannte<br />

Bildungsteilzeit. Beschäftigte<br />

sollen eine Auszeit nehmen<br />

können, wenn sie etwa einen<br />

Schul- oder Berufsabschluss<br />

nachholen oder sich weiterbilden.<br />

Die Arbeitgeber sollen die<br />

entstehenden Gehaltseinbußen<br />

zum Teil kompensieren.<br />

Unterschiede wachsen<br />

Produktion in der Metall- und<br />

Elektroindustrie* (nach Branchen)<br />

130<br />

120<br />

110<br />

100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

Maschinenbau<br />

Fahrzeugbau<br />

Metallverarbeitung<br />

Elektro/DV/Optik<br />

60<br />

2007 2009 2011 2013 14<br />

* saison- und kalenderbereinigte Quartalswerte,<br />

2010 =100; Quelle: Stat.Bundesamt;Gesamtmetall<br />

Beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall<br />

ist man angesichts<br />

solcher Ideen nicht amüsiert.<br />

„Mit einer bezuschussten Bildungsteilzeit<br />

würde letztlich der<br />

Schichtarbeiter dem Ingenieur<br />

das Masterstudium bezahlen“,<br />

ätzt Präsident Rainer Dulger.<br />

Die Tarifverhandlungen beginnen<br />

im Januar, und dass somit<br />

ausgerechnet die kampferprobte<br />

IG Metall das Tarifjahr<br />

2015 eröffnet, sorgt auch jenseits<br />

der Metallindustrie im Arbeitgeberlager<br />

für wenig Begeisterung.<br />

Denn mit ihrem Abschluss<br />

schlagen die Metaller einen<br />

Pflock für alle nachfolgenden<br />

Branchen ein, etwa für die Chemieindustrie,<br />

deren Verträge im<br />

Februar und März auslaufen.<br />

bert.losse@wiwo.de<br />

Tendenz fallend<br />

Geschäftsklima in der Metallund<br />

Elektroindustrie*<br />

60<br />

40<br />

Lage<br />

20<br />

0<br />

-20<br />

-40<br />

Erwartungen<br />

-60<br />

-70<br />

2008 2010 2012 14<br />

* Saldo der Firmenmeldungen über gute<br />

und schlechte Geschäftslage und -erwartungen;<br />

Quelle: ifo, Gesamtmetall<br />

Arbeitsmarkt<br />

trotzt der Krise<br />

Trotz dunklerer Wolken am<br />

Konjunkturhimmel bleibt die<br />

Lage am Arbeitsmarkt entspannt.<br />

Die Arbeitslosenzahl<br />

sank im Oktober um 75 000 auf<br />

2,733 Millionen. Saisonbereinigt<br />

waren 22 000 Menschen<br />

weniger ohne Job als im Vormonat.<br />

Die Quote fiel um 0,2 Punkte<br />

auf 6,3 Prozent. Frank-Jürgen<br />

Weise, Vorstandschef der Bundesagentur<br />

für Arbeit: „Die aktuellen<br />

wirtschaftlichen Unsicherheiten<br />

zeigen sich auf dem<br />

Arbeitsmarkt nicht.“<br />

Bleibt die Frage, wie lange das<br />

so bleibt: Der ifo-Geschäftsklimaindex<br />

ist im Oktober zum<br />

sechsten Mal in Folge gesunken<br />

und liegt mit 103,2 Zählern auf<br />

dem niedrigsten Stand seit Dezember<br />

2012. Die rund 7000 befragten<br />

Unternehmen bewerteten<br />

sowohl die aktuelle Lage als<br />

auch ihre Geschäftsperspektiven<br />

für die kommenden sechs<br />

Monaten pessimistischer.<br />

Volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnung<br />

Real. Bruttoinlandsprodukt<br />

Privater Konsum<br />

Staatskonsum<br />

Ausrüstungsinvestitionen<br />

Bauinvestitionen<br />

Sonstige Anlagen<br />

Ausfuhren<br />

Einfuhren<br />

Arbeitsmarkt,<br />

Produktion und Preise<br />

Industrieproduktion 1<br />

Auftragseingänge 1<br />

Einzelhandelsumsatz 1<br />

Exporte 2<br />

ifo-Geschäftsklimaindex<br />

Einkaufsmanagerindex<br />

GfK-Konsumklimaindex<br />

Verbraucherpreise 3<br />

Erzeugerpreise 3<br />

Importpreise 3<br />

Arbeitslosenzahl 4<br />

Offene Stellen 4<br />

Beschäftigte 4, 5<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

0,4<br />

0,8<br />

1,0<br />

–4,0<br />

–1,4<br />

3,4<br />

3,2<br />

1,4<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

–0,9<br />

–4,2<br />

0,1<br />

3,3<br />

105,0<br />

46,7<br />

5,9<br />

2,0<br />

1,6<br />

2,1<br />

2896<br />

478<br />

29355<br />

0,1<br />

0,9<br />

0,4<br />

–2,4<br />

–0,2<br />

3,0<br />

0,9<br />

1,5<br />

–0,2<br />

2,5<br />

0,2<br />

–0,2<br />

106,9<br />

50,6<br />

6,5<br />

1,5<br />

–0,1<br />

–2,5<br />

2950<br />

458<br />

29722<br />

II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />

Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />

0,8<br />

0,6<br />

0,0<br />

2,3<br />

3,0<br />

0,0<br />

1,4<br />

1,3<br />

Juli<br />

2014<br />

1,6<br />

4,9<br />

–0,9<br />

4,8<br />

108,0<br />

52,4<br />

8,9<br />

0,8<br />

–0,8<br />

–1,7<br />

2912<br />

484<br />

30259<br />

1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />

Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />

alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />

0,3<br />

0,7<br />

0,6<br />

–0,5<br />

1,8<br />

0,2<br />

0,7<br />

1,7<br />

Aug.<br />

2014<br />

–4,0<br />

–5,7<br />

1,5<br />

–5,8<br />

106,3<br />

51,4<br />

8,9<br />

0,8<br />

–0,8<br />

–1,9<br />

2900<br />

494<br />

30257<br />

0,5<br />

–0,8<br />

–0,1<br />

2,1<br />

0,7<br />

0,2<br />

1,7<br />

0,7<br />

Sept.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

104,7<br />

49,9<br />

8,6<br />

0,8<br />

–1,0<br />

–1,6<br />

2909<br />

500<br />

–<br />

0,7<br />

0,8<br />

0,4<br />

2,1<br />

4,1<br />

1,2<br />

0,0<br />

0,5<br />

Okt.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

103,2<br />

51,8<br />

8,4<br />

–<br />

–<br />

–<br />

2887<br />

509<br />

–<br />

–0,2<br />

0,1<br />

0,1<br />

–0,4<br />

–4,2<br />

0,1<br />

0,9<br />

1,6<br />

Nov.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

8,5<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

Letztes Quartal<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

0,8<br />

1,0<br />

1,0<br />

2,1<br />

0,7<br />

1,6<br />

2,5<br />

4,1<br />

Letzter Monat<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

–5,9<br />

–4,2<br />

–0,7<br />

–1,0<br />

–4,2<br />

0,2<br />

19,7<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–2,6<br />

11,1<br />

1,6<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 45<br />

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Der Volkswirt<br />

WELTWIRTSCHAFT<br />

Streit der Scheichs<br />

Der Ölpreis ist dramatisch gesunken – Resultat des<br />

weltweit stark gestiegenen Angebots. Ob das so weitergeht,<br />

hängt vor allem von Saudi-Arabien ab.<br />

Für Autofahrer und Besitzer<br />

von Ölheizungen ist<br />

die Lage derzeit erfreulich:<br />

Der Ölpreis ist dramatisch<br />

gesunken. Das Barrel Rohöl<br />

kostete am Handelsplatz London<br />

zu Jahresanfang und auch<br />

noch Anfang Juli etwa 110 US-<br />

Dollar. Inzwischen sind es nur<br />

noch 85 Dollar, Benzin- und<br />

Dieselpreise fielen zeitweise auf<br />

den niedrigsten Stand seit drei<br />

Jahren. Das Geld, das die Konsumenten<br />

beim Tanken sparen,<br />

können sie jetzt für andere Güter<br />

ausgegeben.<br />

Trotzdem ist der aktuelle<br />

Preisverfall nicht unbedingt eine<br />

gute Nachricht für die Weltwirtschaft.<br />

Denn fallende Ölpreise<br />

sind oft die Folge einer<br />

stockenden Konjunktur und<br />

dementsprechend flauen Nachfrage.<br />

Als 2008 die Finanzkrise<br />

ausbrach, stürzte der Ölpreis in<br />

weniger als einem halben Jahr<br />

um 75 Prozent ab. Und auch in<br />

diesem Jahr reagierten die Erdölmärkte<br />

in London und New<br />

York immer wieder auf schlechte<br />

Konjunkturdaten aus Europa<br />

oder Ostasien mit überdurchschnittlichen<br />

Tagesverlusten.<br />

Trübe wirtschaftliche Aussichten<br />

allein können den Abwärtstrend<br />

der vergangenen<br />

Wochen indes nicht erklären.<br />

„Es gibt ein steigendes Angebot<br />

an den Ölmärkten, das beeinflusst<br />

die Preise derzeit stärker<br />

als die Entwicklung der Nachfrage“,<br />

sagt Carsten Fritsch,<br />

Rohstoffanalyst der Commerzbank<br />

in Frankfurt.<br />

Allen politischen Krisen zum<br />

Trotz wird weltweit immer<br />

mehr Öl produziert. So hat etwa<br />

der irakische Ölexport unter<br />

dem Vormarsch der islamistischen<br />

Terrormilizen kaum gelitten.<br />

Noch wichtiger für das<br />

Marktgeschehen im Oktober<br />

waren die Ereignisse in Libyen.<br />

Das nordafrikanische Land förderte<br />

und exportierte 2013 noch<br />

durchschnittlich fast eine Million<br />

Barrel Öl pro Tag. Dann versank<br />

Libyen im Bürgerkrieg,<br />

die Förderung sank auf etwa<br />

200 000 Barrel am Tag. Die Unruhen<br />

seitdem dauern zwar an,<br />

doch die wichtigsten Pipelines<br />

und Ölhäfen funktionieren seit<br />

September trotzdem wieder:<br />

Auch Milizenführer wollen<br />

eben am Erdöl verdienen. Mit<br />

900 000 Barrel pro Tag ist das<br />

Land mittlerweile an die Märkte<br />

zurückgekehrt.<br />

FOLGEN DES FRACKING<br />

Hinzu kommt der Fracking-<br />

Boom in den USA, der die globalen<br />

Ölmärkte durcheinanderwürfelt.<br />

2008 haben die<br />

Amerikaner pro Tag durchschnittlich<br />

6,8 Millionen Barrel<br />

gefördert und 19,5 Millionen<br />

verbraucht. Fünf Jahre später ist<br />

der Verbrauch leicht auf 18,9<br />

Millionen Barrel gesunken – die<br />

Viel Raum nach unten<br />

Das Auf und Ab des Rohölpreises<br />

seit 2008* (in Dollar)<br />

150<br />

120<br />

90<br />

93,72<br />

60<br />

30<br />

140,52<br />

35,61<br />

85,27<br />

2008 2010 2012 2014<br />

* wöchentlicher Durchschnittspreis<br />

für ein Barrel der Ölsorte Brent<br />

in London; Quelle: Bloomberg<br />

Unklare Aussichten Erdölsuche in der saudi-arabischen Wüste<br />

Produktion aber dank neuer<br />

Fördermethoden <strong>vom</strong> Fracking<br />

bis zur Querbohrung auf<br />

scheinbar erschöpften Ölfeldern<br />

auf zehn Millionen Barrel<br />

gestiegen. Die Folge: Öl aus Angola<br />

und Nigeria, das bislang in<br />

die USA floss, wird jetzt in Europa<br />

angeboten, beobachtet<br />

Commerzbank-Analyst Fritsch.<br />

Auch dies hat den für Deutschland<br />

wichtigen Marktpreis in<br />

London so stark einbrechen<br />

lassen.<br />

Weil die amerikanische<br />

Ölproduktion<br />

immer noch ungebrochen<br />

zunimmt,<br />

könnte der Preis in<br />

den kommenden<br />

Monaten weiter sinken.<br />

Es sei denn, Saudi-Arabien<br />

und seine Partner<br />

im Produzentenkartell Opec<br />

würden diese Rechnung<br />

durchkreuzen.<br />

Schon oft haben die Saudis<br />

in Zeiten fallender Ölnotierungen<br />

ihre Produktion gedrosselt<br />

und so den Weltmarktpreis<br />

wieder in die Höhe getrieben.<br />

Der Hintergrund: Nach Berechnungen<br />

der Internationalen<br />

Energieagentur (IEA)<br />

würde der saudische Staatshaushalt<br />

zusammenbrechen,<br />

wenn der Barrelpreis dauerhaft<br />

unter 80 Dollar sänke. Dieser<br />

Wert ist inzwischen in gefährliche<br />

Nähe gerückt.<br />

Warum aber hat Saudi-Arabien<br />

dann in diesem Jahr seinen<br />

Ölexport eher intensiviert<br />

als gedrosselt? Viele Experten<br />

Video<br />

In unserer<br />

App-<strong>Ausgabe</strong><br />

analysieren wir<br />

die Konflikte<br />

innerhalb der<br />

Opec<br />

sagen: Saudi-Arabien will den<br />

Aufstieg der USA zur Erdöl-Supermacht<br />

bremsen, indem sie<br />

den Preis niedrig halten. Ein<br />

Teil des heute geförderten<br />

Schieferöls in den USA verursacht<br />

mehr als 80 Dollar Produktionskosten<br />

pro Barrel,<br />

schätzt die IEA. Sinkt der Ölpreis<br />

auf Dauer unter diese<br />

Marke, würde kaum jemand<br />

noch auf den amerikanischen<br />

Ölfeldern investieren.<br />

Saudi-Arabien<br />

mit seinen niedrigen<br />

Produktionskosten<br />

bliebe die<br />

Nummer eins auf<br />

dem Weltmarkt.<br />

Die Strategie<br />

ist freilich in der<br />

saudischen Führung<br />

umstritten: Was hat das<br />

Herrscherhaus von zukünftiger<br />

Marktmacht, wenn zuvor der<br />

eigene Staatshaushalt zusammenbricht?<br />

Prinz Al-Waleed,<br />

der reichste Mann unter den<br />

vielen Neffen des Königs, hat<br />

Ölminister Ali Al-Naimi daher<br />

öffentlich aufgefordert, endlich<br />

die Ölproduktion zu drosseln.<br />

Seitdem hält der Streit unter<br />

den saudischen Scheichs an.<br />

Der Termin für einen möglichen<br />

Kurswechsel steht aber<br />

schon fest:Am 27. November<br />

tagen in Wien die Minister der<br />

Opec-Staaten.<br />

Mineralölhändler und Hausbesitzer<br />

sollten Heizöl- und<br />

Benzintanks nach Möglichkeit<br />

vorher füllen.<br />

hansjakob.ginsburg@wiwo.de<br />

FOTO: MAURITIUS IMAGES/ALAMY<br />

46 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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DENKFABRIK | Ökonomische Rankings sind allgegenwärtig. Sie haben jedoch zahlreiche<br />

Fallstricke – und häufig werden aus fragwürdigen Vergleichen weitreichende wirtschaftspolitische<br />

Forderungen abgeleitet. Die Diskussion um Deutschlands vermeintlich zu<br />

niedrige Investitionen liefert dafür ein schlagendes Beispiel. Von Thomas K. Bauer<br />

Statistisches Unkraut<br />

FOTOS: PR, PICTURE-ALLIANCE/DPA/KLAUS OHLENSCHLÄGER<br />

Wer ist der Schnellste,<br />

Beliebteste<br />

und Reichste im<br />

Land? Ranglisten<br />

sind mittlerweile allgegenwärtig<br />

– von Amazon-Rankings<br />

neuer Digitalkameras über Universitäts-Rankings<br />

bis hin zum<br />

Medaillen-Spiegel bei Olympischen<br />

Spielen. Viele Produzenten<br />

von Statistiken haben ihr<br />

Geschäftsmodell darin gefunden,<br />

die Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion<br />

mithilfe von<br />

Ranglisten zu bedienen.<br />

Leider produzieren sie oft nur<br />

inhaltsleeren Zahlenschaum.<br />

Das muss gar nicht so weit gehen<br />

wie beim ADAC, der das<br />

Auto des Jahres nach eigenem<br />

Gusto bestimmte. Oft reicht es<br />

schon, dass es überhaupt einen<br />

Sieger gibt. So wurde Friedrich<br />

der Große <strong>vom</strong> US-Militärmagazin<br />

„The Quarterly Journal of<br />

Military History“ zum größten<br />

deutschen Feldherren aller Zeiten<br />

gekürt. Der britische „Economist“<br />

meinte, London sei die<br />

attraktivste Einkaufsstadt Europas.<br />

Der Happy-Planet-Index<br />

der New Economics Foundation<br />

verkündete, in Costa Rica leben<br />

die glücklichsten Menschen.<br />

BEZUGSGRUPPE FALSCH<br />

Die Fallstricke dieser von subjektiven<br />

Einschätzungen abhängenden<br />

Ranglisten sind offensichtlich.<br />

Aber auch Rankings,<br />

die auf objektiven Zahlen beruhen,<br />

haben ihre Tücken. In dem<br />

jüngst zusammen mit Gerd<br />

Gigerenzer und Walter Krämer<br />

veröffentlichten Buch „Warum<br />

dick nicht doof macht und Genmais<br />

nicht tötet“ (Campus)<br />

geben wir einen Überblick der<br />

größten Risiken und Nebenwirkungen<br />

von „Unstatistiken“,<br />

dem wuchernden statistischen<br />

Unkraut, das die Öffentlichkeit in<br />

die Irre führt. Das geschieht oft<br />

unabsichtlich, weil den Produzenten<br />

die Risiken einer falsch angewandten<br />

Statistik nicht bewusst<br />

sind, aber mitunter auch gezielt.<br />

Ein Klassiker ist die Wahl von<br />

unpassenden Bezugs- oder Vergleichsgrößen.<br />

Auf diese Weise<br />

lässt sich aus Zahlen, die für sich<br />

genommen objektiv und präzise<br />

erhoben wurden, der größte Unsinn<br />

produzieren. Ein Paradebeispiel<br />

sind Berichte über die alljährliche<br />

Polizeistatistik. Frankfurt<br />

am Main wird dann regelmäßig zur<br />

deutschen Hauptstadt des Verbrechens<br />

erklärt, weil die in Frankfurt<br />

»Viele Produzenten<br />

von<br />

Statistiken haben<br />

in Rankings ihr<br />

Geschäftsmodell<br />

gefunden«<br />

(inklusive Flughafen) registrierten<br />

Delikte auf die dort gemeldete Bevölkerung<br />

bezogen werden (Straftaten<br />

pro 100 000 Einwohner).<br />

Eine seriöse Rangliste müsste im<br />

Nenner aber auch Pendler, Messebesucher<br />

und Touristen sowie<br />

umsteigende Reisende an Hauptbahnhof<br />

und Flughafen berücksichtigen.<br />

Denn auch die können<br />

bei ihrem Aufenthalt eine Straftat<br />

verüben oder ihr zum Opfer fallen.<br />

Zu besonders absurden Ergebnissen<br />

führt diese Unstatistik im Fall<br />

des Vatikans. Dort gibt es nur<br />

knapp 500 Einwohner, aber jährlich<br />

rund 18 Millionen Besucher.<br />

Auf Letztere entfallen rund 99<br />

Prozent der registrierten Delikte.<br />

Durch die Wahl der Einwohner als<br />

– falscher – Bezugsgruppe erscheint<br />

der Vatikan als mit Abstand<br />

kriminellster Staat der Erde.<br />

Viele ökonomische Rankings<br />

leiden an einer falschen oder zumindest<br />

erläuterungsbedürftig gewählten<br />

Vergleichsgruppe. Ein Beispiel<br />

ist der Global Wealth Report<br />

der Allianz. Auf Basis des durchschnittlichen<br />

Nettogeldvermögens<br />

pro Kopf wird ein Ranking der<br />

reichsten Länder erstellt. Laut der<br />

aktuellsten Daten für das Jahr<br />

2012 landet Deutschland auf Platz<br />

17. Das ist plausibel, solange man<br />

auch das Kleingedruckte liest.<br />

Doch oft wird nur das Ranking<br />

Hier wird investiert! Neubau der<br />

Lahntalbrücke bei Limburg<br />

selbst zitiert. Dann entsteht ein<br />

stark verzerrtes Bild, weil die Rangliste<br />

sowohl Länder mit kapitalgedeckter<br />

Altersvorsorge als auch<br />

Länder mit hauptsächlich umlagefinanziertem<br />

System der Rentenversicherung<br />

enthält. Für die erste<br />

Gruppe wird das angesparte Kapital<br />

berücksichtigt, für die zweite<br />

Gruppe die ebenfalls vermögensrelevanten<br />

Anwartschaften aber<br />

nicht. Kein Wunder, dass kapitalbasierte<br />

Länder wie die Schweiz<br />

und die USA deutlich vor umlagefinanzierten<br />

Ländern wie Frankreich<br />

und Deutschland liegen.<br />

Auch in der aktuellen Diskussion<br />

um vermeintlich zu geringe<br />

Investitionen in Deutschland<br />

spielen implizite Rankings von<br />

nationalen Investitionsquoten<br />

innerhalb Europas eine Rolle.<br />

Die gigantische Investitionslücke,<br />

die manche Ökonomen sehen,<br />

ergibt sich für Deutschland<br />

nur, wenn man erstens das<br />

Aggregat aller Investitionen (öffentlich<br />

und privat, jeweils inklusive<br />

Bau) betrachtet und zweitens<br />

auch Länder wie Spanien<br />

und Irland zum Vergleich heranzieht,<br />

die vor der Krise einen<br />

exzessiven Bauboom erlebt haben.<br />

Drittens ist beim Vergleich<br />

von öffentlichen Investitionen<br />

zu beachten, dass es in den<br />

Ländern unterschiedliche Abgrenzungen<br />

des staatlichen<br />

Aufgabengebietes gibt. Sonst<br />

vergleicht man Äpfel mit Birnen.<br />

Berücksichtigt man diese drei<br />

Aspekte angemessen, bleibt<br />

zwar ein gewisser Nachholbedarf<br />

in Bereichen wie der Verkehrsinfrastruktur<br />

übrig. Keinesfalls<br />

aber öffnet sich eine so<br />

gigantische Investitionslücke,<br />

dass jetzt massenhaft privates<br />

Kapital mit staatlichen Anreizen<br />

an der Schuldenbremse vorbeigeschleust<br />

werden sollte. Für<br />

milliardenschwere Renditeversprechen<br />

müsste langfristig ohnehin<br />

der Steuerzahler aufkommen.<br />

Dieser Vorschlag illustriert<br />

eindrucksvoll, welche ökonomischen<br />

Risiken entstehen, wenn<br />

aus fragwürdigen Vergleichen<br />

wirtschaftspolitische Forderungen<br />

abgeleitet werden.<br />

Thomas Bauer ist Vizepräsident<br />

des Rheinisch-<br />

Westfälischen Instituts für<br />

Wirtschaftsforschung (RWI)<br />

und Professor für empirische<br />

Wirtschaftsforschung an der<br />

Ruhr-Universität Bochum.<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 47<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Super-GAU mit<br />

Todesgefahr<br />

ARZNEIMITTELFÄLSCHUNGEN | Bisher waren sie die Domäne<br />

dubioser Online-Anbieter, nun tauchen gestreckte und<br />

manipulierte Präparate zunehmend in der Apotheke auf.<br />

Weil die Gewinne höher sind als im Drogenhandel,<br />

haben organisierte Kriminelle das Geschäft entdeckt.<br />

FOTOS: BERT BOSTELMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />

Der Oberarm schwoll an und begann zu<br />

schmerzen. Theresa Müller, Mitte 50,<br />

wohnhaft in einer Kreisstadt im südlichen<br />

Sauerland, spritzt sich seit Jahren das Mittel<br />

Pegasys gegen Hepatits C, eine Virusinfektion<br />

der Leber. Doch dieses Mal schlägt das<br />

Präparat des Schweizer Pharmakonzerns<br />

Roche nicht so an wie sonst. „Lokale Reaktion<br />

an der Einstichstelle mit Eibildung“, vermerkt<br />

ihr Apotheker in einem Meldebogen.<br />

Ursache unbekannt.<br />

Einen Tag später, am 7. November 2013,<br />

bringt Müller die Spritze in die Apotheke.<br />

Der Pharmazeut stutzt. Statt einer Glasspritze,<br />

wie sie Roche normalerweise verwendet,<br />

enthält die Packung Pegasys Plastikspritzen;<br />

nicht wie üblich mit grauen, sondern mit<br />

schwarzen Schutzkappen und mit weißen<br />

statt mit roten Kolben. Zudem fehlt auf der<br />

Faltschachtel der Barcode. Der Apotheker<br />

fotografiert das ungewohnte Set, schickt die<br />

Spritze sowie das Präparat an Roche.<br />

Wenig später kommt das Ergebnis: Die<br />

Packung Pegasys, 180 Mikrogramm/0,5 Milliliter,<br />

enthielt statt des Wirkstoffs gegen<br />

Hepatitis nur schnödes Wasser mit Kochsalz.<br />

Theresa Müller aus Westfalen, die in<br />

Wirklichkeit anders heißt, ihren Namen<br />

aber nicht in der Presse lesen möchte, ist<br />

das Opfer krimineller Machenschaften, die<br />

für Patienten wie für Pharmaunternehmen<br />

den Horror bedeuten: gefälschte Arzneimittel,<br />

nicht aus dunklen Kanälen im anonymen<br />

unkontrollierbaren Internet, sondern<br />

aus dem Herzen des Gesundheitssystems,<br />

der Apotheke. Nahezu jeden Monat<br />

werden neue Fälle bekannt, in denen Verdünntes<br />

und Verfälschtes in den Verkauf<br />

kommt – unter dem Siegel des Arzneikelches<br />

mit der Schlange, das für die Apotheken<br />

hierzulande steht. Die meisten Fälschungen<br />

dürften überhaupt niemandem<br />

auffallen. Viele Patienten und Ärzte kommen<br />

gar nicht auf die Idee, dass die Verschlechterung<br />

des Gesundheitszustandes<br />

von einer gefälschten Medizin herrühren<br />

könnte, die sie am Ort ihres Vertrauens, in<br />

der Apotheke, erstanden haben.<br />

RUMÄNISCHER URSPRUNG<br />

„Dass gefälschte Medikamente vermehrt<br />

in Apotheken gelangen, ist der pharmazeutische<br />

Super-GAU“, sagt der Essener<br />

Zollermittler Jürgen R., „das ist Körperverletzung<br />

mit Todesgefahr.“<br />

Deutschlands Behörden sind alarmiert.<br />

Auf „noch unter ein Prozent“ schätzt Walter<br />

Schwerdtfeger, bis Ende Juli Deutschlands<br />

oberster Arzneiprüfer beim Bonner<br />

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte<br />

(BfArM), den Anteil gefälschter<br />

Präparate in deutschen Apotheken und<br />

Kliniken. Im Klartext: Nahezu jedes 100.<br />

Medikament von hier könnte manipuliert<br />

sein. Und die Liste der bisher erkannten<br />

Fälle wird immer länger:<br />

n Im August und September 2013 tauchten<br />

Fälschungen des Pfizer-Krebsmittels Sutent<br />

in deutschen Apotheken auf. Das Präparat<br />

enthielt keinen Wirkstoff; es war ursprünglich<br />

für den rumänischen Markt<br />

produziert und <strong>vom</strong> Importeur CC Pharma<br />

aus der Eifel auf den Markt gebracht worden.<br />

Einem Patienten war aufgefallen, dass<br />

Kapseln und Pulver eine andere Farbe hatten<br />

als sonst.<br />

n Im April 2014 wurde offenbar, dass Unbekannte<br />

Zehntausende Medikamente aus<br />

»<br />

ORIGINAL<br />

FÄLSCHUNG<br />

PEGASYS<br />

Warnung an Ärzte<br />

Die Original-Spritze ist aus Glas,<br />

enthält eine graue Schutzkappe<br />

und einen roten Kolben. Im Herbst<br />

2013 tauchte eine gefälschte<br />

Pegasys-Spritze (gegen Hepatitis C)<br />

bei deutschen Importeuren und in<br />

Apotheken auf. Roche verschickte<br />

Warnbriefe an die Ärzte.<br />

48 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Mehr als eine Million<br />

gefälschte Präparate<br />

pro Jahr Röntgenaufnahmen<br />

von Arzneimitteln<br />

am Zollamt des<br />

Frankfurter Flughafens<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 49<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Verdächtige Pillen<br />

Zahl der beschlagnahmten Tabletten und<br />

Ampullen am Frankfurter Flughafen<br />

(in Millionen)<br />

3,0<br />

2,5<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

2007 08 09 10 11 12 13<br />

Quelle: Fraport<br />

0<br />

|1| |2|<br />

»<br />

italienischen Kliniken gestohlen haben.<br />

Über dubiose Zwischenhändler in Osteuropa<br />

gelangten die Arzneimittel teilweise manipuliert<br />

überwiegend nach Deutschland.<br />

Insgesamt 82 verschiedene Präparate waren<br />

betroffen, darunter 2049 Packungen des<br />

Brustkrebsmittels Herceptin sowie 1670 Packungen<br />

des Darmkrebs-Präparats Avastin,<br />

beide von Roche. Auch Rheumapräparate<br />

sowie das Lungenmittel Spiriva von Boehringer<br />

Ingelheim und die Krebsarznei<br />

Erbitux von Merck gehörten dazu.<br />

n Im Mai 2014 lieferte in Berlin ein Patient,<br />

der sich nicht zu erkennen gab, eine Fälschung<br />

des Wachstumshormons Norditropin<br />

des dänischen Herstellers Novo Nordisk<br />

in einer Apotheke ab.<br />

n Im Juni 2014 warnte das Bundesinstitut<br />

für Arzneimittel und Medizinprodukte vor<br />

Fälschungen des Krebsmittels Sutent des<br />

US-Pharmakonzerns Pfizer.<br />

n Im Oktober 2014 schließlich schlug das<br />

Paul-Ehrlich-Institut, das in Deutschland<br />

für die Kontrolle der Impfstoffe und Biopräparate<br />

zuständig ist, wegen möglicher<br />

Manipulationen einer Charge des Darmkrebsmittels<br />

Avastin „rumänischen Ursprungs“<br />

Alarm. Hersteller von Avastin ist<br />

Roche. Die Fläschchen hatte ein deutscher<br />

Importeur von einem rumänischen Großhändler<br />

bezogen. Auffällig war unter anderem,<br />

dass die Packungen fester verklebt<br />

waren als üblich.<br />

Die zunehmende Zahl von Fälschungen<br />

– in Apotheken und ebenso bei dubiosen<br />

Versandhändlern im Internet – hat inzwischen<br />

auch die Politik wachgerüttelt. Bei<br />

der Justizministerkonferenz der Länder am<br />

6. November will die Hamburger Justizsenatorin<br />

Jana Schiedek (SPD) eine Bundesratsinitiative<br />

gegen Produktpiraterie<br />

vorstellen, bei der gefälschte Arzneimittel<br />

im Mittelpunkt stehen. „Wir müssen die<br />

abschreckende Wirkung des Strafrechts<br />

erhöhen und die Ermittlungsmöglichkeiten<br />

der Staatsanwaltschaften verbessern“,<br />

fordert Schiedek. So sollen Fahnder auch<br />

bei Arzneimittelfälschern die Möglichkeit<br />

bekommen, Telefone anzuzapfen.<br />

DROHENDE UMSATZVERLUSTE<br />

Die gefälschten Arzneien in Apotheken haben<br />

die Hersteller in helle Aufregung versetzt.<br />

Global ist keine der Branchengrößen<br />

vor den Fakes gefeit. „An einer gefälschten<br />

Handtasche ist noch niemand gestorben,<br />

an gefälschten Medikamenten jedoch<br />

schon“, wettert Karl-Ludwig Kley, Vorsitzender<br />

der Geschäftsleitung von Merck.<br />

Produkte des Darmstädter Pharma- und<br />

Chemiekonzerns wurden ebenso gefälscht<br />

wie Mittel von Bayer, Boehringer Ingelheim<br />

oder Pfizer. Spricht sich herum, dass<br />

Patienten oder Ärzte bei einem Präparat<br />

nicht sicher sein können, dass es echt ist,<br />

drohen den Unternehmen Imageschäden<br />

und Umsatzverluste. „Ich habe schon Anrufe<br />

von Ärzten und Apothekern bekommen,<br />

die nach Bekanntwerden der Fälle<br />

lieber auf Präparate anderer Hersteller ausweichen<br />

wollten“, sagt der Chef eines großen<br />

Pharmaunternehmens.<br />

Zwar gaben die Behörden kürzlich eine<br />

teilweise Entwarnung. Nach den Arzneimitteldiebstählen<br />

in italienischen Kliniken<br />

im Frühjahr seien Medikamente, die<br />

nach dem 1. Juli nach Deutschland exportiert<br />

wurden, vor Fälschungen sicher, erklärte<br />

die italienische Arzneimittelbehörde<br />

AIFA vorvorige Woche.<br />

Doch beruhigend klingt das nicht. Für<br />

viele Krebsmittel, die an die Krankenhäuser<br />

der Apennin-Halbinsel geliefert wurden,<br />

empfiehlt die AIFA weiterhin die „Abklärung<br />

der Legalität“. Und das Paul-Ehrlich-Institut<br />

in Langen bei Frankfurt rät,<br />

Ärzte, Apotheker und Patienten sollten<br />

weiterhin auf mögliche Manipulationen,<br />

etwa an der Verpackung, achten.<br />

Für Fahnder ist klar, dass die Mafia und<br />

osteuropäische Banden den Handel mit<br />

gefälschten Arzneimitteln für sich entdeckt<br />

haben. Denn die Profite, die sich daraus<br />

schlagen lassen, sind gigantisch. „Die<br />

Gewinnspannen im Handel mit illegalen<br />

Arzneimitteln liegen häufig bei mehreren<br />

Hundert bis über Tausend Prozent. Sie<br />

sind ein lukratives Geschäft, das die Gewinne<br />

aus der Rauschgiftkriminalität bei<br />

Weitem übertrifft“, sagt Norbert Drude, der<br />

Präsident des Zollkriminalamtes in Köln.<br />

„Medikamente sind leicht, sauber, gut<br />

zu transportieren und bringen eine Menge<br />

Geld“, sagt Michele Riccardi, Projektmanager<br />

bei Transcrime, einem Institut für Kriminalitätsforschung<br />

in Mailand. So kostet<br />

eine Packung mit 150 Milligramm des<br />

Brustkrebsmittels Herceptin von Roche,<br />

FOTOS: JIRI REZAC FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PR<br />

50 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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|3|<br />

1 | Original und Fälschung Am Verlauf von Testkurven erkennt<br />

Pfizer in seinem Labor in Südengland, ob Präparate echt sind<br />

2 | Unter Druck Vor der Analyse verdächtiger Medikamente per<br />

Laser werden die Pillen pulverisiert<br />

3 | Liebesgrüße aus Moskau Diese Viagra-Pillen mit russischer<br />

Aufschrift sind mutmaßlich gefälscht<br />

das in Italien gestohlen wurde und in deutschen<br />

Apotheken auftauchte, hierzulande<br />

rund 850 Euro. Die Wirkung des verschobenen<br />

Mittels ist beeinträchtigt, weil die<br />

Hehler kaum die erforderliche Temperatur<br />

beim Transport von minus 20 Grad eingehalten<br />

haben dürften.<br />

Dass gefälschte Arzneimittel mit dem<br />

Bestimmungsort Apotheke zum Feld für<br />

das organisierte Verbrechen geworden<br />

sind, schließen Ermittler aus Erkenntnissen<br />

über diese und andere unsaubere Importe<br />

aus Italien. Die haben eine gewaltige<br />

Dimension und liefern tiefe Einblicke in<br />

die Methoden der Verbrecher.<br />

So wurden nach einer Untersuchung<br />

von Transcrime zwischen 2006 und 2013<br />

in jedem zehnten Krankenhaus Italiens<br />

Medikamente entwendet – hauptsächlich<br />

in Regionen, in denen die Mafia stark ist.<br />

Der Großteil der Diebstähle, 51 Fälle, ereignete<br />

sich im vergangenen Jahr. Der<br />

wirtschaftliche Schaden belief sich auf<br />

knapp 19 Millionen Euro. Ermittler befürchten,<br />

dass dabei auch Medikamente<br />

manipuliert und Wirkstoffe gestreckt<br />

wurden.<br />

ORIGINAL<br />

VIAGRA<br />

Fund im Hafen<br />

FÄLSCHUNG<br />

Kein anderes Arzneimittel wird so häufig<br />

gefälscht wie die blaue Potenzpille des US-<br />

Konzerns Pfizer. Erst im vergangenen Sommer<br />

wurden im Hamburger Hafen 100 000<br />

gefälschte Viagra-Tabletten sichergestellt.<br />

Viele der nachgemachten Pillen stammen<br />

aus China und Indien; das Geschäft in<br />

dubiosen Internet-Apotheken blüht.<br />

UMSCHLAGPLATZ OSTEUROPA<br />

Hinter den Dieben und Fälschern steht ein<br />

weitverzweigtes System. „Die kriminellen<br />

Netzwerke“, schreibt Transcrime, besäßen<br />

eine „straffe Organisation“, Kontakte zu legalen<br />

und illegalen Zwischenhändlern,<br />

über Geld, um Klinikangestellte zu bestechen,<br />

und ein hohes Potenzial, um „Einschüchterung,<br />

Gewalt und politische Einflussnahme<br />

durchzusetzen“.<br />

So listete der italienische Pharmaverband<br />

AIFA im August ein Dutzend Scheinfirmen<br />

auf, vorwiegend aus Osteuropa, die<br />

illegale Medikamente in die Apotheken<br />

nach Westeuropa schleusten, vorzugsweise<br />

nach Deutschland. Sie tragen Namen<br />

wie Carnela Limited auf Zypern, Avimax<br />

Health and Trade KFT in Ungarn oder Piramid<br />

D.O.O in Slowenien. Die gefälschten<br />

Lieferpapiere sähen täuschend echt aus,<br />

berichtet ein Insider.<br />

Von diesen Schleuserfirmen gelangen<br />

die gefälschten Arzneien oft zu sogenannten<br />

Parallelimporteuren, die diese dann<br />

unbeabsichtigt an deutsche Apotheken lieferten.<br />

Das Geschäft solcher Parallelimporteure<br />

beruht darauf, dass sie mit Medikamenten<br />

aus Südeuropa handeln, wo diese<br />

teilweise deutlich weniger kosten als hier.<br />

Die Apotheker in Deutschland sind per<br />

Gesetz verpflichtet, Arzneien im Wert von<br />

fünf Prozent ihres Einkaufsvolumens von<br />

solchen Parallelimporteuren zu beziehen.<br />

In jüngster Zeit fallen diese Unternehmen<br />

aber immer häufiger im Zusammenhang<br />

mit Medikamenten-Fälschungen auf.<br />

Einer der betroffenen Importeure, CC<br />

Pharma aus der Eifel, erklärt dazu, verdächtige<br />

Arzneien sofort zurückgerufen zu<br />

haben. Zudem sei Ware aus Italien unter<br />

Quarantäne gestellt worden, sobald Warnhinweise<br />

von Behörden vorlagen.<br />

„Natürlich ist der Parallelhandel ein<br />

mögliches Einfallstor für Fälschungen“,<br />

sagt David Shore, Sicherheitsmanager bei<br />

Pfizer. Das sei bei allen bekannten Fälschungen<br />

von Pfizer-Medikamenten in der<br />

legalen Lieferkette in Großbritannien der<br />

Fall gewesen, so der frühere Ermittler von<br />

Scotland Yard, der nun für den US-Konzern<br />

die Spuren der Pillen-Banden verfolgt.<br />

Die Pharmabranche sieht in dem Einfallstor<br />

für Fälscher einen willkommenen<br />

Anlass, die Vorschrift zu kippen, dass deutsche<br />

Apotheker einen Teil ihrer Medikamente<br />

im preiswerteren Ausland kaufen<br />

müssen. „Diese Importförderklausel<br />

schafft mittlerweile einen Absatzmarkt für<br />

kriminelle Machenschaften“, ärgert sich<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 51<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Bedingt kontrollierbar<br />

Die Methoden, mit<br />

denen Apotheker die<br />

Echtheit von Präparaten<br />

überprüfen könnten,<br />

bieten keine vollständige<br />

Sicherheit<br />

»<br />

Hagen Pfundner, Deutschland-Chef von<br />

Roche und Vorstandsvorsitzender des<br />

Pharma-Verbandes VFA. Pfundner fordert<br />

die Abschaffung der Importvorschrift – bislang<br />

ohne Erfolg. Deswegen hat er auch bereits<br />

an Bundesgesundheitsminister Hermann<br />

Gröhe (CDU) geschrieben.<br />

VIAGRA IN POLSTERMÖBELN<br />

Den Pharmaherstellern bleibt im Grunde<br />

nur, selbst etwas zum Kampf gegen die Fälscher<br />

beizutragen. Wohl keiner weiß das so<br />

gut wie der US-Pharmariese Pfizer aus New<br />

York. Dessen Potenzpille Viagra ist das am<br />

häufigsten gefälschte Medikament der<br />

Welt. Allein 2012 konfiszierten die Ermittlungsbehörden<br />

weltweit über vier Millionen<br />

unechter Erektionshelfer. Im vergangenen<br />

Sommer entdeckten Fahnder in einem<br />

Container im Hamburger Hafen<br />

100 000 gefälschte Viagra-Tabletten, versteckt<br />

in Polstermöbeln. Den Amerikanern<br />

bleibt gar nicht viel anderes übrig, als alles<br />

in ihrer Macht Stehende zu tun, um den<br />

Schaden durch Fälscher zu minimieren.<br />

ORIGINAL<br />

HERCEPTIN<br />

In Italien geklaut<br />

FÄLSCHUNG<br />

Tausende Packungen des Roche-Brustkrebsmittels<br />

Herceptin verschwanden vor<br />

wenigen Monaten aus italienischen Kliniken;<br />

deutsche Behörden gaben darauf<br />

Warnungen heraus. Gestohlenes Herceptin<br />

ist auch deshalb gefährlich, weil die<br />

Kühlung nicht gewährleistet wurde.<br />

4500 Einwohner zählt der südostenglische<br />

Küstenort Sandwich – angeblich wurde<br />

dort tatsächlich vor gut 250 Jahren die<br />

gleichnamige belegte Stulle aus zwei Brotscheiben<br />

erfunden. Zuletzt berühmt geworden<br />

ist der Ort aber durch die flachen, braunen<br />

Laborgebäude ein wenig außerhalb<br />

des Ortskerns. Vor gut 20 Jahren entdeckten<br />

dort Pfizer-Forscher die wundersame Wirkung<br />

einer Substanz, mit der sie eigentlich<br />

ein Herzmittel gefunden zu haben glaubten.<br />

Doch als die männlichen Probe-Patienten<br />

aus dem Queen Victoria Memorial<br />

Hospital im nahe gelegenen Herne Bay die<br />

überzähligen Pillen nicht mehr zurückgeben<br />

wollten, ahnten sie, dass sie einen Coup<br />

gelandet hatten. Ein Potenzmittel war entdeckt,<br />

das später als Viagra um die Welt gehen<br />

sollte.<br />

Die Viagra-Pillen, die heute in Sandwich<br />

durch die Labors 2–09 gehen, sind nicht für<br />

Patienten bestimmt, sondern werden auf ihre<br />

Echtheit überprüft. Wendy Greenall und<br />

ihre drei Mitarbeiterinnen überprüfen hier,<br />

im Gebäude 510, jährlich gut 1600 Pakete<br />

mit Viagra und anderen gängigen Medikamenten,<br />

die Ermittler, Zollbeamte oder<br />

hauseigene Sicherheitsexperten als verdächtig<br />

einstuften. Die Pillen stammen aus<br />

Deutschland, anderen europäischen Ländern,<br />

Afrika und dem Nahen Osten, aus<br />

Apotheken und von Online-Versendern.<br />

„Etwa 90 Prozent der von uns untersuchten<br />

Pillen sind gefälscht“, sagt Greenall.<br />

Manchmal reicht der Chemikerin, die seit<br />

etwa zehn Jahren für Pfizer arbeitet, nur ein<br />

Blick, um eine Fälschung zu erkennen: Auf<br />

einer der Packungen des Cholesterinsenkers<br />

Lipitor – ebenfalls ein beliebtes Mittel für<br />

Fälscher – ist die Schrift verkehrt herum aufgedruckt,<br />

die Falz ist beschädigt und eine<br />

Codenummer falsch.<br />

Meist ist jedoch eine aufwendigere Untersuchung<br />

nötig. Eine Mitarbeiterin Greenalls<br />

hat eben eine Lipitor-Pille pulverisiert. Ein<br />

Lasergerät untersucht die Substanz. Auf dem<br />

Monitor entstehen zwei Kurven, die an Aktiencharts<br />

erinnern. Die schwarze Kurve<br />

zeigt die Zusammensetzung des Originalpräparats,<br />

die rote die Mixtur der untersuchten<br />

Pille. Beide Kurven decken sich nicht, die<br />

Tablette scheint gefälscht zu sein. Genauere<br />

Ergebnisse liefern die beiden Chromato-<br />

»<br />

FOTOS: JOCHEN ZICK, PR<br />

52 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

|2|<br />

1 | 150 illegale Arzneisendungen pro Woche<br />

Frankfurter Zollfahnder Redanz<br />

|1|<br />

2 | Fälscher-Dorado Asien<br />

Check verdächtiger Medikamente<br />

»<br />

graphen im Gang gegenüber. Das kühlschrankgroße<br />

Gerät kann die Bestandteile<br />

der verflüssigten Substanz erkennen. Das Ergebnis<br />

ist klar: Der vermeintliche Wirkstoff<br />

besteht aus weißem Puder.<br />

Chemikerin Greenall sitzt auf einem Podium<br />

zum Thema Medikamenten-Fälschungen<br />

in einem Londoner Hotel und<br />

zieht ein bitteres Fazit: „In den vergangenen<br />

Jahren scheint sich bei der Bekämpfung<br />

der Arzneimittelkriminalität nichts<br />

getan zu haben“, sagt sie an die Adresse der<br />

anwesenden Sicherheitsexperten. Besonders<br />

die Strafverfolger zeigten keine wirkliche<br />

Härte gegenüber den Kriminellen.<br />

SCHOCKVIDEO MIT RATTE<br />

Beispiel: die „Operation Pangea“ (altgriechisch<br />

etwa für „ganze Erde“), die <strong>vom</strong> 13.<br />

bis zum 20. Mai dieses Jahres lief. Zoll- und<br />

Polizeibehörden aus über 100 Staaten fielen,<br />

koordiniert von Interpol, bei organisierten<br />

Pillenfälschern ein. Der Erfolg der<br />

Razzien war beeindruckend: 9,4 Millionen<br />

gefälschte Medikamente und 20 000 verdächtige<br />

Sendungen wurden sichergestellt.<br />

In Deutschland konfiszierten die<br />

Strafverfolger an den Zoll-Stützpunkten<br />

Frankfurt und Niederaula in Hessen 816<br />

fragwürdige Briefe und Pakete.<br />

Doch den Unternehmen reicht das<br />

nicht. In Zeiten zunehmender Bedrohung<br />

durch gefälschte Medikamente müssten<br />

die Kapazitäten der Strafverfolger eigentlich<br />

ausgebaut werden. In der Praxis klagten<br />

die Ermittlungsbehörden jedoch über<br />

zu wenig Personal. „Pangea müsste eigentlich<br />

das ganze Jahr laufen“, so ein Insider.<br />

Auch fälschungssichere Technik hilft nur<br />

bedingt im Kampf gegen die Pillen-Mafia.<br />

Zwar soll es von 2017 an europaweit möglich<br />

sein, auf jede Packung eine eigene Seriennummer<br />

und einen eigenen Code aufzudrucken.<br />

Das Verfahren heißt „Secur<br />

Pharm“. Mit seiner Hilfe kann ein Apotheker,<br />

bevor er dem Patienten die Ware aushändigt,<br />

den Code auf der Packung einscannen<br />

und blitzschnell überprüfen, ob<br />

ORIGINAL<br />

LIPITOR<br />

Gefragte Pille<br />

FÄLSCHUNG<br />

Mit einem Jahresspitzenumsatz von mehr<br />

als zehn Milliarden Dollar war der Cholesterinsenker<br />

Lipitor von Pfizer lange Jahre<br />

das umsatzstärkste Medikament der<br />

Welt. Seit das Exklusiv-Patent vor drei<br />

Jahren auslief, geht es mit den Pfizer-<br />

Umsätzen zwar bergab. Organisierte<br />

Kriminelle verdienen an Fälschungen aber<br />

immer noch prächtig.<br />

das Medikament tatsächlich <strong>vom</strong> angegebenen<br />

Hersteller stammt.<br />

Die Idee stammt von Pharma- und Apothekenverbänden,<br />

ist aber kein Allheilmittel.<br />

Denn Manipulationen am Medikament<br />

selbst lassen sich mit „Secur Pharm“ nicht<br />

bekämpfen. Hinzu kommt, dass jeder Hersteller<br />

an eigenen technischen Lösungen<br />

arbeitet. Und gegen dubiose Pillen aus<br />

dem Internet hilft das Verfahren erst recht<br />

nicht, da niemand vor den Augen des Patienten<br />

den Code einscannt.<br />

Pfizer versucht deshalb mit Schockvideos,<br />

die Verbraucher zumindest von dubiosen<br />

Internet-Apotheken abzuhalten.<br />

Denn nach einer Analyse der Weltgesundheitsorganisation<br />

WHO sind 50 Prozent der<br />

online erworbenen Arzneimittel gefälscht.<br />

So hat der US-Pharmariese ein Filmchen<br />

auf YouTube gestellt, dass Patienten mithilfe<br />

einer Ratte von dem Online-Erwerb<br />

von Medikamenten abschrecken soll: Gerade<br />

aufgestanden, schluckt ein attraktiver<br />

Mann, vielleicht Mitte 30, ein paar Pillen<br />

aus einer Schachtel ohne Aufdruck des Herstellers.<br />

Kurz darauf muss er würgen. Aus<br />

seinem Mund quillt eine Ratte – zuerst der<br />

Schwanz, ganz am Ende der Kopf. Grund<br />

für den Ekel-Spot: Gefälschte Medikamente<br />

enthielten laut Pfizer auch schon Rattengift.<br />

Marcus Redanz, 42 Jahre alt, Kurzhaarschnitt,<br />

ist Spezialist für Arzneimittel beim<br />

Frankfurter Zollamt. Deshalb surft er regelmäßig<br />

auf dubiosen Internet-Seiten mit<br />

»<br />

FOTOS: BERT BOSTELMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE (2), PR<br />

54 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Apennin forte<br />

Weltweit stehen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation<br />

WHO etwa 15<br />

Prozent der Arzneimittel unter Fälschungsverdacht.<br />

Die Fakes kursieren in<br />

123 Ländern. Besonders schlimm ist die<br />

Entwicklung in etlichen Regionen Afrikas<br />

und Asiens, dort wird die Einnahme von<br />

Medikamenten fast zum Glücksspiel. Bis<br />

zu 30 Prozent der Tabletten und Ampullen<br />

enthalten in Asien keinen oder einen<br />

falschen Wirkstoff, in Afrika zuweilen bis<br />

zu 50 Prozent. Um die tödliche Gefahr etwas<br />

zu mindern, liefert der Darmstädter<br />

Pharmakonzern Merck in etwa 80 Länder<br />

ein Minilabor zum Selbstkostenpreis, mit<br />

dem Pharmazeuten gefälschte Medikamente<br />

relativ schnell und einfach nachweisen<br />

können.<br />

In den westlichen Industrieländern sowie<br />

in Japan dürfte bis zu ein Prozent der Medikamente<br />

gefälscht sein. Die Bedrohung hat<br />

zugenommen, seit aus italienischen Kliniken<br />

zunehmend Medikamente gestohlen<br />

wurden und über Osteuropa vorwiegend<br />

nach Deutschland gelangten. Die Apennin-<br />

Anteil der Medikamenten-Fälschungen am<br />

Gesamtmarkt nach Regionen (in Prozent)<br />

USA, EU, Japan, Kanada<br />

Quelle: WHO<br />

Russland<br />

Lateinamerika<br />

Indien<br />

Asien<br />

Afrika<br />

0 10 20 30 40 50<br />

Halbinsel gilt wegen der Mafia als das<br />

Herkunftsland für gefälschte Arzneimittel<br />

hierzulande. Insgesamt, so schätzt die<br />

Beratung Deloitte, dürften die organisierten<br />

Kriminellen mit Medikamenten-Fälschungen<br />

jährlich und weltweit zwischen<br />

75 und 200 Milliarden Dollar einnehmen.<br />

Zahl der Medikamenten-Diebstähle in<br />

italienischen Krankenhäusern<br />

4<br />

Quelle: Transcrime<br />

10<br />

51<br />

2011 2012 2013<br />

»<br />

Namen wie „Medikamente ohne Rezept“<br />

oder „Cialis 20 mg kaufen“. Redanz ist seit 20<br />

Jahren beim Zoll und kennt die Tricks der<br />

Arzneifälscher. „Derzeit ist etwa Oral Jelly<br />

sehr gefragt“, sagt er. „Das soll flüssiges Viagra<br />

sein, erhältlich etwa in den Geschmacksrichtungen<br />

Orange und Banane.“<br />

Redanz weiß genau: Flüssiges Viagra gibt es<br />

in der Realität so wenig wie Viagra für Frauen,<br />

was ebenfalls häufig von fragwürdigen<br />

Internet-Apotheken angeboten wird.<br />

Redanz hat die Aufgabe zu verhindern,<br />

dass illegale oder gefälschte Medikamente,<br />

die häufig aus asiatischen Ländern wie China,<br />

Indien, Pakistan, Singapur oder Thailand<br />

stammen, ihre Empfänger in Deutschland<br />

erreichen. Sein Büro liegt ganz in der<br />

Nähe des Frankfurter Flughafens, im Internationalen<br />

Postzentrum. Zwei Stockwerke<br />

höher treffen gerade Luftfrachtsendungen<br />

aus aller Welt ein.<br />

Insgesamt 84 Zöllner in drei Schichten<br />

wachen gemeinsam mit Redanz darüber,<br />

dass keine illegalen Medikamente in<br />

Deutschland in Umlauf kommen. Keine<br />

leichte Aufgabe, mehr als Stichproben sind<br />

nicht drin bei täglich gut 10 000 Luftfracht-<br />

Sendungen.<br />

Redanz verlässt sich auf seine Erfahrung –<br />

er weiß, wie verdächtige Päckchen aussehen<br />

und auf welche Herkunftsländer er achten<br />

muss. „Pillen werden gerne in Kohlepapier,<br />

Alufolien oder Dosen versteckt, bei Ampullen<br />

sind auch ausgehöhlte Bücher sehr beliebt.“<br />

In Zweifelsfällen lässt Redanz, wie bei<br />

der Sicherheitskontrolle am Flughafen, verdächtige<br />

Päckchen durch ein Röntgengerät<br />

laufen. Etwa 150 illegale Sendungen spürt<br />

Redanz jede Woche auf – meist Potenz-,<br />

Schmerz- und Dopingmittel.<br />

400 000 Tabletten und Ampullen beschlagnahmten<br />

die Frankfurter Zöllner<br />

2007 – inzwischen sind es jährlich mehr als<br />

eine Million.<br />

STRAFANZEIGE VON ROCHE<br />

Hinter den Empfängern der zweifelhaften<br />

Präparate aus Asien stecken häufig kriminelle<br />

Dealer, die hierzulande einen<br />

schwunghaften Handel mit den dubiosen<br />

Mitteln aufgezogen haben und sie über eigene<br />

Internet-Seiten weiterverkaufen. 2013<br />

flog in Berlin etwa die „Männerapotheke“<br />

auf – eine siebenköpfige Bande aus Berlin<br />

und Brandenburg mit Hunderten Helfern,<br />

die sich auf Schlankheitsmittel und Potenzpillen<br />

spezialisiert hatte.<br />

„Das sind Netzwerke mit hoher OK-Relevanz“,<br />

sagt der Essener Zollfahnder R. OK<br />

steht für organisierte Kriminalität. Der Ermittler<br />

kennt die Mitglieder des Milieus:<br />

„Pfiffige Leute, Männer zwischen Anfang 20<br />

und Anfang 50. Akademiker, die sich mit<br />

dem Internet auskennen. Betriebswirte<br />

sind darunter, auch mal ein Physiotherapeut.“<br />

Die Arzneifälscher- und Schiebernetzwerke<br />

arbeiteten wie ein Konzern, so<br />

der Fahnder. Es gebe Spezialisten für Vertrieb,<br />

Logistik und Buchhaltung bis hin zu<br />

Kurieren und Grafikdesignern, die die Web-<br />

Seiten der dubiosen Anbieter gestalten.<br />

Häufig enthalten diese Internet-Seiten zu<br />

Unrecht Logos von TÜV und Stiftung Warentest,<br />

um bei den Kunden Vertrauen zu<br />

schaffen. Die Dreistigkeit, gefälschte Arzneien<br />

an die Frau und den Mann zu bringen,<br />

kennt keine Grenzen. Klaus Gritschneder<br />

ist Gründer des Internet-Versenders<br />

Europa Apotheek im holländischen<br />

Venlo, die lange Jahre mit der Drogeriekette<br />

dm kooperierte und über jeden Zweifel<br />

erhaben ist. Er fand schon eine dubiose Internet-Seite,<br />

die das Impressum seiner Europa<br />

Apotheek als ihr eigenes verwendete.<br />

Gritschneder engagiert sich bei der europäischen<br />

Anti-Fälscher-Initiative Asop und<br />

fordert eine sogenannte Positivliste für legale<br />

Versandapotheken. Wer nicht auf der Liste<br />

steht, soll bei Google und anderen Suchmaschinen<br />

nicht mehr gefunden werden<br />

können. Über den Vorschlag wird gerade auf<br />

europäischer Ebene verhandelt. Frühestens<br />

Mitte 2015 könnte es so weit sein, hofft Gritschneder.<br />

Um den Fälschern das Handwerk zu legen,<br />

hat sich Roche-Manager Pfundner für<br />

eine in der Branche noch eher unübliche<br />

Maßnahme entschieden. Im Fall des gefälschten<br />

Pegasys-Präparats, dem die Patientin<br />

im Sauerland vor einem Jahr aufgesessen<br />

war, hat Pfundner Strafanzeige gegen<br />

unbekannt gestellt, direkt beim Bundeskriminalamt.<br />

„Das sind wir unseren Patienten<br />

schuldig“, sagt Pfundner, „die haben<br />

schließlich vor allem den Schaden.“ n<br />

juergen.salz@wiwo.de; konrad fischer<br />

56 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Gefangen<br />

in Folien<br />

OSRAM | Als Sanierer hat Vorstandschef<br />

Wolfgang Dehen viel<br />

geleistet. Als Stratege und<br />

Führungskraft, die dem Lichtkonzern<br />

und seinen Mitarbeitern<br />

einen Weg in die Zukunft weist,<br />

ist er jedoch überfordert.<br />

Die Osram-Konzernzentrale ist ein futuristischer,<br />

spitzwinkliger Bau am<br />

nördlichen Ende des Münchner<br />

Stadtteils Schwabing. „Lighthouse“ hat die<br />

Unternehmensführung den schicken Glaspalast<br />

an der Autobahn getauft. An sonnigen<br />

Tagen, und davon gibt es in München<br />

viele, durchströmt warmes Licht die Büros.<br />

Das Problem: Die Stimmung in der<br />

Mannschaft passt so gar nicht zur Helligkeit<br />

und Wärme im Osram-Leuchtturm –<br />

sie ist duster bis stockfinster.<br />

„Arbeitest du noch, oder malst du schon<br />

Folien“, raunen sich derzeit viele Mitarbeiter<br />

auf den Fluren und in der Kantine zu. Es<br />

ist bitterer Spott, gemünzt auf den Chef,<br />

den Osram-Vorstandsvorsitzenden Wolfgang<br />

Dehen. Das im MDax notierte Unternehmen<br />

mit seinen mehr als 30 000 Mitarbeitern<br />

befindet sich in dem wohl tiefstgreifenden<br />

Umbruch seiner fast 100-jährigen<br />

Geschichte. Doch statt dem Konzern<br />

mit einer schlüssigen Langfriststrategie eine<br />

klare und eindeutige Richtung zu geben,<br />

verkriecht Dehen sich hinter stundenlangen<br />

Präsentationen, in denen ein Chart<br />

auf den anderen folgt.<br />

PowerPoint-Folien zum Einbruch des<br />

Geschäfts mit Leuchtstoffröhren und<br />

Glühlampen, PowerPoint-Folien zum geplanten<br />

Stellenabbau, PowerPoint-Folien<br />

zu den Geschäftserwartungen in Amerika,<br />

PowerPoint-Folien zur Entwicklung des<br />

LED-Geschäfts: „Dehen lebt in Folien“, sagt<br />

ein ehemaliger Osram-Manager.<br />

Dabei erwarten die Mitarbeiter nicht nur<br />

nackte Zahlen und Grafiken, sondern echte<br />

Antworten auf die vielen Probleme und<br />

Herausforderungen im Konzern, vor allem<br />

aber auf die wohl wichtigste Frage: Wohin<br />

will Dehen mit Osram?<br />

MISERABLES BETRIEBSKLIMA<br />

„Die Stimmung im Unternehmen ist ganz<br />

unten“, sagt ein Mitglied des Aufsichtsrats.<br />

Im Juli kündigte Dehen an, dass Osram im<br />

Rahmen einer zweiten Restrukturierungswelle<br />

insgesamt 7800 Stellen streichen will.<br />

Auf und in Deutschland entfallen 1700 Arbeitsplätze,<br />

vor allem in Berlin, Augsburg<br />

und Eichstätt. Im vergangenen Jahr hatte<br />

Osram bereits den Abbau von weltweit<br />

knapp 8700 Jobs verkündet. Die dritte Kündigungswelle,<br />

so viel steht jetzt schon<br />

fest, soll 2017 anrollen. Von weltweit<br />

44 Fertigungsstandorten<br />

sollen am Ende noch 33 übrig<br />

bleiben, so der derzeitige<br />

Plan.<br />

Dabei hatten sich die Geschäfte<br />

des Münchner Traditionsunternehmens<br />

nach<br />

der Abspaltung <strong>vom</strong> Mutterkonzern<br />

Siemens zunächst vielversprechend<br />

entwickelt. Dehen,<br />

der Ende 2012 von Siemens an die<br />

Der Kurs<br />

der Aktie liegt<br />

heute wieder<br />

knapp über<br />

dem <strong>Ausgabe</strong>kurs<br />

Mit dem Rücken zur Wand Osram-Chef<br />

Dehen steht wegen seines Umgang mit<br />

Mitarbeitern in der Kritik<br />

Osram-Spitze wechselte, half mit, das Unternehmen<br />

im Juli vergangenen Jahres erfolgreich<br />

an die Börse zu bringen. Vom<br />

<strong>Ausgabe</strong>kurs in Höhe von 24 Euro kletterte<br />

der Kurs der Aktie zwischenzeitlich auf<br />

mehr als 50 Euro. Erstmals nach verlustreichen<br />

Jahren wies Osram für das am 30.<br />

September 2013 abgelaufene Geschäftsjahr<br />

wieder einen Gewinn aus.<br />

Das brachte Dehen den Ruf des guten,<br />

wenn auch eiskalten Sanierers und Restrukturierers.<br />

Doch dass der 60-jährige<br />

Diplomkaufmann aus Solingen das Zeug<br />

dazu hat, den Konzern mit einer langfristigen<br />

Strategie durch den schwierigen Übergang<br />

von der traditionellen Beleuchtung<br />

hin zur halbleiterbasierten LED-Beleuchtung<br />

zu führen, daran zweifeln<br />

inzwischen immer mehr<br />

Beobachter.<br />

Die Osram-Aktie notiert<br />

mittlerweile nur noch bei 26<br />

Euro. Wenn Dehen an diesem<br />

Freitag die Bilanz des<br />

vergangenen Geschäftsjahres<br />

präsentiert, wird der knorrige<br />

Westfale bestenfalls einen Umsatz<br />

von 5,3 Milliarden Euro vorweisen,<br />

genauso viel wie im Geschäftsjahr<br />

FOTO: GETTY IAMGES/PHOTOTHEK<br />

58 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Aktien-Info Osram<br />

ISIN DE000LED4000<br />

220<br />

180<br />

140<br />

100<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

Philips<br />

2013 2014<br />

Umsatz (in Mio. €)<br />

Gewinn (netto, in Mio. €)<br />

Umsatzrendite (in %)<br />

Mitarbeiter weltweit<br />

Eigenkapitalrendite (in %)<br />

Aktienkurs 28.10.2014 (in €)<br />

KGV (09/2015 bzw. 12/2015)<br />

Börsenwert (in Mio. €)<br />

Indexiert: seit 5.7.2013 (= 100)<br />

Osram<br />

1 Geschäftsjahr zum 30.9.2013; 2 Geschäftsjahr zum<br />

31.12.2013; Quelle: Bloomberg; Thomson Reuters<br />

Osram 1 Philips 2<br />

5289<br />

28<br />

0,5<br />

36 696<br />

6,5<br />

26,45<br />

11,5<br />

2769<br />

23 329<br />

1169<br />

0,5<br />

115 365<br />

6,3<br />

21,48<br />

12,6<br />

20 549<br />

Hoch<br />

Die kräftigen Zuwächse im LED-Geschäft werden die<br />

erwarteten Einbrüche im Geschäft mit traditioneller<br />

Beleuchtung kaum aufwiegen. Osram fehlt nach wie vor<br />

eine schlüssige Zukunftsstrategie.<br />

2013. Von dem ursprünglich geplanten Zuwachs<br />

in Höhe von drei Prozent hatte er<br />

sich schon vor Monaten verabschiedet. Restrukturierungskosten<br />

durch den umfassenden<br />

Stellenabbau dürften den Gewinn<br />

schmälern.<br />

Der Konzernchef selbst tut wenig, um<br />

die miserable Stimmung im Unternehmen<br />

zu drehen – im Gegenteil. Durch sein ruppiges<br />

Auftreten bar jedes Verständnisses<br />

für moderne Personalführung verprellt<br />

Dehen systematisch einen Manager nach<br />

dem anderen.<br />

Wie, das führte der Osram-Chef etwa<br />

Anfang dieses Jahres vor, als er eine Handvoll<br />

Führungskräfte zu einer Besprechung<br />

in der Konzernzentrale versammelte. Dehner<br />

lässt per Telefonkonferenz auch einen<br />

leitenden Manager aus den USA zuschalten.<br />

Der soll zum US-Geschäft berichten.<br />

Mitten im Vortrag drückt Dehen unvermittelt<br />

den Stummschalter der Telefonanlage,<br />

sodass der Kollege aus Amerika <strong>vom</strong> Gespräch<br />

in München abgeschnitten ist. Sodann<br />

lässt Dehen sich vor den anwesenden<br />

Managern ungehemmt über die angebliche<br />

Unfähigkeit des Osram-Mannes<br />

in den USA aus, macht sich sogar über persönliche<br />

Schwächen des Kollegen lustig.<br />

Kurz darauf wird der Mann aus Amerika<br />

wieder zugeschaltet, und das Gespräch<br />

geht weiter, als sei nichts gewesen. Dehens<br />

Führungsleute sind entsetzt. Ein Osram-<br />

Sprecher bestreitet die Vorwürfe.<br />

Auf seine Art angesprochen, erweist sich<br />

Dehen als beratungsresistent. Er pflegt<br />

schneidende Distanz anstelle persönlicher<br />

Nähe. Ein früherer Weggefährte schildert<br />

ihn als Zeitgenossen, der „auch morgens<br />

um drei an der Bar noch reserviert ist“. Hin<br />

und wieder versuchen Vertraute im Konzern<br />

ihn zur Seite zu nehmen und schlagen<br />

ihm vor, ab und zu wenigstens mal durch<br />

die Büros zu gehen und mit Mitarbeitern<br />

zu sprechen. Doch Dehen tut solche Vorschläge<br />

als Anbiederei ab. Als einige führende<br />

Manager ihm im Sommer raten, vor<br />

der Ankündigung des neuerlichen Stellenabbaus<br />

die Arbeitnehmervertreter zu informieren,<br />

wird der Chef unwirsch und<br />

wischt den Vorschlag <strong>vom</strong> Tisch. Erst<br />

müssten Fakten geschaffen werden, lautet<br />

die knappe Antwort. Ein Konzernsprecher<br />

erklärt, die Vorwürfe seien so nicht richtig,<br />

und spricht von einer „Schmutzkampagne“<br />

gegen Dehen. »<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Zukunftsmarkt LED<br />

Umsatz von Osram nach Segmenten<br />

(in Millionen Euro)<br />

Veränderung*<br />

Lampen und Komponenten<br />

2600<br />

–0,8%<br />

Spezialbeleuchtung<br />

Optische Halbleiter (LED)<br />

1456<br />

1018<br />

+5,3%<br />

+13,9%<br />

Leuchtmittel und Lösungen<br />

Überleitung<br />

Konzernabschluss<br />

–346<br />

561 –5,9%<br />

+18,8%<br />

Gesamt:<br />

5,3 Mrd.<br />

–2,1%<br />

»<br />

Wer in Meetings mit Dehen inhaltliche<br />

Kritik äußert, fühlt sich von ihm gedemütigt,<br />

weil er Neinsager entweder vor den<br />

versammelten Kollegen herunterputze.<br />

Oder er bestelle Kritiker nach Besprechungen<br />

in sein Büro. Dort fühlen sich die<br />

Betroffenen dann frontal angegangen,<br />

meist auch sehr persönlich. Mehrere leitende<br />

Osram-Mitarbeiter, so ein Insider,<br />

seien deshalb auf dem Absprung. Ein Osram-Sprecher<br />

bestreitet die Vorwürfe. Im<br />

Konzern heißt es, Dehen traue niemandem<br />

mehr, schiebe außerdem einen Riesenfrust,<br />

auch weil ihm wohl erst nach seinem<br />

Wechsel zu Osram vor zwei Jahren<br />

klar geworden ist, wie groß die Herausforderungen<br />

bei der Sanierung des Unternehmens<br />

sind.<br />

MENSCH OHNE EMPATHIE<br />

Damit wird Dehen für Osram zum echten<br />

Problem. Denn Kreativität und Begeisterung<br />

können in einem solchen Klima der<br />

Angst nicht entstehen; die aber wären in<br />

dem Unternehmen dringend nötig. Die gesamte<br />

Lichtindustrie befindet sich in einem<br />

gewaltigen Umbruch. Leuchtstoffröhren,<br />

die althergebrachte Glühlampe, auch<br />

Energiesparlampen und Halogenleuchten<br />

werden in den kommenden Jahrzehnten<br />

<strong>vom</strong> Markt verschwinden und von energiesparenden<br />

LEDs, den sogenannten Licht<br />

emittierenden Dioden, ersetzt werden. Der<br />

Digitalisierung in den Fabriken folgt jetzt<br />

die Digitalisierung des Lichts.<br />

Schwer vorstellbar, dass ein Mensch wie<br />

Dehen, ohne jede Empathie, gefangen in<br />

einer Welt aus Folien, Zahlen und Charts,<br />

hier auch mal mit unkonventionellen Ideen<br />

Duftmarken setze, vor allem aber die<br />

Mannschaft begeistere und mitreiße, sagt<br />

ein früherer Osram-Manager. „Es gibt keine<br />

Strategie nach vorne.“<br />

Dabei drängt die Zeit, denn die Einbrüche<br />

im Geschäft mit traditioneller Beleuchtung<br />

wie Leuchtstoffröhren und Halogenleuchten<br />

sind weitaus dramatischer, als<br />

Dehen noch vor Kurzem angenommen<br />

hatte. Zurzeit erwirtschaftet Osram im Geschäft<br />

mit traditioneller Beleuchtung einen<br />

Umsatz von rund 2,6 Milliarden Euro.<br />

Schon in sechs Jahren, so einschlägige<br />

Prognosen, wird es eine Milliarde Euro weniger<br />

sein.<br />

Konkurrent Philips hat kürzlich für sein<br />

Lichtgeschäft eine grundsätzliche strategische<br />

Entscheidung gefällt: Der Bereich mit<br />

Halbleitern, LEDs und Komponenten wird<br />

in ein eigenes neues Unternehmen ausgegliedert.<br />

Das Geschäft mit Leuchten verbleibt<br />

dagegen bei Philips. So können die<br />

Niederländer künftig schneller auf die sich<br />

rasch ändernden Marktbedingungen reagieren.<br />

Vorteil gegenüber Osram: Philips<br />

hat frühzeitig in das Geschäft mit Leuchten<br />

investiert, unter anderem durch<br />

Zukäufe.<br />

„Eine solche strategische<br />

Oberaufseher<br />

Peter Bauer<br />

weiß um die Probleme<br />

mit dem<br />

Osram-<br />

Chef<br />

Geschäftsjahr 2013 per 30.9.2013;<br />

* gegenüber Vorjahr, bereinigt um Währungsund<br />

Portfolioeffekte; Quelle: Unternehmen<br />

Aufgeheizte Stimmung Die Fertigung von<br />

Leuchtstoffröhren im Traditionswerk in<br />

Augsburg ist stark rückläufig<br />

Grundsatzentscheidung<br />

muss auch Osram fällen,<br />

und zwar schnell“, sagt ein<br />

ehemaliger Manager des<br />

Konzerns. Denn je länger<br />

Dehen damit wartet, desto<br />

größer wird die Gefahr, dass<br />

wichtige Kunden abspringen, allen<br />

voran die Automobilindustrie,<br />

weil sie das Vertrauen in die Innovationskraft<br />

und das künftige Angebot des<br />

Münchner Herstellers verlieren. Derzeit<br />

bilden Halogenleuchten für die Autoindustrie<br />

eine tragende Säule bei Osram.<br />

SCHWIERIGE NACHFOLGESUCHE<br />

Einer, der schon einmal einen Milliardenkonzern<br />

durch eine schmerzhafte Umbruch-<br />

und Anpassungsphase geführt hat,<br />

ist Peter Bauer. Infineon, ein Hersteller von<br />

Speicherchips für den Massenmarkt, war<br />

Ende des vergangenen Jahrzehnts ein Sanierungsfall.<br />

Bauer machte als Vorstandschef<br />

aus dem Münchner Konzern einen<br />

schlagkräftigen und profitablen Anbieter<br />

von Spezialchips für die Autoindustrie und<br />

die Energiebranche.<br />

Seit 2013 ist Bauer Aufsichtsratschef bei<br />

Osram und hat zurzeit eine wichtige Aufgabe:<br />

Er muss einen Nachfolger für den Ende<br />

Mai ausgeschiedenen Technikvorstand Peter<br />

Laier suchen. Eine Shortlist mit möglichen<br />

Kandidaten hat Bauer, der um die<br />

Probleme mit Dehen weiß, erstellt, doch<br />

die Aufgabe ist knifflig. Denn Laier, so war<br />

es intern abgesprochen, sollte Ende März<br />

2016, wenn Dehens Vertrag als Vorstandsvorsitzender<br />

ausläuft, dessen<br />

Nachfolge antreten. Mithin<br />

muss der Ersatz für Laier nun<br />

ebenfalls tauglich für den<br />

Chefsessel sein.<br />

Manche Analysten gehen<br />

sogar weiter und fordern,<br />

Dehen solle schon vor 2016<br />

Platz machen für ein frisches<br />

Gesicht – zum Wohl des Unternehmens.<br />

n<br />

matthias.kamp@wiwo.de | München<br />

FOTO: DDP IMAGES/JOERG KOCH<br />

60 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Goldene Gene<br />

GOLDMAN SACHS | Ex-Manager der bewunderten wie berüchtigten<br />

US-Investmentbank besetzen immer mehr Schlüsselpositionen.<br />

Es ist eine Übernahmeschlacht, wie sie<br />

Deutschland noch nicht erlebt hat.<br />

Und Marcus Schenck ist mittendrin.<br />

Der junge Investmentbanker in Diensten<br />

der US-Investmentbank Goldman Sachs<br />

soll dem britischen Mobilfunkkonzern Vodafone<br />

Ende 1999 zur Übernahme des<br />

deutschen Konkurrenten Mannesmann<br />

verhelfen.<br />

Und das macht Schenck mit Bravour,<br />

sagt einer, der damals eng mit ihm zusammengearbeitet<br />

hat. Schenck sei ein absoluter<br />

Teamspieler, hoch diszipliniert, voll auf<br />

Geschäft und Kunden konzentriert. Und<br />

dabei sogar noch ungewöhnlich cool.<br />

„Wenn die Stimmung extrem angespannt<br />

war, hat er sie mit einem Scherz wieder gelockert“,<br />

sagt der Weggefährte.<br />

Solche Qualitäten schätzt offenbar auch<br />

sein früherer Chef. Paul Achleitner stand<br />

von 1994 bis 2000 an der Spitze des<br />

Deutschland-Ablegers von Goldman<br />

Sachs, seit 2012 ist er Aufsichtsratsvorsitzender<br />

der Deutschen Bank. In der Funktion<br />

hat er seinen alten Kollegen Schenck<br />

abgeworben. Als künftiger Finanzchef ist<br />

der einer von zwei neuen Männern im<br />

Vorstand, mit deren Hilfe Deutschlands<br />

größtes Kreditinstitut möglichst schnell<br />

wieder auf Kurs kommen soll. Das ist dringend<br />

nötig. Die Bank ächzt unter einem<br />

riesigen Berg von Altlasten und musste<br />

am Mittwoch einen Quartalsverlust verkünden.<br />

Der bisher siebenköpfige Vorstand<br />

war mit der Fülle der Probleme<br />

schlicht überfordert.<br />

Neben der Deutschen Bank vertraut<br />

künftig auch die Deutsche Börse auf die<br />

Kompetenz eines Ex-Goldies. Fast zeitgleich<br />

mit Schencks Wechsel verkündete<br />

sie, dass der Investmentbanker Carsten<br />

Kengeter im kommenden Frühjahr den aktuellen<br />

Vorstandschef Reto Francioni ablösen<br />

soll. Zu Kengeter fallen früheren Kollegen<br />

ähnliche Attribute wie zu Schenck ein.<br />

Bei allem persönlichen Ehrgeiz gilt auch er<br />

als extrem kollegial, zurückhaltend, unglaublich<br />

diszipliniert und voll fokussiert<br />

auf die Interessen des Kunden.<br />

OBERSTE ETAGE<br />

Das ist kein Zufall. Denn die Werte bekommen<br />

Goldman-Banker wieder und wieder<br />

mit Nachdruck eingebimst. „So unterschiedlich<br />

wir auch sind, so sehr haben wir<br />

die Goldman-Kultur zutiefst verinnerlicht“,<br />

sagt einer, der mit Schenck und Kengeter<br />

bei der Bank war. Die Qualitäten sind offenbar<br />

höchst begehrt. Mit den beiden<br />

Wechseln wächst die ohnehin schon beachtliche<br />

Zahl der Banker, die prägende<br />

Karriereschritte in den obersten Etagen<br />

Diskreter Charme Amtierende und frühere Goldman-Banker<br />

Pionier<br />

Paul Achleitner,<br />

Chefkontrolleur<br />

Deutsche Bank,<br />

Goldman-Chef<br />

Deutschland<br />

1994 bis 2000<br />

Hoffnungsträger<br />

Marcus Schenck,<br />

bald Deutsche-<br />

Bank-Vorstand,<br />

1997 bis 2006<br />

und ab 2013 bei<br />

Goldman<br />

Rückkehrer<br />

Carsten Kengeter,<br />

künftiger<br />

Deutsche-<br />

Börse-Chef,<br />

1997 bis 2008<br />

bei Goldman<br />

Chef I<br />

Wolfgang Fink,<br />

seit 1993 bei<br />

Goldman, in<br />

Zukunft Co-<br />

Deutschland-<br />

Chef<br />

Chef II<br />

Jörg Kukies,<br />

seit 2001 bei<br />

Goldman, in<br />

Zukunft Co-<br />

Deutschland-<br />

Chef<br />

Unternehmerin<br />

Dorothee Blessing,<br />

US-Investmentbank<br />

JP<br />

Morgan, bei<br />

Goldman 1992<br />

bis 2013<br />

Chairman<br />

Alexander Dibelius,<br />

Goldman-<br />

Großkundenbetreuer,<br />

Deutschland-Chef<br />

2002<br />

bis 2014<br />

FOTOS: PICTURE-ALLAINCE/DPA (4), PHOTOTHEK/THOMAS KÖHLER, PR, LAIF/TIM WEGNER, CHRISTIAN KIELMANN<br />

62 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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des Frankfurter Messeturms getan haben<br />

und heute Schlüsselpositionen in der deutschen<br />

Finanzwirtschaft besetzen.<br />

Zu ihnen zählt etwa Dorothee Blessing,<br />

die nach mehr als 20 Jahren im Geschäft<br />

mit Firmenkunden bei Goldman seit Kurzem<br />

einen Top-Job im europäischen Investmentbanking<br />

des Konkurrenten JP<br />

Morgan hat. Theodor Weimer, seit 2009 an<br />

der Spitze der HypoVereinsbank, hat vorher<br />

sieben Jahre bei der US-Investmentbank<br />

gearbeitet. Auch Axel Hörger, der<br />

noch bis März das Deutschland-Geschäft<br />

der Schweizer UBS leitet, gilt als typischer<br />

Vertreter der Generation Goldman.<br />

Die ist einerseits geprägt von absoluter<br />

Erfolgsorientierung, Ehrgeiz, Einsatz bis<br />

zum Umfallen und dem Karriereprinzip<br />

„Up or out“ – wer zu schwach ist, muss gehen.<br />

Andererseits schwärmen frühere Banker<br />

von der Teamarbeit und bedingungslosen<br />

Offenheit. „Es war total verpönt, Themen<br />

über Bande zu spielen. Wer das versucht<br />

hat, war schnell draußen“, sagt ein<br />

Ex-Goldman-Banker.<br />

Um ein reibungsloses Zusammenspiel<br />

zu garantieren, unterzieht die Bank Bewerber<br />

einem beispiellosen Marathon von oft<br />

mehr als 20 Vorstellungsgesprächen. Auserwählte<br />

fliegen dann oft für eine Woche<br />

nach New York, um die Kultur des Unternehmens<br />

zu verinnerlichen. In ihrer Konsequenz<br />

sind die Goldman-Grundwerte allenfalls<br />

noch mit denen der Unternehmensberatung<br />

McKinsey vergleichbar.<br />

NAHEZU PARANOID<br />

Kritiker sehen denn auch in beiden Unternehmen<br />

global agierende Machtsekten,<br />

die ihre Angestellten einer Gehirnwäsche<br />

unterziehen, indem sie sie derart einspannen<br />

und fordern, dass sie gar keine Zeit<br />

mehr für eigene Gedanken haben. Derart<br />

umgekrempelt bleiben sie ihren Arbeitgebern<br />

angeblich auch nach ihrem Ausscheiden<br />

treu ergeben und schanzen ihnen Aufträge<br />

und Informationen zu. Dass Ex-Goldman-Manager<br />

wie Mario Draghi, der Chef<br />

der Europäischen Zentralbank, auch politisch<br />

wichtige Posten besetzen, befeuert<br />

solche Verschwörungstheorien.<br />

Zu denen trägt auch das Beharren der<br />

Bank auf absoluter Diskretion bei. „Die eigene<br />

Reputation verteidigt Goldman nahezu<br />

paranoid“, sagt ein früherer Manager.<br />

Selbst kleinste Negativnachrichten hätten<br />

zu stundenlangen Telefonkonferenzen mit<br />

Verantwortlichen in New York geführt.<br />

In den vergangenen Jahren gab es da eine<br />

Menge Gesprächsbedarf. Nach der Finanzkrise<br />

2008 geriet Goldman wie kein<br />

anderes Institut in die Kritik, so stellte sich<br />

heraus, dass die Bank wohl gegen eigene<br />

Kunden gewettet hatte, in internen E-Mails<br />

prahlten ihre Mitarbeiter mit ihren Abzockereien.<br />

Zu allem Überfluss verkündete<br />

Goldman-Sachs-Chef Lloyd Blankfein<br />

auch noch scherzhaft, dass er „Gottes<br />

Werk“ verrichte. Das US-Magazin „Rolling<br />

Stone“ beschimpfte die Bank in einer Generalabrechnung<br />

als „Riesenkrake, die ihre<br />

Tentakel in alles steckt, was Geld bringt“.<br />

Selbst hochrangige Goldman-Banker geben<br />

zu, dass sich das Institut in seiner Gier<br />

nach Wachstum weit von den Wurzeln entfernt<br />

hatte. Als eine der ersten brachte die<br />

Bank deshalb nach der Finanzkrise eine<br />

große Selbstüberprüfung auf den Weg. Die<br />

Rückbesinnung auf alte Werte soll künftig<br />

Skandale vermeiden. Bisher offenbar erfolgreich:<br />

Während etliche Konkurrenten<br />

mit Manipulationen und Rekordstrafen<br />

Schlagzeilen machen, ist es um Goldman<br />

erstaunlich still geworden.<br />

Für traditionelle Werte steht auch der<br />

Generationswechsel, der sich vergangene<br />

Woche im Messeturm vollzogen hat. Auf<br />

den langjährigen Deutschland-Chef Alexander<br />

Dibelius folgt mit Wolfgang Fink<br />

und Jörg Kukies nun eine Doppelspitze.<br />

Klarer lässt sich der Teamgedanke kaum<br />

signalisieren. Beide gelten als „absolut typische<br />

Goldman-Banker“ – professionell,<br />

ohne großen Drang an die Öffentlichkeit.<br />

In die wurde der neue Chef der Börse 2011<br />

gezerrt. Da musste Kengeter, den die<br />

Schweizer UBS von Goldman abgeworben<br />

und zum Leiter ihres Investmentbankings<br />

gemacht hatte, einen Verlust von fast einer<br />

Milliarde Dollar erklären. Den hatte ein einzelner<br />

Händler durch unentdeckte Fehlspekulationen<br />

verursacht. Er erledigte den Job<br />

nüchtern, räumte auf und verließ die UBS<br />

schließlich Anfang 2013 unter Mitnahme<br />

seines Jahresbonus. Danach lehrte er erst<br />

mal an der London School of Economics.<br />

Nun kehrt er auf einen Top-Job zurück.<br />

Auch der künftige Deutsch-Banker<br />

Schenck hat eine längere Auszeit von der<br />

Finanzwelt genommen. Von 2006 bis 2013<br />

war er Finanzvorstand des Düsseldorfer<br />

Energiekonzerns E.On. Bei der Deutschen<br />

Bank wird er sich im schon jetzt nicht konfliktfreien<br />

Führungszirkel nicht nur fachlich,<br />

sondern auch als Teamspieler beweisen<br />

müssen. Gut möglich, dass ihn die Kollegen<br />

kritisch beäugen. Schon gilt er als Reservekandidat,<br />

falls die aktuelle Doppelspitze<br />

über ihre Altlasten stolpern sollte. n<br />

cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 63<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Ich sehe was,<br />

was du nicht siehst<br />

Die Chefin der EZB-<br />

Bankenaufsicht,<br />

Nouy, will ganz genau<br />

hinschauen<br />

Wacht am Main<br />

BANKEN | Härter, breiter, gründlicher: Welche Veränderungen mit der neuen Aufsicht unter dem Dach<br />

der Europäischen Zentralbank jetzt auf die deutschen Finanzhäuser zukommen.<br />

Die härteste Daumenschraube für die<br />

Herren des Geldes verbirgt sich hinter<br />

Ziffer 451, versteckt in der knapp<br />

200 Seiten starken Aufsichts-Richtlinie. Sie<br />

ist die Bibel der neuen Banken-Aufpasser<br />

von der Europäischen Zentralbank (EZB)<br />

und all der Geldhäuser, die künftig von ihnen<br />

überwacht werden. Die dürr formulierten<br />

Zeilen, deren Lektüre sich bisher<br />

nur Feinschmecker des Bankrechts befleißigt<br />

haben, verhelfen den Aufsehern zu nie<br />

da gewesener Macht. Denn da steht im<br />

schönsten angelsächsischen Regulierungsjargon:<br />

„Stellt die Aufsicht Defekte im<br />

Geschäftsmodell einer Bank fest, kann sie<br />

die betroffenen Aktivitäten einschränken.“<br />

Für die deutschen Banken ist dieser Ansatz<br />

neu, konzentrierten sich die bisherigen<br />

Bankenwächter von der Bonner Finanzaufsicht<br />

BaFin und der Bundesbank<br />

doch eher darauf, bei riskanten Geschäftsaktivitäten<br />

die bankinternen Frühwarnsysteme<br />

und das hinterlegte Haftungskapital<br />

zu stärken. „Das Geschäftsmodell wird nun<br />

Gegenstand aufsichtlicher Beurteilung“,<br />

sagt Daniel Quinten, Experte für Bankregulierung<br />

und Partner beim Wirtschaftsprüfer<br />

KPMG in Frankfurt.<br />

Einschnitte wie diese zeigen: Wenn <strong>vom</strong><br />

Dienstag dieser Woche an die Wacht über<br />

Deutschlands wichtigste Banken nicht<br />

mehr am Rhein liegt, sondern am Main im<br />

Eurotower der EZB im Frankfurter Finanzviertel,<br />

ändert sich für die<br />

Banken wesentlich mehr als<br />

nur die Ansprechpartner.<br />

Der historische Wachwechsel<br />

zur EZB mit rund 800<br />

frisch eingestellten Aufpassern<br />

bedeutet tief greifende<br />

Veränderungen für die 120<br />

bedeutendsten europäischen<br />

Kreditinstitute, darunter<br />

21 deutsche, die nun<br />

unter EZB-Aufsicht stehen.<br />

Vier-Augen-Prinzip Nouys<br />

Vizechefin Lautenschläger<br />

Denn die kündigt angriffslustig an, zukünftig<br />

öfter, gründlicher und breiter zu<br />

prüfen als die nationalen Aufseher, die bisweilen<br />

eine harmonische Symbiose mit ihren<br />

jeweiligen Schäfchen pflegten. Der<br />

Stresstest war nur ein Vorgeschmack, so<br />

die Marschroute der neuen Oberaufseherin<br />

Danièle Nouy und Vizin Sabine Lautenschläger.<br />

„Ich kann Ihnen versprechen,<br />

dass die neue Aufsicht<br />

strenger und fairer wird als<br />

bisher“, verspricht Nouy.<br />

Dazu gehört auch, dass<br />

die EZB laut KPMG-Experte<br />

Quinten einschätzen will,<br />

wie nachhaltig eine Bank<br />

wirtschaftet. Die jährlichen<br />

Prüfungen seien <strong>vom</strong> Umfang<br />

mit einer Due Diligence<br />

zu vergleichen, also<br />

der Durchleuchtung eines<br />

Unternehmens durch kaufinteressierte<br />

Investoren.<br />

Banken müssen der EZB<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, BILDFOLIO/BERT BOSTELMANN<br />

64 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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dann wie einem Eigentümer in spe erklären,<br />

womit sie in den kommenden zwölf<br />

Monaten ihr Geld verdienen wollen und<br />

wie nachhaltig ihre Strategie ist.<br />

In der deutschen Finanzbranche will<br />

man sich mit dieser neuen Aufsichtswelt<br />

noch nicht so recht abfinden. „Ich kann<br />

mir nur sehr schwer vorstellen, dass sich<br />

die EZB-Aufsicht direkt in Managemententscheidungen<br />

der Banken einmischt“,<br />

sagt Liane Buchholz, Hauptgeschäftsführerin<br />

beim Bundesverband Öffentlicher<br />

Banken Deutschlands (VÖB) in Berlin.<br />

Sie hofft, dass bei der Umsetzung die<br />

deutsche Aufsichtspraxis Vorbild sein wird.<br />

Das heißt: Will eine Bank neue Kunden<br />

oder Märkte erschließen, prüft die Aufsicht<br />

nur, ob die neuen Risiken durch genug haftendes<br />

Eigenkapital abgedeckt sind.<br />

HOHE ALTLASTEN<br />

Bestes deutsches Beispiel für die Notwendigkeit,<br />

anfällige Geschäftsmodelle zu beleuchten,<br />

ist die HSH Nordbank. Bei der<br />

Landesbank stellten die EZB-Prüfer im Bilanztest<br />

eine Quote von notleidenden Krediten<br />

in Höhe von 17,7 Prozent fest (siehe<br />

Grafik Seite 67), so viel wie bei keinem anderen<br />

deutschen Geldhaus. Die Altlasten<br />

stecken in Schiffskrediten und Finanzierungen<br />

für Auslandsimmobilien, die größtenteils<br />

in der internen Abwicklungseinheit<br />

abgebaut werden. Die Bank betont,<br />

dass diese Risiken mit Rückstellungen und<br />

Sicherheiten sowie verbleibenden Zahlungserwartungen<br />

abgedeckt seien.<br />

Durch den Stresstest kam sie auch dank<br />

einer Staatsgarantie aus dem Jahr 2009 in<br />

Höhe von zehn Milliarden Euro, die das Eigenkapital<br />

stärkt. Doch blicken die Aufseher<br />

künftig mit der Brille der Nachhaltigkeit<br />

auf das Geschäftsmodell der HSH<br />

Nordbank, lassen sich die Konsequenzen<br />

erahnen. Nimmt die EZB ihre Aufgabe<br />

ernst, dürfte sie der Bank künftig kaum<br />

durchgehen lassen, weiterhin <strong>vom</strong> Steuerzahler<br />

subventionierte Kredite an Krisenbranchen<br />

wie die Schifffahrt auszureichen.<br />

Zweites Beispiel Deutsche Bank: Der<br />

Branchenprimus hat den Stresstest locker<br />

bestanden. Auch die Quote der faulen Kredite<br />

ist im Branchenvergleich moderat.<br />

Allerdings verweist die Aufsicht auf die<br />

aufgetürmten Rechtsrisiken. Allein im dritten<br />

Quartal legte die Deutsche Bank 894<br />

Millionen Euro für Rechtsstreits und drohende<br />

Strafen zurück. Insgesamt sind es<br />

bereits rund drei Milliarden.<br />

Angesichts solcher Dimensionen könnte<br />

die neue EZB-Aufsicht unter dem<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 65<br />

»<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

FAULE KREDITE<br />

Neue Messlatte<br />

Der Bilanztest beförderte in den Bankbilanzen Risikokredite in Milliardenhöhe<br />

ans Tageslicht. Woher stammen diese und was sind die Folgen?<br />

Im Jubel darüber, dass nur 9 von 128<br />

Instituten den Bilanz- und Stresstest der<br />

EZB nicht bestanden haben, ist völlig untergegangen,<br />

dass noch viel mehr faule<br />

Kredite in den Bilanzen der europäischen<br />

Banken stecken als bisher bekannt. Die<br />

Aufseher hatten auch die Kreditportfolios<br />

der Institute genau unter die Lupe genommen<br />

und entdeckten zusätzliche<br />

faule Kredite in Höhe von 136 Milliarden<br />

Euro. Insgesamt beläuft sich die Zahl an<br />

risikobehafteten Krediten in allen geprüften<br />

Instituten damit auf rund 880 Milliarden<br />

Euro (siehe Grafik).<br />

Wie kommt es zu dieser Differenz? Die<br />

neu entdeckten faulen Kredite resultieren<br />

aus einer vereinheitlichten Definition. Diese<br />

haben die Prüfer bei der Bewertung<br />

von Krediten für alle europäischen Institute<br />

zugrunde gelegt, um die Portfolios vergleichbar<br />

zu machen bei Schiffsfinanzierungen,<br />

privaten und gewerblichen<br />

Immobilienkrediten, Firmen- und Geschäftskundenkrediten<br />

sowie Projektfinanzierungen.<br />

Diese bewerten die Banken<br />

unterschiedlich. Dafür gibt es nun eine<br />

einheitliche Definition. Ein Kredit gilt als<br />

risikobehaftet, wenn er 90 Tage lang nicht<br />

bedient wurde, eine Wertkorrektur vorgenommen<br />

worden oder der Kredit komplett<br />

Europäische Bankbilanzen Hohe Risiken stecken vor allem in Immobilien, Firmen- und Schiffskrediten.<br />

GEWERBEIMMOBILIEN<br />

Notleidende Finanzierungen<br />

für überdimensionierte Bauprojekte<br />

bereiten Banken und<br />

Aufsehern große Kopfschmerzen.<br />

Die Summe fauler Kredite:<br />

236,5 Milliarden Euro<br />

SCHIFFFAHRT<br />

Wasser im Boot<br />

In welchen Bankkrediten die höchsten<br />

Risiken stecken (in Milliarden Euro)*<br />

Gewerbeimmobilien<br />

Firmenkredite (KMU)<br />

Geschäftskundenkredite 135,4<br />

Firmenkredite<br />

(große Unternehmen) 101,6<br />

Private Immobilienkredite 118,5<br />

Schiffsfinanzierungen<br />

Projektfinanzierung<br />

Andere<br />

ausgefallen ist. Dadurch sind Kredite in den<br />

roten Bereich gerutscht, die zuvor von den<br />

Banken selbst positiver eingeschätzt wurden.<br />

Die Stichproben beim Test haben die<br />

Prüfer auf das gesamte Portfolio projiziert.<br />

Ergebnis: insgesamt 136 Milliarden Euro an<br />

Risikokrediten.<br />

Den größten Batzen davon machen Immobilienkredite<br />

aus. Nach der neuen Mess-<br />

Die Krise der Schifffahrt drückt<br />

auf die Bankbilanzen. Deutsche<br />

Geldhäuser sind hier Weltmarktführer.<br />

Die Summe <strong>vom</strong> Untergang<br />

bedrohter Investments:<br />

35,4 Milliarden Euro<br />

von<br />

199,8<br />

146,3<br />

26,0<br />

6,0<br />

9,5<br />

35,4<br />

7,9<br />

16,0<br />

173,9<br />

139,4<br />

135,4<br />

134,6<br />

auf<br />

236,5<br />

Insgesamt: von 743,1 auf 879,1 Mrd. €<br />

* Risikokredite (non-performing assets) nach der Prüfung<br />

von 130 europäischen Banken durch die EZB/EBA pro<br />

Kreditklasse im Bilanzcheck zum Stichtag 31.12.2013<br />

WOHNUNGSMARKT<br />

Der Niedrigzins lässt den Wohnungsbau<br />

boomen, Banken vergeben<br />

billige Kredite. Doch das<br />

Ausfallrisiko ist hoch. Die Summe<br />

der bedrohten Portfolios:<br />

134,6 Milliarden Euro<br />

latte stieg die Anzahl von faulen Finanzierungen<br />

für gewerbliche Immobilien<br />

europaweit um fast 13 Prozent auf fast<br />

240 Milliarden Euro. Einen prozentual größeren<br />

Zuwachs von fast 16 Prozent stellte<br />

die Aufsicht bei großen Unternehmenskrediten<br />

fest. Und faule Schiffskredite stiegen<br />

um rund 27 Prozent auf 35 Milliarden Euro.<br />

Banken, die Schiffskredite im Portfolio<br />

haben – vor allem deutsche, italienische,<br />

griechische und niederländische Institute<br />

–, müssen nun Wertberichtigungen in Höhe<br />

von rund sieben Milliarden Euro vornehmen.<br />

Insgesamt summiert sich die<br />

Summe aller Wertberichtigungen für faule<br />

Kredite auf 48 Milliarden Euro.<br />

Die Summe zeige, wie groß die Abweichungen<br />

bei der Bewertung von Krediten<br />

in Europas Finanzhäusern bisher gewesen<br />

seien, sagt Katharina Barten, Analystin<br />

bei Moody’s in Frankfurt. Das Positive<br />

daran sei, dass die neue Aufsicht es ernst<br />

meine damit, die Transparenz und Vergleichbarkeit<br />

zwischen den Instituten zu<br />

verbessern: „Die Banken müssen ihre Bilanzierung<br />

und die Darstellung der Risiken<br />

nun auf diese neuen Bewertungsstandards<br />

umstellen.“<br />

Diese seien durch die Erkenntnisse des<br />

Tests aber nicht quasi über Nacht besorgniserregend<br />

geworden. „Ein Risikokredit<br />

bedeutet noch nicht, dass er komplett<br />

ausfallen wird“, so Barten. „Die Banken<br />

werden ja wohl hoffentlich nicht diejenigen<br />

Kredite verschwiegen haben, die am<br />

meisten ausfallgefährdet sind.“<br />

angela.hennersdorf@wiwo.de, Frankfurt<br />

GROSSUNTERNEHMEN<br />

Die EZB will die Kreditvergabe<br />

an die Realwirtschaft ankurbeln.<br />

Aber nicht jeder Unternehmenskredit<br />

wird zurückgezahlt.<br />

Die notleidenden Forderungen:<br />

135,4 Milliarden Euro<br />

FOTOS: TOPICMEDIA/SIMON BELCHER, LAIF/MICHAEL LANGE, DDP IMAGES/PETRA VALENTIN, VISUM/THOMAS PFLAUM<br />

66 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Blickwinkel der Nachhaltigkeit zu der<br />

Auffassung kommen, dass hier Illegalität<br />

Teil des Geschäftsmodells geworden ist.<br />

Die Auflage, solche Aktivitäten einzustellen,<br />

wenn interne Kontrollen der Bank<br />

nichts bringen, wäre dann nicht mehr weit<br />

entfernt.<br />

„Ob und wie stark die EZB künftig auch<br />

auf Basis schwacher Geschäftsmodelle eingreifen<br />

wird, bleibt abzuwarten“, sagt Katharina<br />

Barten, Analystin bei der Ratingagentur<br />

Moody’s in Frankfurt. Solange<br />

Banken die Mindestanforderungen in Bezug<br />

auf Kapital und Liquidität erfüllten,<br />

könne die EZB nicht einfach eingreifen.<br />

Der Erfolg der neuen Aufsicht entscheidet<br />

sich an einer Kernfrage: Wie konsequent<br />

wird sie sein, wenn die Abwicklung<br />

einer Krisenbank ansteht? Die Aufpasser<br />

müssen erst beweisen, ob sie im Krisenfall<br />

durchgreifen können. Alle europäischen<br />

Staaten haben ihre Großbanken immer geschützt.<br />

„Falls die neue Aufsicht künftig die<br />

Abwicklung einer Großbank empfiehlt, bei<br />

der hauptsächlich die vorrangigen Gläubiger<br />

die Verluste tragen sollen, wird interessant,<br />

wie sich die Länder gegen die neuen<br />

Regeln der Abwicklung durchsetzen“, sagt<br />

Problemzonen<br />

Faule Kredite bei großen deutschen Banken 1<br />

HSH Nordbank<br />

17,7%<br />

DZ Bank 3 2,5%<br />

KfW IPEX 2<br />

Bayerische Landesbank<br />

Norddeutsche Landesbank<br />

Commerzbank<br />

Deutsche Bank<br />

5,2%<br />

4,3%<br />

3,6%<br />

3,5%<br />

3,5%<br />

1<br />

Anteil der Forderungen, die 90 Tage oder länger überfällig<br />

sind, an den gesamten Krediten; 2 auf Exportkredite<br />

spezialisierte Tochter der staatlichen KfW; 3 Zentralinstitut<br />

der Volks- und Raiffeisenbanken; Quelle: EZB<br />

Barten. Dann wird sich zeigen, ob die Aufsicht<br />

ein zahnloser Tiger ist.<br />

„Die Europäische Bankenunion ist ein<br />

großer Fortschritt“, sagt Regulierungsexperte<br />

Barney Reynolds, Partner bei der US-<br />

Kanzlei Shearman & Sterling LLP in London.<br />

Aber die EZB schlüpfe eben nicht vollständig<br />

in die Schuhe der nationalen Aufseher.<br />

Sie bleibe höchst abhängig von diesen.<br />

„Einige der schwächeren Banken müssten<br />

sicherlich geschlossen werden“, urteilt Reynolds.<br />

„Ich bin mir nicht sicher, ob die EZB<br />

dazu bereit ist. Politisch wird es da viel Gegenwind<br />

geben.“ Denn die Konsequenz wäre,<br />

dass einige Länder wie etwa Griechenland<br />

oder Zypern ohne eine große nationale<br />

Bank dastünden. Reynolds: „Wird das politisch<br />

akzeptiert werden? Ich bezweifle es.“<br />

Weiterer Schwachpunkt: Systemische<br />

Risiken seien beim Stresstest nicht berücksichtigt<br />

worden, sagt Vincent Papa <strong>vom</strong> Finanzanalysten-Institut<br />

CFA London. Dazu<br />

zählten etwa Derivate, so Papa: „Haben die<br />

Institute genügend Polster, um Verluste in<br />

diesem Bereich aufzufangen?“ Auch<br />

Rechtsrisiken hätten keine Rolle gespielt.<br />

Immerhin hat die neue Aufsicht mit ihrem<br />

Stresstest Banken transparenter und<br />

vergleichbarer gemacht. Positiv bewertet<br />

Regulierungsexperte Reynlods vor allem,<br />

dass es jetzt einheitliche Regeln für alle gebe:<br />

„Damit bricht eine neue Ära für die<br />

Banken an.“ Ob sich alle Länder und Institute<br />

an die neuen Vorgaben auch halten<br />

werden, das werde sich noch zeigen. n<br />

angela.hennersdorf@wiwo.de | Frankfurt,<br />

mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

INTERNET<br />

Soll es bald ein Zwei-Klassen-Web geben?<br />

In den USA muss das Filmportal Netflix den Kabelfirmen Geld bezahlen, damit diese die gigantischen Datenmengen<br />

störungsfrei und vorrangig übertragen. In der Politik wird Ähnliches auch für Europa diskutiert.<br />

Pro<br />

Wirtschafts-<br />

Woche-Redakteur<br />

Jürgen<br />

Berke fordert<br />

Vorfahrtsregeln<br />

für zeitkritische<br />

Daten, etwa für<br />

das vernetzte<br />

Auto und die<br />

Fabrik 4.0.<br />

Die Netzneutralität gilt<br />

ihren Verfechtern<br />

als Heiligtum: Im Internet,<br />

so ihr Glaubensgrundsatz,<br />

sind alle Daten<br />

gleich, egal, ob für Pornovideos,<br />

selbstfahrende Autos oder<br />

Ärzte in Operationssälen. Alles<br />

andere gilt als Zwei-Klassen-<br />

Gesellschaft.<br />

Doch diese Denke ist überholt.<br />

Sie ist ein Relikt aus den Anfängen<br />

des Internets in den Neunzigerjahren,<br />

als das World Wide<br />

Web für kommerzielle Dienste<br />

geöffnet wurde. Damals war es<br />

überhaupt kein Problem, die<br />

wenigen Daten schnell zu übertragen.<br />

Der Zufall entschied,<br />

welche Route eine E-Mail einschlug<br />

und ob die Bits ein paar<br />

Sekunden später ankamen. Den<br />

Nutzern war das egal.<br />

Heute dagegen entwickelt<br />

sich das Internet in Riesenschritten<br />

zum Nervensystem einer<br />

völlig vernetzten Wirtschaft<br />

und revolutioniert dabei auch<br />

traditionell starke deutsche<br />

Industrien wie den Auto- und<br />

Maschinenbau. Dazu braucht<br />

es sichere, ultraschnelle Datenübertragung.<br />

Verzögerungen<br />

von Sekundenbruchteilen werfen<br />

das selbstfahrende Auto aus<br />

der Spur, lassen die Produktion in<br />

der computer- und internetgesteuerten<br />

Fabrik 4.0 zusammenbrechen<br />

und den Chirurgen vor<br />

dem erstarrten Bild auf dem Monitor<br />

kapitulieren. Solche Dienste,<br />

die essenziell für unser Leben und<br />

unsere Wirtschaft werden, dürfen<br />

nicht wegen eines Datenstaus<br />

durch Videos und Fernsehen im<br />

Internet stecken bleiben.<br />

Genau das aber ist durch die<br />

gigantischen Datenmengen von<br />

Videos und vor allem von Filmdiensten<br />

wie Netflix, die zu manchen<br />

Tageszeiten schon ein Drittel<br />

der Netzkapazität in den USA in<br />

Beschlag nehmen, nicht mehr<br />

100-prozentig gewährleistet. Die<br />

Web-Giganten aus den USA beharren<br />

darauf, dass jeder zum<br />

gleichen Tempo und zum gleichen<br />

Preis Daten verschicken<br />

können soll, ganz gleich, ob er das<br />

Web damit überfordert.<br />

Wer hierauf beharrt, schaufelt<br />

nicht nur den Finanzprotzen des<br />

Internets unnötig Geld in die<br />

Kassen. Er verhindert auch, dass<br />

Netzbetreiber ein Interesse<br />

haben, in schnellere Datenübertragung<br />

zu investieren, wenn<br />

Kunden – Fabriken, Operateure,<br />

Fernsehsender, Besitzer selbstfahrender<br />

Autos – dies benötigen<br />

und dafür extra bezahlen könnten.<br />

Die Gleichmacherei aller Daten<br />

setzt solche Anreize und die wohltuenden<br />

Kräfte des Marktes außer<br />

Kraft. Wer ein komfortableres Auto<br />

will, bezahlt dafür mehr als für<br />

eine einfache Mühle. Wer mit Vollgas<br />

über die Autobahn brettert,<br />

muss mehr (für Treibstoff) bezahlen<br />

als der Schleicher. Politiker<br />

sollten dies offen sagen und auch<br />

für das Internet zulassen, selbst<br />

wenn sie damit einen Shitstorm<br />

der Web-Romantiker riskieren.<br />

Contra<br />

Wirtschafts-<br />

Woche-Redakteur<br />

Oliver Voß<br />

ist gegen die<br />

Ungleichbehandlung<br />

von<br />

Daten, weil dafür<br />

letztlich der<br />

Verbraucher<br />

zahlen müsste.<br />

Stellen Sie sich vor, Sie<br />

müssten für Ihren Internet-Anschluss<br />

extra<br />

Pakete dazubuchen und<br />

bezahlen, wenn Sie YouTube,<br />

Facebook und Skype nutzen wollen.<br />

Wozu? Damit nichts ruckelt<br />

und die Daten nicht auf Ihr begrenztes<br />

Volumen angerechnet<br />

werden. Unvorstellbar? Nein, die<br />

Deutsche Telekom hat solche<br />

Pläne erst nach den „Drosselkom“-Protesten<br />

und einem Gerichtsurteil<br />

gestoppt.<br />

Doch nun wollen Politiker das<br />

Internet, wie wir es heute kennen,<br />

abschaffen. Bislang werden alle<br />

Daten gleich behandelt. Diese<br />

sogenannte Netzneutralität soll<br />

durch ein Zwei-Klassen-Web ersetzt<br />

werden. Offiziell predigen<br />

Bundesregierung und EU-Digitalkommissar<br />

Günther Oettinger die<br />

Gleichbehandlung. Doch sie schicken<br />

ein großes Aber hinterher: Es<br />

soll Ausnahmen geben.<br />

Sie argumentieren, das sei notwendig,<br />

damit ein Arzt bei der Operation<br />

blitzschnell Hilfe über das<br />

Internet erhält oder ein Auto durch<br />

die Stadt kurven kann, ohne dass<br />

der Fahrer lenkt. Für solche Dienste<br />

soll es im Internet Vorfahrt geben<br />

– zulasten aller anderen. Das<br />

Medizin-Beispiel klingt plausibel,<br />

ist aber vorgeschoben und verdeckt<br />

die eigentliche Absicht der<br />

Netzbetreiber. Sie wollen künftig<br />

nicht nur bei Nutzern, sondern<br />

auch bei Inhalteanbieter wie<br />

YouTube abkassieren, die große<br />

Datenmengen übertragen: Filme,<br />

Musik, Spiele, Videotelefonie.<br />

Mit den Zusatzeinnahmen<br />

soll der politisch versprochene<br />

Breitbandausbau in Deutschland<br />

gestemmt werden.<br />

Am Ende werden aber nicht<br />

Google und Co. die Internet-Maut<br />

bezahlen, sondern Sie und ich.<br />

n Die Anbieter würden die<br />

Mehrkosten auf Nutzer und<br />

Werbetreibende abwälzen. In<br />

der Folge würden auch ARD und<br />

ZDF mehr Rundfunkgebühr fordern,<br />

damit Zuschauer die<br />

nächste Fußball-WM ruckelfrei<br />

im Netz streamen können.<br />

n Die Auswahl würde eingeschränkt,<br />

weil Nutzer nur die<br />

Dienste ungehindert nutzen<br />

könnten, deren Anbieter zahlen.<br />

n Und auch deutsche Dienste<br />

sowie aufstrebende Start-ups<br />

würden am Wachstum oder<br />

Markteintritt gehindert. Denn<br />

eine Internet-Maut kann nicht<br />

nur für Ausländer gelten. Der<br />

Versuch, von den gigantischen<br />

Google-Profiten etwas abzugreifen,<br />

würde so zum Bumerang.<br />

Den Rückstand zum Silicon<br />

Valley holen wir so bestimmt<br />

nicht auf. Und auch der Wettbewerb<br />

im Netz wird nicht durch<br />

neue Gebühren gesichert, die<br />

im Zweifel nur die jetzigen Internet-Riesen<br />

zahlen können.<br />

Erlauben Bundesregierung<br />

und EU Ausnahmen, wäre das<br />

der Einstieg in ein Zwei-Klassen-<br />

Internet. Ein bisschen Netzneutralität<br />

geht nicht, entweder alle<br />

Daten sind gleich oder keine.<br />

FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Diskutieren Sie mit: www.wiwo.de, facebook.com/wirtschaftswoche<br />

68 oder plus.google.com/+wirtschaftswoche<br />

Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Stachel in der Wade<br />

ADIDAS | Nach Jahren des steten Wachstums scheint Vorstandschef Herbert Hainer seinen Zenit<br />

überschritten zu haben. Alte Versäumnisse holen den dienstältesten Dax-Konzernleiter ein.<br />

Der Schnäuzer von Herbert Hainer ist<br />

Geschichte wie die alte Panzerhalle<br />

der US-Army, die einmal auf dem<br />

weitläufigen Gelände von Adidas im fränkischen<br />

Herzogenaurach stand.<br />

Beide sind längst weg. Wo unter der Nase<br />

des Konzern-Chefs einst die Stoppeln<br />

sprossen, herrscht heute gepflegte Glätte.<br />

Smart sieht er inzwischen aus, der am<br />

längsten amtierende Chef eines Dax-Konzerns,<br />

nicht mehr nach Provinz, sondern<br />

nach Weltkonzern. Und wo einst amerikanische<br />

Kettenfahrzeuge parkten, steht jetzt<br />

ein supermodernes Architektur-Ensemble<br />

aus Fitnesscamp, mehrsprachiger Kindertagesstätte<br />

und einem Parkhaus.<br />

Für Fahrradfahrer gibt es hier eigene<br />

Stellplätze, freundliche Schrauber reparieren<br />

Reifen, beheizte Spinde trocknen<br />

feuchte Kleidung. Wenn es jetzt im Herbst<br />

ungemütlich wird in Franken, kredenzen<br />

Helfer Tee, um die Kälte zu vertreiben.<br />

Doch ob Heißgetränk, Velo-Assistenten<br />

oder glatter Teint – all die schönen Dinge<br />

können nicht verdecken, dass Hainer im<br />

14. Jahr seiner Amtszeit und drei Jahre vor<br />

deren offiziellem Ende Adidas praktisch<br />

neu erfinden muss. Sonst droht trotz aller<br />

Erfolge ein hartes Ende seiner Karriere.<br />

Lange hat der inzwischen 60-Jährige alles<br />

getan, um Adidas als Unternehmen des<br />

Wandels mit kosmopolitischem Flair zu inszenieren<br />

und bei Umsatz und Gewinn zu<br />

Höhenflügen zu treiben. Doch nun kursieren<br />

Gerüchte, dass aggressive Hedgefonds<br />

bei dem Drei-Streifen-Konzern einsteigen<br />

und Hainer absetzen wollen. Investoren<br />

bieten für Reebok, jene US-Tochtermarke,<br />

mit der Hainer eigentlich den amerikanischen<br />

Konkurrenten Nike auf dessen Heimatmarkt<br />

in Bedrängnis bringen wollte. In<br />

den Vereinigten Staaten, dem größten<br />

Sportmarkt der Welt, rutschte Adidas im<br />

Handel gerade erstmals auf Rang drei hinter<br />

dem Erzrivalen Nike und dem Neuling<br />

Under Armour. Der Abstand zum Weltmarktführer<br />

Nike wächst, statt zu schmelzen.<br />

Das Ziel, den Umsatz zwischen 2010<br />

und 2015 von knapp 12 auf 17 Milliarden<br />

Euro zu steigern, kassierte Hainer nach<br />

langem Kampf in diesem Sommer offiziell<br />

und räumte eigene Fehler ein.<br />

Hainer hat durchaus einleuchtende Argumente<br />

für die Probleme: die Rubel-Krise<br />

im nach USA und China drittwichtigsten<br />

Markt Russland, wo Adidas mehr als eine<br />

Milliarde Euro umsetzt, sowie den Einbruch<br />

im Golf-Geschäft um fast 20 Prozent.<br />

Doch die Gründe für die schwache Performance<br />

auf den letzten Metern seiner Laufbahn<br />

liegen tiefer und sind hausgemacht.<br />

Jahrelang, so Branchenkenner, hat Hainer<br />

sich zu sehr auf den Umsatz fixiert. Dadurch<br />

wuchsen zwar stetig die Erlöse, im<br />

Schnitt um acht Prozent pro Jahr auf zuletzt<br />

14,5 Milliarden Euro. Bei Hainers Amtsan-<br />

FOTO: CHRIS GLOAG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

70 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Zwei Jahre<br />

Nachspielzeit<br />

Adidas-Chef Hainer<br />

bleibt nur zu hoffen,<br />

dass der Aufsichtsrat<br />

ihm bis 2017 folgt<br />

tritt waren es erst sechs Milliarden. Gleichzeitig<br />

aber brach die operative Marge zwischen<br />

2004 und 2013 „dramatisch“ ein,<br />

monierte Fondsmanager Ingo Speich <strong>vom</strong><br />

Investor Union Investment. Adidas sei bei<br />

der Profitabilität nicht einmal Mittelmaß.<br />

Die eigentliche Ursache für die „langfristige<br />

Fehlentwicklung“ (Fondsmanager<br />

Speich) liegt nach Meinung von Experten<br />

jedoch darin, dass Hainer den US-Markt<br />

nicht geknackt und keine langfristigen Design-<br />

und Marketingkonzepte entwickelt<br />

hat. Während bei Nike mit Konzernchef<br />

Mark Parker zugleich der Chefdesigner die<br />

Marke führt, unterließ es Hainer zu lange,<br />

einen Gesamtverantwortlichen fürs Kreative<br />

zu installieren. „Der Konzern hat es über<br />

Jahre nicht geschafft, im Produktbereich<br />

die richtigen Weichen zu stellen“, sagt ein<br />

erfahrener Branchen-Manager. „Es fehlt<br />

die eigene Handschrift.“<br />

Und auch bei der Innovationskraft hat<br />

Hainer offenbar zu wenig gerissen. Insbesondere<br />

gegenüber Nike ist Adidas nach<br />

Zahlen der Münchner Kanzlei Grünecker<br />

bei den Patenten ins Hintertreffen geraten.<br />

Das liege auch an unterschiedlichen Strategien<br />

bei der Anmeldung, Nike melde „jedes<br />

Designmuster“ an, reden die Franken<br />

sich heraus. Doch „der Trend ist klar, Nike<br />

liegt mit weitem Abstand vorn, sei es bei<br />

Sportgeräten, Bekleidung, Schuhen oder<br />

der Kunststoffverarbeitung“, sagt Grünecker-Anwalt<br />

Ulrich Blumenröder. „Der<br />

Vorsprung, den Nike sich mit seinen Patenten<br />

auf dem europäischen Markt geschaffen<br />

hat, ist von der deutschen Sportartikelindustrie<br />

nur schwer aufzuholen.“<br />

RICHTUNG PLEITE<br />

Wer mit Hainer zu Fuß durch London geht,<br />

besser: rennt, sieht mehr von den Schuhen<br />

der Passanten als von der Stadt. Carnaby<br />

Street? Ja, ganz nett, immer schön, hier zu<br />

sein, aber da vorn: „Da, sehen Sie? Superstar“,<br />

ein klassisches Adidas-Modell. Zehn<br />

Meter weiter: „Aha: Gazelle“, auch von Adidas.<br />

Hainer ist ein Mann des gesenkten<br />

Blicks. Ständig will er sehen, was die Passanten<br />

an den Füßen tragen. Ist es ein Adidas-Modell,<br />

scheint es in seinem Kopf zu<br />

klingeln: Prima, wieder ein paar Euro verdient,<br />

wieder Umsatz gemacht.<br />

Hainer tickt so. Er ist Vertriebsmann,<br />

durch und durch. Als der Niederbayer im<br />

Frühjahr 1987 zu Adidas wechselt, bringt er<br />

seine Erfahrung aus acht Jahren beim Konsumgüterriesen<br />

Procter & Gamble mit. 14<br />

Tage nach Hainers Antritt bei Adidas als<br />

Vertriebsmanager stirbt Gründer-Sohn<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 71<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Gesenkter Blick<br />

Hainer muss vor<br />

allem seine<br />

Scharte auf dem<br />

wichtigen US-<br />

Markt auswetzen<br />

»<br />

und Konzernchef Horst Dassler. Adidas<br />

stürzt für Jahre ins Chaos, stramm in Richtung<br />

Pleite. Erst der Franzose Robert Louis-<br />

Dreyfus, der 1993 einsteigt, rettet das Unternehmen,<br />

indem er Fabriken in Europa<br />

dichtmacht, Produktion in Billiglohnländer<br />

verlagert und als Ex-Chef der Londoner<br />

Agentur Saatchi & Saatchi massiv auf Werbung<br />

setzt. Dreyfus’ Landsmann Christian<br />

Tourres, zuständig für die Finanzen, fördert<br />

Hainer. Der zieht 1997 in den Vorstand ein<br />

und wird im März 2001 Chef.<br />

Der lässige Franzose entstammt einer<br />

reichen Unternehmerdynastie, hat sich<br />

sein Harvard-Studium durch Pokergewinne<br />

finanziert und wird auch noch als Adidas-Chef<br />

wegen seiner legeren Kleidung<br />

schon mal mit dem Chauffeur verwechselt.<br />

Zögling Hainer ist Sohn eines Metzgers<br />

und finanzierte sein BWL-Studium in<br />

Landshut als Fußballstürmer in der Bayernliga,<br />

half in der elterlichen<br />

Fotos<br />

In unserer<br />

App-<strong>Ausgabe</strong><br />

finden Sie Bilder<br />

<strong>vom</strong> zähen Zweikampf<br />

zwischen<br />

Nike und Adidas<br />

Metzgerei aus und gründete nebenbei<br />

erfolgreich eine Kneipe.<br />

Bei Adidas an der Spitze, setzt<br />

Hainer zunächst Dreyfus’ Strategie<br />

fort und forciert die Internationalisierung.<br />

Gemeinsam mit<br />

seinem Marketingchef und Weggefährten<br />

Erich Stamminger entscheidet<br />

er, Adidas auch als Modemarke zu<br />

etablieren. Hainer bringt klassische Sportschuhe<br />

auf den Markt, die auf der Straße<br />

getragen werden. Es folgen modische Treter<br />

in Kooperation mit dem japanischen<br />

Stardesigner Yohji Yamamoto oder der<br />

Beatles-Tochter Stella McCartney. Mit der<br />

Freizeitmarke Neo für junge Käufer tritt er<br />

gegen den Billigkonkurrenten H&M an.<br />

GROSSER IRRTUM<br />

Gleichzeitig lernt Hainer von Widersacher<br />

Nike und investiert massig in Werbung.<br />

Das Konzept geht vordergründig auf; Mode<br />

und Sport treiben den Umsatz. Doch<br />

tatsächlich haben weder Hainer noch<br />

Stamminger eine echte Nähe zum kreativen<br />

Teil ihres Geschäfts.<br />

Hainer kann gut mit Händlern und ist bei<br />

den Krämern hoch angesehen, sein Duzfreund<br />

Stamminger kommt <strong>vom</strong> Nürnberger<br />

Marktforscher GfK und setzt<br />

auf Zahlen. Kreative Bauchmenschen<br />

sind Hainer und Stamminger<br />

beim besten Willen nicht.<br />

„Die besten Manager sind nicht<br />

die, die viele Ideen haben“, sagt<br />

Hainer einmal, „es sind die, die<br />

ein oder zwei Ideen kompromisslos<br />

in die Tat umsetzen.“<br />

Doch was, wenn diese Ideen nicht fruchten?<br />

2005 stellt sich Hainer zusammen mit<br />

Stamminger solche Fragen zumindest zu<br />

wenig. Stattdessen haben die beiden eine<br />

Idee, die sie kompromisslos in die Tat umsetzen<br />

wollen, die ihren Nimbus jedoch auf<br />

lange Sicht empfindlich ankratzen wird:<br />

Sie stoßen die Wintersportsparte Salomon<br />

ab und erklären nur zwei Monate danach,<br />

die US-Marke Reebok kaufen zu wollen.<br />

Hainers Ziel ist klar, er will Nike auf dem<br />

Heimatmarkt USA angreifen. 35 Prozent<br />

des Sportschuhmarktes hält der Konkurrent<br />

dort. „Ich glaube nicht, dass es die<br />

Märkte auf Dauer zulassen, dass ein Player<br />

so dominant ist“, hofft Hainer.<br />

Es war der große Irrtum, der Hainer, so<br />

sehr er in der Folgezeit auch den Umsatz<br />

von Adidas steigerte, für den Rest seiner<br />

Zeit als Konzernchef anhängen sollte. Die<br />

Marke ausgelutscht und unattraktiv, die<br />

Lager der Händler voll mit alter Ware,<br />

mickrige Margen – erst jetzt, acht Jahre<br />

später und nach mehrfachem Wechsel an<br />

der Reebok-Spitze, scheint Hainer bei der<br />

US-Tochter endlich Wachstum zu gelingen.<br />

Doch die Energie, die der Niederbayer<br />

dafür verwendete, fehlte ihm an anderer<br />

Stelle. Denn während Hainer Reebok rettet,<br />

dreht Nike von 2006 an unter seinem<br />

»<br />

72 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Von Visionen und Revolutionen<br />

Wie ein Visionär ein Unternehmen schuf, das die Zeitmessung revolutionierte<br />

Maßgebliche Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft begleiten<br />

die Menschheit seit Jahrtausenden und mitunter mündet<br />

das, was zunächst als Vision eines einzelnen Menschen<br />

begann, in einer Revolution. Es gibt dafür zahllose Beispiele,<br />

sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft.<br />

Manche Geschichten sind uns allen nur zu geläufig, aber<br />

es gibt auch zahllose Geschichten, die nicht so bekannt<br />

sind und von Dingen erzählen, die für uns heute zu Selbstverständlichkeiten<br />

des Alltags gehören, wie zum Beispiel<br />

eine genau gehende Uhr am Handgelenk. Kintaro Hattori,<br />

ein Uhrmacher aus Tokio, war ein solcher Visionär, der<br />

vor mehr als 130 Jahren ein Unternehmen gründete, das<br />

später die Welt der Zeitmessung revolutionieren sollte.<br />

Im Jahr 1881 eröffnete er als Uhrmacher ein kleines<br />

Uhrenreparaturgeschäft in Tokio. Doch schon bald stellte<br />

er fest, dass die Reparatur und der Verkauf von Uhren,<br />

die zur damaligen Zeit vor allem aus Europa und Amerika<br />

kamen, nicht die Erfüllung seines Lebens sein konnte. Er<br />

hatte das Ziel, noch bessere Uhren zu bauen, und begann<br />

mit der Fertigung eigener Modelle. Was zunächst mit<br />

Eigenbauten von Wand- und Tischuhren begann, entwickelte<br />

sich schnell zu einer industriellen Fertigung für<br />

den rasant wachsenden japanischen Markt. Ein bedeutender<br />

Schritt war die Aufnahme der Produktion von<br />

Taschenuhren, deren ausgezeichnete Qualität auch im<br />

japanischen Kaiserhaus eine hohe Anerkennung fand<br />

und die als offizielles Geschenk der Kaiserfamilie für<br />

besondere Gäste vergeben wurden. Ein weiterer Meilenstein<br />

war die Fertigung der ersten in Japan hergestellten<br />

Armbanduhr im Jahr 1913. Das Unternehmen von Kintaro<br />

Hattori wuchs schnell, aber er wusste auch, wie wichtig<br />

es war, sich stets weiterzuentwickeln, und sein Credo<br />

war, „den anderen immer einen Schritt voraus“ zu sein.<br />

Seine Vision, die genauesten Uhren der Welt zu bauen,<br />

brachte er durch die Wahl des Markennamens zum<br />

Ausdruck: „Seiko“ – das japanische Wort für Präzision.<br />

Doch es gab auch Rückschläge. Als im Jahr 1923 das<br />

Kanto-Erdbeben große Teile Japans und auch die<br />

Produktionsstätten von Seiko zerstörte, begann er sofort<br />

mit dem Wiederaufbau. Legendär ist die Geschichte, dass<br />

Hattori alle 1500 Uhren, die von Endverbrauchern bei<br />

Seiko zu Reparatur- und Wartungszwecken abgegeben<br />

worden waren und beim Erdbeben zerstört wurden,<br />

kostenlos ersetzte. In den folgenden Jahrzehnten setzten<br />

Hattoris Erben die Entwicklung des Unternehmens fort<br />

und begannen zunehmend neue internationale Märkte zu<br />

erschließen. In den 50er und 60er Jahren konzentrierte<br />

sich Seiko auf die Entwicklung hochwertiger mechanischer<br />

Armbanduhren, um auch im anspruchsvollen<br />

europäischen Markt bestehen zu können. 1968 konnte<br />

Seiko beim Chronometerwettbewerb des Genfer Observatoriums<br />

die höchste je vergebene Punktzahl erreichen<br />

und damit nachweisen, dass die Qualität der mechanischen Zeitmesser<br />

Kintaro Hattori, Firmengründer und Visionär.<br />

Die Quartz Astron, die welterste Quarzarmbanduhr.<br />

Die Astron GPS Solar, die welterste analoge<br />

Armbanduhr mit GPS Empfang und Zeitzonenerkennung.<br />

von Seiko denen der damals dominierenden Schweizer Marken ebenbürtig<br />

ist. Andererseits erkannte die Uhrenindustrie in<br />

den 60er Jahren, dass die Zukunft höhere Anforderungen<br />

an die Ganggenauigkeitvon Uhren stellt, die eine mechanische<br />

Armbanduhr nicht erfüllen kann. Es begann eine<br />

Zeit, in der in Kategorien von Zehntel- und Hundertstelsekunden<br />

gearbeitet wurde. Dazu bedurfte es neuer<br />

Zeitmesser. Am 25. Dezember 1969 präsentierte Seiko<br />

eine Armbanduhr, welche die Zeitmessung revolutionierte,<br />

die Seiko Astron. Die Seiko Astron war die erste<br />

Quarzarmbanduhr der Welt und die Wirklichkeit gewordene<br />

Vision von Kintaro Hattori, die genauesten Uhren<br />

der Welt zu bauen und „den anderen einen Schritt<br />

voraus“ zu sein. Die Quarztechnologie trat einen unvergleichlichen<br />

Siegeszug an und auch heute sind<br />

93 Prozent aller in Deutschland verkauften Uhren mit<br />

einem Quarzwerk ausgestattet, das nach denselben<br />

Prinzipien und mit denselben wesentlichen Bauteilen<br />

arbeitet wie die Seiko Astron aus dem Jahr 1969. Angetrieben<br />

von einer Batterie bieten Quarzuhren eine hohe<br />

Ganggenauigkeit und eine Robustheit, die heute im Alltag<br />

unerlässlich sind. Dennoch waren Seikos Ingenieure mit<br />

dem Produkt nicht ganz zufrieden, denn die Uhren bedürfen<br />

eines regelmäßigen Batteriewechsels, was nicht nur<br />

nutzerunfreundlich ist und zusätzliche Kosten verursacht,<br />

sondern auch die Umwelt schädigt. So suchte Seiko nach<br />

alternativen Energiesystemen und brachte bereits 1977<br />

die erste Solaruhr auf den Markt. 1988 folgte Kinetic, die<br />

erste Armbanduhr mit einem mechanischen Miniaturkraftwerk<br />

am Handgelenk. Heute sind zwei Drittel aller in<br />

Deutschland verkauften Seiko Uhren mit Uhrwerken ausgestattet,<br />

die keinen Batteriewechsel benötigen und<br />

damit unsere Umwelt schonen. Die Verbindung von Umweltschutz<br />

und modernsterTechnologie ist der Anspruch,<br />

der Seiko bei der Entwicklung seiner neuesten Produkte<br />

vorantreibt. So gelang es Seiko durch die Entwicklung<br />

eines eigenen patentierten GPS-Empfängers mit niedrigem<br />

Energieverbrauch eine Uhr zu kreieren, die Signale<br />

<strong>vom</strong> globalen GPS-Netzwerk empfangen und daraus die<br />

Uhrzeit und Zeitzone ermitteln kann. Dazu nutzt sie ausschließlich<br />

die Kraft des Lichts. Dieser bahnbrechende<br />

Zeitmesser trägt den Namen Seiko Astron. Wie ihre<br />

berühmte Vorgängerin aus dem Jahr 1969, die erste<br />

Quarzuhr der Welt, leitet die Seiko Astron GPS Solar eine<br />

neue Ära der Zeitmesstechnologie ein. Sie zeigt die Uhrzeit<br />

mit einer Gangabweichung von nur einer Sekunde in<br />

einhunderttausend Jahren an und benötigt dazu lediglich<br />

freie Sicht zum Himmel. Mit der Seiko Astron GPS Solar<br />

erfährt das Andenken an Kintaro Hattori und seine Vision,<br />

stets „den anderen einen Schritt voraus“ zu sein, eine<br />

besondere Würdigung. Es gibt keinen besseren Beleg für<br />

die unveränderte Gültigkeit dieses Leitspruchs als die<br />

Astron, eine Uhr, auf dieKintaro Hattori stolz wäre.


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Die perfekte Verbindung von Zeit und Raum<br />

Der Ursprung unserer Zeit<br />

Zeit ist allgegenwärtig. Unser ganzes Leben wird von zeitlichen Abläufen<br />

geprägt. Aber wo liegt eigentlich der Ursprung unserer Zeitmessung?<br />

Historisch betrachtet liegt der Ursprung unserer Zeitmessung<br />

in der Astronomie, denn die Erde dreht sich in 24 Stunden einmal um<br />

ihre Achse und eine Sekunde ist exakt der 86400. Teil eines mittleren<br />

Sterntages. So sagten es zumindest Wissenschaftler um 1900 und<br />

diese Definition hatte bis 1967 Bestand. Moderne Methoden der<br />

Zeitmessung mit Quarzuhren bewiesen dann aber, dass sich die<br />

Erde doch nicht völlig gleichmäßig bewegt und die Uhren mittels<br />

Schaltsekunden, die alle zwei bis fünf Jahre eingefügt werden, wieder<br />

an den astronomischen Rhythmus angepasst werden müssen. Seit<br />

1967 ist die sogenannte Atomsekunde Grundlage unserer Zeitmessung<br />

und Atomuhren sind die genauesten Uhren auf der Welt.<br />

Die Erde aufgeteilt in eine Million Quadrate<br />

Die Astron GPS Solar nutzt das GPS-Satellitensystem nicht nur zur<br />

Abfrage hochpräziser Zeitsignale, sondern ist die erste Uhr, die ihrem<br />

Standort auch die richtige Zeitzone* zuweist und die Ortszeit automatisch<br />

einstellt. Mit nur einem Knopfdruck verbindet sie sich mit<br />

mindestens vier der in einer Entfernung von 20.000 km über der Erde<br />

rotierenden Satelliten, ermittelt den Standort, weist die entsprechende<br />

Zeitzone* zu und stellt sich auf die Ortszeit ein. Dazu hat Seiko die Erde<br />

in eine Million Quadrate unterteilt und jedem der Quadrate die korrekte<br />

Zeitzone* zugewiesen.<br />

Das Geheimnis liegt im Energiemanagement<br />

Die Kombination von Seikos Solartechnologie mit GPS erforderte Jahre<br />

mühsamer und bahnbrechender Forschung und Entwicklung, die zu<br />

nicht weniger als 100 Patentanmeldungen geführt hat. Nur Seikos fortgeschrittene<br />

Technologien in der Energieeffizienz ermöglichten die<br />

Erfindung eines Mini-GPS-Empfängers, der so wenig Energie zum<br />

Empfang eines GPS-Signals von vier oder mehr Satelliten benötigt.<br />

Bei der Zeitzonenabfrage verbraucht die Astron GPS Solar 10.000-mal<br />

mehr Energie als eine reguläre Quarzuhr und 200-mal so viel Energie<br />

wie eine Funkuhr. Seiko entwickelte daher ein GPS-Modul, das bei der<br />

Signalsuche weniger als 10 % der Energie herkömmlicher GPS-Geräte<br />

verbraucht und Satelliten mit schlechtem Empfang nicht berücksichtigt.<br />

Die Astron GPS Solar verbindet sich auf Knopfdruck mit vier oder mehr GPS-Satelliten.<br />

Hochpräzise Uhrzeit am Handgelenk<br />

Während Funkuhren nur in begrenzten Bereichen einiger Kontinente<br />

funktionieren, empfängt die Astron Zeitsignale überall auf der Welt.<br />

Um die exakte Uhrzeit anzuzeigen, nutzt die Astron GPS Solar das<br />

amerikanische Global Positioning System (GPS). Jeder der zur Zeit im<br />

Umlauf befindlichen 31 GPS-Satelliten, die die komplette Erdoberfläche<br />

abdecken, ist mit einer Atomuhr ausgestattet und sendet hochpräzise<br />

Zeitsignale mit einer Abweichung von lediglich einer Sekunde in<br />

einhunderttausend Jahren. Die Astron GPS Solar empfängt in der<br />

Regel einmal täglich automatisch das Zeitsignal eines GPS-Satelliten<br />

und führt bei Notwendigkeit eine Anpassung durch. Zusätzlich kann<br />

das Zeitsignal auch manuell abgefragt werden. Bei guten Empfangsbedingungen<br />

dauert die Abfrage lediglich sechs Sekunden.<br />

*Die Zeitzonendaten entsprechen beim Kaliber 7X dem Stand Januar 2012 und beim<br />

Kaliber 8X dem Stand Januar 2014.<br />

Bei Notwendigkeit kann die Zeitzone auch manuell eingestellt werden.<br />

Die Astron GPS Solar nutzt ausschließlich die Energie des Lichts und benötigt keinen Batteriewechsel.<br />

Umweltfreundliche Energie ohne Batteriewechsel<br />

Die neue Seiko Astron ist solarbetrieben und erfordert daher keinen<br />

Batteriewechsel. Sie nutzt ausschließlich die Energie des Lichts, um<br />

sich mit dem GPS-Netzwerk zu verbinden. Egal ob Sie sich auf der<br />

Spitze eines Berges, mitten auf dem Ozean oder in einer verlassenen<br />

Wüste befinden, dank des Solarantriebs sind Sie unabhängig und die<br />

Uhr zeigt Ihnen immer die exakte Ortszeit an.


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Die perfekte Verbindung von Zeit und Raum<br />

Bequem, einfach und angenehm zu tragen<br />

Die Seiko Astron zu tragen ist ein einfaches Vergnügen. Wenn Sie nach<br />

einer langen Reise aus dem Flugzeug steigen, brauchen Sie nur einen<br />

Knopf zu drücken und die Zeitzone wird automatisch eingestellt.<br />

Es dauert nur sechs Sekunden, bis die Zeit angepasst ist, und nur<br />

30 Sekunden, um den Standort zu lokalisieren. Die Einstellung erfolgt<br />

unabhängig davon, ob Sie stehen oder sich bewegen. Immer wenn Sie<br />

den Himmel sehen können, wissen Sie, wie spät es ist. Die Anpassung<br />

von Winter- auf Sommerzeit und umgekehrt erfordert nur einen Knopfdruck<br />

und das Datum ist immer korrekt eingestellt. Der Ewige Kalender<br />

der Seiko Astron zeigt Ihnen bis zum 28. Februar 2100 das richtige<br />

Datum an. Die schon einfache Bedienung wird durch Seikos Solartechnologie<br />

zusätzlich erleichtert, da dadurch keine Wartung nötig ist.<br />

Astron GPS Solar und Novak Djokovic<br />

Als der serbische Tennisstar und Weltranglistenerste Novak Djokovic<br />

im Januar 2014 Seiko als Uhrenpartner auswählte, erweckte besonders<br />

die neue Seiko Astron GPS Solar Kollektion seine Aufmerksamkeit.<br />

Als Tennisspieler reist Novak Djokovic zu Turnieren in der ganzen Welt<br />

und er müsste seine Armbanduhr im Jahr ca. 60-mal der jeweiligen<br />

Zeitzone am Turnierort anpassen – diese Arbeit erledigt für ihn die<br />

Seiko Astron GPS Solar. Als Zeichen der Partnerschaft und engen<br />

Verbundenheit mit Novak Djokovic hat Seiko eine ganz besondere Uhr<br />

kreiert, die Seiko Astron GPS Solar „Novak Djokovic Limited Edition“.<br />

Der Astron GPS Solar Chronograph. Die genaue Uhrzeit am Handgelenk - jetzt auch mit Stoppfunktion.<br />

Die Astron GPS Solar "Novak Djokovic Limited Edition" - die exakte Uhrzeit an jedem Turnierort der Welt.<br />

Astron GPS Solar<br />

nun auch mit Chronographenfunktion<br />

Der neue Astron GPS Solar Chronograph erweitert die erfolgreiche<br />

GPS-Solar-Kollektion. Beide GPS-Solar-Kaliber nutzen ausschließlich<br />

die Energie des Lichts, um sich mit dem GPS-Netzwerk zu verbinden,<br />

geben die Zeit mit der Präzision einer Atomuhr wieder und stellen sich<br />

auf Knopfdruck automatisch auf jede Zeitzone* der Welt ein. Zusätzlich<br />

bietet der GPS-Solar Chronograph vier neue Funktionen, die auf der<br />

Grundlage zahlreicher Hinweise von Händlern und Endverbrauchern<br />

aus der ganzen Welt entwickelt wurden. Er verfügt über eine Stoppfunktion<br />

von bis zu 6 Stunden in 1/5-Sekunden-Schritten. Gleichzeitig<br />

ist er kleiner und entspricht in seinen Abmessungen denen der meisten<br />

Multifunktions-Uhren. Dank weiterer Fortschritte in der Energieeffizienz<br />

kann die Astron die Verbindung zum GPS-Netzwerk nun mit einer<br />

kleineren Antenne herstellen. Die einfache „One-Touch“-Bedienung<br />

der GPS-Funktion wurde nicht verändert; drücken Sie einfach einen<br />

Knopf für sechs Sekunden und die GPS-Funktion der Astron wird aktiviert.<br />

Die weiteren Funktionen, wie zum Beispiel die manuelle Einstellung<br />

der Zeitzone, sind durch eine elektronische Krone leichter<br />

zugänglich und einfacher zu bedienen. Dank neuer, extrem lichtdurchlässiger<br />

Zifferblätter sind nun auch neue Zifferblattfarben möglich.<br />

Die Astron Revolution geht weiter<br />

Mit nunmehr zwei Kalibern und 20 Modellen macht die Astron einen<br />

weiteren wichtigen Schritt in Richtung Zukunft. Keine andere Uhr<br />

der Welt könnte besser Kintaro Hattoris Vision zum Ausdruck bringen,<br />

„den anderen stets einen Schritt voraus“ zu sein. Zur Verbindung mit<br />

dem GPS-Netzwerk ausschließlich die Energie des Lichts zu nutzen,<br />

war bereits eine fantastische Errungenschaft. Die zusätzliche Chronographen-Funktion,<br />

die elektronische Krone und die kleineren Gehäuseabmessungen<br />

zeigen, dass die Astron die Grenzen dessen, was eine<br />

Uhr alles leisten kann, neu definiert. Die Astron Kollektion 2014 setzt<br />

neue Maßstäbe in der Fertigung elektronischer Uhren. Und das ist erst<br />

der Anfang.<br />

Mit der Nutzung von Zeitsignalen aus dem Weltall verbindet die Seiko<br />

Astron GPS Solar die exakte Uhrzeit am Handgelenk mit den Weiten<br />

des Weltraums und dem Ursprung unserer Zeitmessung.<br />

*Die Zeitzonendaten entsprechen beim Kaliber 7X dem Stand Januar 2012 und beim<br />

Kaliber 8X dem Stand Januar 2014.<br />

Bei Notwendigkeit kann die Zeitzone auch manuell eingestellt werden.


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www.seiko-astron.de<br />

astron gps solar chronograph.<br />

die uhr, die sich ihrer zeitzone<br />

anpasst*.<br />

Die neue Astron verbindet sich mit nur einem Knopfdruck mit dem<br />

GPS-Netzwerk und stellt sich auf die Ortszeit Ihrer Zeitzone* ein.<br />

Dafür nutzt sie ausschließlich Lichtenergie und benötigt keinen<br />

Batteriewechsel.<br />

*Die Zeitzonendaten entsprechen dem Stand Januar 2014. Bei Notwendigkeit kann die<br />

Zeitzone auch manuell eingestellt werden.<br />

DER PERFEKTION VERPFLICHTET


Unternehmen&Märkte<br />

FOTOS: CHRIS GLOAG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, GETTY IMAGES/AFP<br />

»<br />

neuen Chef Parker in den USA mächtig<br />

auf. Und die Amerikaner schaffen, was<br />

Hainer Jahre zuvor nicht glauben konnte:<br />

Zusammen mit der Tochtermarke Jordan<br />

kommt Nike heute im US-Handel auf einen<br />

Marktanteil von mehr als 60 Prozent. Hainer<br />

dagegen musste bei Adidas von 2005<br />

an einen Rückgang von zehn auf heute<br />

sechs Prozent hinnehmen. Bei Reebok, seiner<br />

erhofften Waffe gegen Nike, sackte der<br />

Anteil gar von 8,0 auf nur noch 1,8 Prozent<br />

ab. Statt drei Milliarden Euro, wie zunächst<br />

2010 im Businessplan vorgesehen, hofft<br />

Hainer nun, 2015 zwei Milliarden Euro mit<br />

Reebok einzunehmen.<br />

Die Rücknahme des Ziels für die US-<br />

Tochter hat für Hainer Konsequenzen, die<br />

ihn seinen Zenit bei Adidas noch vor dem<br />

offiziellen Vertragsende überschreiten lassen.<br />

Denn weil Reebok nicht wie erhofft vorankommt,<br />

erhöht er den Druck auf die anderen<br />

Sparten – mit fatalen Folgen.<br />

So verlangt Hainer von seiner Golfsparte<br />

TaylorMade 2,2 statt 1,8 Milliarden Euro<br />

Umsatz bis 2015. Um das Ziel zu erreichen,<br />

sagen Insider, lässt er maximal Ware in die<br />

Läden pumpen. Doch die will keiner. Auch<br />

der Golfsport bekommt sein Generationenproblem,<br />

hippe junge Betuchte frönen<br />

lieber dem Modesport CrossFit. Als dann<br />

noch der Verfall des Rubel dazukommt,<br />

bleibt Hainer Ende Juli, wenige Tage nach<br />

dem WM-Triumph der deutschen Fußballmannschaft,<br />

nur noch, das selbst gesteckte<br />

Umsatzziel für 2014 und 2015 zu kassieren.<br />

Handelsmanager, die Hainer lange kennen,<br />

zeigen sich davon überzeugt, dass<br />

Hainer nicht aufstecken, sondern alles versuchen<br />

wird, es seinen Kritikern zu zeigen.<br />

„Der Herbert“, sagt ein Branchenkenner,<br />

„ist ein zäher Hund, das ist ein Steher.“<br />

Doch Hainer weiß, dass es an ihm allein<br />

nicht mehr liegen wird. Die Hauptlast hat<br />

er Eric Liedtke übertragen, einem 48-jährigen<br />

Amerikaner, der zuvor die Schuhe und<br />

Shirts für Leistungssportler verantwortete.<br />

Liedtke hat die Schwachstellen wohl erkannt.<br />

Vor Kurzem erst wurde bekannt,<br />

dass er mit Paul Gaudio erstmals seit dem<br />

Weggang des früheren Adidas-Design-<br />

Chefs Michael Michalsky 2006 wieder einen<br />

globalen Kreativdirektor installiert hat,<br />

einen alten Schulfreund, wie er per Mail an<br />

die Mitarbeiter bestätigte.<br />

Seine Basis schlägt Gaudio in der Adidas-US-Zentrale<br />

in Portland im Bundesstaat<br />

Oregon auf, wo auch Konkurrent Nike<br />

seinen Hauptsitz hat. Zusammen mit dem<br />

Ex-TaylorMade-Chef Mark King, ebenfalls<br />

einem Amerikaner, der neuer US-Chef von<br />

Show gestohlen Nike-Chef Mark Parker gilt<br />

als oberster Kreativer des Adidas-Rivalen<br />

Adidas wird, soll Liedtke endlich in den<br />

Vereinigten Staaten Boden gutmachen.<br />

Zudem ließ Hainer Liedtke drei neue<br />

Stardesigner anheuern. Zu ihnen zählt der<br />

Kroate Denis Dekovic, der bei Nike an der<br />

Entwicklung völlig neuer Schuhe mitwirkte,<br />

die das moderne Image der Marke prägen.<br />

Dazu zählt der Magista, ein Fußballschuh<br />

mit gestrickter Oberfläche, mit dem<br />

Aktien-Info Adidas<br />

ISIN DE000A1EWWW0<br />

Index: 1.1.2001 =100<br />

700<br />

600<br />

Adidas<br />

500<br />

400<br />

300<br />

Nike<br />

200<br />

100<br />

0<br />

2001 2005 2010 2014<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Umsatz(Mrd. €)<br />

Mitarbeiter<br />

Gewinn (Mio. €)<br />

Umsatzrendite (in %)<br />

Eigenkapitalrendite (in %)<br />

Brutto-Marge (in %)<br />

Kurs (in €)<br />

KGV 2013<br />

Börsenwert (in Mrd. €)<br />

Niedrig<br />

Geschäftsjahr 2013; Quelle: Bloomberg,<br />

Thomson Reuters, Unternehmen<br />

Adidas<br />

14,5<br />

50728<br />

839<br />

5,8<br />

14,3<br />

49<br />

57,75<br />

15,2<br />

12,1<br />

Nike<br />

20,5<br />

56500<br />

1990<br />

9,7<br />

24,6<br />

45<br />

72,28<br />

31,1<br />

62,4<br />

Hoch<br />

Die Adidas-Gruppe hat die Gewinnaussichten für 2014<br />

von bis zu 930 Millionen auf nur noch 650 Millionen Euro<br />

gekappt, und noch gibt es keine klare Ansage, wie der<br />

Konzern auf das Reebok-Angebot reagieren will. Das<br />

sorgt für Unsicherheit.<br />

die Amerikaner Adidas bei der WM in Brasilien<br />

die Show stahlen. Zwar gewann<br />

Deutschland in Adidas-Trikots den Titel,<br />

doch an den Füßen trug Siegtorschütze<br />

Mario Götze den Magista. Der Schuh steht<br />

heute wie ein steter Stachel in Hainers Wade<br />

im Nike-Laden in Berlin.<br />

Es sind vor allem die jungen Konsumenten,<br />

die die Schwächen der Franken erspüren.<br />

Zwar führt Adidas in einem kürzlich<br />

veröffentlichten Ranking des Hamburger<br />

Beratungsunternehmens Brandmeyer in<br />

Deutschland die Liste der beliebtesten<br />

Marken an, vor BMW und Nike.<br />

Doch bei den Jungen sieht das Bild ganz<br />

anders aus. Nur fünf Prozent der 14- bis<br />

17-Jährigen nennen Adidas als Lieblingsmarke.<br />

Für Nike votieren dagegen 36 Prozent.<br />

Hainer muss das schmerzen. Denn<br />

eigentlich hatte er bei der WM viel Geld in<br />

eine Social-Media-Redaktion gesteckt sowie<br />

die Popstars Justin Bieber und Katy<br />

Perry als Werbegrößen für seinen Modeableger<br />

Neo engagiert. Wozu das alles, muss<br />

er sich jetzt fragen lassen, wenn die Kids<br />

dann doch zu Nike greifen?<br />

Die Shirts und Schuhe, die die neuen<br />

Verantwortlichen nun aushecken, werden<br />

sich frühestens 2016 in mehr Umsatz und<br />

Gewinn niederschlagen. Bis dahin probiert<br />

es Hainer mit noch mehr Werbung und will<br />

2015 die größte Kampagne der Unternehmensgeschichte<br />

starten. Ihm selbst bleibt<br />

nur, darauf zu setzen, dass sein Aufsichtsrat<br />

ihm folgt.<br />

Der ist zwar handverlesen und gilt als<br />

recht zahm. Doch allmählich sind Stimmen<br />

zu hören, die einen Start in die systematische<br />

Nachfolgesuche für den ewigen<br />

Herbert fordern. Bislang, heißt es in Aufsichtsratskreisen,<br />

sei da noch nichts passiert.<br />

Dabei werde es doch „höchste Zeit“. n<br />

peter.steinkirchner@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 73<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

»Mach Platz,<br />

Zuck!«<br />

SOCIAL MEDIA | Pinterest zählt zu den wertvollsten Startups<br />

der Welt. Kann das Netzwerk tatsächlich Marktführer<br />

Facebook gefährlich werden? Ein Ortstermin.<br />

Unter lichtdurchfluteten Deckenfenstern<br />

hängen gestreifte<br />

Mini-Heißluftballons. An<br />

den Wänden stehen Puppenhäuser,<br />

Fahrräder, eine Bar<br />

wie aus dem Westernsaloon, Legobausteine,<br />

Leuchtreklamen, Geschenkpapier und<br />

ein zum Schreibtisch umfunktionierter<br />

Ford Mustang. Alles wirkt im Hauptquartier<br />

von Pinterest in San Francisco, als ob<br />

sich Innenarchitekten und Nostalgiafans<br />

gegenseitig übertreffen wollten.<br />

Alle Wege in dem zweistöckigen Lagerhaus<br />

aus roten Ziegelsteinen – einst stapelten<br />

sich hier Schuhkartons – führen zur<br />

Mitte des Gebäudes, die wie ein Marktplatz<br />

wirkt. Dort sind lange Tische aufgebaut, an<br />

denen Manager und Mitarbeiter essen und<br />

diskutieren, flankiert von einer modernen<br />

Küche, Kaffeeautomaten und gläsernen<br />

Kühlschränken mit Getränken und Joghurtbechern.<br />

An diesem Dienstagmittag<br />

Riese unter den Zwergen<br />

Welchen Anteil soziale Netzwerke an der<br />

Nutzung von mehr als 200000 Web-Seiten<br />

weltweit haben*<br />

Google+<br />

Facebook<br />

Pinterest<br />

LinkedIn<br />

2013 2014<br />

* in Prozent der Besucherzahl; Quelle: Shareaholic<br />

Twitter<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

im späten Oktober gibt es Pizza, Salat und<br />

Hühnchen.<br />

Das Auge ist verwirrt. Der Besucher weiß<br />

nicht, wohin er zuerst schauen soll. Aber<br />

schnell wird klar: Das Chaos ist inszeniert.<br />

Es steckt eine Ordnung in den Dingen. Alle<br />

Gegenstände haben ihren thematischen<br />

Platz, wurden von den Designern bewusst<br />

ausgewählt. Das vermeintliche Durcheinander<br />

symbolisiert den Zweck von Pinterest.<br />

Das Start-up verwaltet ein Sammelsurium<br />

von 30 Milliarden Objekten – die<br />

größte digitale Wandzeitung des Internets.<br />

SCHAUFENSTER FÜR PRODUKTE<br />

Sie ist die Fleißarbeit der aktuell 70 Millionen<br />

Nutzer, die ihre Fundstücke – eigene,<br />

vor allem aber auch im Web entdeckte Bilder<br />

– an ihr digitales Schwarzes Brett pinnen.<br />

Daher der Name der Plattform. Entstanden<br />

ist eine gigantische Fundgrube aus<br />

all dem, was das Internet an interessanten<br />

Dingen zu bieten hat. Damit ist Pinterest so<br />

etwas wie die virtuelle Schaufensterfront<br />

des World Wide Web.<br />

Ob Brautsträuße, Kücheneinrichtungen,<br />

Whiskeymarken, Laufschuhe, Strickwesten,<br />

Landschaften, Tiere oder Tattoos:<br />

Knapp 800 Millionen individuelle Wandzeitungen<br />

– die Boards – sind in den vergangenen<br />

vier Jahren entstanden. Jeder<br />

Nutzer hat im Schnitt elf von ihnen.<br />

Angesichts dieser Zahlen kürte das US-<br />

Wirtschaftsmagazin „Forbes“ Pinterest sogar<br />

schon zum Nachfolger von Facebook.<br />

„Mach Platz, Zuck“, titelte es jüngst in Anspielung<br />

auf dessen Gründer Mark Zuckerberg.<br />

Eine tollkühne Prognose für ein Startup,<br />

das gerade erst angefangen hat, Geschäftsmodelle<br />

zu testen, und immer noch<br />

Verluste schreibt. Noch muss sich Zuckerberg<br />

jedenfalls nicht fürchten. Facebook<br />

hat rund 1,3 Milliarden Profile. Twitter ungefähr<br />

270 Millionen Konten. Pinterest ist<br />

mit seinen 70 Millionen Nutzern klein.<br />

Mehr noch: Facebook hält den Markt für<br />

soziale Netzwerke fest im Griff und hat die<br />

Wettbewerber in Nischen gedrängt. „Pinterest<br />

muss sich erst im Markt beweisen“,<br />

meint Nate Elliott <strong>vom</strong> US-Marktforscher<br />

Forrester Research, ein bekannter Experte<br />

für soziale Medien. Und nicht wenige einst<br />

gefeierte Start-ups wie MySpace, Second<br />

FOTOS: GABOR EKECS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

74 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Kreative Wuschelköpfe<br />

Ben Silbermann (links), CEO<br />

von Pinterest, und Mitgründer<br />

Evan Sharp im Atrium der<br />

Firmenzentrale<br />

56 %<br />

der aktiven<br />

Nutzer von<br />

Pinterest sind<br />

weiblich<br />

Life, Bebo und Path sind<br />

heute: vergessen.<br />

Auch deshalb fragt sich<br />

mancher, ob überhaupt<br />

noch Platz ist für ein weiteres<br />

soziales Netzwerk?<br />

Kurz gesagt: Wenn eine Firma<br />

das Zeug hat, es zu schaffen, dann ist<br />

es Pinterest. Den Aufschluss bringt der<br />

Ortstermin, ein Tag voller Gespräche mit<br />

den Managern der Bilderplattform in der<br />

Firmenzentrale in San Francisco. Der<br />

Grund ist, dass die Mitglieder des Netzwerks<br />

für die Werbewirtschaft<br />

so attraktiv sind<br />

wie in kaum einer anderen<br />

Community.<br />

Das liegt an einem wichtigen<br />

Unterschied zu Facebook.<br />

Der Marktführer dient vor allem<br />

der Kommunikation mit Freunden<br />

und Bekannten. Dagegen haben die Pinterest-Gründer<br />

ihre Plattform als Einkaufsbegleiter<br />

konzipiert.<br />

Die Nutzer suchen gezielt nach interessanten<br />

Dingen, müssen nicht erst auf Pro-<br />

duktseiten gelockt werden. Ihre Boards<br />

dienen zur Selbstdarstellung – auch um<br />

den eigenen Geschmack zu demonstrieren<br />

und sich wie bei Twitter von möglichst<br />

vielen Fans bestätigen zu lassen. So ist etwa<br />

die Kategorie Hochzeit in den USA besonders<br />

populär. 56 Prozent der Nutzer<br />

sind weiblich.<br />

Und weil jedes der Pins genannten Bilder<br />

mit Originalquelle verknüpft ist, leitet<br />

auch der Klick auf kommerzielle Fotos direkt<br />

zu den zugehörigen Web-Seiten – von<br />

kleinen Blogs über Modemagazine wie<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 75<br />

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Technik&Wissen<br />

»<br />

„Vogue“ bis hin zu Online-Handelsseiten<br />

wie Net-a-porter oder Etsy.<br />

„Pinterest ist bei den sozialen Medien<br />

nach Facebook der größte Garant für Besucherverkehr<br />

für andere Web-Seiten“, erklärt<br />

Danny Wong <strong>vom</strong> Marktforschungsunternehmen<br />

Shareaholic aus Boston<br />

(siehe Grafik Seite 74), was die Plattform<br />

ökonomisch so interessant macht.<br />

MILLIONEN DOLLAR GESAMMELT<br />

Auch für Investoren. 762 Millionen Dollar<br />

Risikokapital hat Pinterest in den vergangenen<br />

vier Jahren eingesammelt. Die<br />

jüngste Runde im Mai soll 200 Millionen<br />

Dollar gebracht und den Wert des Startups<br />

auf fünf Milliarden Dollar getrieben<br />

haben.<br />

Damit läge es derzeit auf Platz<br />

neun der zehn wertvollsten<br />

Start-ups der Welt, die der<br />

Taxidienstleister Uber mit<br />

18 Milliarden Dollar anführt.<br />

Zum Vergleich: Die<br />

New York Times Mediengruppe<br />

hat derzeit nur 1,8<br />

Milliarden Dollar Börsenwert.<br />

Entsprechend entspannt<br />

sitzt Ben Silbermann, CEO und<br />

Mitgründer von Pinterest, deshalb an<br />

diesem Tag in der zweiten Etage der Firmenzentrale.<br />

Aktuell ist sein Platz an einem<br />

Tisch mitten unter den Entwicklern –<br />

alle paar Wochen pendelt er zwischen den<br />

verschiedenen Abteilungen. Kühn grenzt<br />

sich der 32-jährige Amerikaner <strong>vom</strong> Wettbewerber<br />

ab. „Facebook dreht sich mehr<br />

um die Vergangenheit, um Erlebtes auszutauschen“,<br />

behauptet er. „Twitter ist mehr<br />

das Hier und Jetzt, was gerade geschieht.“<br />

Sein eigenes Unternehmen sieht er wenig<br />

überraschend als zukunftsweisend: „Es<br />

geht darum, was unsere Nutzer vorhaben.“<br />

Also ein Haus einzurichten oder eine<br />

Hochzeit vorzubereiten, beides milliardenschwere<br />

Märkte. Selbst Internet-Gigant<br />

Google weist Silbermann einen Platz zu.<br />

Europäer lieben Facebook<br />

* Auswahl wichtiger Länder; Quelle: Forrester Research, 2014<br />

20 %<br />

der 16- bis<br />

24-Jährigen in<br />

den USA sind<br />

auf Pinterest<br />

präsent<br />

„Bei der Suchmaschine müssen Sie wissen,<br />

was Sie wollen“, meint er. „Wir hingegen<br />

helfen Ihnen dabei, Dinge zu entdecken<br />

und zu planen.“<br />

Ein Beispiel für Größenwahn, der bekanntlich<br />

reichlich vorhanden ist in der Internet-Branche,<br />

vor allem in Kalifornien?<br />

Doch Silbermann gilt nicht als Aufschneider.<br />

Ganz im Gegenteil. Im High-Tech-Tal<br />

ist der Chef von Pinterest für sein bescheidenes<br />

Auftreten bekannt. Er ist schüchtern,<br />

nimmt sich selbst nicht so wichtig und<br />

kann über sich lachen. Etwa wenn er erzählt,<br />

wie ihm die Schweißperlen auf der<br />

Stirn standen, als mitten in seiner Präsentation<br />

die Investoren den Raum verließen.<br />

Der Grund: Auf dem Gang wurden gerade<br />

frische Kekse serviert. Silbermanns Erkenntnis:<br />

Auch Multimillionäre<br />

können Gratisgaben nicht widerstehen.<br />

Mit seiner überlegten<br />

Art würde der CEO auch<br />

gut in die Rolle des Arztes<br />

passen, der besorgte Patienten<br />

beruhigt. Wahrscheinlich<br />

hat sein Zuhause<br />

abgefärbt. Der Gründer<br />

stammt aus einer Doktorenfamilie.<br />

Seine Eltern Jane<br />

Wang und Neil Silbermann sind Augenärzte,<br />

auch seine beiden Schwestern<br />

sind Mediziner. Für Ben Silbermann, der in<br />

Des Moines im US-Bundesstaat Iowa aufwuchs,<br />

lag eine medizinische Karriere nahe.<br />

Lange Zeit sah es auch danach aus.<br />

„Technik-Start-ups waren bei uns im Mittleren<br />

Westen wie von einem fremden Stern“,<br />

sagt er. Um die Jahrtausendwende im College<br />

entdeckte er sein Interesse fürs Internet.<br />

Nach dem Studium der Politikwissenschaften<br />

in Yale und Jobs als externer IT-Berater<br />

für Kunden wie den Fast-Food-Riesen<br />

McDonald's und den Ölkonzern Chevron<br />

wurde ihm endgültig bewusst: Seine wahre<br />

Passion gehörte der Bits-und-Bytes-Branche.<br />

Um Großes zu erreichen, musste er in<br />

deren Epizentrum – ins Silicon Valley.<br />

Welche sozialen Netzwerke Bürger in Europa mindestens einmal pro Monat besuchen<br />

(Auswahl, in Prozent)<br />

Facebook Google+ Twitter LinkedIn Pinterest<br />

Europa* 61 13 14 8 3<br />

Deutschland 56 12 8 3 2<br />

Im Dezember 2006 ergatterte Silbermann<br />

einen Job bei Google. Im kalifornischen<br />

Mountain View war er nun dafür zuständig,<br />

das Feedback von Werbekunden<br />

auszuwerten und an die Entwickler weiterzugeben.<br />

Doch die Aufgabe füllte ihn nicht<br />

aus. Er träumte von seiner eigenen Firma.<br />

Eine Idee hatte er: Eine Software sollte für<br />

den Nutzer Produktinformationen im Web<br />

sammeln, die er via Smartphone überall<br />

hin mitgenehmen könnte, wie einen persönlichen<br />

Einkaufskatalog. Bis seiner damaligen<br />

Freundin und heutigen Ehefrau<br />

Divya, im Silicon Valley bekannt als Facebooks<br />

erste Personalmanagerin, die Träumereien<br />

zu bunt wurden. „Sie sagte, ich<br />

solle entweder damit aufhören oder endlich<br />

loslegen“, erinnert er sich.<br />

Trotz der Finanzkrise, die im September<br />

2008 Amerikas Unternehmer in Schrecken<br />

versetzte, kündigte Silbermann seinen krisensicheren<br />

Job bei Google. Und tat sich<br />

mit Paul Sciarra zusammen, einem befreundeten<br />

Wagnisfinanzierer. Die beiden<br />

gründeten Cold Brew Labs und setzten<br />

Silbermanns Idee mit einer iPhone-App<br />

namens Tote (deutsch: Einkaufstasche) um.<br />

Doch sie kamen zu früh. Es gab noch relativ<br />

wenige iPhone-Nutzer. Die App war<br />

kostenlos, das Geschäftsmodell unklar.<br />

Mitten in der Finanzkrise konnten sie zudem<br />

nur schwer Kapital einwerben. Das<br />

Scheitern vor Augen, entschied sich das<br />

Gründerpaar für den Neustart. Sie beerdigten<br />

Tote und konzentrierten sich stattdessen<br />

auf das Web. Im Herbst 2009 begannen<br />

die Arbeiten an Pinterest. Im März 2010<br />

startete die Web-Seite offiziell. Für das Umsetzen<br />

des Produkts rekrutierte Silbermann<br />

den Facebook-Designer Evan Sharp.<br />

Der erwies sich als so wichtig, dass er den<br />

Titel „Mitgründer“ erhielt.<br />

SCHWIERIGER NEUSTART<br />

Obwohl die Gründer all ihre Freunde und<br />

Verwandten kontaktierten, war das Echo<br />

enttäuschend – nur 3000 Nutzer fanden<br />

sich. Silbermann holte sich reihenweise<br />

Körbe bei Geldgebern. „Nur wenige verstanden<br />

unsere Idee, noch weniger wollten<br />

investieren“, erinnert er sich.<br />

Dann kam das Web zur Hilfe. Eine Bloggerin<br />

entwarf im Frühjahr 2010 eine Kampagne,<br />

bei der Pinterest-Nutzer auf ihren<br />

digitalen Wandzeitungen darstellen sollten,<br />

was für sie Heimat bedeutet. Die Idee<br />

traf einen Nerv. Wer mitmachte, lud seine<br />

Freunde ein, plötzlich regte sich Leben auf<br />

der Plattform. Den Durchbruch brachte<br />

der Start der iPhone-App 2011. Inzwischen<br />

76 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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1<br />

2<br />

3<br />

FOTOS: GABOR EKECS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

war der Smartphone-Markt reif, auf einmal<br />

nutzten Millionen Pinterest. Plötzlich<br />

konnten sich die Jungunternehmer nicht<br />

mehr vor Investoren retten.<br />

Allein in 2011 sammelten sie 37 Millionen<br />

Dollar Wachstumskapital ein, im Jahr<br />

darauf weitere 100 Millionen Dollar. „Ben<br />

und seine Idee, wie er den Service ausbauen<br />

wollte, waren brillant“, sagt Kevin Hartz,<br />

ein prominenter Business Angel im Silicon<br />

Valley und Pinterest-Investor. Gerüchte,<br />

Facebook, Google und Yahoo hätten Interesse<br />

am Start-up, taten ihr Übriges. Die<br />

Spekulationen gibt es noch immer.<br />

PROBLEME NICHT ABGEBÜGELT<br />

Auch wenn Verkaufen für Silbermann kein<br />

Thema ist. „Wir wollen ein eigenständiges<br />

Unternehmen etablieren“, sagt er. Die hohe<br />

Bewertung gibt Sicherheit, hat aber auch<br />

Schattenseiten. Früher, so der Pinterest-<br />

Chef, hätten sie leicht passende Mitarbeiter<br />

gefunden. „Wir hatten ja nur eine spannende<br />

Aufgabe zu bieten.“ Nachdem viele<br />

der frühen Facebook- und Twitter-Mitarbeiter<br />

mittlerweile Millionäre sind, träumen<br />

zahlreiche Bewerber, auch mit Pinterest<br />

Kasse machen zu können.<br />

Auf 400 Mitarbeiter ist das Start-up mittlerweile<br />

gewachsen. Jeden Monat kommen<br />

15 bis 20 neue hinzu. Kein explosives<br />

Wachstum, denn: „Von der richtigen<br />

Zusammensetzung des<br />

Teams hängt viel ab“, sagt Silbermann.<br />

Was wie eine Plattitüde<br />

klingt, nimmt er ernst. Er schafft<br />

es zwar nicht mehr, alle Neuen<br />

persönlich zu interviewen. Aber<br />

die Einführung ins Unternehmen<br />

übernimmt der Chef immer noch<br />

Multimedia<br />

In unseren<br />

App-<strong>Ausgabe</strong>n<br />

finden Sie Videos<br />

über den Pinterest-Gründer<br />

Ben Silbermann<br />

selbst. Jeden Freitag gibt es ein Townhall-<br />

Meeting, bei dem sich die Gründer den<br />

Fragen der Mitarbeiter stellen.<br />

Mit seiner Personalpolitik setzt sich Pinterest<br />

von anderen Jungunternehmen<br />

deutlich ab. Facebook mutete in seinen<br />

Anfangsjahren an, als ob sich eine Clique<br />

von Abiturienten und Studenten zusammengetan<br />

hätte. Mit 30 war man dort<br />

schon Senior. Wer dagegen durchs Pinterest-Hauptquartier<br />

schlendert, wo die<br />

Mehrzahl der Mitarbeiter arbeitet,<br />

dem fällt auf: Hier sind nicht<br />

nur frische Uni-Absolventen am<br />

Werk, sondern auch berufserfahrene<br />

30- und 40-Jährige. Der<br />

Altersschnitt liegt bei 31.<br />

So trifft der Besucher auf Andreas<br />

Lieber, 39. Der gebürtige<br />

Aachener und Ex-Manager der<br />

4<br />

Sammelsurium als Prinzip<br />

1| Firmenlogo aus Lego<br />

2| Deutschland-Chef Honsel vor Möbeldeko<br />

in der Pinterest-Zentrale<br />

3| Typische Kombination von Kleidung,<br />

wie sie die Nutzer auf ihren digitalen Wandzeitungen<br />

präsentieren<br />

4| Ford Mustang als Büro-Arbeitsplatz<br />

Deutschen Telekom ist bei Pinterest für die<br />

Geschäftsentwicklung im Mobilmarkt zuständig.<br />

Im Februar heuerte er bei Pinterest<br />

an. Zuvor war er bei Yahoo und managte<br />

das internationale Mobilgeschäft bei<br />

Groupon. „Sie brauchen die richtige Mischung<br />

aus Einsteigern mit viel Talent und<br />

Spezialisten, die wissen, wie sich die Ideen<br />

in der Praxis umsetzen lassen“, weiß Lieber.<br />

„Die Balance zu schaffen ist hohe Kunst.“<br />

Ebenso wichtig: Das Management bügele<br />

Probleme nicht mit dem Argument ab,<br />

alles sei in Ordnung, solange die Wachstumszahlen<br />

stimmten. In seiner Karriere<br />

hat Lieber einige Firmen erlebt, die ihre<br />

Dynamik überwiegend aus Erfolgsmeldungen<br />

bezogen. „Als die ausblieben,<br />

herrschte Ratlosigkeit.“<br />

Die selbstkritische Haltung hat viel mit<br />

der Persönlichkeit des Gründers zu tun.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 77<br />

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Technik&Wissen<br />

1<br />

2<br />

Schicker arbeiten<br />

1| Managerin Silvia Oviedo-Lopez sorgt<br />

für die Übersetzung der Pinterest-Seiten in<br />

Fremdsprachen<br />

2| Das Start-up teilt sich die schicke Lobby<br />

mit der Zimmervermittlung Airbnb<br />

3| Zoologischer Wandschmuck<br />

3<br />

»<br />

„Die Erfahrung, scheitern zu können<br />

und kämpfen zu müssen, hat mich geprägt“,<br />

sagt Silbermann. Im Silicon Valley,<br />

wo alle erfolgreich sind oder zumindest so<br />

tun, ist er einer der wenigen CEOs, der eigene<br />

Schwächen einräumt – und benennt.<br />

„Ich bin sicherlich nicht der organisierteste<br />

Mensch“, erklärt er. „Ich liebe Design,<br />

bin aber kein Designer. Und meine ruhige<br />

Art erschwert es, Leute anzufeuern.“ Aber<br />

all das sei kein großes Problem. „Einer der<br />

besten Ratschläge, die ich jemals<br />

bekommen habe, war: Ich<br />

muss nicht in allem gut sein.<br />

Weil ich Leute anheuern<br />

kann, die das ausgleichen<br />

können.“<br />

Fürs Tagesgeschäft hat<br />

Silbermann deshalb Don<br />

Faul angeworben, einen<br />

Facebook-Veteranen. Fürs<br />

Design ist Mitgründer Evan<br />

Sharp zuständig. Als charismatischer<br />

Motivator hat sich Produktchef<br />

Tim Kendall etabliert, auch ein Facebook-<br />

Gewächs. Um die internationale Expansion<br />

kümmert sich Matt Crystal, der selber<br />

zwei Web-Start-ups gründete und seine<br />

Karriere als McKinsey-Berater begann.<br />

ZÖGERLICHE MARKENARTIKLER<br />

Die erfahrenen Veteranen müssen nun den<br />

Gründern helfen, die vorhandenen Nutzer<br />

von Pinterest bei der Stange zu halten. Vor<br />

allem aber müssen sie die eine große Herausforderung<br />

bewältigen, vor der selbst<br />

Start-ups im Silicon Valley irgendwann<br />

65 %<br />

der Menschen,<br />

die bei Pinterest<br />

mitmachen,<br />

sind 16 bis 34<br />

Jahre alt<br />

einmal stehen: Geld mit dem Produkt zu<br />

verdienen. Das Geschäftsmodell liegt nahe<br />

– Werbung.<br />

Doch die Bande zu den Markenherstellern<br />

sind noch nicht eng genug. Im Frühjahr<br />

hatte Forrester Research untersucht,<br />

wie stark die 50 bekanntesten Marken auf<br />

Pinterest vertreten sind. Während die im<br />

Schnitt auf Facebook rund 9,2 Millionen<br />

Fans vorweisen können, kam Pinterest auf<br />

gerade einmal 15 000 – eine riesige Lücke.<br />

Der Kleidungshersteller Lululemon<br />

Athletica hat derzeit<br />

knapp zwei Millionen Fans,<br />

Nike hingegen nur 938.<br />

Nicht alle Unternehmen<br />

pflegen ihre professionellen<br />

Boards. Arnold<br />

Schwarzenegger unterhält<br />

zwar unter dem Slogan<br />

„Ich liebe es, von meinen<br />

Fans zu hören“ acht<br />

Wandzeitungen und hat mit ihnen<br />

9500 Fans angezogen. Aber das<br />

meiste Material ist bereits zwei Jahre alt.<br />

Wie Facebook-Schöpfer Zuckerberg in<br />

seinen Anfängen hält sich Silbermann<br />

noch mit dem Monetarisieren von Pinterest<br />

zurück. Er will das Wachstum der Nutzerzahlen<br />

nicht gefährden. Ähnlich wie<br />

Facebook und Twitter will er Werbung einklinken,<br />

etwa in die Ergebnislisten, wenn<br />

Nutzer nach Pins suchen. Etwa von der Supermarktkette<br />

Target. Noch steckt alles in<br />

der Testphase. „Im Grunde kopieren sie<br />

das Modell von Facebook “, meint Forrester-Analyst<br />

Elliott. Doch während die Werbekunden<br />

Facebook und Twitter fest in ihre<br />

Budgets eingeplant hätten, muss „Pinterest<br />

es erst noch auf deren Radar schaffen“.<br />

Für Pinterests Werbekunden könnte es<br />

interessant sein, nicht nur ihre Marke, sondern<br />

auch einzelne Produkte bewerben zu<br />

können. Da alle Fotos auf die Originalquelle<br />

verweisen, kann der Klick aufs Bild nicht<br />

nur direkt in den Online-Shop des Unternehmens<br />

führen. Besonders interessant<br />

für die Werber: Sie könnten direkt ermitteln,<br />

wie gut sich die am Board präsentierten<br />

Waren verkaufen. Noch konzentriert<br />

sich Pinterest nicht auf den Online-Handel.<br />

Aber da Facebook, Google, Yahoo und<br />

Twitter an ähnlichen Werbeformen arbeiten,<br />

ist das nur eine Frage der Zeit.<br />

ZUKUNFT IM AUSLAND<br />

Klar ist auch: Die Zukunft für die Bilderplattform<br />

liegt im Ausland. Alle großen<br />

Wettbewerber haben die meisten Nutzer<br />

außerhalb der USA. Bei Pinterest dagegen<br />

ist die internationale Resonanz – mit Ausnahme<br />

von Japan – noch winzig.<br />

Europäer nutzen den Dienst kaum (siehe<br />

Grafik Seite 76). In Deutschland, dem größten<br />

Internet-Markt des Kontinents, soll Jan<br />

Honsel das nun ändern. Der frühere Ver-<br />

FOTOS: GABOR EKECS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CARO FOTOAGENTUR/JUERGEN HEINRICH<br />

78 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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lagsleiter der Wirtschaftsmedien-Sparte<br />

des Verlages Gruner + Jahr wechselte jüngst<br />

zu Pinterest. „Nach dem Ende der ,Financial<br />

Times Deutschland‘, dem Verkauf von<br />

,Börse Online‘ und dem Neustart von ,Capital‘<br />

gab es keine interessante Aufgabe<br />

mehr für mich“, sagt der 41-Jährige. Er hat<br />

mit seinen zwei Mitarbeitern gerade eine<br />

Schulungswoche in San Francisco hinter<br />

sich und sitzt nun im Sitzungsraum „Kitten<br />

Mittens“ (Deutsch: Katzen-Strümpfe) –<br />

der wie alle Besprechungsräume nach<br />

populären Pinnwänden benannt ist.<br />

AUFHOLJAGD VON BERLIN AUS<br />

Honsel hatte seinen neuen Arbeitgeber<br />

schon zwei Jahre auf dem Radar. Nachdem<br />

das Start-up Büros in Paris und London<br />

eingerichtet hatte, war ihm klar, Deutschland<br />

kommt als Nächstes. Seit August leitet<br />

er von Berlin aus das Deutschland-Geschäft.<br />

„Berlin ist für die Amerikaner das<br />

digitale Zentrum Deutschlands“, erklärt<br />

Honsel. Die Nähe zu anderen Start-ups war<br />

für Pinterest auch der Grund, von Palo Alto<br />

nach San Francisco zu ziehen. „Wir können<br />

so viel leichter Kontakte knüpfen“, sagt<br />

Mobilchef Lieber.<br />

In Deutschland will Honsel nun Aufklärungsarbeit<br />

leisten und mittelfristig Twitter<br />

bei der Zahl der Nutzer überrunden. Wie<br />

viele es derzeit sind, dazu schweigt er.<br />

Doch der Deutschland-Chef gibt sich „18<br />

bis 36 Monate“, um Pinterest hierzulande<br />

attraktiv für Werbekunden zu machen.<br />

Auch gegen Hemmnisse wie das umstrittene<br />

deutsche Leistungsschutzrecht, mit<br />

dem die Verlage die Kontrolle über die Nutzung<br />

ihrer Inhalte wahren wollen. Wie<br />

wirkt sich das auf deutsche Inhalte von<br />

Pinterest aus? Honsel seufzt tief. Die Frage<br />

hat er oft gehört. „Urheberrecht ist immer<br />

ein Thema“, sagt er dann. „Aber unser Vorteil<br />

ist, dass wir immer direkt zur Quelle<br />

verlinken, also ganz klar ist, woher der Inhalt<br />

stammt.“ Ob das reicht, die Beteiligten<br />

zu beruhigen, hängt auch davon ab, wie erfolgreich<br />

Pinterest in Deutschland wird.<br />

Ein Hindernis zumindest hat sich inzwischen<br />

selbst aus dem Weg geräumt. Im Juni<br />

segnete Pinspire das Zeitliche. Die Samwer-Brüder<br />

hatten 2011 eine nahezu identische<br />

Kopie des großen Vorbilds aus den<br />

Boden gestampft. Doch Fahrt nahm der<br />

Klon nie auf.<br />

Das kann ein gutes Zeichen fürs Original<br />

sein, aber auch ein schlechtes. Denn vielleicht<br />

ist der Markt für soziale Netzwerke<br />

doch schon verteilt.<br />

n<br />

matthias.hohensee@wiwo.de | Silicon Valley<br />

Luft nach oben<br />

ENERGIE | Wer mit Windstrom <strong>vom</strong> eigenen Dach Geld verdienen<br />

will, muss genaue Regeln beachten. Sonst zahlt er drauf.<br />

Trotz Strompreisanstieg begeistern<br />

sich die Deutschen offenbar ungebrochen<br />

für die Energiewende – und<br />

sei es die persönliche. Denn immerhin gut<br />

jeder vierte Bundesbürger möchte bis 2020<br />

sein eigenes Kraftwerk betreiben, meldet<br />

das Meinungsforschungsinstitut Toluna.<br />

Detlef Scholl hat sich diesen Traum<br />

schon erfüllt. Auf dem Dach seines Hauses<br />

im Dörfchen Bischberg bei Bamberg dreht<br />

sich ein kleines Windrad. Es leistet 800<br />

Watt. Scholls Elektrizitätsrechnung entlastet<br />

die mehrere Tausend Euro teure Grünstromanlage<br />

trotzdem kaum. „Dazu weht<br />

der Wind hier zu schwach und zu selten“,<br />

sagt er.<br />

Doch das ist dem Technikfan egal. Er habe<br />

einfach Spaß zuzusehen, wie Windräder<br />

sich bewegten. Sein Credo: „Andere kaufen<br />

sich teure Alufelgen, ich eine Windmühle.“<br />

So spaßbetont denken die wenigsten,<br />

auch das zeigt die Umfrage. Sie investieren<br />

in Ökostromanlagen nur, wenn sich die<br />

Anschaffung in überschaubarer Zeit amortisiert.<br />

Und das ist bei Kleinwindrädern extrem<br />

schwierig vorherzusagen. Denn anders<br />

als bei Solarmodulen, wo vor allem<br />

Sonnenstunden zählen, hängen hier die<br />

Stromerträge von vielen kompliziert zu berechnenden<br />

Standortfaktoren ab.<br />

Praktisch überall weht der Wind anders.<br />

Zudem sind die Turbinen vergleichsweise<br />

teuer. Und die ins Stromnetz eingespeisten<br />

Kilowattstunden werden nach dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz<br />

(EEG) geringer<br />

vergütet als Solarstrom. All das führt dazu,<br />

dass Privatleute derzeit gerade einmal 1500<br />

Windturbinen pro Jahr neu aufstellen, kalkuliert<br />

Patrick Jüttemann, Herausgeber des<br />

Kleinwind-Marktreports 2014 und Betreiber<br />

des Web-Portals klein-windkraftanlagen.com.<br />

Das entspricht einer installierten<br />

Leistung von rund drei Megawatt. Das ist<br />

gerade mal die Leistung einer modernen<br />

Großwindanlage an Land.<br />

WIE DIE MÜHLE PROFITABEL WIRD<br />

Dennoch kann sich auch der private Windgenerator<br />

rechnen. Wer die Mühen eigener<br />

Messungen nicht scheut und clever vorgeht,<br />

kann mit Windstrom <strong>vom</strong> Dach oder<br />

aus dem eigenen Garten Geld verdienen.<br />

Jochen Twele, Professor für Energietechnik<br />

an der Hochschule für Technik und Wirtschaft<br />

in Berlin, hat die wichtigsten Kriterien<br />

für den erfolgreichen Betrieb einer<br />

Kleinwindanlage aufgelistet.<br />

Der Jahresertrag hängt entscheidend<br />

von der Verteilung der Windgeschwindigkeiten<br />

am Standort und der Hauptwindrichtung<br />

ab. Doch Achtung, Bäume und<br />

Gebäude in der Umgebung können den<br />

Wind so verwirbeln, dass für die Flügel keine<br />

Kraft mehr übrig ist. „Selbst kleine Hindernisse<br />

können großen Einfluss auf den<br />

Energieertrag haben“, warnt Twele. In<br />

Lage-Frage<br />

Windradhöhe bestimmt<br />

Rentabilität<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 79<br />

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Technik&Wissen<br />

»<br />

Leise im Kreis Durch ihre Bauform arbeitet<br />

die Liam-F1-Turbine sehr geräuscharm<br />

Städten sollten Betreiber die Anlagen<br />

generell höher montieren als auf dem<br />

Land, um Strömungen ungestört nutzen zu<br />

können – etwa auf hohen Flachdächern.<br />

Die Suche nach der besten Position ist<br />

aufwendig. Twele empfiehlt, zuerst Daten<br />

der nächstgelegenen öffentlichen oder privaten<br />

Wetterstation auszuwerten. So lässt<br />

sich ein geeigneter Standort schon einmal<br />

eingrenzen. Um im zweiten Schritt den ergiebigsten<br />

Platz auf eigenem Grund zu finden,<br />

rät der Experte angehenden Windmüllern,<br />

mindestens ein Jahr lang Windstärke<br />

und -richtung an unterschiedlichen<br />

Stellen zu messen: Hinten links im Garten<br />

kann die Luft viel intensiver wehen als in<br />

der rechten Ecke. Und wenn sich die Mühle<br />

in 15 Meter Höhe dreht, liefert sie womöglich<br />

doppelt so viel Strom wie auf einem<br />

Zehn-Meter-Mast. Geeignete Messgeräte<br />

gibt es ab etwa 300 Euro.<br />

Entscheidend ist auch, für welche Windverhältnisse<br />

die jeweilige Mühle ausgelegt<br />

ist. Viele Hersteller liefern unterschiedliche<br />

Rotorblätter für Regionen mit starken oder<br />

mittleren Strömungen. Manche sind leichter<br />

gebaut und beginnen schon beim<br />

kleinsten Luftzug zu rotieren, andere, stabilere<br />

dagegen brauchen je nach Bauart<br />

schon eine stärkere Brise.<br />

Doch selbst wenn alle Messungen positiv<br />

sind, können Interessenten ihre Pläne<br />

nicht realisieren, weil sie keine Genehmigung<br />

für Masten bekommen, die höher<br />

Stark am Mast Der Generator WESpe 5.0<br />

liefert bis 9000 Kilowattstunden im Jahr<br />

sind als – genehmigungsfreie – zehn Meter.<br />

Oder der Nachbar legt Einspruch ein, weil<br />

er eine Geräuschbelästigung fürchtet.<br />

Ein Ausweg könnten dann vertikal rotierende<br />

Anlagen sein, denn sie laufen besonders<br />

leise. Allerdings ist ihr Wirkungsgrad<br />

meist geringer als der von Mühlen mit horizontal<br />

rotierenden Flügeln. Doch an einem<br />

Standort mit stark drehenden Winden<br />

sind sie oft trotzdem die bessere Wahl.<br />

Denn ehe sich ein horizontales Windrad<br />

neu ausgerichtet hat, vergeht einige Zeit,<br />

und die Stromproduktion sinkt merklich.<br />

Horizontale Mühlen dagegen laufen immer,<br />

egal, woher der Wind weht.<br />

In manchen Fällen ist die Stromausbeute<br />

eh sekundär – etwa, wenn die vertikalen<br />

Mühlen vor allem als Werbeträger dienen.<br />

Die Logos auf den Flügeln sind weithin zu<br />

sehen, das ist die Hauptsache. Netzstrom<br />

zu sparen ist dann ein lukratives Zubrot.<br />

Eine typische Mühle mit 3,5 Kilowatt<br />

Leistung kostet rund 9000 Euro. Sie liefert<br />

an guten Standorten bei einer durchschnittlichen<br />

Windgeschwindigkeit von<br />

fünf Metern pro Sekunde etwa 5000 Kilowattstunden<br />

Strom im Jahr. Das ist mehr<br />

als ein durchschnittlicher Vier-Personen-<br />

Haushalt verbraucht. Wer so erzeugten<br />

Strom einspeist, erhält dafür bei Anlagen,<br />

die dieses Jahr ans Netz gehen, nur noch<br />

9,13 Cent pro Kilowattstunde.<br />

Kraftmaschinen fürs Dach<br />

Ausgewählte Anbieter von Kleinwindanlagen<br />

Hersteller<br />

Leistung (in Kilowatt)<br />

Propeller-Durchmesser<br />

(in Meter)<br />

Jahresertrag 1<br />

(in Kilowattstunden)<br />

Montage<br />

Zertifizierung<br />

Preis (in Euro)<br />

Besonderheiten<br />

AC 120<br />

Energie- und<br />

Antriebstechnik,<br />

Rotenburg/Wümme<br />

0,12<br />

1,2<br />

100 2<br />

Mast<br />

keine<br />

ab 2050<br />

Bei sehr starkem<br />

Wind kippt der<br />

Rotor aus<br />

Sicherheitsgründen<br />

nach hinten<br />

SkyWind<br />

FuSystems SkyWind,<br />

Langenhagen<br />

1 berechnet für eine Windgeschwindigkeit von fünf Metern pro Sekunde; 2 Schätzung; Quellen: Patrick Jüttemann,<br />

The Archimedes;<br />

1<br />

1,5<br />

100 2<br />

Mast<br />

Verfahren läuft<br />

rund 2500<br />

Leicht zu befestigen;<br />

Nennleistung bei<br />

Windgeschwindigkeiten<br />

von 14 Meter pro<br />

Sekunde<br />

Liam F1<br />

Urban Wind Turbine<br />

The Archimedes,<br />

Rotterdam<br />

1,5<br />

1,5<br />

1000 2<br />

Mast<br />

keine<br />

5000<br />

Schneckenförmige<br />

Bauart ermöglicht<br />

einen sehr leisen<br />

Betrieb<br />

WESpe 5.0<br />

WES Energy GmbH,<br />

St. Michaelsdonn<br />

5<br />

4,5<br />

9000<br />

Mast<br />

keine<br />

ab 16000<br />

Propellerstellung<br />

passt sich<br />

automatisch an die<br />

Windstärke an<br />

LANGE AMORTISATIONSZEIT<br />

Da lohnt es, die Energie besser selbst zu<br />

nutzen. Wer etwa 80 Prozent des Windstroms<br />

im eigenen Haushalt verbraucht,<br />

kann rund 1000 Euro pro Jahr sparen. Das<br />

erfordert allerdings eine Batterie, die Strom<br />

für windarme Zeiten speichert. Sie kostet<br />

derzeit rund 10 000 Euro, was die Amortisationszeit<br />

etwa verdoppelt. Das macht einen<br />

erstklassigen Standort umso wichtiger: Wo<br />

nicht genug Wind weht, rechnet sich diese<br />

Art der Stromversorgung nicht.<br />

Wem weniger Rendite als Autarkie am<br />

Herzen liegt, der kann das Windrad noch<br />

um eine Solaranlage ergänzen. Das kostet<br />

allerdings 3000 bis 5000 Euro zusätzlich.<br />

Noch mehr Unabhängigkeit <strong>vom</strong> Versorger<br />

gewinnt, wer mit der Windkraft seine Heizung<br />

unterstützt. Denn gerade in der kalten<br />

Jahreszeit weht der Wind oft kräftig.<br />

Dann wärmt ein Heizstab nicht nur das<br />

Wasser im sonst etwa von der Gastherme<br />

befeuerten Speicher zusätzlich auf. Es<br />

treibt auch bei der persönlichen Energiewende<br />

den Selbstversorgungsgrad nochmals<br />

merklich Richtung 100 Prozent. n<br />

wolfgang.kempkens@wiwo.de<br />

80 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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VALLEY TALK | Die nächste Generation smarter<br />

Körpersensoren soll nicht nur unser Befinden<br />

messen, sondern es auch aktiv beeinflussen.<br />

Von Matthias Hohensee<br />

Stromstöße ins Gehirn<br />

FOTOS: PR(2), JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Neema Moraveji ist Experte für<br />

Konzentrationstechniken. Seit<br />

sieben Jahren untersucht<br />

der Wissenschaftler in einem<br />

eigens eingerichteten Labor an der Eliteuniversität<br />

Stanford im Silicon Valley, wie<br />

wir am besten die berühmte innere Ruhe<br />

finden. Einen Zustand, in dem wir Angst,<br />

Nervosität und Stress weitestgehend ausblenden<br />

und uns ganz auf die aktuelle<br />

Aufgabe konzentrieren – etwa wenn wir<br />

einen Vortrag vor Publikum halten oder<br />

eine Prüfung absolvieren.<br />

Am effektivsten und am leichtesten<br />

schaffen wir das, davon ist der Forscher<br />

überzeugt, wenn wir lernen, unser Atmen<br />

zu kontrollieren. „Richtiges und bewusstes<br />

Atmen beruhigt ungemein“, sagt Moraveji.<br />

Das überrascht niemanden, der sich schon<br />

einmal mit Yoga, Pilates oder autogenem<br />

Training beschäftigt hat. Doch selbst Menschen,<br />

denen die Bedeutung der Körperfunktion<br />

bewusst sei, bemerkten oft nicht,<br />

wenn sie zu kurz oder zu flach atmeten, so<br />

der Stanford-Forscher.<br />

Ganz im Stil des Silicon Valley will Moraveji<br />

dies Problem mit Technik lösen und hat<br />

ein Start-up namens Spire gegründet. Dessen<br />

Team hat einen gleichnamigen Sensor<br />

entwickelt, der die Atmung über die Aktivität<br />

der Bauchmuskeln misst und analysiert.<br />

Der Spire zeichnet nicht nur Bewegungen<br />

auf, sondern registriert auch, ob der Nutzer<br />

sitzt, steht oder liegt. Das Gerät sieht aus<br />

wie eine mit einem Bügel versehene Minimaus.<br />

Es muss am Körper getragen werden,<br />

braucht allerdings die Haut nicht zu<br />

berühren. Der Sensor funkt die Messdaten<br />

kontinuierlich via Bluetooth an eine iPhone-<br />

App. Die zeigt an, ob der Besitzer konzentriert,<br />

angespannt oder gestresst ist. Und<br />

empfiehlt die richtige Atemtechnik. Der<br />

Sensor kostet 149 Dollar. Die Spire-Leute<br />

wollen ihn nach Verzögerungen in der Produktion<br />

nun im November ausliefern. Wie<br />

gut das Gerät funktioniert, lässt sich derzeit<br />

deshalb noch nicht beurteilen.<br />

Klar ist aber: Moraveji repräsentiert einen<br />

neuen Trend bei Fitnessbändern und anderen<br />

Sensoren. Während die erste Generation<br />

wie das Fuelband des Sportartikelriesen<br />

Nike ausschließlich die körperliche Aktivität<br />

maß, versprechen die Nachfolger, das<br />

Wohlbefinden kontrollieren und aktiv stimulieren<br />

zu können.<br />

ENTSPANNT PER KNOPFDRUCK<br />

So wie das kanadische Start-up InteraXon.<br />

Es bietet ein 300 Dollar teures Stirnband<br />

an, das Gehirnwellen misst. Der Sensor<br />

kann laut Chefin Ariel Garten feststellen, ob<br />

der Nutzer konzentriert oder zerstreut ist.<br />

Der Zustand wird in Windgeräusche übersetzt,<br />

die der Anwender über eine App in<br />

einer dreiminütigen Sitzung durch Konzentration<br />

in Stille verwandeln soll. Gelingt ihm<br />

das, ertönt Vogelgezwitscher. InteraXon hat<br />

bislang sieben Millionen Dollar eingesammelt,<br />

einer seiner Investoren ist der Schauspieler<br />

Ashton Kutcher.<br />

Radikaleres plant das Start-up Thync aus<br />

dem Silicon Valley. Seit drei Jahren arbeitet<br />

es an einem Gerät, das über leichte Stromstöße<br />

das Hirn quasi per Knopfdruck in einen<br />

Zustand entweder höchster Konzentration<br />

oder tiefer Entspannung versetzen soll.<br />

Was wie ein Scherz klingt, ist dem Neurologen<br />

und Mitgründer Jamie Tyler ernst. „Wir<br />

arbeiten hart daran, Neurowissenschaften<br />

und Ingenieurkunst des 21. Jahrhunderts<br />

zusammenzubringen“, sagt er.<br />

In seiner ersten Finanzierungsrunde hat<br />

Thync kürzlich gleich 13 Millionen Dollar<br />

eingesammelt, unter anderem von Koshla<br />

Ventures, einem prominenten Risikokapitalgeber<br />

aus dem Silicon Valley. Mehr als 2000<br />

Personen sollen das Gerät bereits getestet<br />

haben. Angeblich soll der High-Tech-Schocker<br />

schon im nächsten Jahr auf den Markt<br />

kommen, der Preis ist noch unbekannt.<br />

Bis dahin müssen wir uns mit bewährten<br />

Konzentrationshelfern begnügen: Kaffee<br />

trinken oder tief durchatmen.<br />

Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />

im Silicon Valley und beobachtet<br />

von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />

wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 81<br />

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Management&Erfolg<br />

Rückkehr der<br />

Platzhirsche<br />

SPEZIAL | Best of Consulting Die Boston Consulting Group ist Deutschlands beste<br />

Unternehmensberatung. Der Wettbewerb zeigt: Die Universalberater wehren sich<br />

nach Kräften gegen den Angriff der Wirtschaftsprüfer und kleinerer Spezialisten.<br />

Ein charismatischer Menschenfänger?<br />

Ist er nicht<br />

unbedingt. Ein guter Zuhörer?<br />

Das ist er zweifellos.<br />

Er gilt als integrativ<br />

und teamorientiert. Und<br />

wenn er spricht, wirkt er<br />

so geerdet, dass seine Gesprächspartner<br />

regelmäßig unterschätzen, wie smart und<br />

geschäftstüchtig er ist: Rich Lesser, Chef<br />

der Boston Consulting Group, der zweitgrößten<br />

Unternehmensberatung der Welt.<br />

Anfang 2013 trat der Harvard-Absolvent<br />

als Erneuerer der viel gerühmten BCG-Unternehmenskultur<br />

an. Sein Amtsvorgänger,<br />

der eher wachstums- und vertriebsorientierte<br />

Deutsche Hans-Paul Bürkner, konnte<br />

zwar den Umsatz des Beratungshauses auf<br />

3,5 Milliarden Euro fast verdreifachen und<br />

zum Marktführer McKinsey aufschließen.<br />

Doch nach der kräftezehrenden und intern<br />

umstrittenen Expansionsphase hofften viele<br />

BCG-Partner auf einen neuen Chef, der<br />

wieder stärker an „das Erbe des innovativen<br />

Vordenkertums“ anknüpft. Lesser scheint<br />

das zu gelingen: „Teamplayer zu sein und<br />

nicht dem mittleren Management den Eindruck<br />

zu vermitteln, es liefere nur die Zahlen,<br />

damit der Berater anschließend vorm<br />

Vorstand oder Aufsichtsrat allein mit genialen<br />

Konzepten glänzen kann, kommt einfach<br />

besser an“, bestätigt Ulrich Becker, bei<br />

der Schweizer Bank UBS für Business Design<br />

und Effectiveness zuständig.<br />

Dass er auch ein exzellenter Stratege mit<br />

Gespür fürs Geschäft ist, bewies Lesser im<br />

Frühjahr: Damals setzte der Amerikaner<br />

die weltweite Gründung der Tochter BCG<br />

Digital Ventures durch. Die Idee: Junge Wilde<br />

aus der Digitalwirtschaft – <strong>vom</strong> Gründer<br />

bis zum Vermarkter – knüpfen strategische<br />

Allianzen mit BCG-Kunden und helfen ihnen<br />

bei der digitalen Transformation. In<br />

Deutschland gelang es, mit Stefan Groß-<br />

Selbeck, Ex-Deutschland-Chef von Xing<br />

und Ebay, einen Rockstar der Szene an<br />

Bord zu holen. Das Geschäft läuft – Konzerne<br />

wie Henkel, Lufthansa, Deutsche Bahn<br />

und Otto Group sollen zu den Kunden zählen.<br />

Damit gelang es Lesser, für BCG die intellektuelle<br />

Vorreiterrolle von Marktführer<br />

McKinsey zurückzuerobern.<br />

Ruf und Realität<br />

So angesehen und leistungsfähig sind Deutschlands beste Beratungshäuser 1<br />

Wertsteigerung<br />

2,15<br />

2,10<br />

2,05<br />

Pricewaterhouse-<br />

Coopers<br />

Roland Berger<br />

Boston Consulting Group<br />

2,00<br />

Bain McKinsey<br />

Simon-Kucher&Partners<br />

1,95<br />

1,90<br />

KPMG Porsche Consulting<br />

Oliver Wyman<br />

1,85<br />

EY<br />

1,80<br />

1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 1,7 1,8 1,9 2,0 2,1 2,2 2,3 2,4 2,5 2,6<br />

Markenstärke 2<br />

1 die Größe der Kreise entspricht den Umsatzverhältnissen, die Ampelfarben reflektieren den Ruf (dunkelgrün = sehr gut/gelb =<br />

gut); 2 ergibt sich aus den Werten für Ruf und Bekanntheit; Quelle: Prof. Lars Wellejus (Frankfurt University of Applied Sciences)<br />

Und den Spitzenplatz in der Branche:<br />

Das ist das Ergebnis des diesjährigen Best<br />

of Consulting (BoC), Deutschlands umfangreichstem<br />

Berater-Ranking, das Markenstärke,<br />

Renditebeitrag und Projekterfolg<br />

aus der Perspektive der Kunden misst<br />

(siehe Methode Seite 84) Nach dem Sieg<br />

vor zwei Jahren im Vorjahr auf Platz 3 abgerutscht,<br />

hat BCG nun die Spitze zurückerobert<br />

– vor Dauerrivale McKinsey und Vorjahressieger<br />

Porsche Consulting.<br />

„BCG und McKinsey haben in Sachen<br />

Qualität noch einmal eine Schippe draufgelegt“,<br />

bestätigt Frank Höselbarth, Gründer<br />

der Markenberatung People&Brand<br />

Agency und Mitentwickler der BoC-Wettbewerbsmethode<br />

„Die Platzhirsche feiern<br />

in diesem Jahr ihr Comeback.“<br />

HONORAR? FEHLANZEIGE<br />

Dabei spielt den beiden mit Abstand größten<br />

Beratungshäusern das Selbstbewusstsein<br />

der Auftraggeber in die Karten: Wer<br />

sich bei einem Unternehmen heute um ein<br />

Beratungsmandat bewirbt, muss – ähnlich<br />

wie Werbeagenturen in einem Pitch um<br />

einen Marketingetat – konkrete Lösungen<br />

für konkrete Projekte präsentieren. Also arbeiten,<br />

als wäre der Vertrag mit dem umworbenen<br />

Unternehmen schon unterschrieben.<br />

Honorar? Fehlanzeige.<br />

„Die Anforderungen in diesen Beauty<br />

Contests sind extrem gestiegen, die Berater<br />

müssen heute umfangreich in Vorleistung<br />

gehen“, sagt Horst Kayser, Leiter der Siemens-Konzernstrategie.<br />

„Kleinere Spezialisten<br />

sind oft nicht in der Lage, solche Vorab-Investments<br />

einzugehen.“ Einerseits.<br />

Andererseits aber lässt sich eine weitere<br />

Entwicklung nicht wegdiskutieren: der<br />

FOTO: ANGELIKA ZINZOW FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

82 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Aufstieg von einst als Nischenplayer belächelten<br />

Spezialisten. Pricing-Experte<br />

Simon-Kucher & Partners etwa schaffte<br />

erstmals den Sprung in die Top Ten, Ex-Inhouseberater<br />

Porsche Consulting konnte<br />

den Spitzenplatz aus dem Vorjahr zwar<br />

nicht halten, aber mit Platz drei seinen Anspruch<br />

untermauern, sich dauerhaft an der<br />

Spitze der Branche zu etablieren.<br />

„Diese Berater verstehen es, gemeinsam<br />

mit dem Kunden die Prozesse zu optimieren<br />

und Erfahrungswissen zu schaffen, dass<br />

am Ende die optimale Lösung umgesetzt<br />

Stratege mit Weitblick BCG-Chef Rich<br />

Lesser hat die Beratung auf Kurs gebracht<br />

wird“, sagt BoC-Juror Axel Wachholz, beim<br />

Bad- und Armaturenhersteller Viega verantwortlich<br />

für die Ressorts Finanzen und IT.<br />

Darauf setzen auch die Wirtschaftsprüfungskonzerne,<br />

die ihre Beratungssparten<br />

zuletzt flächendeckend aufgerüstet haben<br />

und in der Gunst der Kunden nach oben<br />

geschossen sind: neben KPMG und EY vor<br />

allem PricewaterhouseCoopers. Die hatten<br />

in diesem Jahr mit der Übernahme des Rivalen<br />

Booz für Schlagzeilen gesorgt, aber<br />

offenbar schon vorher den Nerv ihrer<br />

Klienten getroffen. Der Lohn: Sie gelten als<br />

die Beratung, die in ihren Projekten für die<br />

höchste Rendite ihrer Kunden sorgt.<br />

„Ob sich ein Beratereinsatz möglichst<br />

zeitnah, aber auch genauso nachhaltig in<br />

der Gewinn-und-Verlust-Rechnung bemerkbar<br />

macht“, sagt UBS-Manager und<br />

BoC-Juror Becker, „steht heute mehr denn<br />

je ganz oben auf der Agenda bei der Auftragsvergabe<br />

an Consultants.“<br />

»<br />

julia leendertse | management@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 83<br />

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Management&Erfolg<br />

IT-ECONOMICS<br />

Maßanzüge im<br />

Minutentakt<br />

Jeden zweiten Mittwoch traf sich die<br />

20-köpfige Truppe abends im Münchner<br />

Löwenbräu-Bierkeller auf eigene Rechnung<br />

– Berater von IT-Economics auf der<br />

einen und Mitarbeiter des Energiekonzerns<br />

E.On auf der anderen Seite. Der<br />

Grund: in lockerer Atmosphäre den jeweils<br />

neuen, turnusgemäß vereinbarten Abschnitt<br />

im Projekt Pegasus einzuläuten.<br />

Der Auftrag hinter dem blumigen Decknamen:<br />

ein IT-Kalkulationssystem für das<br />

Erdgasgeschäft des Energiekonzerns, mit<br />

dem die 470 Außendienstmitarbeiter für<br />

Großkunden wie die Stadtwerke Düsseldorf,<br />

aber auch die Pricing-Spezialisten im<br />

Innendienst binnen Minuten die richtigen<br />

Angebote abrufen können.<br />

Ein hochsensibles Unterfangen –<br />

schließlich kann ein Anwender-Fehler im<br />

Tausendstel-Cent-Bereich bei Größenkalkulationen<br />

dieser Art gleich einen Verlust<br />

von 35 Millionen Euro bedeuten. Vor allem<br />

aber eine hochkomplexe Aufgabe – gilt es<br />

doch, bei der Preisgestaltung zahlreiche<br />

Parameter zu berücksichtigen, die sich<br />

kurz- und langfristig auf die Preisgestaltung<br />

auswirken: von Vertragslaufzeiten,<br />

Abnahmemengen, Standorten, klimatischen<br />

Bedingungen und Temperaturschwankungen<br />

über steigende Rohstoffpreise<br />

oder die Koppelung an verschiedene<br />

Indizes bis hin zu Börsenpreisen, die<br />

sich im Minutentakt ändern.<br />

Sieger Kategorie<br />

IT-MANAGEMENT<br />

Projekt: Kalkulationssoftware<br />

konzipieren und implementieren<br />

Kunde: E.On<br />

Julian Lipinski (rechts, E.On),<br />

Torsten Klein (IT-Economics)<br />

Exzellent: Deloitte Consulting<br />

Prämiert: Mieschke Hofmann & Partner<br />

Der Grund für Projekt Pegasus: E.On ist<br />

zwar im Erdgasgeschäft Marktführer mit<br />

rund einem Drittel Marktanteil. Doch<br />

durch die Liberalisierung des Erdgasmarktes<br />

muss der Konzern nicht nur gegen<br />

ein paar andere große Konkurrenten wie<br />

RWE oder Wingas, sondern auch viele kleine<br />

regionale Mitbewerber antreten. „Der<br />

Markt hatte sich in den vergangenen fünf<br />

Jahren extrem verändert und beschleunigt,<br />

er wird den Finanzmärkten immer ähnlicher“,<br />

sagt Julian Lipinski, Geschäftsführer<br />

von E.On Energy Sales. „Unsere Kunden<br />

wünschen stets marktaktuelle Angebote –<br />

sie warten zu lassen können wir uns weder<br />

leisten, noch entspricht es unseren Vorstellungen<br />

von exzellentem Service.“<br />

Das Ziel: eine stabile, schnell arbeitende<br />

IT-Lösung mit 37 000 verschiedenen voll<br />

automatisierten Kalkulationen, die die Vertriebler<br />

intuitiv auch ohne tagelange Schulungen<br />

nutzen können sollten. „Wir wollten<br />

keine IT-Lösung von der Stange, sondern<br />

brauchten einen Maßanzug“, sagt<br />

Torsten Klein, geschäftsführender Gesellschafter<br />

von IT-Economics.<br />

Also wird das Projekt in 14-Tages-Häppchen<br />

eingeteilt – damit nicht erst am Ende<br />

Heerscharen von Leuten einen Prototyp<br />

testen, sondern neue Erkenntnisse laufend<br />

eingearbeitet werden konnten. Und<br />

ein Projektteam aus Beratern und E.On-<br />

Mitarbeitern wird installiert, das ohne<br />

klassische Auftraggeber-Auftragnehmer-<br />

Attitüde arbeitet.<br />

Mit Erfolg: Der erste Abschnitt war nach<br />

sieben Monaten erledigt – doppelt so<br />

schnell wie geplant. Und die neue IT-Lösung<br />

kalkuliert Angebote zehn Mal so<br />

schnell wie das bisherige System.<br />

„Eine überzeugende Lösung“, sagt Nils<br />

Urbach, IT-Professor an der Universität<br />

Bayreuth und BoC-Fachbeirat, „weil E.On<br />

mit der Einführung der neuen Software einen<br />

echten Wettbewerbsvorteil erzielt und<br />

gleichzeitig Betriebs- und Prozesskosten<br />

senken konnte.“<br />

»<br />

claudia.toedtmann@wiwo.de<br />

Das Imperium schlägt zurück<br />

Deutschlands beste Berater<br />

Platz<br />

(Vorjahr)<br />

1 (2)<br />

2 (3)<br />

3 (1)<br />

4 (6)<br />

5 (5)<br />

6 (4)<br />

7 (12)<br />

8 (11)<br />

9 (9)<br />

10 (14)<br />

Beratung<br />

Boston Consulting Group<br />

McKinsey<br />

Porsche Consulting<br />

Bain<br />

Roland Berger<br />

PricewaterhouseCoopers<br />

EY<br />

KPMG<br />

Oliver Wyman<br />

Simon-Kucher & Partners<br />

Punkte*<br />

2,15<br />

1,99<br />

1,95<br />

1,91<br />

1,84<br />

1,83<br />

1,77<br />

1,72<br />

1,68<br />

1,67<br />

* die Punktzahl ergibt sich als gewichtete Durchschnittsnote<br />

der Einzelkategorien Markenstärke, Wertsteigerung<br />

und Projekterfolg (siehe Methode)<br />

METHODE<br />

Auf drei Säulen<br />

So funktioniert Deutschlands<br />

umfangreichster Berater-Check.<br />

Im Auftrag der WirtschaftsWoche entwickelten<br />

Branchenexperte Frank Höselbarth<br />

und Lars Wellejus, Professor für<br />

Finanzierung an der Frankfurt University<br />

of Applied Sciences, Deutschlands bislang<br />

umfangreichsten Berater-Check: In<br />

einem dreiteiligen Verfahren ermittelten<br />

sie zuerst die Markenstärke der Beratungshäuser<br />

sowie deren Fähigkeit zur<br />

Wertsteigerung, jeweils anhand des Ur-<br />

teils von Top-Managern aus Deutschlands<br />

1500 größten Unternehmen.<br />

Punkten konnten die Beratungen außerdem<br />

mit Projekten, die sie in sieben<br />

Kategorien einreichen konnten und die<br />

von einem Fachbeirat und einer Jury<br />

bewertet wurden. Aus den drei Einzelergebnissen<br />

errechnet sich die Gesamtnote.<br />

Aufgrund dieser Methode ist es möglich,<br />

die Arbeit von Platzhirschen wie<br />

McKinsey oder der Boston Consulting<br />

Group mit Leistungen weniger bekannter,<br />

aber ambitionierter Spezialberatungen zu<br />

vergleichen. Und so Licht in eine bislang<br />

recht intransparente Branche zu bringen.<br />

Ausführliche Informationen unter<br />

award.wiwo.de/boc2014<br />

FOTO: DIETR MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

84 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Management&Erfolg<br />

Sieger Kategorie<br />

WETTBEWERBSSTRATEGIE<br />

Projekt: Lean Management<br />

Kunde: Meyer Werft<br />

Jochen Busch (links), Lambert Kruse<br />

(rechts, beide Meyer Werft), Sven Schärffe<br />

(Mitte, Porsche Consulting)<br />

Exzellent: ROI Management Consulting<br />

Prämiert: Deloitte Consulting<br />

PORSCHE CONSULTING<br />

Lernen von der<br />

Fischgräte<br />

Der Auftrag war so klar wie komplex:<br />

„Macht uns zum Porsche unserer Branche“,<br />

forderte Bernard Meyer, als er 2009<br />

Porsche Consulting ins Haus holte, um mit<br />

der traditionsreichen Meyer Werft langfristig<br />

unter den weltweit gefragten Anbietern<br />

im harten Kampf um den Bau großer<br />

Kreuzfahrtschiffe zu bleiben.<br />

Das Problem: Die schwimmenden Fünf-<br />

Sterne-Hotels mit angeschlossenem Freizeitpark,<br />

Gourmet- und Shoppingparadies<br />

sollen immer größer und komplexer, aber<br />

in immer kürzerer Zeit gebaut werden. Im<br />

Schnitt geben Reedereien weltweit jedes<br />

Jahr sieben solcher Großprojekte in Auftrag.<br />

19 Bauplätze weltweit kommen für<br />

derlei Großprojekte infrage.<br />

Um der wachsenden Konkurrenz vor<br />

allem aus Asien auch künftig eine Schiffslänge<br />

voraus zu sein, beschloss das 1795<br />

gegründete Familienunternehmen, den<br />

3000-Mann-Betrieb samt seiner 1800 Zulieferer<br />

auf japanische Lean-Management-<br />

Prinzipien, Just-in-time-Fertigung, Null-<br />

Fehler-Toleranz und null Verschwendung<br />

einzuschwören.<br />

„Porsche Consulting hat uns nähergebracht,<br />

uns regelmäßig zu hinterfragen“,<br />

sagt Jochen Busch, Leiter des Bereichs<br />

Kontinuierlicher Verbesserungsprozess bei<br />

der Meyer Werft. „Mache ich das heute<br />

noch richtig? Kann ich etwas verändern,<br />

oder muss ich etwas verändern? Und wie<br />

kann ich effektiver werden?“<br />

Kein einfaches Unterfangen – auch, weil<br />

in der Werft nur zwei überdachte Baudocks<br />

mit limitierter Kran-Kapazität zur Verfügung<br />

stehen. Oberstes Ziel der Reformen:<br />

die Belegungszeit dieser knappen Plätze<br />

verkürzen. Die Lösung: Die bisherige Fertigung<br />

der Schiffe im Blockbau – das Schiff<br />

wird dabei wie ein Lego-Modell aus rund<br />

80 Blöcken zusammengesetzt – ergänzt die<br />

Werft nach dem Vorbild der Porsche-Autoproduktion<br />

um ein Modul- und Fließprinzip.<br />

Statt besagte Blöcke ohne Vorausrüstung<br />

zusammenzusetzen und erst danach<br />

Deck für Deck mit dem gewünschten Innenleben<br />

auszustatten, werden die Monteure<br />

<strong>vom</strong> Klimatechniker bis zum Raumausstatter<br />

an den 80 Blöcken der rund 400<br />

Meter langen und etwa 40 Meter breiten<br />

Ozeanriesen parallel tätig. Das senkt die<br />

Durchlaufzeiten, macht aber hocheffiziente<br />

Abläufe notwendig – auch in der Zusammenarbeit<br />

mit den Zulieferern, die inzwischen<br />

75 Prozent der Elemente herstellen,<br />

bis hin zur kompletten Kabine. Die landen<br />

nach einem System, das einer Fischgräte<br />

nachempfunden ist, im Baudock.<br />

Von der Konzeption bis zur Auslieferung<br />

optimierte die Meyer Werft auch die übrigen<br />

Unternehmensbereiche nach dem<br />

Kaizen-Prinzip, zu Deutsch: Veränderung<br />

zum Besseren.<br />

Mit Erfolg: Die Durchlaufzeit für die Baudock-Belegung<br />

schrumpfte von neun auf<br />

sechs Monate. Statt wie bisher nur ein<br />

Kreuzfahrtschiff pro Jahr baut die Meyer<br />

Werft heute zwei und kann dabei sogar<br />

noch flexibler als früher auf Änderungswünsche<br />

reagieren – auch, wenn der Kunde<br />

diese erst sehr spät äußert.<br />

julia leendertse | management@wiwo.de<br />

HORVÁTH & PARTNERS<br />

Totale<br />

Transparenz<br />

Auf den ersten Blick mutete das Projekt bei<br />

Faurecia an wie der Versuch, die Zukunft<br />

aus dem Kaffeesatz zu lesen: Wie kann<br />

man als Automobilzulieferer mit der Produktion<br />

einer Auspuffanlage für einen großen<br />

Hersteller wie Mercedes 20 Jahre lang<br />

Profit machen, obwohl einem der Auftraggeber<br />

über den gesamten Zeitraum dieses<br />

Produktzyklus bestenfalls den gleichen<br />

Preis für das Teil bezahlt? Oder diesen im<br />

Laufe der Vertragsdauer gar immer weiter<br />

drückt, weil er davon ausgeht, dass der Zulieferer<br />

über die Automatisierung des Produktionsprozesses<br />

Geld spart? Dass im<br />

gleichen Zeitraum gegebenenfalls Rohstoffpreise<br />

steigen oder neue Umweltvorschriften<br />

die Produktion verteuern? Lässt<br />

den Autohersteller zumindest kalt.<br />

FOTOS: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

86 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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„Wir wollten möglichst hohe Transparenz<br />

über die Wirtschaftlichkeit jedes einzelnen<br />

Programms bekommen – um jederzeit<br />

eingreifen und gegensteuern zu können,<br />

sobald sich Bedingungen ändern“, beschreibt<br />

Altfrid Neugebauer, verantwortlicher<br />

Partner von Horváth & Partners, die<br />

Grundidee des Projekts. „Mit der neu gewonnenen<br />

Transparenz können Lerneffekte<br />

aus laufenden Programmen unmittelbar<br />

auf neue Angebote übertragen werden,<br />

und so kann die Wettbewerbsfähigkeit von<br />

Faurecia gesteigert werden.“<br />

Eine Mammutaufgabe für den Zulieferer<br />

mit seinen 80 000 Mitarbeitern weltweit.<br />

Mehrere Teams mit bis zu 40 Personen aus<br />

verschiedenen Standorten des Konzerns<br />

arbeiteten mit sieben Horváth-Beratern<br />

zusammen.<br />

Die Lösung, die sie dann im vergangenen<br />

Jahr in allen Werken umsetzten: eine<br />

einheitliche Wissensdatenbank mit sämtlichen<br />

<strong>Ausgabe</strong>n und Details zu den Produkten.<br />

Die Teams definierten, wie teuer<br />

die Herstellung sein darf, und entwickelten<br />

geeignete Mittel, um bei ausufernden Kosten<br />

rasch gegensteuern zu können. Zum<br />

Beispiel über einen effizienteren Einkauf<br />

oder den Einsatz neuer Technologien. Bei<br />

einem weiteren Projekt am Standort Augsburg<br />

versuchten sie, die <strong>Ausgabe</strong>n so transparent<br />

wie möglich zu machen. Sogar die<br />

Energiekosten wurden auf jeden einzelnen<br />

produzierten Auspuff aufgeteilt.<br />

So kann das Controlling überwachen, ob<br />

Faurecia auch bei 20 Jahre laufenden Verträgen<br />

kontinuierlich Gewinne erwirtschaftet<br />

oder sich das Management in trügerischer<br />

Sicherheit wähnt, weil Kosten<br />

übersehen werden.<br />

„Faurecia kann heute schneller und genauer<br />

seine Angebote kalkulieren, wettbewerbsfähige<br />

Preise anbieten und frühzeitig<br />

seine Margen absichern“, fasst Horváth-<br />

Berater Neugebauer das Ergebnis des Projekts<br />

zusammen.<br />

Sieger Kategorie<br />

FINANZ- UND<br />

Eine Lösung, die sich für den Auftraggeber<br />

schnell gerechnet hat: Allein durch die<br />

RISIKO-MANAGEMENT<br />

Veränderung der Produktionsabläufe sowie<br />

der Preisgestaltung konnte Faurecia<br />

Projekt: Kosten transparenter machen<br />

Kunde: Faurecia<br />

seine Kosten in allen Werken zusammengenommen<br />

um rund 30 Millionen Euro<br />

Altfrid Neugebauer (links, Horváth),<br />

Markus Bergmann (rechts, Faurecia)<br />

senken. Damit hatten sich die Kosten für<br />

Exzellent: EY<br />

die Beauftragung der Berater bereits nach<br />

Prämiert: Equity Gate Advisors einem Monat amortisiert. »<br />

claudia.toedtmann@wiwo.de<br />

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Management&Erfolg<br />

ROLL & PASTUCH<br />

Wider das<br />

Bauchgefühl<br />

Wie viel verlangen die Wettbewerber? Welche<br />

Qualität liefern sie? Können wir dieses<br />

Angebot unterbieten? Oder für unsere Produkte<br />

mehr verlangen, weil sie besser sind?<br />

Nur einige Fragen, die man sich stellt,<br />

wenn man überlegt, zu welchem Preis man<br />

eine Ware oder Dienstleistung auf den<br />

Markt bringt. Normalerweise.<br />

Offenbar nicht bei TTS Marine: Statt sich<br />

über differenzierte, marktfähige Preise Gedanken<br />

zu machen, rechneten die Mitarbeiter<br />

des Bremer Schiffsausrüsters auf die<br />

Produktionskosten seiner rund 30 000 unterschiedlichen<br />

Produkte von der einfachen<br />

Schraube bis individuell angefertigten<br />

Motoren einfach nach Gefühl einen<br />

Faktor oben drauf – fertig war der Verkaufspreis.<br />

„Wir galten als Apotheke“, sagt TTS-<br />

Manager Frank Rudnik. „Manche Preise<br />

waren einfach zu hoch.“<br />

Zumindest für Produkte, die auch die<br />

Konkurrenz im Angebot hatte. Andere<br />

Teile wiederum, die nur TTS Marine liefern<br />

konnte, boten die Bremer dagegen zu<br />

günstig an. „Ein Ersatzmotor für eine<br />

Ankerwinde, den es nur bei TTS Marine<br />

gibt, kann nicht nach derselben Methode<br />

bepreist werden wie eine Standardschraube,<br />

die überall zu bekommen ist“, sagt Gregor<br />

Buchwald von der auf Preismodelle<br />

spezialisierten Beratung Roll & Pastuch.<br />

Die hatte TTS-Marine-Manager Rudnik<br />

engagiert im Kampf gegen das Sortiment<br />

nach Bauchgefühl.<br />

Also kategorisierten die Berater das riesige<br />

Produktportfolio ihres Kunden, analysierten<br />

den Wert jedes einzelnen Produkts<br />

und loteten dessen optimalen Preis aus.<br />

Die Folge: Bei mehr als 1000 Teilen wurden<br />

die Preise gesenkt, die für einige Spezialitäten<br />

erhöht.<br />

Ein lohnender Schritt, nicht nur aus finanziellen<br />

Gründen: Der Umsatz mit dem<br />

Verkauf der Ersatzteile stieg um 15 Prozent,<br />

das Beraterhonorar hatte sich nach vier<br />

Monaten amortisiert. „Und unser Image im<br />

Markt“, sagt TTS-Manager Rudnik, „hat sich<br />

gedreht.“<br />

„Das Projekt hilft, den Umsatz durch<br />

Wissenstransfer zu steigern“, sagt Christian<br />

Schmitz, Marketingprofessor an der Ruhr-<br />

Universität Bochum und Mitglied des<br />

Fachbeirats von Best of Consulting. „Kundenkenntnis,<br />

Fachwissen und klare Prioritäten<br />

werden optimal miteinander verzahnt.“<br />

Das hat sich offenbar bis nach Norwegen<br />

rumgesprochen – dort sitzt die Zentrale der<br />

TTS-Gruppe. Sie will ähnliche Projekte nun<br />

auch in ihren anderen Konzerntöchtern<br />

anschieben.<br />

claudia.toedtmann@wiwo.de<br />

Sieger Kategorie<br />

MARKETING & VERTRIEB<br />

Projekt: Preisstrategie<br />

Kunde: TTS Marine<br />

Maike Breithaupt (links), Frank Rudnik<br />

(rechts, beide TTS Marine), Gregor<br />

Buchwald (Mitte, Roll & Pastuch)<br />

Exzellent: Mücke Sturm & Company<br />

Prämiert: Allianz Consulting<br />

FOTOS: NILS HENDRIK MÜLLER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, KLAUS WEDDIG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

88 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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PROMERIT<br />

Wandel mit vier<br />

Buchstaben<br />

Sieger Kategorie<br />

PERSONAL<br />

Projekt: Kulturwandel<br />

Kunde: SEBN<br />

Barbara Graf-Detert (links, SEBN), Daniel<br />

Tasch (rechts, Promerit)<br />

„VW“ stand in großen Lettern auf dem<br />

Reservierungsschild im Restaurant. Dabei<br />

trafen sich an dem Tisch des Gasthauses<br />

Exzellent: Detecon International<br />

im Städtchen Nitra keine Vertreter des<br />

Prämiert: Deloitte Consulting<br />

deutschen Automobilbauers, sondern<br />

Manager des japanischen Automobilzulieferers<br />

Sumitomo Electric Bordnetze<br />

zu einem internen Geschäftsessen in einer<br />

Lokalität an ihrem slowakischen<br />

Standort.<br />

Das war im Sommer 2012 – und so ähnlich<br />

auch immer wieder an vielen anderen<br />

der knapp zwei Dutzend weltweiten SEBN-<br />

Standorte zu beobachten. Und das, obwohl<br />

der japanische Elektronikkonzern Sumitomo<br />

den Gemeinschaftseigentümern Volkswagen<br />

und Siemens das Unternehmen,<br />

das die gesamte Elektrik im Auto verkabelt,<br />

schon 2006 abgekauft hatte.<br />

„Wir waren viele Jahre nicht Fisch, nicht<br />

sich mit dem neuen Eigentümer zu identifizieren.<br />

Die Personalmanagerin wollte das ändern<br />

– und holte ein Beraterteam von Promerit<br />

ins Haus. Zunächst in die SEBN-Zentrale<br />

in Wolfsburg, dann an jeden der 23<br />

Standorte weltweit. Werksleiter, Teamchefs,<br />

Personalverantwortliche und Mitarbeitervertreter<br />

erarbeiteten in Workshops,<br />

was künftig zählen sollte: Stabilität, Respekt,<br />

Verantwortung, Freiraum, Fairness.<br />

Keine Worthülsen sollten das sein, sondern<br />

Begriffe, die dazu beitragen, Management<br />

und Mitarbeiter stärker mit Job und<br />

managerin Graf-Detert. „Denn die alten<br />

Lateiner hatten recht:Nomen est omen.“<br />

Was die rund 25 000 Mitarbeiter des<br />

Unternehmens besonders schätzten: Die<br />

Geschäftsführer gingen höchstselbst auf<br />

weltweite Werbetour. Im Dialog mit Mitarbeitern<br />

in Marokko und Mexiko, in Bulgarien<br />

und Belgien warben sie für das neue<br />

Selbstverständnis des Unternehmens. Von<br />

dem angestrebten Kulturwandel allerdings<br />

war offiziell keine Rede.<br />

„Wir sprachen in der Vergangenheit immer<br />

von eher abstrakten Zielen wie neuer<br />

Unternehmensstrategie, mehr Marktanteilen,<br />

einer höheren Umsatzrendite“, sagt<br />

Fleisch“, erinnert sich Barbara Graf-Detert Arbeitgeber zu identifizieren. „SEBN sollte<br />

an die Schwierigkeiten der Mitarbeiter, zu unserem Signal werden“, sagt Personal- Promerit-Berater Daniel Tasch. „Ohne »<br />

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Management&Erfolg<br />

»<br />

die nötige Identifikation mit dem Unternehmen<br />

erreicht man diese Ziele natürlich<br />

nicht – der Kulturwandel purzelte da fast<br />

von selbst hinten heraus.“<br />

Zu diesem Kulturwandel gehört auch, eigene<br />

Talente stärker zu fördern – bald sollen<br />

auch standortübergreifende, internationale<br />

Karrieren systematisch gefördert<br />

werden. „Auch ein attraktiver Arbeitgeber“,<br />

sagt Promerit-Berater Tasch, „wird man<br />

eben nur von innen heraus.“<br />

Dass der Umschwung nicht nur intern,<br />

sondern auch außerhalb des Unternehmens<br />

angekommen ist, zeigt Personalmanagerin<br />

Graf-Deter ein Blick auf die unternehmenseigene<br />

Karriere-Web-Site. „Die<br />

Kandidaten, die sich bei uns bewerben, haben<br />

eine höhere Qualität als vor unserem<br />

Projekt“, sagt die Personalmanagerin<br />

– einen Qualitätsmanager<br />

etwa konnte sie ohne Headhunter<br />

für das Unternehmen gewinnen.<br />

„Die Berater entwickelten eine<br />

durchdachte umfassende Lösung,<br />

die gut strukturiert, pragmatisch<br />

und maßgeschneidert<br />

war“, sagt Fachbeirat Torsten Biemann,<br />

der an der Universität Mannheim<br />

Personalmanagement lehrt. „Besonders<br />

beeindruckend war, wie sich die Manager<br />

systematisch Werk für Werk vornahmen.“<br />

Und so steigt die Chance, dass das Kürzel<br />

SEBN künftig auch in Restaurants an den<br />

anderen Standorten des Unternehmens<br />

ein Begriff ist – in Changchun im Nordosten<br />

Chinas wie im bayrischen Hepberg.<br />

ruth lemmer | management@wiwo.de<br />

Online<br />

Bilder von der<br />

Preisverleihung<br />

finden Sie in<br />

unserer App-<strong>Ausgabe</strong><br />

und auf<br />

wiwo.de/boc2014<br />

WASSERMANN<br />

Nah am Ideal<br />

Den ersten Spatenstich für das Großgetriebewerk<br />

in Bruchsal setzte SEW Eurodrive<br />

im Jahr 2008 – gerade mal zwei Jahre später<br />

begann die Produktion: Der inhabergeführte<br />

Maschinenbauer, spezialisiert auf<br />

Antriebstechnik, konstruiert und baut in<br />

den neuen Hallen Großgetriebe für Kräne,<br />

die in den Häfen von Duisburg bis Shenzen<br />

Container <strong>vom</strong> Schiff aufs Land hieven.<br />

Oder für kilometerlange Förderbänder, die<br />

Kohle und Kies transportieren.<br />

In dem Neubau lag die Chance, die Wertschöpfungskette<br />

von der Auftragsgewinnung<br />

bis zur Auslieferung präzise aufeinander<br />

abzustimmen. Denn<br />

während der Hallenboden aus<br />

Beton gegossen wurde, planten<br />

die künftigen Werksleiter die Arbeitsschritte<br />

in der Konstruktion,<br />

der Materialbeschaffung und der<br />

Fertigung. Schon in dieser Phase<br />

beauftragte SEW Eurodrive das<br />

Münchner Beratungsunternehmen<br />

Wassermann damit, die<br />

Übergänge von einem Schritt zum nächsten<br />

zu perfektionieren – auch mithilfe einer<br />

Software, die Wassermann entwickelte und<br />

die die Datenmassen permanent kontrolliert.<br />

Das Ergebnis: Vom Auftragseingang<br />

über die Montage bis zur Auslieferung an<br />

den Kunden können Mitarbeiter nun alle<br />

Schritte bequem und in Echtzeit beobachten.<br />

Sind die Gussmodelle des Getriebes<br />

Die Jury<br />

Vom Management-Professor bis<br />

zum Konzernstrategen: Wer die<br />

Consulting-Sieger kürte.<br />

ULRICH BECKER<br />

Managing Director für Business Design<br />

und Effectiveness bei der Schweizer Bank<br />

UBS.<br />

THOMAS DEELMANN<br />

verantwortet den Bereich Strategische<br />

Frühaufklärung und Planung bei T-Systems<br />

und lehrt als Professor für Corporate<br />

Management und Consulting an der BiTS-<br />

Hochschule in Iserlohn.<br />

HORST J. KAYSER<br />

leitet die Siemens-Konzernstrategie.<br />

ALEXANDER MEYER<br />

AUF DER HEYDE<br />

leitet die interne Unternehmensberatung<br />

bei Bayer. War zuvor Partner beim Beratungsunternehmen<br />

Accenture.<br />

AXEL WACHHOLZ<br />

verantwortet in der Geschäftsführung des<br />

Bad- und Armaturenherstellers Viega die<br />

Ressorts Finanzen und Informationstechnologie.<br />

LARS WELLEJUS<br />

Professor für Finanzierung an der Frankfurt<br />

University of Applied Sciences.<br />

90 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Sieger Kategorie<br />

SUPPLY CHAIN<br />

Projekt: Verzahnung der Wertschöpfung<br />

Kunde: SEW Eurodrive<br />

Andreas Schulz (links, Wassermann),<br />

Rainer Feßler (rechts, SEW Eurodrive)<br />

Exzellent: Barkawi<br />

Prämiert: 4Flow<br />

FOTO: CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

fertig, an dem der Kunde einen Sensor<br />

links oben haben will? Fehlt die passende<br />

Schraubengröße? Auf acht großen Bildschirmen<br />

sehen Mitarbeiter und Manager,<br />

ob es an der einen oder anderen Stelle der<br />

Lieferkette Verzögerungen gibt – und können<br />

gleich einschreiten. Nachts läuft die<br />

Kontrolle automatisiert. Morgens in der<br />

Frühbesprechung werden die Planungsdaten<br />

mit dem Produktionsfortschritt abge-<br />

glichen. Nachmittags werden in einer<br />

Kurzrunde Problemlösungen besprochen<br />

– alle Fachleute arbeiten Hand in Hand.<br />

„Wir terminieren und überwachen Konstruktion,<br />

Produktion und Auslieferung mit<br />

der Software von Wassermann viel schneller<br />

und präziser als früher“, sagt Rainer Feßler,<br />

der das Projekt für SEW vorantrieb und heute<br />

das Auftragszentrum des Mittelständlers<br />

leitet. „Das schafft Wettbewerbsvorteile.“<br />

Auch, weil die Abstimmungsprozesse<br />

zwischen den Abteilungen klar geregelt<br />

sind. „Bei SEW Eurodrive“, sagt Wassermann-Berater<br />

Andreas Schulz, „wird nicht<br />

nur geredet, sondern gehandelt.“<br />

Beachtliche 99 Prozent der riesigen Metallgehäuse<br />

mit den rotierenden Motoren<br />

liefert das Unternehmen heute auf den Tag<br />

pünktlich aus. Anlass zum Nachbessern<br />

sieht das Management dennoch – nicht auf<br />

der Jagd nach dem fehlenden Quäntchen<br />

in Sachen Liefertreue, sondern bei der internen<br />

Verzahnung der einzelnen Schritte<br />

entlang der Wertschöpfungskette. Auch an<br />

diesem Feinschliff beteiligen sich die Wassermann-Berater.<br />

Das hat die Jury überzeugt. „Komplizierte<br />

Entwicklungs- und Produktionsstufen<br />

werden an diesem Standort von SEW Eurodrive<br />

genauso beherrscht wie das Einbeziehen<br />

aller Beteiligten“, sagt Lars Wellejus,<br />

BoC-Juror und Betriebswirtschaftsprofessor<br />

an der Frankfurt University for Applied<br />

Sciences. „Was dort passiert, kommt dem<br />

Ideal von Fabrik sehr nah.“<br />

n<br />

ruth lemmer | management@wiwo.de<br />

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Geld&Börse<br />

Nicht schutzlos<br />

ausgeliefert<br />

LEBENSVERSICHERUNG | Welchen Versicherern Anleger noch ihr Geld anvertrauen dürfen,<br />

zeigt das große WirtschaftsWoche-Ranking. Je nach Lebenssituation und früherem<br />

Anlageverhalten sollten Investoren mit ihrem Ersparten umgehen. Wann eine Police zu<br />

halten, neu abzuschließen oder zu kündigen ist, erklären Fälle von fünf Kunden.<br />

Soeinen Unterschied zwischen<br />

Versprechen und Wirklichkeit<br />

gab es in der Welt der Versicherungen<br />

noch nie: Drei Prozent<br />

wollen die Assekuranzen ihren<br />

Lebensversicherungskunden im Durchschnitt<br />

Jahr für Jahr garantiert gutschreiben.<br />

Doch wenn die Versicherungsmanager<br />

das täglich in Millionenhöhe hereinströmende<br />

Geld anlegen wollen, haben sie<br />

ein Problem. Denn wenn sie sich wie gewohnt<br />

langfristig und extrem sicher binden<br />

wollen, in Bundesanleihen über zehn Jahre<br />

etwa, würden sie nicht einmal ein Prozent<br />

herausbekommen. Deshalb sinkt der Garantiezins<br />

in zwei Monaten erneut. Von<br />

2015 an liegt er bei nur noch 1,25 Prozent –<br />

aktuell sind es noch 1,75 Prozent. Daher<br />

trommeln Versicherer im Endspurt mit<br />

Slogans wie „Verschenken Sie kein Geld“<br />

und richten auf ihren Web-Seiten gar<br />

Countdowns ein. Zeit also, dass sich Anleger<br />

mit den Lebensversicherern auseinandersetzen.<br />

Wer kapitalstark ist und hohe<br />

Renditen verspricht, zeigt das große Exklusiv-Ranking<br />

der WirtschaftsWoche.<br />

FALL I<br />

Mit Kleinbeträgen<br />

lange sparen<br />

Schnell noch Langfristsparer zu einer Unterschrift<br />

unter einen Rentenvertrag zu bewegen,<br />

das hat bei Natalie Tiranno aus<br />

Frankfurt bereits geklappt. Die 35-Jährige<br />

hatte sich schon seit einiger Zeit immer<br />

wieder zum Thema Rente beraten lassen.<br />

Doch unterschrieben hat die Freiberuflerin<br />

erst diesen Oktober. „Ich wollte schon<br />

Am Tropf des Anleihenmarktes<br />

Wo Lebensversicherer investiert sind<br />

(in Prozent)<br />

Gesamt:<br />

811 Mrd. €<br />

Quelle: GDV<br />

Anleihenfonds<br />

24,9<br />

Pfandbriefe 20,1<br />

Bankdarlehen 11,5<br />

Staatsdarlehen 9,3<br />

Hypothekendarlehen 6,0<br />

Staatsanleihen 5,9<br />

Andere Anleihen und Darlehen 4,2<br />

Immobilien 3,9<br />

Unternehmensanleihen und -darlehen 3,7<br />

Aktien<br />

Beteiligungen<br />

Nachränge und Genussrechte<br />

Tagesgelder 1,4<br />

Sonstige Anlagen 1,7<br />

3,4<br />

2,3<br />

1,7<br />

lange was für die Rente machen, wusste<br />

aber nicht, wie und was“, sagt die Lehrerin,<br />

die Menschen über Musik Fremdsprachen<br />

beibringt. Melodie und Rhythmik nehmen<br />

ihren Schülern die Angst vor Sprachen –<br />

das Versprechen, mit kleinen Beiträgen flexibel<br />

fürs Alter vorzusorgen, nahm ihr jetzt<br />

die Scheu vor der Entscheidung für das<br />

Renten-Sparen. Fünf Jahre lang will die<br />

Selbstständige 70 Euro im Monat zahlen,<br />

danach soll der Beitrag auf 130 Euro steigen.<br />

„Ich denke, dass ich mir den höheren<br />

Betrag dann leisten kann.“ Falls nicht, dann<br />

darf sie auch bei dem niedrigeren Beitrag<br />

bleiben; die Vertriebsprovision bliebe aber<br />

wie gehabt und drückte dann die Rendite.<br />

Mit wie viel Geld sie im Rentenalter rechnen<br />

kann, weiß sie ohnehin nicht genau.<br />

Sicher sind ihr lediglich aktuell garantierte<br />

166 Euro im Monat, wenn sie 31 Jahre lang<br />

wie geplant einzahlen sollte.<br />

Und anders als es die Versicherer in ihrer<br />

Werbung hinausposaunen, ist der Garantiezins<br />

auch nur ein Teil der Wahrheit.<br />

Denn der wird nur auf denjenigen Anteil<br />

am Kapital gezahlt, den der Versicherer<br />

nach Abzug seiner Kosten anlegt – und das<br />

können je nach Höhe des in der Lebensversicherung<br />

eingebauten Todesfallschutzes<br />

plus weitere Kosten auch nur 70 bis 80 Prozent<br />

der eingezahlten Kundengelder sein.<br />

Folge: „Wegen der niedrigen Zinsen kann<br />

besonders bei kurzlaufenden Verträgen<br />

von bis zu zwölf Jahren die ausgezahlte<br />

Summe unter der eingezahlten liegen“, hat<br />

Axel Kleinlein, Vorstandschef beim Bund<br />

der Versicherten, ausgerechnet. Deshalb<br />

ist es für Kunden wichtig, dass ihr Versicherer<br />

geringe Kosten hat. Und da es bei insgesamt<br />

811 Milliarden Euro an Einlagen nicht<br />

um Kleingeld geht, muss der Versicherer<br />

zudem kapitalstark sein. Das bedeutet,<br />

dass er mit seinen Anlagen künftig deutlich<br />

mehr erwirtschaften kann, als er an Garantiezins<br />

zahlen muss.<br />

70 VERSICHERER IM CHECK<br />

Tiranno hat nicht nur die noch bis Jahresende<br />

geltenden höheren Garantiezinsen mitgenommen.<br />

Sie kann mit ihrer Entscheidung<br />

vor allem deswegen ruhig schlafen,<br />

weil sie ihre Versicherung bei der Debeka<br />

abgeschlossen hat. Diese zählt im Rating<br />

der WirtschaftsWoche seit Jahren zu den kapitalstärksten<br />

Lebensversicherern der Branche,<br />

2014 liegt sie auf Platz zwei. Damit Anleger<br />

vorbildliche Versicherer aufspüren<br />

oder ihre bestehenden Verträge abklopfen<br />

können, haben der Wiener Finanzwissenschaftler<br />

Jörg Finsinger und das Analysehaus<br />

Softfair zum 18. Mal im Auftrag der<br />

»<br />

ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />

92 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 70 Lebensversicherer<br />

aus Sicht der Kunden analysiert (Rating und<br />

Methodik siehe Seite 98).<br />

Wer neu abschließt, muss zudem mit einem<br />

rechnen: Er könnte Kunden mit alten<br />

Verträgen subventionieren. Schuld ist das<br />

Gefälle zwischen hohen und niedrigen Garantien.<br />

1994 stieg der Garantiezins mit<br />

vier Prozent auf seinen höchsten Stand,<br />

seit Sommer 2000 aber ist er rückläufig<br />

(siehe Grafik unten). Wer noch einen Vertrag<br />

aus den goldenen Jahren hat, bekommt<br />

eben jene vier Prozent – bis zum<br />

Laufzeitende. Doch Zinsen auf sichere Anlagen,<br />

die Versicherer am Kapitalmarkt bekommen,<br />

sind niedrig – aktuell rentieren<br />

etwa 16-jährige Bundesanleihen bei 1,4<br />

Prozent. Die Finanzaufsicht BaFin hat die<br />

Branche daher dazu verdonnert, zusätzliches<br />

Geld speziell für Hochprozent-Verträge<br />

zurückzulegen, seit 2011 rund 19 Milliarden<br />

Euro.<br />

ZWEIKLASSENGESELLSCHAFT<br />

Bisher spielte der garantierte Zins nur im<br />

Einzelfall eine Rolle; die meisten Versicherer<br />

haben bei der Überschussbeteiligung<br />

(Garantiezins plus Bonus) alle Kunden<br />

gleich behandelt: Ende des Jahres legten<br />

sie die Mehrrendite für das kommende<br />

Jahr fest, zuletzt lag die Gesamtverzinsung<br />

laut der Ratingagentur Assekurata für alle,<br />

die bis zum Vertragsende durchhalten, im<br />

Schnitt bei 4,3 Prozent – egal, welcher Garantiezins<br />

im Vertrag stand. Doch Achtung:<br />

Einzelne Versicherer liegen drunter. Inklusive<br />

aller Bonusbeträge zahlt etwa die Ergo<br />

Lebensversicherung für 2014 nur eine Gesamtverzinsung<br />

von 3,55 Prozent. Das ist<br />

das Problem: Sinkt die Verzinsung unter<br />

4,0, dann bekommen Kunden mit einem<br />

4,0-Prozent-Vertrag weiter ihre Garantien –<br />

das Geld kann nicht mehr an andere ausgeschüttet<br />

werden. Ergo teilte dazu lapidar<br />

mit, dass Kunden „mindestens den Garantiezins“<br />

bekämen. Und der könne „höher<br />

sein als die für 2014 deklarierte Gesamtverzinsung“.<br />

Übersetzt heißt das: Jungen Kunden<br />

muss Ergo Rendite abknapsen, um alte<br />

vertragsgemäß zu bedienen. Willkommen<br />

in der Zweiklassengesellschaft.<br />

FALL II<br />

Vier Prozent<br />

bis zum Jahr 2034<br />

Simone G. ist eine der glücklich versicherten:<br />

Als 30-Jährige hat sie 1999 einen bis<br />

2034 laufenden Vertrag unterschrieben —<br />

zum Höchstgarantiezins. Die Entscheidung<br />

für die Police fiel der Frau aus Eisenberg<br />

leicht: Es sei schon damals „kein Geheimtipp<br />

mehr“ gewesen, dass „die spätere<br />

gesetzliche Rente nicht ausreichen wird“.<br />

Also unterschrieb sie – und hielt auch gegen<br />

Widerstände am Vertrag fest.<br />

Einmal wollte sie ein Verkäufer aus einem<br />

Strukturvertrieb zum Umschichten<br />

bewegen. „Bestehende Verträge sollten<br />

mal geprüft werden“, um mehr aus ihren<br />

Sparraten zu machen, warb der Vertriebler.<br />

Sein eigennütziger Vorschlag: Sie sollte auf<br />

eine Police setzen, die nicht mehr wie bisher<br />

garantierte Zinsen hat, sondern indirekt<br />

über Fonds an den Kapitalmarkt geht.<br />

„Durch die Anlage in Fonds könnte mehr<br />

als das Doppelte an Kapital bis zum Ablaufdatum<br />

erzielt werden, wurde mir versprochen“,<br />

so Simone G. Doch der Haken:<br />

Eine fondsbasierte Lebensversicherung<br />

garantiert keine Mindestrente. „Als sicherheitsorientierter<br />

Mensch wusste ich aber,<br />

dass meine bisherige Versicherung zum<br />

Ablauf garantiert fast 50 000 Euro auszahlen<br />

wird“, sagt Simone G. Das habe das<br />

neue Angebot nicht bieten können.<br />

Simone G. kann doppelt froh über ihre<br />

ablehnende Haltung sein, hätte sie doch<br />

Steuervorteile verloren (siehe Grafik unten).<br />

Sicherheit gab ihr zudem die Honorarberatung<br />

Zeroprov in Schkölen nahe Jena.<br />

Von der Kündigung ihrer Police hat Zeroprov<br />

nach Durchsicht der Unterlagen<br />

„klar abgeraten“. Grund: In 35 Jahren zahlt<br />

G. deutlich weniger ein, als sie herausbekommt.<br />

Für G. liegt die Rendite allein auf<br />

die Beiträge zur Lebensversicherung bei<br />

rund 2,7 Prozent – gerechnet ohne eine Beteiligung<br />

an möglichen Überschüssen. „Ich<br />

verliere kein Geld und bin während der<br />

Laufzeit noch gegen Berufsunfähigkeit abgesichert“,<br />

rechnet die Mittvierzigerin vor.<br />

Ihre Versicherung beinhaltet neben einem<br />

Todesfallschutz auch eine Absicherung gegen<br />

Berufsunfähigkeit, für die sie extra<br />

zahlt. Falls sie nicht mehr arbeiten könnte,<br />

bekäme sie 767 Euro pro Monat, und ihr<br />

Versicherer, die Alte Leipziger, würde ihren<br />

Versicherungsbeitrag bis zum planmäßigen<br />

Ablauf der Leben-Police übernehmen.<br />

Alte Vorteile nicht vorschnell aufgeben<br />

Wie sich Steuerförderung und Garantiezinsen bei Lebensversicherungen im Laufe der<br />

vergangenen drei Jahrzehnte entwickelt haben (in Prozent)<br />

Wer vor 2005 einen<br />

Vertrag unterschrieben<br />

hat, kassiert die einmalige<br />

Auszahlung<br />

steuerfrei, wenn der<br />

Vertrag mindestens<br />

zwölf Jahre lief<br />

Juli<br />

1986<br />

Für Verträge von<br />

2005 an gilt: Wird<br />

Kapital am Ende auf einen<br />

Schlag ausgezahlt, wird die<br />

Hälfte des Wertzuwachses mit<br />

dem persönlichen Einkommensteuersatz<br />

versteuert, wenn der<br />

Kunde bei der Auszahlung mindestens<br />

60 Jahre alt ist und der<br />

Vertrag minimum zwölf Jahre<br />

lief; sonst keine Steuervorteile<br />

seit Juli<br />

1994<br />

seit Juli<br />

2000<br />

Wurde der Vertrag seit<br />

2012 abgeschlossen,<br />

gilt die vorstehende<br />

Regelung erst für<br />

das 62. Lebensjahr<br />

seit Januar<br />

2004<br />

seit Januar<br />

2007<br />

* Beispiel: Fließen <strong>vom</strong> 65. Geburtstag an jährlich 12000 Euro aus einer Rentenversicherung, setzt der Fiskus den<br />

Wertzuwachs mit 18 Prozent an, macht 2160 Euro. Bei einem Steuersatz von 20 Prozent muss der Rentner dem Staat<br />

folglich 432 Euro jährlich überweisen; Quelle: GDV, eigene Recherche<br />

Für monatliche Renten<br />

gilt generell: Der Kunde<br />

muss nur den theoretischen<br />

Wertzuwachs<br />

mit seinem Steuersatz<br />

versteuern*<br />

seit Januar<br />

2012<br />

von Januar<br />

2015 an<br />

4,0<br />

3,5<br />

3,0<br />

2,5<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

KOPPELVERTRÄGE<br />

So wie Simone G. haben viele den Schutz<br />

gegen Berufsunfähigkeit an ihren Vertrag<br />

gekoppelt. Wer neu abschließt, sollte Verträge<br />

aber nicht zusammenfassen. Nur so<br />

können Sparer in einer Notlage entscheiden,<br />

welcher Vertrag wichtiger ist. Dann<br />

können Anleger den Leben-Vertrag kündigen,<br />

ohne ihre Absicherung gegen Berufsunfähigkeit<br />

zu verlieren – oder umgekehrt.<br />

Wer einen gekoppelten Vertrag kündigen<br />

muss und eine neue Absicherung abschließt,<br />

für den werden oft Vorerkrankungen<br />

zum Problem, die er beim Abschluss<br />

der alten Police nicht hatte. Vorbelastete<br />

Kunden sind ein höheres Risiko für die Versicherung,<br />

welches sie sich vergüten lässt.<br />

Wer krank ist, könnte allein wegen des integrierten<br />

Risikoschutzes seiner alten Police<br />

gezwungen sein, einen unrentablen Vertrag<br />

weiter zu besparen. Wer aussteigen<br />

muss und eine Absicherung gegen den To-<br />

94 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />

Menschen benötigen im Alter ein<br />

kalkulierbares Einkommen<br />

desfall braucht, sollte prüfen, ob er eine separate<br />

Risikolebensversicherung abschließen<br />

kann, die nur im Todesfall einspringt.<br />

Angesichts extrem niedriger Zinsen ist es<br />

ohnehin fragwürdig, ob es sich noch lohnt,<br />

eine Lebensversicherung abzuschließen<br />

oder eine unrentable zu halten. Die Antwort<br />

lautet erst einmal: nein.<br />

Zum einen liegen die Zinsen auf vermeintlich<br />

sichere Geldanlagen wie Pfandbriefe,<br />

Staatsanleihen oder Bankdarlehen,<br />

wie Lebensversicherer sie benötigen, seit<br />

Jahren tief: Laut dem Spezialisten für Lebensversicherungen,<br />

Assekurata, sinken<br />

die durchschnittlichen Überschüsse der<br />

Versicherten seit 2009 fortwährend.<br />

Hinzu belasten neue Eigenkapitalvorschriften,<br />

bei denen die Versicherer Extra-<br />

Geld als Sicherheitspuffer zur Seite legen<br />

müssen, wenn sie in chancenträchtige,<br />

aber riskantere Anlagen wie Aktien investieren<br />

wollen. Nur für Staatsanleihen sind<br />

keine Extra-Euro nötig. Politikern kommt<br />

* Name geändert<br />

das zupass: Versicherer werden in unrentable<br />

Staatsanleihen getrieben, Versicherte<br />

finanzieren so die klammen Staaten durch<br />

die Hintertür – der Regulierung sei Dank.<br />

Und doch spricht eins für den Rentenvertrag:<br />

Menschen brauchen im Alter kalkulierbares<br />

Einkommen. Wer weiß schon,<br />

wie alt er wird, wie viel er sparen muss? Daher<br />

ist es richtig, auf Sparen und Rente zu<br />

setzen. Wer sicher sein will, sollte umfassend<br />

vorsorgen – mit gesetzlicher und privater<br />

Rente sowie eigenen Spargroschen.<br />

FALL III<br />

Einmal zahlen,<br />

sofort Rente<br />

So wie Bernd Schneider*. Der 62-Jährige<br />

hat der Alten Leipziger im Februar 150 000<br />

Euro überwiesen. Gegenleistung: eine sofort<br />

beginnende Rentenzahlung. Monat für<br />

Monat bekommt der Privatier nun rund<br />

720 Euro aufs Konto, fest garantiert hat ihm<br />

der Versicherer davon 540 Euro. Den Aufschlag<br />

gibt es, wenn die Kapitalanlage der<br />

Versicherung gut läuft.<br />

Der Privatier aus Mühlacker bei Pforzheim<br />

ist happy mit seiner Sofortrente, als<br />

ehemaliger Selbstständiger ist er auf die private<br />

Rente voll angewiesen: „Für meine Versorgung<br />

im Alter brauche ich Sicherheit in<br />

Form von regelmäßigen Einnahmen“, sagt<br />

er. Schließlich wisse ja auch er nicht, wie alt<br />

er werde. „Meine Versicherung ist meine<br />

Wette auf ein langes Leben. Das Butterbrot<br />

muss sicher sein, nun kann ich mich um die<br />

Marmelade kümmern“, sagt er. Das Butterbrot<br />

sind die regelmäßigen Zahlungen, die<br />

Marmelade sein Erspartes. Das legt er auch<br />

schon mal riskanter an, etwa in Aktien.<br />

Dank Kunden wie Schneider boomt bei<br />

den Versicherern zumindest das Geschäft<br />

mit Einmalbeiträgen, bei denen Menschen<br />

eine große Summe auf einen Schlag einzahlen:<br />

Die Branche sammelte 2013 auf<br />

diese Weise rund 25 Milliarden Euro ein –<br />

ein Plus von über 14 Prozent.<br />

ALTERNATIVE GESETZLICHE RENTE<br />

Eine Alternative zur Privatversicherung<br />

gibt es laut Mathematiker Kleinlein mit der<br />

deutschen Rentenversicherung: „Wer früher<br />

als zum gesetzlichen Rentenbeginn in<br />

Rente geht, muss Abschläge in Kauf nehmen.<br />

Von diesen aber kann man sich freikaufen.“<br />

Zu diesem Zweck überweisen<br />

Frührentner dem Staat ein paar Tausend<br />

Euro, im Gegenzug gibt es ein paar Rentenpunkte<br />

mehr. „Die staatliche Rente, die<br />

man je 10 000 investierten Euro herausbekommt,<br />

ist höher als bei einem privaten<br />

Versicherer“, sagt Kleinlein.<br />

Wer lieber eine Lebensversicherung abschließt,<br />

darf sich keine zu hohe finanzielle<br />

Last aufbürden, das beweisen Tausende<br />

Kündiger jedes Jahr. Denn kaum ein Kunde<br />

hält bis zum Ende der Vertragslaufzeit<br />

durch – allein 2013 wurden 3,32 Prozent<br />

der Verträge gekündigt.<br />

Doch wer kündigt, verliert Geld. Versicherte<br />

erhalten zwar einen Rückkaufswert,<br />

doch der liegt gerade anfangs weit unter<br />

den eingezahlten Beiträgen. Kunden bekommen<br />

dann knapp die Hälfte ihres bereits<br />

angesparten Guthabens nach Abzug<br />

von Kosten zurück. Beinhaltet der Vertrag<br />

zudem einen Risikoschutz, wie eine hohe<br />

Zahlung im Todesfall, können die Verluste<br />

allerdings dramatischer sein.<br />

Die Kündigung hat weitere Nachteile: Der<br />

Versicherer kürzt das angesparte Guthaben<br />

um Stornokosten, zudem fallen Schlussüberschüsse<br />

weg, die erst am Ende gezahlt<br />

würden. Je nach bisheriger Laufzeit sind<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 95<br />

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Geld&Börse<br />

Sinnvoll kann sein, sich von Policen<br />

mit niedrigem Zins zu trennen<br />

»<br />

Steuervorteile in Gefahr. „Statt zu kündigen,<br />

wäre es dann sinnvoller, die Police beitragsfrei<br />

zu stellen“, rät der Stuttgarter Versicherungsberater<br />

Karsten George.<br />

Wer seine Police beitragsfrei stellt, lässt<br />

das Geld bei der Versicherung, zahlt aber<br />

keine Beiträge mehr ein. Gut ist das etwa<br />

für kurzfristig klamme Menschen, die nicht<br />

an das Geld müssen. Pferdefuß: „Lebensversicherungen<br />

lassen sich erst dann beitragsfrei<br />

stellen, wenn sie eine bestimmte<br />

Versicherungssumme oder Mindestrente<br />

erreicht haben“, sagt George. Wann der<br />

Wert erreicht ist, steht im Vertrag.<br />

FALL IV<br />

Viele Verträge,<br />

viele Probleme<br />

Schon eine Lebensversicherung kann also<br />

Probleme machen. Barbara Reinfeld* aus<br />

Hamburg hat den Schwierigkeitsgrad glatt<br />

vervierfacht. Schuld, so die selbstständige<br />

Psychotherapeutin, seien Ratschläge eines<br />

Finanzberaters, dem sie 2005 ihre Altersvorsorge<br />

anvertraute. „Eigentlich wollte ich<br />

mein Geld im Versorgungswerk der Psychotherapeuten<br />

anlegen, schließlich hatte<br />

ich nur eine geringe gesetzliche Rente zu<br />

erwarten“, sagt die Mitte 50-Jährige, „leider<br />

habe ich mich anders entschieden.“<br />

Sie ließ eine damals bereits laufende Kapitallebensversicherung<br />

der „neue leben“<br />

beitragsfrei stellen, weil ihr Finanzberater<br />

mehr Rendite versprach mit Policen, die in<br />

Fonds investieren. Als Ersatz für die Police<br />

der „neue leben“ schloss sie drei weitere<br />

Lebensversicherungen ab. Nur bei einer<br />

davon, der Police der Helvetia Versicherung,<br />

läuft es wie versprochen: Die Beiträge<br />

verzinsen sich positiv. Bei den beiden anderen<br />

fondsgebundenen Versicherungen –<br />

eine von der liechtensteinischen Vienna Life,<br />

eine andere von der britischen Friends<br />

for Provident – hat sie dagegen Geld verloren.<br />

Nun überlegt die Therapeutin juristisch<br />

gegen Vienna Life vorzugehen, weil es<br />

Streit um die Höhe des Guthabens gibt. Da<br />

ihre Rechtsschutzversicherung für einen<br />

Prozess nicht aufkommen will, müsste sie<br />

dafür etwa 6000 Euro aus eigener Tasche<br />

zahlen. Kein Wunder, dass sie noch zögert.<br />

Bereits entschieden hat sie sich dagegen<br />

bei Friends for Provident:Sie stellte die Police<br />

beitragsfrei. Zu schwach war ihr die<br />

Wird langsam mehr<br />

Wie viel die Versicherer bei gekündigten<br />

Lebensversicherungen seit 2002 ausgezahlt<br />

haben (in Milliarden Euro)<br />

9<br />

2002 2005 2008 2011 2013<br />

Quelle: GDV<br />

15<br />

14<br />

13<br />

12<br />

11<br />

10<br />

Performance der Fonds, in die Beiträge<br />

flossen. Wer wie Reinfeld mehrere Policen<br />

hat, sollte schauen, wie hoch der jeweilige<br />

Garantiezins ist. Sinnvoll könnte es sein,<br />

sich von Policen mit niedrigerem Zins zu<br />

trennen, wenn gleichzeitig der Anbieter<br />

auch noch kapitalschwach sein sollte.<br />

Oben auf der Streichliste stehen zudem<br />

Fondspolicen, die keine Garantie bieten.<br />

LEBENSZEIT 105 JAHRE<br />

Bei Rentenversicherungen kommt es zudem<br />

auf die Sterbetafeln an. Damit berechnen<br />

Versicherer die Höhe ihres Risikos: Je<br />

älter Kunden werden, desto länger fließt<br />

Rente. Die Sterbetafeln werden daher regelmäßig<br />

an die steigende Lebenserwartung<br />

angepasst. „Versicherer kalkulieren<br />

für Neugeborene inzwischen mit einer Lebenserwartung<br />

von 105 Jahren“, sagt Kleinlein.<br />

Fazit: Je älter die Sterbetafel, die alten<br />

Verträgen zugrunde liegt, desto eher lohnt<br />

es sich, weiter zu sparen, weil die Rente<br />

vergleichsweise hoch ist. Bei neueren Policen,<br />

bei denen Versicherer mit sehr hoher<br />

Lebenserwartung kalkulieren, fallen Renten<br />

niedriger aus. Solche Policen beitragsfrei<br />

zu stellen oder zu kündigen schmerzt<br />

daher weniger.<br />

Früher hatten Kündiger einen Puffer:<br />

Kunden, die ihre Police aufgaben, mussten<br />

seit 2008 zur Hälfte an den Bewertungsreserven<br />

beteiligt werden. Die entstehen,<br />

wenn Kursgewinne in den Büchern stehen,<br />

zugehörige Papiere aber noch nicht verkauft<br />

wurden. Je stärker die Zinsen sanken,<br />

desto höher stiegen vor allem die Kurse alter<br />

Anleihen mit hohen Kupons. Versicherer<br />

mussten Milliarden ausschütten.<br />

Doch im Sommer hat der Bundestag die<br />

Regel aufgeweicht. Anleger, deren Vertrag<br />

künftig ausläuft oder die ihn kündigen, erhalten<br />

nicht mehr zwangsläufig die Hälfte<br />

an Reserven von festverzinslichen Wertpapieren.<br />

Wenn die BaFin feststellt, dass ein<br />

Versicherer Grenzwerte erreicht hat, bei<br />

denen die an Kunden insgesamt zugesagten<br />

Leistungen gefährdet sind, darf der Versicherer<br />

keine Reserven auf Festzinspapiere<br />

mehr ausschütten, die durchschnittlich<br />

89 Prozent der Anlagen ausmachen.<br />

Bei vielen ist es schon eng. Besonders<br />

betroffen sieht Kleinlein Kunden, deren<br />

Vertrag in den kommenden zwei Jahren<br />

ausläuft. Wegen der Niedrigzinsphase<br />

„müssen sie damit rechnen, dass die Auszahlung<br />

um fünf bis zehn Prozent geringer<br />

ausfällt“, sagt er. Viele Versicherer haben ihren<br />

Kunden für 2014 aber bereits eine Beteiligung<br />

an den Reserven zugesagt.<br />

»»<br />

ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />

96 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse<br />

Die leistungsstärksten Lebensversicherer<br />

Die leistungsstärksten Lebensversicherer<br />

Nur Lebensversicherer mit hohen Überschüssen und niedrigen Kosten bieten Kunden die Aus<br />

Lebensversicherer<br />

(Neugeschäft eingestellt,<br />

rot markiert)<br />

Europa<br />

Debeka<br />

LVM<br />

Hannoversche<br />

HUK-Coburg<br />

Cosmos Direkt<br />

Mecklenburgische<br />

WGV<br />

Allianz<br />

Nürnberger Beamten<br />

Ergo Direkt<br />

Süddeutsche<br />

R+V<br />

Öff. LV-Anstalt Oldenburg<br />

Oeco Capital<br />

Bayern-Versicherung (VKB)<br />

Delta Lloyd<br />

Alte Leipziger<br />

Landeslebenshilfe<br />

neue leben<br />

VHV<br />

Concordia<br />

Öffentl. Braunschweig<br />

HanseMerkur<br />

Itzehoer<br />

Stuttgarter<br />

InterRisk<br />

Volkswohl-Bund<br />

Neue Bayerische<br />

Öff. Leben Sachsen-Anh.<br />

Vergleichsmaßstab 9 (Benchmark)<br />

LV von 1871<br />

Inter<br />

SV Versicherung<br />

Provinzial Rheinland<br />

Victoria<br />

Asstel<br />

Continentale Leben<br />

Condor<br />

Realistischer<br />

Zins auf<br />

Kapitalanlagen 1, 2<br />

3,2<br />

3,2<br />

3,1<br />

3,1<br />

2,9<br />

2,6<br />

3,2<br />

3,1<br />

3,0<br />

3,0<br />

3,1<br />

2,9<br />

3,0<br />

3,0<br />

2,9<br />

3,0<br />

3,0<br />

3,1<br />

3,5<br />

3,0<br />

3,4<br />

3,1<br />

3,0<br />

3,0<br />

3,0<br />

3,2<br />

3,0<br />

3,0<br />

3,1<br />

3,0<br />

3,0<br />

3,0<br />

3,0<br />

3,0<br />

2,9<br />

3,0<br />

3,0<br />

3,1<br />

3,1<br />

Zum Vergleich:<br />

Historischer Zins auf<br />

Kapitalanlagen 1, 3<br />

4,5<br />

4,8<br />

4,1<br />

4,2<br />

4,3<br />

3,9<br />

3,2<br />

4,5<br />

4,6<br />

3,8<br />

4,1<br />

4,5<br />

4,3<br />

4,1<br />

4,2<br />

4,3<br />

3,0<br />

5,1<br />

3,4<br />

4,5<br />

4,0<br />

4,1<br />

4,4<br />

4,0<br />

4,2<br />

4,5<br />

4,5<br />

4,5<br />

4,7<br />

4,4<br />

4,3<br />

4,2<br />

4,3<br />

4,2<br />

3,6<br />

3,9<br />

4,3<br />

4,6<br />

4,3<br />

Abschlusskostenquote<br />

1, 4<br />

3,5<br />

3,4<br />

3,2<br />

3,6<br />

3,1<br />

2,3<br />

4,1<br />

3,8<br />

4,2<br />

4,1<br />

4,2<br />

3,4<br />

4,4<br />

4,5<br />

3,9<br />

4,5<br />

3,1<br />

4,7<br />

5,9<br />

4,7<br />

5,7<br />

4,5<br />

4,3<br />

4,2<br />

4,7<br />

5,4<br />

3,5<br />

4,9<br />

5,3<br />

5,0<br />

4,9<br />

4,8<br />

4,2<br />

5,3<br />

5,3<br />

4,6<br />

5,4<br />

5,7<br />

5,3<br />

Verwaltungskostenquote<br />

1, 5<br />

0,8<br />

1,2<br />

1,8<br />

1,2<br />

1,5<br />

0,8<br />

2,4<br />

1,8<br />

1,1<br />

1,9<br />

2,2<br />

2,5<br />

1,5<br />

1,9<br />

2,9<br />

1,7<br />

3,5<br />

2,0<br />

2,9<br />

1,1<br />

3,3<br />

2,7<br />

2,1<br />

2,4<br />

1,3<br />

2,3<br />

4,9<br />

2,0<br />

2,6<br />

1,8<br />

2,5<br />

2,6<br />

3,9<br />

2,0<br />

1,8<br />

4,0<br />

1,9<br />

2,4<br />

3,2<br />

Ausschüttungsquote<br />

1, 6<br />

92,0<br />

88,0<br />

91,2<br />

93,1<br />

92,6<br />

90,0<br />

86,4<br />

88,3<br />

78,7<br />

89,1<br />

81,4<br />

84,3<br />

82,8<br />

94,7<br />

91,7<br />

81,8<br />

57,2<br />

83,4<br />

84,2<br />

80,4<br />

100,0<br />

85,8<br />

80,9<br />

80,5<br />

66,6<br />

89,2<br />

84,5<br />

91,3<br />

92,7<br />

86,4<br />

85,1<br />

90,5<br />

82,7<br />

83,6<br />

85,9<br />

88,9<br />

86,6<br />

91,5<br />

87,6<br />

Leistungsfähigkeit<br />

für den Kunden 1, 7<br />

268,8<br />

228,6<br />

198,0<br />

191,4<br />

173,4<br />

172,7<br />

146,8<br />

141,6<br />

86,1<br />

84,3<br />

81,6<br />

81,0<br />

71,2<br />

66,4<br />

53,2<br />

48,3<br />

44,7<br />

43,0<br />

42,9<br />

41,5<br />

39,4<br />

36,8<br />

34,5<br />

33,6<br />

22,9<br />

22,6<br />

16,3<br />

9,7<br />

0,9<br />

0,3<br />

–<br />

–14,2<br />

–16,5<br />

–17,7<br />

–26,4<br />

–38,3<br />

–39,2<br />

–39,9<br />

–46,0<br />

Sterne 8<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHHH<br />

HHHH<br />

HHHH<br />

HHHH<br />

HHHH<br />

HHHH<br />

HHHH<br />

–<br />

HHH<br />

HHH<br />

HHH<br />

HHH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

Ranking mit Methode<br />

Die WirtschaftsWoche ermittelt, welche Lebensversicherer<br />

finanziell so gut aufgestellt<br />

sind, dass sie in den kommenden Jahren ihren<br />

Kunden die höchsten Überschüsse zahlen<br />

können. Das Verfahren hat der Wiener<br />

Finanzwissenschaftler Jörg Finsinger entwickelt.<br />

Dazu analysiert das Hamburger Analysehaus<br />

Softfair die Geschäftsberichte der<br />

Lebensversicherer und leitet daraus gemeinsam<br />

mit Finsinger die Überschuss-<br />

Prognosen ab.<br />

KÜNFTIGE RENDITE ZÄHLT<br />

Anders als bei anderen Vergleichen geht es<br />

nicht um vergangene Erfolge der Lebensversicherer,<br />

sondern um die Rendite, die<br />

sie künftig erzielen können (realistischer<br />

Zins auf Kapitalanlagen, Spalte 2). Die bisherige<br />

Verzinsung ist nur ein Vergleichswert<br />

(historischer Zins, Spalte 3).<br />

Die zukünftige Kapitalverzinsung wird<br />

mithilfe eines Modells prognostiziert. Dazu<br />

errechnet Softfair für die Versicherer das<br />

frei verfügbare Kapital, das nicht durch Ansprüche<br />

von Kunden gebunden ist. Dieses<br />

freie Kapital kann der Versicherer riskanter<br />

anlegen als die übrigen Kundengelder und<br />

so mehr Rendite erwirtschaften. Je größer<br />

der Anteil des freien Kapitals am gesamten<br />

Anlageportfolio des Versicherers ist, desto<br />

höher ist daher die prognostizierte Rendite.<br />

98 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Nur Lebensversicherer mit hohen Überschüssen und niedrigen Kosten<br />

sicht auf bieten eine Kunden attraktive die Aussicht Rendite. auf eine attraktive Rendite.<br />

Lebensversicherer<br />

(Neugeschäft eingestellt,<br />

rot markiert)<br />

Provinzial Hannover<br />

SV Sachsen<br />

Universa<br />

Generali<br />

Saarland<br />

Öffentl. Berlin Brandb.<br />

Familienfürsorge<br />

Provinzial NordWest<br />

DEVK Allgemeine<br />

Gothaer LV<br />

DEVK<br />

Barmenia Leben<br />

WWK Leben<br />

Aachener und Münchener<br />

Iduna Vereinigte<br />

Rheinland<br />

Münchener Verein<br />

Swiss Life<br />

Ideal<br />

Deutsche Ärzteversicherung<br />

Württembergische<br />

Helvetia<br />

ARAG<br />

AXA<br />

Ergo<br />

Basler (Deutscher Ring)<br />

Nürnberger<br />

Zurich Deutscher Herold<br />

Hamburger Leben<br />

VPV Lebensvers.<br />

HDI<br />

Direkte Leben<br />

Realistischer<br />

Zins auf<br />

Kapitalanlagen 1, 2<br />

3,0<br />

2,9<br />

3,0<br />

2,9<br />

3,0<br />

2,9<br />

2,9<br />

3,1<br />

3,0<br />

3,0<br />

3,1<br />

3,0<br />

3,0<br />

2,8<br />

3,0<br />

3,0<br />

2,9<br />

2,9<br />

3,0<br />

2,9<br />

3,0<br />

3,0<br />

2,9<br />

2,9<br />

2,9<br />

2,9<br />

3,0<br />

2,9<br />

3,0<br />

2,9<br />

2,9<br />

3,2<br />

Zum Vergleich:<br />

Historischer Zins auf<br />

Kapitalanlagen 1, 3<br />

4,1<br />

4,2<br />

4,1<br />

3,6<br />

4,1<br />

4,0<br />

4,2<br />

4,0<br />

4,4<br />

4,3<br />

4,7<br />

3,9<br />

5,1<br />

4,3<br />

4,3<br />

4,1<br />

3,8<br />

4,6<br />

4,4<br />

4,5<br />

4,2<br />

4,0<br />

4,1<br />

3,8<br />

4,2<br />

4,1<br />

4,3<br />

4,7<br />

3,1<br />

4,1<br />

4,4<br />

4,1<br />

Abschlusskosten–<br />

quote 1, 4<br />

1 in Prozent, gerundet; 2 prognostizierte Rendite auf die Kapitalanlagen des Versicherers, unter realistischen Annahmen nach einem mathematischen Modell,<br />

Versicherte erhalten wegen der berechneten Kosten weniger; 3 bisherige Verzinsung der Kapitalanlagen des Versicherers, nach dem strengen Niederstwertprinzip<br />

(stille Lasten werden berücksichtigt, stille Reserven nicht), nur zum Vergleich, fließt nicht ins Rating ein, Mittelwert 2007 bis 2013; 4 Kosten, die beim Vertragsabschluss<br />

zum Beispiel für Provisionen an den Vermittler anfallen, als Anteil an den Gesamtbeiträgen aller neuen Verträge, Mittelwert 2011 bis 2013;<br />

5 jährliche Verwaltungskosten, als Anteil an den Versicherungsbeiträgen (Bruttobeiträge), Mittelwert 2011 bis 2013; 6 Anteil der Gesamtüberschüsse, den der<br />

Versicherer an Kunden ausschüttet, Mittelwert 2007 bis 2013; 7 Leistungsfähigkeit im Vergleich zum Benchmark–Versicherer (Durchschnittswert aus 25 besonders<br />

wachstumsstarken Versicherern), je höher der Wert, desto leistungsfähiger ist der Versicherer; 8 Ranking der Leistungsfähigkeit, von stark überdurchschnittlich<br />

(HHHHH) bis stark unterdurchschnittlich (H); 9 Durchschnitt der 25 wachstumsstärksten unter den 50 größten Versicherern;<br />

Quelle: Softfair Analyse, Professor Jörg Finsinger<br />

5,7<br />

5,5<br />

4,9<br />

4,9<br />

5,5<br />

5,2<br />

5,2<br />

5,7<br />

5,7<br />

5,4<br />

5,8<br />

5,0<br />

5,4<br />

5,0<br />

5,2<br />

4,5<br />

5,2<br />

5,5<br />

5,1<br />

5,2<br />

5,8<br />

5,9<br />

5,6<br />

5,7<br />

6,1<br />

6,0<br />

6,3<br />

6,6<br />

7,9<br />

6,9<br />

7,2<br />

9,2<br />

Verwaltungs–<br />

kostenquote 1, 5<br />

2,0<br />

1,7<br />

3,8<br />

2,9<br />

2,1<br />

2,2<br />

2,6<br />

2,4<br />

2,1<br />

2,3<br />

2,8<br />

3,8<br />

3,4<br />

2,7<br />

3,7<br />

5,0<br />

3,2<br />

2,4<br />

4,6<br />

3,2<br />

2,8<br />

3,1<br />

3,6<br />

3,5<br />

3,0<br />

3,1<br />

3,5<br />

2,8<br />

3,0<br />

3,1<br />

3,1<br />

2,4<br />

Ausschüttungs–<br />

quote 1, 6<br />

92,5<br />

91,8<br />

95,2<br />

90,0<br />

88,3<br />

93,4<br />

85,7<br />

87,3<br />

90,3<br />

81,3<br />

83,2<br />

86,0<br />

93,0<br />

83,4<br />

81,9<br />

79,8<br />

83,0<br />

83,2<br />

91,1<br />

80,2<br />

81,5<br />

83,0<br />

80,2<br />

78,7<br />

86,2<br />

87,3<br />

82,7<br />

78,1<br />

55,0<br />

85,4<br />

83,1<br />

77,9<br />

Leistungs–<br />

fähigkeit<br />

für den Kunden 1, 7<br />

–46,4<br />

–48,8<br />

–50,4<br />

–51,1<br />

–52,7<br />

–53,2<br />

–53,4<br />

–56,9<br />

–58,8<br />

–62,6<br />

–65,9<br />

–66,4<br />

–70,8<br />

–76,9<br />

–79,6<br />

–85,0<br />

–90,6<br />

–95,8<br />

–101,3<br />

–104,8<br />

–109,9<br />

–112,5<br />

–123,7<br />

–134,7<br />

–145,8<br />

–146,4<br />

–168,2<br />

–179,6<br />

–218,5<br />

–229,8<br />

–252,7<br />

–278,9<br />

Sterne 8<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

HH<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

H<br />

Anders als bisher sind Bewertungsreserven<br />

(Papiere sind mehr wert, als es in den Büchern<br />

steht) nicht mehr in die Kalkulation<br />

des Risikokapitals eingeflossen. Grund dafür<br />

sind neue Gesetze, nach denen die Versicherer<br />

Reserven auf Anleihen nicht ausschütten<br />

müssen, wenn Garantieleistungen<br />

gefährdet sind. Angesichts von Niedrigzinsen<br />

hat Softfair die Langfrist-Renditen für<br />

sichere Anlagen auf 2,8 und die für riskantere<br />

Anlagen auf 5,8 Prozent gesenkt.<br />

Das Ranking durchleuchtet auch, welchen<br />

Anteil an den eingezahlten Beiträgen Vertreter<br />

und Verwaltung kassieren (Kostenquoten,<br />

Spalten 4 und 5) und wie viel für<br />

die Anleger übrig bleibt (Ausschüttungsquote,<br />

Spalte 6). Mithilfe dieser Werte (realistischer<br />

Zins auf Kapitalanlagen, Kosten,<br />

Ausschüttungsquote) ermittelt Softfair, wie<br />

leistungsfähig der Versicherer aus Sicht der<br />

Anleger ist (Spalte 7). Die so berechnete<br />

Kennzahl orientiert sich am Durchschnitt<br />

der 25 wachstumsstärksten Versicherer unter<br />

den 50 größten Anbietern (Benchmark).<br />

BESSER ALS DER DURCHSCHNITT<br />

Liegt der Versicherer mit seiner prognostizierten<br />

Leistung über dem Branchenschnitt,<br />

ist die Kennzahl positiv. Schneidet<br />

er schlechter als die Benchmark ab, ist sie<br />

negativ. Je höher die Kennzahl, desto besser<br />

sind die Chancen der Anleger auf hohe<br />

Renditen.<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 99<br />

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Geld&Börse<br />

Im Notfall lässt sich die Versicherung<br />

beleihen und in Geld ummünzen<br />

»<br />

Diese Zusagen sind von der Reform<br />

nicht betroffen. Läuft also eine Police 2014<br />

aus oder kündigt der Versicherte bis spätestens<br />

Ende November seinen Vertrag,<br />

bleibt der zugesagte Teil der Reserven erhalten.<br />

Anleger, die ohnehin vorhaben, zu<br />

kündigen, sollten prüfen, ob ihnen noch<br />

eine Beteiligung zusteht.<br />

Einen Joker könnten Kunden in der<br />

Hand haben, die ihren Vertrag zwischen<br />

1994 und 2007 abgeschlossen haben. Der<br />

Bundesgerichtshof hat entschieden, dass<br />

Verbraucher mit Kapitallebens- und Rentenversicherungen<br />

ein unbefristetes Widerspruchsrecht<br />

haben, falls sie nicht ordnungsgemäß<br />

über ihr Recht auf Widerruf<br />

belehrt worden sind (IV ZR 76/11). Lag bei<br />

Abschluss keine oder nur eine fehlerhafte<br />

Widerspruchsbelehrung vor, können Kunden<br />

ihrem Vertrag heute noch widersprechen<br />

und gezahlte Prämien zurückfordern.<br />

Die Summe, um die es geht, ist groß: Experten<br />

gehen für die Lebensversicherungsbranche<br />

von einem Volumen von bis zu<br />

400 Milliarden Euro aus. Der Widerruf<br />

lohnt aber nicht immer, denn der Versicherer<br />

darf Kosten für den über Jahre gewährten<br />

Versicherungsschutz gegenrechnen.<br />

Für solche und alle anderen Fälle gilt eine<br />

Binse: Anleger sollten ihren Vertrag lesen.<br />

Er regelt nicht nur die Chance auf Widerspruch,<br />

sondern auch ob und wie man<br />

ihn etwa nach einer beitragsfreien Phase<br />

reaktivieren kann. Auch sollten Sparer ihren<br />

Versicherer fragen, ob bei einer beitragsfreien<br />

Zeit der Todesfallschutz eingeschränkt<br />

wird und wie man ihn aufrechterhalten<br />

kann. Berater George geht davon<br />

aus, dass sich Policen bis zu 24 Monate beitragsfrei<br />

stellen und dann zu alten Konditionen<br />

weiterführen lassen. So kann es von<br />

Vorteil sein, Zahlungen einzufrieren, statt<br />

zu kündigen. Haken: Nach sechs bis zwölf<br />

Monaten verlangt der Versicherer meist eine<br />

neue Gesundheitsprüfung, die für Berufsunfähigkeitsschutz<br />

und Todesfallleistungen<br />

gilt. Lösung: Bei vielen Policen können<br />

die Versicherten nur noch den Beitrag<br />

für den Risikoschutz (rund 20 Prozent der<br />

vollen Prämie) zahlen.<br />

FALL V<br />

Bei Ausstieg<br />

Schutz erhalten<br />

Mit diesen Problemen musste sich Andreas<br />

Endl, 35, aus Neumarkt in der Oberpfalz,<br />

herumschlagen. 2007 nach seinem BWL-<br />

Studium in Bayreuth schloss er eine Rürup-Rente<br />

der Heidelberger Leben ab. Er<br />

wollte sich als Steuerberater selbstständig<br />

machen. Sein Plan als Freiberufler zerschlug<br />

sich jedoch, stattdessen nahm er<br />

einen gut bezahlten Job als angestellter<br />

Controller an. Die auf Selbstständige<br />

zugeschnittene Basisrente, die ihm sein<br />

Finanzberater wegen der Steuervorteile<br />

schmackhaft gemacht hatte, passte nicht<br />

mehr zur Lebenssituation. „Eigentlich<br />

wollte ich die Police kündigen, was bei einer<br />

Basisrente aber nicht möglich ist“, sagt<br />

Endl. Ihm blieb daher nur, die Rürup-<br />

Rente beitragsfrei zu stellen. Nachteil: Die<br />

Beiträge für den Berufsunfähigkeitsschutz<br />

waren verloren. Auf diesen Baustein wollte<br />

er nicht verzichten, schließlich ist er verheiratet<br />

und hat ein Kind. Der Vermittler,<br />

der ihm die Police der Heidelberger Leben<br />

verkauft hatte, bot Endl jedoch keine Alternative<br />

zum Berufsunfähigkeitsschutz. Die<br />

Lösung: Ein unabhängiger Versicherungsberater<br />

verschaffte ihm eine kostengünstige<br />

neue Berufsunfähigkeitsversicherung<br />

eines anderen Anbieters. Das war für ihn<br />

deutlich günstiger, als weiter an Rürup<br />

festzuhalten.<br />

Wer Geld benötigt, aber nicht kündigen<br />

will, kann außerdem ein Policendarlehen<br />

aufnehmen. Der Versicherer zahlt einen<br />

Kredit aus, die Lebensversicherung dient<br />

als Sicherheit. Das Darlehen ist aber maximal<br />

nur so hoch, wie der meist mickrige<br />

Rückkaufswert der Police. Und „die Zinsen<br />

für ein Policendarlehen sind vergleichsweise<br />

hoch“, sagt Kleinlein. Wer seine Police<br />

beleiht, behält aber den Todesfallschutz.<br />

ZWEIFLER KÖNNEN VERKAUFEN<br />

Um Prämien zu verringern, kann der<br />

Kunde die Versicherungssumme herabsetzen,<br />

Anspruch darauf gibt es laut Kleinlein<br />

aber nicht. Der Kunde zahlt dann<br />

weniger Beitrag, bekommt aber später eine<br />

kleinere Rente. Bei manchen Versicherern<br />

können Kunden den Beitrag später auf das<br />

alte Niveau aufstocken, ohne dass dies wie<br />

ein neuer Abschluss gewertet wird. Falls<br />

doch, könnte eine neue Gesundheitsprüfung<br />

anfallen. Wer Vorerkrankungen<br />

hat, guckt in die Röhre. Betroffene sollten<br />

nachhaken –, auch ob erneut Abschlusskosten<br />

anfallen.<br />

Als Alternative können Zweifler ihre Police<br />

verkaufen. Seriöse Aufkäufer, beispielsweise<br />

Cash Life oder Policen Direkt,<br />

kaufen in der Regel nur Verträge renditestarker<br />

Anbieter an. Im Einzelfall können<br />

Versicherte bei einem Verkauf aber mehr<br />

Geld herausholen als mit einer Kündigung.<br />

Wer hingegen unbedingt noch eine Versicherung<br />

abschließen will, der sollte sich<br />

beeilen und tatsächlich zu 1,75 Prozent unterschreiben<br />

– bei einem kapitalstarken<br />

Anbieter. Dass gerade jetzt die Versicherungsvertreter<br />

noch einmal zu Hochform<br />

auflaufen, hat aber nicht nur mit dem bald<br />

sinkenden Garantiezins zu tun. 2015 sollen<br />

die Versicherer nämlich auch die Provisionen<br />

der Verkäufer eindampfen. In der<br />

Ebbe liegen eben alle Schiffe auf Grund. n<br />

annina.reimann@wiwo.de | Frankfurt, martin gerth<br />

ILLUSTRATION: FRANCESCO BONGIORNI<br />

100 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse<br />

Wenn Wences Casares detailreich<br />

doziert über die<br />

Geschichte des Geldes,<br />

<strong>vom</strong> Tauschhandel über Münzen,<br />

Banknoten, Goldstandard<br />

bis hin zu Kryptowährungen,<br />

dann ist seine Stimme kühl, so als<br />

ob er über einen abstrakten Gegenstand<br />

spricht. Nur einmal<br />

schwingt etwas Emotion in ihr.<br />

„Die meisten Menschen in den<br />

Industrieländern haben doch<br />

keinerlei Vorstellung davon, wie<br />

es ist, seine Ersparnisse durch<br />

Geldentwertung zu verlieren,<br />

manchmal quasi über Nacht“,<br />

sagt der 40-jährige Argentinier.<br />

Casares ist geprägt von Verlust.<br />

Seine Eltern, die Schafe auf einer<br />

Ranch in Ostpatagonien züchten,<br />

standen schon mehrmals vor<br />

dem Nichts; vor geschlossenen<br />

Banken, mit Geld auf dem Konto,<br />

dessen Währung sich fast auflöste.<br />

Wie schon so oft in den vergangenen<br />

Jahrzehnten kämpft<br />

sein Heimatland auch derzeit<br />

wieder mit hoher Inflation und<br />

Währungsverfall. Wer irgendwie<br />

kann, versucht seine Peso in harte<br />

Währung umzurubeln über Geldvermittler,<br />

die Dollar-Scheine<br />

über die Grenze schmuggeln und<br />

wegen der Gefahr Aufschläge von<br />

zehn Prozent und mehr verlangen.<br />

Weil das Bargeld wiederum<br />

Kriminelle anzieht, tauschen einige<br />

Argentinier ihr Geld gerne in<br />

die Elektrowährung Bitcoins um –<br />

vollständig elektronisch, ohne<br />

überbordende Gebühren und die<br />

Gefahr eines Überfalls.<br />

Casares hat vor drei Jahren<br />

über einen befreundeten Unternehmer<br />

die Kryptowährung entdeckt –<br />

und gekauft. Seitdem hat sie ihn nicht<br />

mehr losgelassen. Vor allem, dass ihre<br />

Menge limitiert ist, fasziniert ihn. „So<br />

könnten wir Stabilität beim Geld hinbekommen“,<br />

ist er überzeugt.<br />

Der Kryptonier<br />

WENCES CASARES | Wie der Sohn patagonischer<br />

Schafzüchter zum Internet-Tycoon aufstieg und<br />

nun mit Bitcoin den großen Wurf wagt.<br />

Das Gegenteil von jung und unerfahren Gründer Casares<br />

VIELE KUNDEN SIND DEUTSCHE<br />

Dass Bitcoin derzeit unter extremen Kursschwankungen<br />

leidet, vor allem ein Spekulationsgut<br />

ist und heiß umstritten, ist ihm<br />

bewusst. Momentan, so räumt er ein, würde<br />

er niemandem empfehlen, sein ganzes<br />

Geld in Bitcoin zu stecken. Die Kryptowährung<br />

stecke noch in den Anfängen. „Je<br />

mehr Leute sie einsetzen und im Zahlungsverkehr<br />

nutzen, umso stärker werden<br />

die Schwankungen zurückgehen“, meint er.<br />

Casares arbeitet daran. Vom Silicon Valley<br />

aus, unterstützt von Programmierern in<br />

Buenos Aires, betreibt er Xapo, einen der<br />

derzeit größten Bitcoin-Verwalter der Welt.<br />

Hedgefonds, Stiftungen und Privatpersonen<br />

lagern bei Xapo ihre digitalen Münzen<br />

auf Offline-Computern, die in mehreren<br />

Kontinenten in bewachten Untergrund-<br />

Tresoren untergebracht sind. An die Guthaben<br />

zu kommen und sie zu bewegen<br />

dauert daher mindestens 24 Stunden. Für<br />

schnelleren Zugriff lassen sich Teile des<br />

Guthabens online zwischenspeichern. Der<br />

größte Tresor befindet sich in den Alpen.<br />

Auch aus Marketinggründen.<br />

„Die Schweiz gilt noch immer als<br />

Hort der Sicherheit“, so der Xapo-<br />

Chef und „viele unserer Kunden<br />

sind Deutsche“. Vor allem aber<br />

wirbt er damit, dass die Bitcoins<br />

gegen Verlust durch Hacker-Angriffe<br />

oder Bankrott des Verwalters<br />

über einen eigenen Versicherer<br />

geschützt sind. Xapo selber finanziert<br />

sich aus Gebühren für<br />

Lagerung und Zugriff auf die Bitcoins.<br />

„Wir spekulieren nicht mit<br />

dem Vermögen unserer Kunden“,<br />

sagt Casares. Im Silicon Valley<br />

vertraut man dem Unternehmer.<br />

Mit 41 Millionen Dollar hat der<br />

Argentinier die derzeit größte Finanzierungssumme<br />

für ein Bitcoin-Start-up<br />

eingesammelt. Zu<br />

den Investoren gehören neben<br />

Risikokapitalgeber Benchmark<br />

Capital, der Ebay und Twitter finanziert,<br />

auch lokale Prominenz<br />

wie Yahoo-Gründer Jerry Yang,<br />

PayPal-Mitgründer Max Levchin<br />

und Facebook-Finanzier Yuri<br />

Milner. Der Argentinier ist auch<br />

deshalb so umworben, weil er etwas<br />

hat, was Risikokapitalgeber<br />

besonders schätzen – nachgewiesenen<br />

Erfolg als Unternehmer.<br />

Vier Start-ups hat Casares bereits<br />

gegründet und für über eine Milliarde<br />

Dollar verkauft. In Südamerika<br />

ist er deshalb so berühmt<br />

wie Facebook-Gründer<br />

Mark Zuckerberg oder Amazon-<br />

Chef Jeff Bezos in den USA. Trotzdem<br />

ist ihm Arroganz fremd. Er<br />

beantwortet an ihn gerichtete<br />

E-Mails immer noch selber. Und<br />

kann sich noch gut daran erinnern,<br />

wie er in eine Schublade gesteckt<br />

wurde, nur weil seine Eltern nicht<br />

mit Reichtum gesegnet waren.<br />

START MIT FEHLSCHLAG<br />

Weniger bekannt ist, dass seine Karriere<br />

mit einem persönlichen Fehlschlag startete.<br />

Anfang der Neunzigerjahre war Casares<br />

nach einem Jahr als Austauschschüler in<br />

den USA zur weiteren Ausbildung nach<br />

Buenos Aires gekommen. Richtig faszinierte<br />

ihn das Internet, Netscape hatte damals<br />

den ersten kommerziellen Browser vorgestellt.<br />

Er brach seine Ausbildung ab, hob<br />

dann Argentiniens ersten Internet-Provider<br />

aus der Taufe. Das nötige Kapital bekam<br />

der Student von einem Geldgeber per<br />

FOTO: LAIF/REDUX/JONATHAN SPRAGUE<br />

102 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Handschlag. „Ich habe ihm deshalb blind<br />

vertraut“, sagt Casares. Und als dieser ihn<br />

später bat, das Investment zu formalisieren,<br />

unterzeichnete er prompt die vorgelegten<br />

Verträge – und merkte nicht, dass er<br />

damit sein Unternehmen an den Geldgeber<br />

übereignet hatte. Was ihm erst bewusst<br />

wurde, als er überraschend gefeuert wurde<br />

und sein eigenes Unternehmen nicht mehr<br />

betreten durfte. „Ich war 20 Jahre alt, jung<br />

und unerfahren“, erinnert sich Casares. „Es<br />

war eine dunkle Zeit.“ Der Gründer hätte<br />

klagen können. Doch das hätte Jahre gedauert.<br />

„Ich treibe lieber Dinge aktiv voran,<br />

als abzuwarten“, erklärt er.<br />

Stattdessen studierte er Betriebswirtschaft<br />

und ging wieder unter die Gründer.<br />

Im Jahr 2000 kaufte Banco Santander seine<br />

1997 gegründete Online-Bank Patagon für<br />

750 Millionen Dollar. Sein nächstes Projekt,<br />

die Banco Lemon, eine brasilianische<br />

Bank für Kunden mit niedrigem Einkommen,<br />

übernahm Banco do Brasil 2009. Nebenbei<br />

gründete Casares noch den Spieleentwickler<br />

Wanako Games, bekannt für<br />

das preisgekrönte Ballerspiel „Assault Heroes“;<br />

hier griff später Vivendi Games zu.<br />

Stolz auf diese Erfolge ist Casares aber<br />

nicht. „Mein Ziel ist, etwas Langfristiges,<br />

richtig Großes zu schaffen, das überdauert“,<br />

sagt er. „Man ist ja auch nicht stolz darauf,<br />

wenn man fünfmal verheiratet war.“<br />

Xapo soll nun dieser große Wurf werden.<br />

Ursprünglich wollte Casares seine aktive<br />

Unternehmerkarriere beenden und sich<br />

»Ich fühle mich<br />

bei Bitcoin an die<br />

Anfangszeiten des<br />

Internets erinnert«<br />

mehr um seine Frau und seine drei Kinder<br />

kümmern, mit denen er in der idyllischen<br />

Silicon-Valley-Enklave-Woodside wohnt.<br />

Familie bedeutet ihm viel. 2004 nahm er<br />

eine Auszeit von drei Jahren, um mit seiner<br />

Frau Belle und Sohn Diogenes von Miami<br />

aus die Welt auf dem Katamaran „Simpatica“<br />

zu umrunden. Auf der Reise kam im<br />

neuseeländischen Auckland ihr zweiter<br />

Sohn Theodore zur Welt. „Start-ups hochzuziehen<br />

erschöpft ungemein“, sagt er.<br />

Doch seine Frau, eine Amerikanerin, ermunterte<br />

ihn, unter die Bitcoin-Unternehmer<br />

zu gehen. „Sie sah meine Passion“, sagt<br />

Casares. „Ich fühle mich bei Bitcoin an die<br />

Anfangszeiten des Internets erinnert.“<br />

Sein neuestes Projekt ist eine Scheckkarte,<br />

mit der Kunden mittels Bitcoin bezahlen<br />

können. Xapo prüft dabei das Guthaben<br />

der Kunden, wandelt die entsprechende<br />

Summe in die gewünschte Währung um<br />

und übergibt dann an Visa. Wegen der<br />

Komplexität gab es zum Start Verzögerungen.<br />

„Am schwersten war, einen Bankpartner<br />

zu finden“, sagt Casares. Er einigte sich<br />

mit Wave Crest aus Gibraltar, die Karten für<br />

Visa und Mastercard ausgeben darf. In<br />

Deutschland funktioniert die Karte bereits.<br />

In den USA laufen noch die Verhandlungen<br />

mit den Aufsichtsbehörden. Wird sich<br />

Bitcoin durchsetzen? Casares überlegt seine<br />

Antwort sorgfältig. „Ich würde sagen,<br />

die Wahrscheinlichkeit ist erheblich größer<br />

als 50 Prozent, vielleicht 20 Prozent dagegen“,<br />

sagt er dann. „Das sind doch gute<br />

Chancen, oder?“<br />

n<br />

matthias.hohensee@wiwo.de | Silicon Valley<br />

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Geld&Börse | Steuern und Recht<br />

DARLEHEN<br />

Unwirksame Klauseln<br />

Bankkunden können Bearbeitungsgebühren für Kredite zurückverlangen.<br />

Ein Kreditnehmer schloss bei<br />

den Banken Santander Consumer<br />

und CreditPlus zwischen<br />

2006 und 2011 mehrere Darlehen<br />

ab. Für die Kredite berechneten<br />

die beiden Banken Bearbeitungsgebühren.<br />

Diese<br />

Gebühren wollte der Bankkunde<br />

zurück, weil die zusätzlich<br />

zu den Zinsen berechneten Gebühren<br />

unzulässig seien. Die<br />

Banken lehnten eine Rückzahlung<br />

ab, weil die Ansprüche aus<br />

den Darlehen der Jahre 2006<br />

und 2008 bereits verjährt seien.<br />

Laut Gesetz gilt für solche Fälle<br />

eine Verjährungsfrist von drei<br />

Jahren. Diese Frist startet am<br />

Ende des Jahres, in dem der<br />

Bankkunde Kenntnis davon<br />

hat, dass er unzulässig benachteiligt<br />

wurde. Der Bundesgerichtshof<br />

musste in beiden<br />

Fällen entscheiden, ob der<br />

Bankkunde auch mehr als drei<br />

Jahre nach Abschluss des Darlehens<br />

Gebühren von den Banken<br />

zurückverlangen darf (XI<br />

ZR 348/13, XI ZR 17/14). Zunächst<br />

stellten die Richter klar,<br />

dass die Banken die Gebühren<br />

für die Darlehen unberechtigt<br />

verlangt hatten. Entsprechende<br />

Klauseln in den Allgemeinen<br />

Geschäftsbedingungen seien<br />

unwirksam.<br />

NOCH NICHT VERJÄHRT<br />

Zudem seien die Ansprüche der<br />

Bankkunden auf Rückzahlung<br />

der Gebühren nicht verjährt.<br />

Erst 2011 hätten mehrere Oberlandesgerichte<br />

Bearbeitungsgebühren<br />

für Kredite für unzulässig<br />

erklärt. Vor diesen Urteilen<br />

sei die Rechtslage nicht eindeutig<br />

gewesen. Der Kläger hätte<br />

gar nicht wissen können, dass<br />

die Bank die Gebühren zu Unrecht<br />

kassiert habe. Demnach<br />

habe die Verjährungsfrist erst<br />

2011 angefangen zu laufen,<br />

Santander und CreditPlus<br />

müssten daher die Gebühren<br />

erstatten. Grundsätzlich seien<br />

nur Ansprüche verjährt, die aus<br />

Verträgen stammten, die vor<br />

2004 abgeschlossen wurden, so<br />

die Richter. Für Ansprüche gegen<br />

Banken gilt, unabhängig<br />

von der Kenntnis von unzulässigen<br />

Gebühren oder einer fehlerhaften<br />

Beratung, eine Verjährungsfrist<br />

von zehn Jahren nach<br />

Vertragsschluss. Wer also beispielsweise<br />

im November 2004<br />

einen Kredit abgeschlossen hat,<br />

für den die Bank Bearbeitungsgebühren<br />

kassiert hat, könnte<br />

seine Ansprüche noch anmelden.<br />

Alle Ansprüche aus Verträgen<br />

der Jahre 2004 bis 2011 sind<br />

jedoch Ende dieses Jahres verjährt.<br />

Wer seine Ansprüche anmelden<br />

will, kann entsprechende<br />

Musterformulare der<br />

Verbraucherzentralen oder des<br />

Bundesverbands der Finanzplaner<br />

nutzen. „Sollte die Bank<br />

auf Zeit spielen, ist es sinnvoll,<br />

einen Anwalt einzuschalten“,<br />

sagt der Koblenzer Finanzprofessor<br />

Heinrich Bockholt. Meist<br />

reiche ein Anwaltsschreiben<br />

aus, um die Banken auf Trab zu<br />

bringen. Kreditnehmer könnten<br />

auch unzulässige Gebühren<br />

für Darlehenskonten zurückverlangen,<br />

so Bockholt. Ein entsprechendes<br />

Urteil habe der<br />

Bundesgerichtshof 2011 gefällt<br />

(XI ZR 388/10).<br />

RECHT EINFACH | Einkaufen<br />

Shoppen mit dem Nachwuchs<br />

kann im Desaster enden. Bei<br />

Kleinkindern nehmen die<br />

Gerichte die Eltern in die Pflicht.<br />

§<br />

Gürtel. Eine Vierjährige begleitete<br />

ihre Eltern in eine<br />

Herrenboutique. Nachdem<br />

sie sich in der Spielecke<br />

ausgetobt hatte, zog sie an einem<br />

Gürtelständer. Als der Ständer<br />

umfiel, verletzte sie ein Haken am<br />

Auge. Die Boutique musste 2000<br />

Euro zahlen. Selbst wenn sie ihr<br />

Kind lückenlos beaufsichtigt hät-<br />

ten, wäre dieser Unfall für die Eltern<br />

nicht zu verhindern gewesen, so die<br />

Richter (Oberlandesgericht Hamm,<br />

6 U 186/13).<br />

Bastelecke. Münchner Eltern<br />

besuchten mit ihrer zweijährigen<br />

Tochter ein Geschäft in der Innenstadt.<br />

Für Kinder hatte das Geschäft<br />

eine Bastelecke eingerichtet.<br />

Während die Eltern nach Bastelmaterial<br />

suchten, spielte die Tochter<br />

mit den Metallpfosten, die die<br />

Spielecke <strong>vom</strong> Rest des Ladens<br />

abtrennten. Einer der Pfosten fiel<br />

um und verletzte die Kleine an<br />

der Hand. Schadensersatz und<br />

Schmerzensgeld gab es nicht. Die<br />

Eltern hätten die Tochter nicht aus<br />

den Augen lassen dürfen (Amtsgericht<br />

München, 233 C 11346/08).<br />

Rutsche. Eine junge Mutter ging<br />

mit ihrem gut eineinhalb Jahre alten<br />

Sohn in ein Kaufhaus. Während<br />

Mama einkaufte, tollte der Kleine<br />

in einer Spielecke. Als er auf eine<br />

zwei Meter hohe Rutsche kletterte,<br />

fiel er von der Leiter und holte<br />

sich eine schwere Kopfverletzung.<br />

7000 Euro Schmerzensgeld verlangte<br />

die Familie von dem Besitzer<br />

des Kaufhauses – ohne Erfolg.<br />

Ein Sachverständiger stellte fest,<br />

dass die Rutsche allen Sicherheitsanforderungen<br />

genüge.<br />

Kinder unter drei Jahren, so die<br />

Richter, seien ständig zu beaufsichtigen<br />

(Landgericht Itzehoe, 4<br />

O 102/09).<br />

FOTOS: GETTY IMAGES/THOMAS BARWICK, FOTOLIA, PR<br />

104 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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ERSTATTUNGSZINSEN<br />

Fiskus darf rückwirkend kassieren<br />

Das Gros der Steuerzahler hat<br />

seinen Steuerbescheid für das<br />

vergangene Jahr bereits erhalten.<br />

Manchmal dauert es jedoch<br />

länger. Grundsätzlich sind<br />

die Finanzämter verpflichtet,<br />

die Steuererklärungen innerhalb<br />

von sechs Monaten zu bearbeiten,<br />

sofern die Finanzbeamten<br />

zwischenzeitlich keine<br />

weiteren Unterlagen angefordert<br />

haben oder der Steuerzahler<br />

selbst weitere Dokumente<br />

nachgereicht hat. Nach Ablauf<br />

dieser Frist können die Steuerzahler<br />

ihr Finanzamt mit einem<br />

Untätigkeitseinspruch abmahnen.<br />

Erhalten sie ihren Steuerbescheid<br />

erst 15 Monate nach<br />

BONUSMEILEN<br />

Weitergabe verboten<br />

SCHNELLGERICHT<br />

RAUCHVERBOT IST ZULÄSSIG<br />

§<br />

Ein Raucherclub klagte gegen das Rauchverbot in<br />

Bayern, weil nur Mitglieder Zutritt zur Club-Bar<br />

hätten. Das Verbot sei dennoch zulässig, weil die<br />

Räume grundsätzlich öffentlich zugänglich seien, so<br />

das Bundesverfassungsgericht (1 BvR 3017/11).<br />

ÜBERHOLEN RECHTZEITIG BEENDEN<br />

§<br />

Lkw-Fahrer, die auf einer Bundesstraße mehrere<br />

Fahrzeuge überholen, müssen den Vorgang beendet<br />

haben, bevor eine Überholverbotszone beginnt.<br />

Sie können sich vor Gericht nicht damit herausreden,<br />

sie konnten wegen einer fehlenden Lücke nicht vorher<br />

rechts wieder einscheren (Oberlandesgericht<br />

Hamm, (1 RBs 162/14).<br />

Ende des betreffenden Steuerjahres<br />

oder später, stehen ihnen<br />

pro Monat 0,5 Prozent Zinsen<br />

als Entschädigung zu. Diese Erstattungszinsen<br />

sind als Kapitaleinkünfte<br />

zu versteuern. Im<br />

Gegenzug lassen sich Zinsen<br />

auf Steuerzahlungen nicht steuermindernd<br />

geltend machen.<br />

Der Gesetzgeber hatte dies im<br />

Jahressteuergesetz 2010 durchgedrückt;<br />

es galt rückwirkend<br />

für alle zu diesem Zeitpunkt<br />

noch offenen Steuerbescheide.<br />

Gegen diese rückwirkende Gesetzesänderung<br />

klagte ein Steuerzahler,<br />

weil sie gegen das verfassungsrechtliche<br />

Rückwirkungsverbot<br />

verstoße. Jetzt<br />

Ein Kunde der Lufthansa erhielt<br />

im Juni 2010 den höchsten Status<br />

in deren Bonusmeilenprogramm.<br />

Im Januar 2011 löste er<br />

einen Teil seiner Bonusmeilen<br />

ein und kaufte für eine andere<br />

Person Flüge von Frankfurt<br />

nach Los Angeles und von New<br />

York nach Frankfurt. Die Lufthansa<br />

kündigte daraufhin den<br />

Vertrag für das Bonusprogramm<br />

fristlos. Der Verflieger<br />

war seinen Premium-Status los.<br />

Dagegen klagte der Lufthansa-<br />

Kunde. Er wolle wieder ins Bonusprogramm<br />

und zusätzlich<br />

den Schaden ersetzt haben, der<br />

ihm durch die Kündigung entstanden<br />

sei. Beim Bundesgerichtshof<br />

kam er damit jedoch<br />

nicht durch (X ZR 79/13). Bonusmeilen<br />

seien ein freiwilliger<br />

Service der Airlines, um Kunden<br />

zu binden. Fluggesellschaften<br />

stehe es daher frei, die Weitergabe<br />

von Tickets an Dritte zu<br />

verbieten. Die Kündigung der<br />

Lufthansa sei rechtens, der Vielflieger<br />

habe keine Ansprüche<br />

gegenüber der Airline.<br />

entschied der Bundesfinanzhof,<br />

dass die neue Steuerregel nicht<br />

gegen dieses Verbot verstoße,<br />

weil der Gesetzgeber nur die bis<br />

dahin geltende Rechtsprechung<br />

umgesetzt habe, nach der Erstattungszinsen<br />

steuerpflichtige<br />

Kapitaleinkünfte seien (VIII R<br />

29/12). Auch liege keine Ungleichbehandlung<br />

vor, da Nachzahlungszinsen<br />

nicht mit der<br />

Erzielung von Einkünften verknüpft<br />

seien, anders als beispielsweise<br />

bei Werbungskosten.<br />

Zinsen, die das Finanzamt<br />

zahlt, erhöhten dagegen das<br />

Einkommen der Steuerzahler<br />

und seien demnach zu besteuern.<br />

EINKOMMENSTEUER<br />

OP ist nicht<br />

absetzbar<br />

Die Eltern einer 20-jährigen<br />

Frau finanzierten ihr die Kosten<br />

für eine Brust-Operation. Ihre<br />

Tochter soll psychisch unter ihren<br />

verschieden großen Brüsten<br />

gelitten haben. Die Kosten<br />

für die Operation wollten die Eltern<br />

als außergewöhnliche Belastung<br />

absetzen. Dies sei unzulässig,<br />

weil die Tochter durch<br />

die Abweichung nicht entstellt<br />

sei (Finanzgericht Rheinland-<br />

Pfalz, 5 K 1753/13).<br />

EU MUSS ÜBER DATENSCHUTZ ENTSCHEIDEN<br />

§<br />

Der Bundesgerichtshof reichte eine Entscheidung<br />

darüber, ob Bundesbehörden IP-Adressen von<br />

Internet-Nutzern speichern dürfen, die Internet-Seiten<br />

des Bundes anwählen, an den Europäischen<br />

Gerichtshof weiter (VI ZR 135/13). Im Kern geht es<br />

darum, ob die IP-Adressen personenbezogene Daten<br />

sind und daher geschützt werden müssen.<br />

START-STOPP-TELEFONIEREN ERLAUBT<br />

§<br />

Fahrer eines Autos mit Start-Stopp-Automatik, bei<br />

der der Motor beim Halt ausgeschaltet wird, dürfen<br />

an einer roten Ampel mit dem Handy telefonieren<br />

(Oberlandesgericht Hamm, 1 RBs 1/14). Allerdings<br />

müssen sie das Gespräch beim Start beendet haben.<br />

MAKLERVERTRAG<br />

MARIANNE BEUKEMANN<br />

ist Fachanwältin<br />

für<br />

Maklerrecht<br />

bei der Kanzlei<br />

Dittmar Beukemann<br />

Grieb<br />

in Gießen.<br />

n Frau Beukemann, für alle,<br />

die eine Wohnung über einen<br />

Makler mieten oder<br />

kaufen, hat sich die Rechtslage<br />

verbessert. Was ist neu?<br />

Kunden können nun jeden<br />

Vertrag, den der Makler außerhalb<br />

seiner Geschäftsräume<br />

geschlossen hat, ohne Angabe<br />

von Gründen widerrufen.<br />

Das gilt auch, wenn der Makler<br />

bereits eine Immobilie vermittelt<br />

hat und die Courtage<br />

zu zahlen ist. Der Makler muss<br />

Kunden seit dem 13. Juni<br />

nachweislich über ihr Recht<br />

auf Widerruf belehren. Versäumt<br />

er es, verlängert sich<br />

das Widerrufsrecht von 14 Tagen<br />

auf zwölf Monate und 14<br />

Tage. Der Miet- oder Kaufvertrag<br />

bleibt unbeeinträchtigt.<br />

n Wie geht es in der Praxis?<br />

Widerruft der Kunde zu Recht,<br />

hat der Makler keinen Anspruch<br />

auf Courtage mehr. Gezahlte<br />

Provisionen können<br />

auch zurückverlangt werden,<br />

wenn der Makler den Vertrag<br />

erfüllt hat. Für Makler ist das<br />

ein Problem, denn Immobilien<br />

werden meist vor Ablauf der<br />

14-tägigen Widerrufsfrist vermittelt.<br />

Soll der Makler dennoch<br />

sofort tätig werden, geht<br />

das Widerrufsrecht des Kunden<br />

verloren, wenn der Makler<br />

ihn darüber belehrt und der<br />

Kunde die sofortige Tätigkeit<br />

trotzdem wünscht.<br />

n Wie erkenne ich eine korrekte<br />

Widerrufsbelehrung?<br />

Zunächst muss die Widerrufsbelehrung<br />

dem Kunden tatsächlich<br />

zugehen. Der Widerruf<br />

muss optisch hervorgehoben<br />

sein. Ein Muster hat die<br />

Regierung entworfen.<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 Redaktion: martin.gerth@wiwo.de, annina reimann | Frankfurt<br />

105<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

KOMMENTAR | Die Politik gibt vor,<br />

die private Altersvorsorge zu fördern –<br />

und tut doch meist das Gegenteil.<br />

Von Stefan Hajek<br />

Wasser zum Kochen<br />

In ihren Sonntagsreden betonen<br />

Politiker gern die<br />

Notwendigkeit der privaten<br />

Altersvorsorge. Tenor: Wer<br />

sich auf die staatliche Rente<br />

verlässt, nicht selbst fürs Alter<br />

noch zurücklegt, der fällt in die<br />

garstige „Versorgungslücke“.<br />

Der Begriff suggeriert: Da drinnen<br />

ist es klamm und dunkel;<br />

es fehlt an allem; das Geld ist<br />

knapp, die Heizung steht auf<br />

18 Grad, und eingekauft wird<br />

nur noch beim Discounter.<br />

Und hat der Staat nicht seinen<br />

Teil zur Lösung des Problems<br />

längst beigetragen? Hat<br />

er nicht Riester- und Rürup-Rente<br />

ersonnen, große Errungenschaften,<br />

die uns dabei helfen,<br />

ein Ruhekissen anzusparen?<br />

Sie ahnen es schon: So einfach<br />

ist es nicht. Im Vagen, im<br />

Generellen, da werden Wille und<br />

Notwendigkeit zur Vermögensbildung<br />

gern betont; geht es<br />

aber ans Konkrete, um das Geld<br />

der Bürger, dann ist Vater Staat<br />

das Hemd nach wie vor näher<br />

als der Rock, und aus der versprochenen<br />

Förderung wird das<br />

Gegenteil: die steuerliche Melkmaschine.<br />

Zur Erinnerung: Anders<br />

als die hybride Promotion-<br />

Maschine aus Staat und<br />

Finanzindustrie suggeriert, die<br />

Förderung und vermeintliche<br />

Steuervorteile in den Vordergrund<br />

rückt, nutzen Riester und<br />

Rürup nur einem kleinen Teil der<br />

Bevölkerung. Gut 20 Prozent<br />

verdienen so wenig, dass sie sowieso<br />

nichts zurücklegen können;<br />

sie profitieren also nicht davon.<br />

Und die meisten anderen<br />

müssen weit über 90 Jahre alt<br />

werden, damit ein Riester-Vertrag<br />

endlich mehr abwirft, als<br />

man einbezahlt hat. Das hindert<br />

einige besonders fürsorgliche<br />

Politiker nicht, den Zwangs-<br />

Riester für alle zu fordern. Freuen<br />

würde dies die Drückerkolonnen<br />

der Finanzvertriebe, die<br />

schon jetzt sehr gut an den –<br />

renditeschwachen – Vorsorgeprodukten<br />

verdienen.<br />

So sind die durchschnittlichen<br />

Verwaltungskosten deutscher<br />

Rentenprodukte im<br />

Schnitt gut 15 Mal höher als etwa<br />

die skandinavischer oder britischer<br />

Pensionsfonds, die einfach<br />

nur Aktien und Anleihen<br />

kaufen, seit Jahrzehnten bewährt.<br />

Stattdessen enthalten 70<br />

Prozent der 15,97 Millionen<br />

Riester-Verträge das renditeschwache<br />

und teure Produkt<br />

Rentenversicherung. Dafür hat<br />

die Finanzlobby gesorgt, die<br />

über Seilschaften in die Politik<br />

verfügt, links wie rechts. Sinnvoller<br />

wäre ein regelmäßiges Investieren<br />

in einfache Anlagen, die<br />

deswegen auch wenig Gebühren<br />

kosten: Aktien, Anleihen, Cash,<br />

Gold. Möglichst breit, möglichst<br />

oft und möglichst lange.<br />

TEURER GRUNDERWERB<br />

Über viele Jahre kämen durchaus<br />

annehmbare Wertsteigerungen<br />

heraus, die es breiten Bevölkerungsschichten<br />

erlaubten,<br />

ihre Angst vor Altersarmut ad<br />

acta zu legen. Hier aber wirft der<br />

Staat uns Knüppel zwischen die<br />

Beine, statt zu fördern: Die Abgeltungsteuer<br />

verringert den<br />

Zinseszinseffekt, der in der Altersvorsorge<br />

so nötig ist wie<br />

Wasser zum Kochen und der wegen<br />

der Zinspolitik schon arg zusammengeschmolzen<br />

ist.<br />

Grunderwerbsteuern werden<br />

kräftig erhöht: Sie stehen Menschen<br />

im Weg, die mit einer<br />

selbst genutzten Immobilie fürs<br />

Alter vorsorgen wollen. Wir sind<br />

eben ein Volk von Mietern und<br />

Sparern. Wenn das mal gut geht.<br />

TREND DER WOCHE<br />

Druck zum Drucken<br />

Gegen die einbrechenden Inflationserwartungen ist<br />

auch der Goldpreis nicht immun.<br />

Weltweit geprägt<br />

Gold bietet Schutz vor Systemrisiken<br />

Die Inflation ist tief, und die<br />

Märkte erwarten noch tiefere<br />

Raten. In den USA hat sich der<br />

Renditeabstand zwischen inflationsgeschützten<br />

und klassischen<br />

Staatsanleihen mit fünfjähriger<br />

Laufzeit seit Juli von 2,1<br />

auf 1,5 Prozent verringert. Sollten<br />

die Märkte recht behalten,<br />

stiegen die Realzinsen, und die<br />

Konjunktur würde geschwächt.<br />

Kurzum: Es hat sich deflationärer<br />

Druck aufgebaut. Gegen<br />

diesen ist auch der Goldpreis<br />

nicht immun. Gold schützt aber<br />

nicht nur vor Kaufkraftverlusten<br />

in der Heimatwährung, sondern<br />

auch gegen Systemrisiken.<br />

Letztere nehmen zu. In der<br />

Euro-Zone ist das zum Beispiel<br />

abzulesen an der wachsenden<br />

Skepsis der Anleger gegenüber<br />

dem Zusammenhalt des Währungsraumes.<br />

Der Euro-Breakup-Index<br />

des Analysehauses<br />

Sentix stieg im Oktober von 7,7<br />

auf 11,8 Prozent. Jeder neunte<br />

von Sentix befragte Anleger<br />

rechnet demnach damit, dass<br />

innerhalb der nächsten zwölf<br />

Monate wenigstens ein Land<br />

aus dem Euro ausscheiden<br />

könnte. Und der gerade gelaufene<br />

Banken-Stresstest ging an<br />

den ökonomischen Realitäten<br />

der Euro-Zone vorbei. Eine längere<br />

Deflationsphase wurde<br />

nicht berücksichtigt, obwohl<br />

die Zinsmärkte gegenwärtig genau<br />

diese antizipieren und Spanien,<br />

Italien und Griechenland<br />

bereits in der Deflation sind.<br />

Höhere Goldpreise kommen<br />

dann, wenn die Systemrisiken<br />

steigen und Notenbanken wieder<br />

massiv handeln müssen.<br />

Trends der Woche<br />

Entwicklung der wichtigsten Finanzmarkt-Indikatoren<br />

Stand: 30.10.2014 / 18.00 Uhr aktuell seit einer Woche 1 seit einem Jahr 1<br />

Dax 30 9114,84 +0,7 +1,2<br />

MDax 15855,09 +1,0 –0,5<br />

Euro Stoxx 50 3035,90 –0,3 –0,2<br />

S&P 500 1989,14 +2,0 +12,8<br />

Euro in Dollar 1,2598 –0,6 –8,4<br />

Bund-Rendite (10 Jahre) 1 0,81 –0,04 2 –0,90 2<br />

US-Rendite (10 Jahre) 1 2,30 +0,04 2 –0,20 2<br />

Rohöl (Brent) 3 86,28 +0,2 –21,2<br />

Gold 4 1202,00 –2,5 –11,3<br />

Kupfer 5 6785,00 +1,0 –6,7<br />

1<br />

in Prozent; 2 in Prozentpunkten; 3 in Dollar pro Barrel; 4 in Dollar pro Feinunze,<br />

umgerechnet 952,46 Euro; 5 in Dollar pro Tonne; Quelle: vwd group<br />

FOTOS: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, ULLSTEIN BILD/ULRICH BAUMGARTEN, DDP IMAGES/JENS SCHLÜTER<br />

106 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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DAX-AKTIEN<br />

Der Stress bleibt<br />

Die Deutsche Bank ein Spielball von Prozessen, die<br />

Commerzbank ein Zock auf die Gewinnwende.<br />

HITLISTE<br />

Wären da nicht mehr als 1000<br />

Rechtsstreitigkeiten, die<br />

Deutsche Bank könnte in diesem<br />

Jahr netto zwei bis drei<br />

Milliarden Euro verdienen.<br />

Wegen Prozessrückstellungen<br />

aber dürfte 2014 kaum mehr<br />

übrig bleiben als die 1,3 Milliarden<br />

Euro, die die Deutsche<br />

dieses Jahr schon verdient<br />

hat. Geht die Vorsorge so weiter,<br />

wird auch 2015 ein mageres<br />

Jahr. Immerhin: Die dann<br />

vielleicht auf mehr als vier<br />

Milliarden aufgestockten<br />

Rückstellungen dürften auch<br />

für mittelschwere Strafzahlungen<br />

ausreichen.<br />

Zäh geht es auch bei der<br />

Commerzbank voran. Mit einem<br />

knappen Ertrag im dritten<br />

Quartal sollte sie 2014 insgesamt<br />

auf mehr als 500 Millionen<br />

Euro Reingewinn zusteuern.<br />

Dass sie beim Stresstest simulierte<br />

Belastungen für Kredite,<br />

Wertpapiere und Beteiligungen<br />

mit noch acht Prozent Kernkapital<br />

überstand, kommt der Aktie<br />

zugute. Nach oben dreht der<br />

Kurs aber erst, wenn die Coba<br />

wieder richtig Geld verdient.<br />

Forscher an die Börse<br />

Labor von Probiodrug<br />

BÖRSENGÄNGE<br />

Erfolg in Amsterdam<br />

Eine deutsche Biotech-Firma aus Halle an der Saale<br />

war die eigentliche Börsenrakete des Jahres.<br />

Dax<br />

Kurs Kursent- Gewinn KGV Börsen- Dividen-<br />

(€) wicklung pro Aktie (€) wert den-<br />

1 Woche 1 Jahr 2014 2015 2015<br />

(Mio. €) rendite<br />

(%) 1<br />

Dax 9114,84 +0,7 +1,2<br />

Aktie<br />

Stand: 30.10.2014 / 18.00 Uhr<br />

Adidas 56,95 –3,0 –32,2 3,10 3,61 16 11915 2,63<br />

Allianz 124,20 +0,7 +0,7 13,90 13,92 9 56629 4,27<br />

BASF NA 68,57 –3,5 –9,6 5,62 5,95 12 62980 3,94<br />

Bayer NA 109,95 +2,9 +18,8 5,99 6,91 16 90923 1,91<br />

Beiersdorf 63,99 +0,7 –9,1 2,48 2,75 23 16125 1,09<br />

BMW St 83,03 –0,1 +0,4 9,04 9,46 9 53325 3,13<br />

Commerzbank 11,71 +0,3 +21,2 0,53 0,97 12 13332 -<br />

Continental 153,80 +0,7 +14,7 12,71 14,08 11 30761 1,63<br />

Daimler 60,61 +0,4 +2,0 6,40 6,80 9 64818 3,71<br />

Deutsche Bank 24,30 –3,3 –28,4 2,27 3,17 8 24771 3,09<br />

Deutsche Börse 54,11 +1,5 –4,9 3,66 4,00 14 10443 3,88<br />

Deutsche Post 24,39 +2,0 –1,4 1,71 1,83 13 29488 3,28<br />

Deutsche Telekom 11,68 +7,2 +1,3 0,62 0,66 18 51967 4,28<br />

E.ON 13,32 +0,5 –1,8 0,94 0,97 14 26653 4,50<br />

Fresenius Med.C. St 58,18 +4,5 +18,9 3,52 3,87 15 17893 1,32<br />

Fresenius SE&Co 40,55 +4,9 +27,2 2,02 2,34 17 9151 3,08<br />

Heidelberg Cement St 53,47 +0,5 –8,3 3,83 4,83 11 10026 1,12<br />

Henkel Vz 77,58 +2,0 –2,2 4,28 4,68 17 32286 1,57<br />

Infineon 7,29 –3,9 +3,0 0,44 0,52 14 7877 1,65<br />

K+S NA 22,05 +4,7 +15,7 1,68 1,60 14 4219 1,13<br />

Lanxess 40,26 +0,3 –22,3 1,94 2,88 14 3350 1,24<br />

Linde 150,90 +0,2 +7,0 7,72 8,72 17 28014 1,99<br />

Lufthansa 11,52 –6,7 –21,6 1,35 2,21 5 5299 -<br />

Merck 71,68 +0,6 +17,3 4,66 4,97 14 4632 2,65<br />

Münchener Rückv. 153,45 +2,0 0 17,68 17,18 9 27520 4,72<br />

RWE St 27,74 +1,5 +0,9 2,22 2,23 12 16791 3,61<br />

SAP 52,66 +0,6 –8,6 3,40 3,68 14 64693 2,09<br />

Siemens 87,36 +0,8 –6,8 6,43 7,24 12 76964 3,43<br />

ThyssenKrupp 18,78 –1,2 –0,8 0,53 1,19 16 9660 -<br />

Volkswagen Vz. 165,15 +2,4 –10,0 21,39 23,52 7 77011 2,46<br />

1<br />

berechnet mit der zuletzt gezahlten Dividende<br />

Börsen sind nicht gegründet<br />

worden, um Anleger reich zu<br />

machen, sondern damit sich<br />

Unternehmen Geld beschaffen<br />

können, um ihre unternehmerischen<br />

Ziele zu verwirklichen.<br />

Manchmal<br />

machen sich Alteigentümer<br />

über einen Börsengang auch<br />

die eigenen Taschen voll.<br />

Aber das ist per se nicht verwerflich.<br />

Kein Anleger wird<br />

gezwungen zu zeichnen. Außerdem<br />

schafft die Aussicht<br />

auf einen Ausstieg über die<br />

Börse erst einen Anreiz für<br />

Gründer oder Private-Equity-<br />

Firmen, unternehmerische<br />

Risiken einzugehen. Im Idealfall<br />

geht keiner leer aus, wie<br />

Erfolgsbilanz ausgewählter Neuemissionen 2014<br />

Unternehmen<br />

Probiodrug<br />

TLG Immobilien<br />

SLM Solutions<br />

Snowbird<br />

Rocket Internet<br />

Zalando<br />

Feike<br />

JJ Auto<br />

Affimed<br />

Millionen Euro<br />

22,5<br />

460,6<br />

179,8<br />

60,0<br />

1400,0<br />

526,2<br />

7,9<br />

13,3<br />

41,1<br />

Quelle: Bloomberg; Stand: 29. Oktober 2014<br />

Emissionsvolumen<br />

<strong>Ausgabe</strong>preis<br />

etwa bei der Biotech-Gesellschaft<br />

Probiodrug. Die Aktien<br />

des 1997 gegründeten Unternehmens<br />

aus Halle an der Saale<br />

kamen am Montag zu 15,50 Euro<br />

an die Börse Amsterdam. Am<br />

Donnerstag lag der Kurs 60 Prozent<br />

über <strong>Ausgabe</strong>preis. Probiodrug<br />

will neue Therapien gegen<br />

Alzheimer entwickeln. Das<br />

frische Kapital geht in die Forschung.<br />

Garanten für den erfolgreichen<br />

Börsenstart waren<br />

die bestehenden Aktionäre, darunter<br />

BB Biotech und Biogen<br />

Idec. Altaktionäre zeichneten<br />

zwei Drittel der angebotenen<br />

Aktien und steuerten so rund 16<br />

Millionen Euro zum Emissionserlös<br />

von 22,5 Millionen bei.<br />

Euro<br />

15,25<br />

10,75<br />

18,00<br />

6,00<br />

42,50<br />

21,50<br />

7,50<br />

7,17<br />

7,00<br />

Preis<br />

festgesetzt<br />

am<br />

23.10.2014<br />

23.10.2014<br />

8.5.2014<br />

27.9.2014<br />

2.10.2014<br />

29.9.2014<br />

31.7.2014<br />

16.6.2014<br />

12.9.2014<br />

Kurs<br />

aktuell<br />

Euro<br />

22,10<br />

10,84<br />

17,91<br />

5,50<br />

38,82<br />

18,39<br />

6,14<br />

5,61<br />

4,51<br />

Performance<br />

seit<br />

Börsengang<br />

Prozent<br />

+44,9<br />

+0,8<br />

–0,5<br />

–8,3<br />

–8,7<br />

–14,5<br />

–18,1<br />

–21,8<br />

–35,6<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 107<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

AKTIE Travelers<br />

Defensiver Favorit<br />

mit Top-Rating<br />

Schirmt ab Travelers versichert<br />

Private und Firmen<br />

Mit 919 Millionen Dollar Nettogewinn,<br />

sechs Prozent mehr<br />

als im gleichen Zeitraum des<br />

Vorjahres, schnitt Travelers<br />

im dritten Quartal wesentlich<br />

besser ab als von Analysten<br />

erwartet. Der amerikanische<br />

Versicherungskonzern profitiert<br />

davon, dass Schadenszahlungen<br />

für Naturkatastrophen<br />

derzeit rückläufig sind.<br />

Nachdem bis Ende September<br />

unterm Strich 2,6 Milliarden<br />

Dollar geblieben sind,<br />

steuert Travelers im Gesamtjahr<br />

auf 3,4 Milliarden Dollar<br />

Reingewinn zu. Je Aktie wären<br />

das etwa zehn Dollar. Travelers<br />

ist einer der günstigsten<br />

US-Standardwerte, ein defensiver<br />

Favorit auch in schwächeren<br />

Börsenzeiten. Ein Signal<br />

dafür ist, dass Travelers<br />

von Standard & Poors’s mit<br />

der sehr guten Ratingnote AA<br />

bewertet ist.<br />

Das Geschäftsvolumen<br />

wächst. Nachdem die Amerikaner<br />

im November vergangenen<br />

Jahres für 1,1 Milliarden<br />

Dollar den kanadischen<br />

Versicherer Dominion of<br />

Canada übernommen haben,<br />

dürften die eingenommenen<br />

Prämien in diesem Jahr mit<br />

rund 27 Milliarden Dollar<br />

einen Rekordwert erreichen.<br />

Travelers entstand 2004 aus<br />

der Fusion des Versicherers<br />

Saint Paul aus Minnesota und<br />

dem <strong>vom</strong> ehemaligen Bankenkonzern<br />

Citicorp abgespalteten<br />

Assekuranzgeschäft.<br />

Die Wurzeln der Einzelunternehmen<br />

reichen bis in die Mitte<br />

des 19. Jahrhunderts zurück.<br />

Gut die Hälfte seines Geschäfts<br />

macht Travelers mit<br />

professionellen Kunden, <strong>vom</strong><br />

kleinen Ladenbesitzer bis zum<br />

internationalen Konzern. Zweiter<br />

Schwerpunkt sind Versicherungen<br />

für Privatkunden (Auto,<br />

Hausrat, Schaden, Unfall, Hagel,<br />

Feuer, Wind). Mit 90,3 Prozent<br />

hat Travelers ein gutes Verhältnis<br />

aus Aufwand und<br />

Schadenszahlung zu Prämieneinnahmen<br />

(Combined Ratio).<br />

Große Gewinnsprünge sind<br />

vorerst aber nicht drin. Wegen<br />

der allgemein niedrigen Renditen<br />

wird es nicht leicht sein, wie<br />

bisher gut drei Prozent Gewinn<br />

aus den angelegten Geldern zu<br />

holen. Ein Vorteil für Anleger:<br />

In den vergangenen zehn Jahren<br />

ist das Eigenkapital je Aktie<br />

kontinuierlich gestiegen. 78<br />

Dollar je Aktie sollte es Ende<br />

des Jahres betragen – das wären<br />

dann knapp vier Fünftel des aktuellen<br />

Kurses. Und bereits laufende<br />

Aktienrückkäufe über 4,8<br />

Milliarden Dollar treiben die<br />

Kennzahl weiter.<br />

Travelers<br />

ISIN: US89417E1091<br />

100<br />

80<br />

60<br />

50<br />

40<br />

200-Tage-Linie<br />

30<br />

06 08 10 12 14<br />

Kurs/Stoppkurs (in Dollar): 99,50/84,75<br />

KGV (2014/15): 9,9/10,4<br />

Dividendenrendite (in Prozent): 2,3<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

Hoch<br />

AKTIE Hasbro<br />

Monopoly auf dem<br />

Smartphone<br />

Alle Kinder orientieren sich<br />

stark an Marken. Entsprechend<br />

kümmert sich der US-<br />

Spielzeughersteller Hasbro<br />

konsequent um Markenbildung.<br />

So basieren die Kinoschlager<br />

„Transformers“ oder<br />

„G.I. Joe“ auf Figuren des<br />

Spielzeugherstellers. Hasbro<br />

besitzt Lizenzen auch für Figuren<br />

von „Star Wars“ und<br />

dem Comicverlag Marvel,<br />

dessen Film „Guardians of the<br />

Galaxy“ 2014 ebenfalls die Kinokassen<br />

klingeln ließ. Seit<br />

Oktober 2010 betreibt Hasbro<br />

gemeinsam mit dem Medienkonzern<br />

Discovery Communications<br />

einen eigenen TV-<br />

Sender (Dicovery Family) und<br />

produziert in den hauseigenen<br />

Studios Serien um Actionfiguren,<br />

Brettspiele und<br />

Spielshows.<br />

Im Juli 2013 kaufte Hasbro<br />

für 112 Millionen Dollar<br />

die Mehrheit (70 Prozent) an<br />

Backflip Studios, einem Entwickler<br />

erfolgreicher Smartphone-Spiele<br />

wie Dragonvale.<br />

Das Zusammenspiel<br />

zwischen digitalen Inhalten<br />

und physischen Produkten<br />

klappt bei Hasbro in beide<br />

Richtungen. Der digitale Hit<br />

Angry Birds wurde erfolgreich<br />

als Spielzeug etabliert,<br />

Profit-Monster<br />

„Transformers“ lässt<br />

die Kassen klingeln<br />

während Klassiker wie Monopoly,<br />

Risiko und Scrabble den<br />

Weg aufs Smartphone fanden.<br />

Der Umsatz im dritten Quartal<br />

stieg um 7,3 Prozent auf 1,47<br />

Milliarden Dollar. Der Nettogewinn<br />

verbesserte sich um 43<br />

Prozent auf 180,5 Millionen<br />

Dollar. Und Weihnachten steht<br />

erst noch vor der Tür. Hasbro<br />

produziert stete und solide freie<br />

Mittelzuflüsse, 2014 vermutlich<br />

400 Millionen Dollar. Das garantiert<br />

Aktionären verlässliche<br />

Dividenden. Aktuell wirft die<br />

Aktie drei Prozent Rendite ab.<br />

Das Kurs-Gewinn-Verhältnis<br />

2015 ist mit 16 im Rahmen.<br />

Hasbro<br />

ISIN: US4180561072<br />

60<br />

55<br />

50<br />

45<br />

40<br />

35<br />

12 2013 2014<br />

Kurs/Stoppkurs (in Dollar): 57,60/48,30<br />

KGV (2014/15): 17,9/16,3<br />

Dividendenrendite (in Prozent): 3,0<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

50-Tage-Linie<br />

200-Tage-Linie<br />

Hoch<br />

FOTOS: CORBIS/REUTERS/CHIP EAST, INTERFOTO/NG COLLECTION, DPA PICTURE-ALLIANCE/FRANK RUMPENHORST, PR<br />

108 Redaktion: Geldwoche+Zertifikate: Frank Doll, Anton Riedl<br />

Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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ZERTIFIKAT Dax Reverse Bonus<br />

23 Prozent, wenn der<br />

Dax unter 10 800 bleibt<br />

ANLEIHE Fiat<br />

Franken<br />

mit Ferrari<br />

Dax zieht runter Strategien<br />

gegen Kursrisiken gefragt<br />

Die schwache Konjunktur,<br />

Enttäuschungen bei Unternehmensgewinnen<br />

und Finanzlöcher<br />

bei europäischen Banken<br />

trüben die Aussichten für den<br />

Dax. Zwar verspricht die Europäische<br />

Zentralbank (EZB),<br />

der Wirtschaft und den Anlagemärkten<br />

unter die Arme zu<br />

greifen. Doch ob sie mit noch<br />

expansiveren Maßnahmen als<br />

bisher Erfolg hat, bleibt offen.<br />

Wer skeptisch für den deutschen<br />

Aktienmarkt ist, für den<br />

kommen Reverse-Bonus-Zertifikate<br />

infrage. Diese Zertifikate<br />

werfen Gewinne ab, wenn<br />

der Dax auf der Stelle tritt<br />

oder sinkt. Für einen Reverse<br />

Bonus mit Barriere bei etwa<br />

10800 bedeutet das: Bleibt<br />

der Dax bis Ende der Laufzeit<br />

(18. Dezember 2015) unter dieser<br />

Grenze, gibt es 100 Euro<br />

zurück. Bei einem aktuellen<br />

Kaufkurs von etwa 81 Euro<br />

wären das 23,5 Prozent Gewinn.<br />

Ob der Dax im Extremfall<br />

bis 10799 steigt, um 9000<br />

schwankt oder auf 5000 kracht,<br />

ist egal. 100 Euro sind die maximale<br />

Rückzahlung.<br />

23 Prozent in 14 Monaten<br />

gibt es nicht umsonst. Das Zertifikat<br />

birgt durchaus Risiken.<br />

Steigt der Dax auf 10800 oder<br />

höher, geht die Rückzahlung<br />

von 100 Euro verloren. Als Rest<br />

bleibt der innere Wert, der sich<br />

aus Basispreis (in diesem Fall<br />

14000 Punkte) minus dann<br />

aktuellem Dax errechnet. Bei<br />

einem Index von 11000 wären<br />

das 3000 Punkte Differenz, die<br />

bei einem Bezugsverhältnis von<br />

0,01 einen Kurs von 30 Euro<br />

ergäben. Bei 81 Euro Kaufpreis<br />

wären das 63 Prozent minus.<br />

Steigt der Dax bis 14000, kommt<br />

es sogar zum Totalverlust.<br />

Wenn der Dax in den nächsten<br />

Monaten kräftig nachgibt,<br />

dürften die Zertifikate zügig in<br />

Richtung 100 Euro klettern.<br />

Auch wenn die Börsen auf der<br />

Stelle treten, sollten die Notierungen<br />

des Zertifikats zulegen,<br />

allerdings deutlich langsamer.<br />

Vorübergehende Erholungen im<br />

Dax bremsen die Zertifikate nur<br />

leicht. Gefährlich wird es erst,<br />

wenn der Aktienmarkt nachhaltig<br />

nach oben dreht, also etwa in<br />

die Nähe der bisherigen Höchstkurse<br />

kommt oder darüber hinaus<br />

steigt. Um dieses Risiko zu<br />

begrenzen, sollten Zertifikate-<br />

Anleger einen Stoppkurs setzen<br />

(etwa 10 bis 15 Prozent unter<br />

Einstand), bei dessen Unterschreiten<br />

sofort verkauft wird.<br />

Lukrative Baisse<br />

90<br />

85<br />

80<br />

75<br />

70<br />

65<br />

60<br />

55<br />

50<br />

Chance<br />

Risiko<br />

in Euro<br />

Reverse-Bonus-<br />

Zertifikat<br />

Niedrig<br />

Quelle: Bloomberg, Banken<br />

in Punkten 15 000<br />

Dax<br />

22.4.14 28.10.14<br />

14 000<br />

13 000<br />

12 000<br />

11 000<br />

10 000<br />

Kurs/Stoppkurs (in Euro): 80,80/68,70<br />

Maximale Rückzahlung (in Euro): 100,00<br />

Basispreis (in Punkten): 14 000<br />

Verlustbarriere (in Punkten): 10 800<br />

Laufzeit: bis 18. Dezember 2015<br />

Emittentin: Deutsche Bank<br />

ISIN: DE000DT4BC59<br />

9000<br />

8000<br />

Hoch<br />

Rot zieht hoch Mehr Rendite<br />

dank Ferrari (hier 458 Spider)<br />

Sebastian Vettel wird nächstes<br />

Jahr in der Formel 1 für Ferrari<br />

starten. Einen besonderen<br />

Schub gibt das dem Autokonzern<br />

Fiat: Je eher die roten<br />

Renner wieder vorne mitfahren,<br />

desto mehr steigt der<br />

Wert der Marke Ferrari – und<br />

die gehört zu 90 Prozent zu<br />

Fiat. Bei 2,6 Milliarden Euro<br />

Jahresumsatz kann es Ferrari,<br />

deren Aktien eigenständig an<br />

die Börse sollen, gut und gern<br />

auf fünf Milliarden Euro<br />

Marktwert bringen.<br />

Dass Fiat unter seinem umtriebigen<br />

Chef Sergio Marchionne<br />

mit dem Kapitalmarkt<br />

umgehen kann, zeigt der<br />

jüngste Börsengang des fusionierten<br />

Autoriesen Fiat Chrysler<br />

(FCA) in New York. FCA ist<br />

damit präsent auf dem wachstumsstarken<br />

amerikanischen<br />

Automarkt und erschließt sich<br />

neue, finanzkräftige Investoren.<br />

Mit Produktionsstätten in<br />

Europa und den USA, mit<br />

Sitz in den Niederlanden (das<br />

sichert Großaktionär John<br />

Elkann Mehrfachstimmrechte)<br />

und mit steuersparender<br />

Finanzverwaltung in London<br />

ist FCA für das weltweite<br />

Autogeschäft gut gerüstet.<br />

Nachdem im dritten Quartal<br />

vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen<br />

und Amortisationen<br />

(Ebitda) 2,1 Milliarden<br />

Euro geblieben sind, sollte<br />

das Ebitda von FCA im Gesamtjahr<br />

rund acht Milliarden<br />

erreichen. Daran gemessen<br />

wären die Nettoschulden<br />

(11,4 Milliarden Euro) verträglich.<br />

Allerdings, dass die<br />

Eigenkapitalquote im FCA-<br />

Gesamtkonzern (inklusive<br />

aller Finanzpositionen) nur<br />

bei elf Prozent liegt, zeigt, wie<br />

sehr Fiat jeden frischen Euro<br />

gebrauchen kann. Standard &<br />

Poor’s bewertet das Unternehmen<br />

mit BB- als spekulatives<br />

Investment. Immerhin, für<br />

Anleger sind deshalb ansehnliche<br />

Renditen möglich. Besonders<br />

interessant ist eine bis 2017<br />

laufende, in Schweizer Franken<br />

notierende Fiat-Anleihe (gesamter<br />

Nennwert: 450 Millionen<br />

Franken), die derzeit mehr<br />

als drei Prozent Jahresrendite<br />

abwirft. Handelbar ist das<br />

Papier an deutschen Börsen<br />

ab einer Stückelung von 5000<br />

Franken (4144 Euro).<br />

Schweizer Franken sind derzeit<br />

eine interessante Anlage.<br />

Offiziell ist die Schweizerische<br />

Nationalbank (SNB) angetreten,<br />

den Franken nicht zu stark<br />

werden zu lassen und den Euro<br />

über 1,20 Franken zu halten.<br />

Derzeit notiert der Euro bei<br />

1,2065 Franken (ein Franken ist<br />

gleich 0,8288 Euro). Ob die SNB<br />

diese Grenze auch bei weiteren,<br />

expansiven Maßnahmen der<br />

Europäischen Zentralbank verteidigen<br />

kann, ist fraglich. Für<br />

Euro-Anleger, die in Franken<br />

investieren, heißt das: Ihr Geld<br />

dürfte zumindest seinen Wert<br />

behalten. Und sollte die 1,20er-<br />

Grenze doch fallen, kämen<br />

Währungsgewinne obendrauf.<br />

Kurs (%) 102,60<br />

Kupon (%) 4,00<br />

Rendite (%) 3,10<br />

Laufzeit bis 22. November 2017<br />

Währung Schweizer Franken (CHF)<br />

ISIN<br />

CH0225173308<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 109<br />

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Geld&Börse | Geldwoche<br />

FONDS UBS Key Selection Dynamic Alpha<br />

»Noch 18 Monate<br />

Potenzial nach oben«<br />

Leuchten wieder heller Aktien<br />

Tokioter Konzerne mit Chancen<br />

Was von September bis Mitte<br />

Oktober an den Börsen passierte,<br />

das nennt Fondsmanager<br />

Andreas Köster einen<br />

„Showcase“: Der Dax fiel von<br />

9800 auf 8500 Punkte, zog jetzt<br />

wieder nach oben an. Gleiches<br />

Spiel an den US-Börsen. „Das<br />

war in geringem Ausmaß ein<br />

Beispiel dafür, was passiert,<br />

wenn die Märkte richtig einbrechen“,<br />

sagt Köster, der den<br />

UBS Key Selection Dynamic<br />

Alpha Fonds managt. Den großen<br />

Crash sieht er noch nicht<br />

kommen und reagiert gelassen<br />

auf Verluste, weil er mit<br />

seinem Fonds aktiv gegensteuern<br />

kann. Wie große Hedgefonds<br />

nutzt er die sogenannte<br />

Global-Macro-Strategie – handelt<br />

entlang makroökonomischer<br />

Trends, aktuell setzt er<br />

etwa mit zehn Prozent des<br />

Portfolios auf die Stärke der<br />

US-Konjunktur mit Dollar-<br />

Kaufpositionen, vor allem gegenüber<br />

der australischen<br />

Währung. Bei Bedarf kann er<br />

aber auch auf fallende Kurse<br />

setzen und Derivate kaufen.<br />

Seit September baute er deshalb<br />

im großen Stil Verkaufsoptionen<br />

auf, die auf sinkende<br />

Börsenpreise wetteten. „Als<br />

der Markt gedreht hat, haben<br />

wir sie dann im Oktober wieder<br />

mit Gewinn verkauft.“ So<br />

konnte er Verluste bei anderen<br />

Positionen auffangen.<br />

Anleger können ab 500 Euro<br />

in den 520 Millionen Dollar<br />

starken UBS-Fonds investieren,<br />

wenn sie von globalen Trends<br />

profitieren möchten, die Köster<br />

und sein Team auszuspielen<br />

versuchen. Jetzt, in der Erholungsphase<br />

an den Börsen, hält<br />

Köster wieder einen Anteil von<br />

40 Prozent Aktien nach zuvor<br />

31 Prozent in seinem Portfolio.<br />

„Ich denke, dass die Märkte<br />

noch 12 bis 18 Monate Potenzial<br />

nach oben haben, wenn auch<br />

mit starken Schwankungen“,<br />

sagt Köster. Weil ihm die Kurs-<br />

Gewinn-Verhältnisse der Aktien<br />

weltweit langsam zu teuer werden,<br />

geht er aber nicht volles<br />

Risiko, sondern parkt Gelder in<br />

US-Staatsanleihen.<br />

Die größten Chancen sieht er<br />

aktuell in Japan. „Gut acht Prozent<br />

des Portfolios sind japanische<br />

Aktien, wir sehen hier<br />

wichtige Unterstützung durch<br />

die für den Export günstige<br />

Währung und die japanische<br />

Zentralbank.“ Auch die Europäische<br />

Zentralbank biete langfristig<br />

verlässliche Unterstützung,<br />

sagt Köster. Deshalb<br />

stecken über sechs Prozent seines<br />

Portfolios in italienischen<br />

Staatsanleihen, mit Laufzeiten<br />

bis zu 30 Jahren.<br />

UBS Dynamic Alpha<br />

ISIN: LU0218832805<br />

160<br />

150<br />

140<br />

130<br />

120<br />

110<br />

100<br />

Chance<br />

Risiko<br />

2010 11 12 13 14<br />

Niedrig<br />

Indexiert: seit 5 Jahren (= 100);<br />

Quelle: Bloomberg<br />

S&P Global Macro Index<br />

Hoch<br />

Die besten internationalen Spezialfonds<br />

Wie die erfolgreichsten Portfolio-Manager abgeschnitten haben<br />

Fondsname<br />

Die Sieger der Long-Short-Kategorie<br />

DNB ECO Absolute Return<br />

Pictet Total Return Mandarin USD<br />

Ennismore Europ. Smaller Companies<br />

MS Broadmark Tactical Plus USD<br />

GAM Star Global Selector USD<br />

ACMBernstein Select Absolute Alpha<br />

Marshall Wace Developed Europe GBP<br />

GLG Alpha Select Alternative GBP<br />

Henderson Gartmore UK Abs. Return<br />

Morgan Stanley Alkeon USD<br />

Nordea-1 Stable Equity LongShort<br />

Henderson Horizon Pan European Alpha<br />

R Parus Fund Class I Euro Hedged<br />

Merrill Lynch Health Care Long-Short<br />

Melchior European Absolute Return<br />

Die besten Fonds mit globaler Makro-Trend-Strategie<br />

A Generix Global Macro Sub-Fund USD<br />

GAM Star Global Rates USD<br />

UBS Key Selection Dynamic Alpha USD<br />

Eaton Vance Global Macro USD<br />

BNP Paribas Plan Int. Derivatives<br />

HSBC Trinkaus Multi Markets Select<br />

Nordea-1 Multi Asset<br />

Nordea-1 Alpha 15<br />

M&G Episode Macro Hedged<br />

Bellevue Global Macro<br />

H2O Adagio<br />

GAM Star Emerging Market Rates<br />

Edmond de Rothschild Quadrim 4 C<br />

Morgan Stanley Diversified Alpha Plus<br />

Die Sieger unter den Volatilitätsfonds<br />

RP Vega RL<br />

OptoFlex P<br />

BNP Paribas Volatility Arbitrage USD<br />

HSBC Trinkaus Aktienstrukturen Europa<br />

HSBC Trinkaus Discountstrukturen<br />

Bayern Invest BILKU 1 EPOS<br />

Amundi Absolute Volatility World<br />

Lupus Alpha Volatility Invest<br />

HSBC Trinkaus Rendite Substanz<br />

ATHENA UI I<br />

Amundi Absolute Volatility Arbitrage<br />

Die besten Future-Fonds<br />

Montlake Dunn World Monetary Agric.<br />

SEB Asset Selection Opportunistic<br />

Vontobel Pure Momentum USD<br />

Lyxor Epsilon Global Trend<br />

Man AHL Trend<br />

SEB Asset Selection<br />

Salus Alpha Directional Markets<br />

GAM Star Keynes Quantitative Strat.<br />

Tungsten Trycon Basic Invest<br />

1 jährlicher Durchschnitt (in Euro gerechnet); 2 je höher die Jahresvolatilität<br />

(Schwankungsintensität) in den vergangenen drei Jahren, desto riskanter der Fonds;<br />

Quelle: Morningstar; Stand: 27. Oktober 2014<br />

ISIN<br />

LU0547714286<br />

LU0496443531<br />

IE0004515239<br />

IE00BC1JD990<br />

IE00B5BQX573<br />

LU0736558973<br />

IE00B3V2HM60<br />

IE00B60K3800<br />

LU0200083342<br />

IE00B6126197<br />

LU0826409327<br />

LU0264597450<br />

IE00BCBHZ754<br />

LU0860708394<br />

LU0476438642<br />

IE00B603XC32<br />

IE00B5BJ0779<br />

LU0218832805<br />

IE00B5VSG325<br />

LU0258897114<br />

DE000A0RAD67<br />

LU0445386369<br />

LU0607983896<br />

GB00B5LHB564<br />

LU0494761835<br />

FR0010923359<br />

IE00B5TN9J68<br />

FR0010459693<br />

LU0299413608<br />

DE000A1JSUB5<br />

LU0834815366<br />

FR0011528348<br />

LU0154656895<br />

DE000A0JDCK8<br />

LU0255487448<br />

LU0319687124<br />

DE000A0HHGG2<br />

DE000A0MMTQ4<br />

DE000A0Q2SF3<br />

LU0228157250<br />

IE00B6R2TJ21<br />

LU0425994844<br />

LU0971937973<br />

IE00B61N8946<br />

LU0424370004<br />

LU0256624742<br />

AT0000A0BJY9<br />

IE00B6388K89<br />

LU0451958135<br />

Wertentwicklung<br />

in Prozent<br />

seit 3<br />

Jahren 1<br />

3,5<br />

9,2<br />

14,5<br />

–<br />

15,1<br />

–<br />

14,4<br />

8,1<br />

10,6<br />

–<br />

–<br />

10,5<br />

–<br />

–<br />

–0,8<br />

–<br />

11,2<br />

10,0<br />

3,9<br />

22,0<br />

4,6<br />

4,0<br />

3,2<br />

2,7<br />

5,5<br />

6,5<br />

1,8<br />

0,6<br />

8,9<br />

–<br />

–<br />

–<br />

9,0<br />

5,3<br />

6,2<br />

–3,4<br />

2,5<br />

2,9<br />

0,9<br />

–0,3<br />

–<br />

5,0<br />

–<br />

–<br />

2,4<br />

2,6<br />

–2,1<br />

4,2<br />

1,0<br />

seit einem<br />

Jahr<br />

22,9<br />

17,7<br />

15,5<br />

15,1<br />

13,3<br />

13,2<br />

13,1<br />

12,0<br />

10,6<br />

9,0<br />

8,5<br />

8,1<br />

7,7<br />

7,6<br />

7,3<br />

15,8<br />

13,6<br />

13,3<br />

11,0<br />

9,6<br />

7,2<br />

6,7<br />

5,9<br />

5,5<br />

5,0<br />

3,6<br />

2,1<br />

1,6<br />

0,4<br />

8,4<br />

3,4<br />

3,1<br />

2,9<br />

2,7<br />

2,6<br />

1,7<br />

1,5<br />

0,4<br />

0,0<br />

–0,8<br />

24,9<br />

21,0<br />

20,0<br />

18,7<br />

17,3<br />

11,0<br />

10,8<br />

10,7<br />

10,2<br />

Volatilität<br />

2<br />

in<br />

Prozent<br />

17,2<br />

8,9<br />

5,1<br />

–<br />

8,4<br />

–<br />

5,9<br />

6,1<br />

4,7<br />

–<br />

–<br />

6,4<br />

–<br />

–<br />

3,3<br />

12,0<br />

10,6<br />

7,8<br />

8,2<br />

19,1<br />

3,0<br />

8,2<br />

11,0<br />

8,5<br />

5,5<br />

2,8<br />

3,2<br />

0,6<br />

6,7<br />

–<br />

–<br />

–<br />

6,6<br />

4,1<br />

4,6<br />

12,4<br />

2,1<br />

2,6<br />

2,3<br />

1,1<br />

–<br />

15,2<br />

–<br />

–<br />

12,0<br />

7,7<br />

11,1<br />

12,2<br />

5,7<br />

FOTO: ACTION PRESS/ALEX MAXIM<br />

110 Redaktion Fonds: Sebastian Kirsch<br />

Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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CHARTSIGNAL<br />

Wichtige Rückschlüsse<br />

Im Kupferpreis deutet sich eine weniger weiche<br />

Landung für Chinas Wirtschaft an.<br />

RELATIVE STÄRKE<br />

Schwer im Preiskampf<br />

Rückläufige Rohstoff-Notierungen drücken BHP<br />

Billiton. Eine hohe Dividende ist dennoch möglich.<br />

Kupfer ist das am stärksten<br />

gehandelte Industriemetall<br />

und gilt deshalb als guter<br />

Konjunkturindikator. Wegen<br />

dieser Eigenschaft wird das<br />

rote Metall auch als Dr. Copper<br />

bezeichnet. Auf China<br />

entfällt etwa 45 Prozent des<br />

weltweiten Kupferverbrauchs,<br />

davon die Hälfte auf<br />

die Immobilien- und Bauwirtschaft<br />

des Landes. Deshalb<br />

ziehen Investoren aus dem<br />

Kupferpreis Rückschlüsse auf<br />

das chinesische Wachstumsmodell,<br />

einem der wenigen<br />

noch verbliebenen Anker der<br />

Weltwirtschaft. Entsprechend<br />

könnte eine Kupferbaisse auf<br />

eine weniger sanfte Landung<br />

der chinesischen Wirtschaft<br />

hindeuten und in der Folge<br />

einen Kurseinbruch an den<br />

internationalen Aktienmärkten<br />

auslösen. Zumal sich die<br />

Preise anderer stark von der<br />

chinesischen Nachfrage bestimmten<br />

Rohstoffe wie Eisenerz,<br />

Kohle oder Zement im<br />

freien Fall befinden. Auch die<br />

Preiskurve für Kupfer mahnt<br />

jetzt zur Vorsicht.<br />

Gipfelbildung<br />

Nach dem Fall unter die Unterstützung<br />

bei 7000 Dollar pro Erzpreise in diesem Jahr ge-<br />

Schon um 40 Prozent sind die<br />

Tonne (1) hatte sich der Kupferpreis<br />

zunächst stabilisiert. Doch des Rohstoffkonzerns BHP<br />

sunken. Das drückt die Aktien<br />

der Rückeroberungsversuch Billiton (Rang 150), der mehr<br />

der 7000-Dollar-Marke ist gescheitert<br />

nach dem Unter-<br />

aus dem Erzgeschäft holt. Um<br />

als die Hälfte seiner Gewinne<br />

schreiten der Aufwärtstrendlinie<br />

T1 ( 2).<br />

kämpfen, erhöht BHP seine<br />

gegen den Preisverfall anzu-<br />

Die Nähe des aktuellen Preises<br />

zur langfristigen Abwärts-<br />

bisher um 17 Prozent. Kosten-<br />

Erzförderung; in diesem Jahr<br />

trendlinie T2 signalisiert jetzt senkungen kommen voran,<br />

ein sehr hohes Abwärtspotenzial<br />

für den Kupferpreis. Es könnte<br />

mindestens runtergehen bis Wer schlägt den Index?<br />

an eine untere, aktuell bei gut<br />

5000 Dollar verlaufende Begrenzung<br />

eines potenziellen<br />

Abwärtstrendkanals (3). Wegen<br />

der ausgedehnten Seitwärtsbewegung<br />

und der langen Dauer<br />

Gewinner<br />

der bis 2010 zurückgehenden<br />

Gipfelbildung könnte ein Einbruch<br />

noch heftiger ausfallen.<br />

Der Crash von 2008 hatte gezeigt,<br />

was mit dem Kupferpreis<br />

passieren kann, wenn die Weltwirtschaft<br />

ins Trudeln kommt.<br />

Eine solide historische Unterstützung<br />

findet der Preis erst<br />

wieder bei den Tiefstpreisen<br />

von 2008 und 2009 (4, 5).<br />

T2<br />

Unterstützung 1 2<br />

T1<br />

Verlierer<br />

3<br />

potenzieller Abwärtstrendkanal<br />

historische Unterstützung<br />

4 5<br />

Crashtief nicht ausgeschlossen<br />

Dem weltweit meistgehandelten Industriemetall droht ein heftiger<br />

Preiseinbruch (in Tausend Dollar pro Tonne)<br />

11<br />

10<br />

9<br />

8<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

2005<br />

200-Tage-Linie<br />

2006<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

2007<br />

Kupfer<br />

2008<br />

2009<br />

2010<br />

2011<br />

Gipfelbildung<br />

2012<br />

2013<br />

2014<br />

dazu werden Randgeschäftsfelder<br />

(Silber, Alu, Nickel) verkauft.<br />

Dennoch, dass auch die<br />

Preise für andere wichtige Rohstoffe<br />

(Kupfer, Öl) nachgeben,<br />

wird die Gewinne im laufenden<br />

Geschäftsjahr (bis Juni 2015)<br />

schwer belasten. Für eine Dividende,<br />

die rund vier Prozent<br />

Rendite auf den Kurs bringt,<br />

sollte es reichen, nicht aber für<br />

nachhaltig höhere Kurse.<br />

Die innerhalb der vergangenen drei Monate am stärksten gestiegenen<br />

und gefallenen Aktien 1<br />

Rang Aktie Index Kurs 2 Kursentwicklung Relative Trend 3<br />

(€) (in Prozent) Stärke<br />

3 Monate 1 Jahr<br />

(in Prozent)<br />

1 Dialog Semic. NA (GB) TecDax 25,97 +26,66 +82,34 27,7 4<br />

2 BB Biotech (CH) TecDax 162,15 +26,68 +46,48 27,1<br />

3 KUKA MDax 49,00 +16,46 +47,95 18,2<br />

4 Tui MDax 11,91 +16,15 +22,38 17,1 4<br />

5 Drägerwerk TecDax 74,50 +13,43 -15,77 14,6 4<br />

6 Symrise MDax 43,90 +14,47 +39,37 13,8<br />

7 Bayer NA Dax 107,90 +11,73 +16,62 12,7<br />

8 Aurubis MDax 40,68 +11,94 -14,80 12,5<br />

9 Merck Dax 70,53 +10,48 +15,39 11,9<br />

10 Novartis (CH) Stoxx50 86,55 +11,32 +21,99 11,6<br />

11 ING Groep (NL) Stoxx50 10,73 +10,43 +15,50 10,7 5<br />

12 Gea MDax 35,62 +9,60 +15,05 10,3 4<br />

13 Fresenius Med.C. St Dax 57,16 +8,48 +16,86 10,0<br />

14 Wacker Chemie MDax 91,50 +9,05 +31,54 10,0 4<br />

15 Fresenius SE&Co Dax 39,88 +7,93 +25,13 9,8 4<br />

16 RIB Software TecDax 11,03 +4,50 +67,12 9,6 4<br />

17 Freenet TecDax 20,39 +5,62 +5,95 9,4 4<br />

18 Morphosys TecDax 71,77 +7,65 +24,82 8,9 4<br />

19 Roche Holding (CH) Stoxx50 280,50 +8,43 +11,98 8,7<br />

20 Gagfah (LU) MDax 14,42 +10,42 +37,29 8,2 5<br />

21 Anh.-Busch Inbev (BE) Stoxx50 86,10 +7,81 +15,49 8,1 5<br />

22 Commerzbank Dax 11,21 +7,74 +16,05 7,4 5<br />

23 MTU Aero Engines MDax 67,65 +6,87 -7,73 7,3 4<br />

24 Zurich Insur. Grp (CH) Stoxx50 285,30 +6,93 +13,62 7,2 5<br />

152 QSC TecDax 1,45 -47,43 -68,44 -46,5<br />

151 Stand. Chartered (GB) Stoxx50 960,60 -20,48 -36,30 -20,5 5<br />

150 BHP Billiton (GB) Stoxx50 1607,00 -21,03 -17,67 -19,1<br />

149 Rheinmetall MDax 33,23 -20,81 -26,50 -18,7<br />

148 LPKF Laser&El. TecDax 9,94 -19,55 -33,84 -17,4<br />

147 Telefonica Deutschl. TecDax 3,76 -18,23 -18,35 -16,2<br />

146 Evotec TecDax 2,87 -16,91 -33,10 -16,0 4<br />

145 Lanxess Dax 39,56 -16,53 -23,67 -15,4<br />

144 BG Group (GB) Stoxx50 1020,00 -14,18 -18,11 -13,4 5<br />

1<br />

aus Dax, MDax, TecDax und Stoxx Europe 50 im Vergleich zum Stoxx Europe 600;<br />

2<br />

bei GB in Pence, bei CH in Franken; 3 Änderung um mindestens fünf Ränge; 30.10.2014,<br />

13:00 Uhr<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 111<br />

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Perspektiven&Debatte<br />

Iss einfach!<br />

ERNÄHRUNG | Unser Essen ist ein Spiegel unserer<br />

Persönlichkeit. Wir instrumentalisieren es inzwischen<br />

als Bekenntnis, Visitenkarte und Statussymbol.<br />

Ein Plädoyer für das Essen, das auf den Tisch kommt.<br />

Die Einladung zur Hochzeit ist<br />

auf transparentem Papier gedruckt<br />

und enthält Datum,<br />

Ort, Uhrzeit und Dresscode.<br />

Neben Zu- oder Absage bittet<br />

der Gastgeber noch um die Angabe von<br />

Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Das<br />

Menü sei, angesichts der zahlreich geladenen<br />

Vegetarier, frei von Fisch und Fleisch.<br />

Zurückhaltung, Vorsicht und politische<br />

Korrektheit sind die Würzmittel einer Feier,<br />

deren Atmosphäre Einschränkung, Verzicht<br />

und Vernunft atmet. So sehr, dass sich<br />

der Normalesser fast sehnt, stattdessen zu<br />

einem selbstmörderischen Gelage eingeladen<br />

zu sein, wie es in Marco Ferreris Film<br />

„Das große Fressen“ ausgemalt wird.<br />

Essen, wie es der Mensch sich wünscht,<br />

nicht, wie es ihm angeboten wird – das hat<br />

sich zu einem Erfolgsrezept entwickelt, mit<br />

dem bereits Kindergärten konfrontiert<br />

werden: Viele Eltern sind nicht mehr mit<br />

der Gemeinschaftsverpflegung einverstanden<br />

und fordern, die Betreuer mögen den<br />

Kindern das eigens mitgebrachte Essen<br />

servieren. Das Gemeinschaftsmahl im<br />

Kreis der Familie oder mit dem berufstätigen<br />

Partner, bei dem alle Tischgenossen<br />

das Gleiche essen, ist auf dem Rückzug.<br />

Unsere Ernährungsgewohnheiten werden<br />

in der Kindheit geprägt, sagt der Soziologe<br />

Simon Reitmeier. Was wir als Kinder<br />

nach der Schule zu Mittag auf den Tisch<br />

bekamen, verbinden wir im Rückblick mit<br />

Wärme, Nähe und Zuneigung. Im Erwachsenenalter<br />

lösen diese Gerichte, so Reitmeier<br />

in seiner Studie „Warum wir mögen,<br />

was wir essen“, im besten Fall genau diese<br />

Emotionen aus: Ein Kartoffelpuffer, der<br />

riecht, wie in der Küche der Kindheit, gibt<br />

uns das Gefühl von Sicherheit – mehr als<br />

jede Abschaltautomatik im Herd.<br />

Immer häufiger jedoch sind wir bereit,<br />

diese Emotionen einzutauschen gegen ein<br />

noch besseres Gefühl: die Überzeugung,<br />

mit unserem Essen etwas Richtiges zu tun.<br />

Jahrtausendelang, so der Historiker Gunther<br />

Hirschfelder von der Universität Regensburg,<br />

spielte das keine Rolle. Von der<br />

Notwendigkeit, etwas zu sich zu nehmen<br />

in prähistorischen Zeiten, über den späteren<br />

Glauben Ägyptens, dass Mangel göttliche<br />

Bestrafung und Überfluss Belohnung<br />

sei, entwickelten sich in der Antike Vorstellungen<br />

von gesunder Ernährung: Die<br />

Idee, mit ausgewähltem Essen das Leben<br />

zu verlängern, hatten schon die griechischen<br />

Gelehrten Herodot und Hippokrates.<br />

Während die Römer den Genuss<br />

feierten, prägte das Mittelalter, so Hirschfelder,<br />

die Idee, dass gottgefälliges Leben<br />

mit Fasten und fleischlosen Tagen einhergehe.<br />

Wir verdanken es Luther, so der Soziologe,<br />

dass bis heute Genuss mit<br />

schlechtem Gewissen verbunden wird: Er<br />

brach mit den Fastengeboten, aber nur,<br />

um uns dafür die Idee des moralischen<br />

Lebens in Eigenverantwortung einzupflanzen.<br />

ERST DIE MORAL, DANN DAS ESSEN<br />

Inzwischen kehren wir einen lange Zeit<br />

geltenden Spruch um. „Du isst, was du<br />

bist“, heißt das Credo unserer Gesellschaft.<br />

Wir hadern mit der Nahrungsmittelindustrie<br />

und den Produzenten, wir versuchen<br />

ein Leben zu führen, das möglichst keine<br />

schädlichen Spuren hinterlässt, so wie vor<br />

gut 2,5 Millionen Jahren, als unsere Vorfahren<br />

von Früchten und Blättern lebten.<br />

Der Veganismus dieser Tage ist das erfolgreichste<br />

Produkt einer Nahrungsgesellschaft,<br />

die „richtig“ leben möchte. Kein<br />

Tier soll für den Menschen leiden, gar sterben.<br />

Doch für Veganer ist es nicht damit<br />

getan, das Tier nicht zu verspeisen. Auch<br />

seine weitere Nutzung ist verpönt: Die<br />

Milch gehört den Kälbern, die Eier gehören<br />

den Hühnern. Vor 20 Jahren waren vegane<br />

Restaurants kulinarische Exoten. Wer<br />

heute in touristischen Schmelzpunkten<br />

wie Nieblum auf Föhr angesichts der allgegenwärtigen<br />

historisierenden Neubauten<br />

glaubt, hier solle alles werden, wie es war,<br />

FOTO: CINETEXT/DAS GROSSE FRESSEN<br />

112 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Hemmungslos Szene aus „Das große<br />

Fressen“ von Filmregisseur Mario Ferreri<br />

stutzt spätestens an der Schiefertafel des<br />

Hofcafés, das wie selbstverständlich wirbt:<br />

„Kuchen auch vegan und glutenfrei.“<br />

In den Städten ist Veganismus längst –<br />

neben Edel-Burger-Brätern – zum auffällig<br />

expandierenden Gastrotrend geworden.<br />

Kein Sternekoch, der nicht mittlerweile einen<br />

Abend mit Spargel in Variationen und<br />

in Heu gegartem Sellerie bestreiten könnte.<br />

Besonders leistungswillige Konsumenten<br />

vereinbaren Ausdauersport mit kulinarischer<br />

Kasteiung. Zu den politisch Motivierten<br />

gesellen sich die Selbstoptimierer in<br />

der Tradition der griechischen Philosophie.<br />

Allein – es wird weniger gefragt, was<br />

gut ist für den Körper, sondern vor allem<br />

festgehalten, was schlecht für ihn ist.<br />

Und die Liste wird immer länger: Fleisch,<br />

Milch und weißes Mehl. Das Kleber-Eiweiß<br />

Gluten ist derart in Verruf geraten, dass sich<br />

zwischen dem 14. und 21. Oktober die britischen<br />

Filialen von McDonald’s zu einer<br />

Testwoche entschlossen: Burger „gluten<br />

free“. Milch, einst Muntermacher für müde<br />

Männer, gilt zunehmend als unverträgliches<br />

Nahrungsmittel, das krank macht.<br />

Die Lactose-Intoleranz ist die jüngste<br />

Goldgrube für die Nahrungsmittelindustrie.<br />

Neben den tatsächlich betroffenen<br />

Menschen, deren Körper das Milcheiweiß<br />

nur schlecht oder gar nicht aufspalten<br />

kann, bedient sie eine weitere Gruppe: diejenigen,<br />

die Verdauungsschwierigkeiten<br />

per Selbstdiagnose auf den derzeitigen Prügelknaben<br />

des Kühlregals schieben. Folgerichtig<br />

bedient die Industrie diese Zielgruppe<br />

oftmals unter dem Label „Laktosefrei“<br />

mit einem Produkt, das wie viele Hartkäse<br />

von Anfang an nie Laktose enthielt.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 113<br />

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Perspektiven&Debatte<br />

Essen, was geht In den Fünfzigern war<br />

Sattwerden oberstes Ziel<br />

Die Gerichte unserer Kindheit geben<br />

uns Sicherheit als Erwachsene<br />

»<br />

Unsere Beschwerden sind dabei für uns<br />

kein Grund, beschämt zu schweigen. Im Gegenteil,<br />

sie mutieren zum Ausdruck unserer<br />

Individualität. Die Autorin Susanne Schäfer<br />

diagnostizierte in der Wochenzeitung „Die<br />

Zeit“: „Wer alles klaglos hinunterschluckt<br />

und verdaut, sitzt dazwischen wie ein Klotz:<br />

unsensibel, unreflektiert – kurz: von gestern.“<br />

Selbst die Normen der Diätprediger werden<br />

angepasst. Im Lanserhof am Tegernsee, wo<br />

sich zahlungskräftige Gäste nach der F.-X.-<br />

Mayr-Fastenkur schlank oder gesund oder<br />

beides hungern wollen, wurde das traditionelle<br />

Milchbrötchen ersetzt. Sah Diät-Erfinder<br />

Mayr vor, dass die Patienten 30-mal jeden<br />

Bissen eines Milchbrötchens kauten, tun sie<br />

das nun immer noch 30-mal: auf einem glutenfreien<br />

Dinkelbrötchen. Sicher ist sicher.<br />

Für jeden Trend die passende Diät – und<br />

wenn man dafür zurück in die Höhle muss.<br />

Die Paleo-Diät setzt auf Fleisch, Gemüse<br />

und Nüsse. Was schon für die Steinzeitmenschen,<br />

unsere Mammutfleisch verzehrenden<br />

Vorfahren vor rund 100000 Jahren<br />

gut war, so die Idee, kann für uns nicht<br />

schlecht sein.<br />

Doch selbst wer glaubt, er äße alles gern,<br />

kann sich mitunter der „Thematisierungskonjunktur“<br />

nicht entziehen, der, laut Gunther<br />

Hirschfelder, unser Essen heute unterliegt.<br />

Da wären etwa die Selbstkocher: Menschen,<br />

die sich die Mühe machen, Zwiebeln<br />

zu schneiden, Brühen aufzusetzen und Nudelteig<br />

durch die Maschine zu drehen, um<br />

ihn mit Ziegenfrischkäse zu Ravioli zu formen.<br />

Der Griff zu den Küchenhelferlein wie<br />

fertigen Fonds oder – der Küchengott möge<br />

es verhüten – Fertigmischungen für Carbonara<br />

oder Gulasch ist ihnen so zuwider wie<br />

Vegetariern der Biss ins Mettbrötchen. Die<br />

gefühlte moralische Überlegenheit speist<br />

sich aus der Überzeugung, durch das Kochen<br />

nicht den Kontakt zur Natur verloren<br />

zu haben.<br />

UNSER ESSEN ALS ERZÄHLUNG<br />

„All das gehört zu den narrativen Seiten des<br />

Essens, wir erzählen mit unserer Wahl der<br />

Speisen etwas über uns“, sagt Hirschfelder.<br />

Alltägliches wie Essen mit Bedeutung aufzuladen<br />

helfe uns, die Komplexität und Virtualität<br />

der Welt zu meistern.<br />

Oft schwingen jedoch ganz andere Dinge<br />

mit in unseren kulinarischen Geschichten.<br />

In dem Maß, wie die Kritik an der Herrschaft<br />

der Männer wächst, zelebrieren diese ihre<br />

Männlichkeit in der Küche. Das beginnt,<br />

sattsam bekannt, mit der Liebe zum schärfsten<br />

Messer, dem teuersten Dampfgarer oder<br />

gleich dem privaten Fleischreifeschrank,<br />

um aus dem normalen Steak ein Dry Aged<br />

werden zu lassen.<br />

Dazu kommt die Inszenierung des Archaischen,<br />

Verbotenen: So viel nacktes<br />

Fleisch zeigt kein klassisches Männermagazin,<br />

wie die sehr erfolgreiche Männerzeitschrift<br />

„Beef“. Sie präsentiert Hoden, erläutert<br />

detailliert das Zerlegen von Tieren und<br />

kokettiert mit dem Verbotenen: „Wie<br />

schmeckt eigentlich...?“ Das kann dann Wal,<br />

Giraffe oder Murmeltier sein.<br />

Heute ist der Mensch am Herd ein Kerl,<br />

hier darf er es sein. Oder am Grill, der jüngsten<br />

Technik-Sau, die durchs kulinarische<br />

Dorf getrieben wird. Statt sich über die PS-<br />

Zahlen ihrer Autos auszutauschen, stellen<br />

sich bei Grill-Seminaren die Teilnehmer<br />

auch mit dem Produktnamen ihres Gasgrills<br />

vor. 24 Stunden schmoren auf geschlossenen<br />

Kugelgrills und Smokern für mehrere<br />

Tausend Euro. Fleischstücke, überwacht mit<br />

Sonden-Thermometer und Weckruf per<br />

Smartphone, falls die Temperatur zu weit<br />

nach unten geht. Eine Wurst auf Kohle grillen<br />

– alles unter der Würde von Grillmeistern,<br />

die lieber Lachs auf Brettern räuchern<br />

und Eis mit Baiser kurz im Grill gratinieren.<br />

Wer nicht bei einem der Trends mitmacht,<br />

ist schnell raus aus der Gruppe. „Ernährungsstile<br />

eignen sich, um andere Menschen<br />

abzuwerten. Wer nicht kauft, wie man<br />

selbst, ist moralisch unterlegen“, sagt Soziologe<br />

Simon Reitmeier. Dabei übersieht man<br />

gern so manche Paradoxie: „Das Huhn muss<br />

glücklich sein, wie es aber der Küchenhilfe<br />

oder dem Stallmitarbeiter geht, interessiert<br />

nicht“, so Reitmeier.<br />

Wer isst, wie er sich sieht, wird damit selten<br />

hinter dem Berg halten. Das Sendungsbewusstsein<br />

eint Veganer wie Kulinariker.<br />

Jeder fühlt sich im Ernstfall den Vertretern<br />

anderer Ernährungsweisen überlegen. Aus<br />

der Mahlzeit wird eine Botschaft, transportiert<br />

via Instagram oder dem eigenen Foodblog.<br />

Die Nahrung wird zur Nachricht. Wir<br />

beladen den Teller mit gekochter Bedeutung.<br />

Und vergessen, dass neben dem Atmen<br />

das Essen vor allem eine Notwendigkeit<br />

ist, die sich zunächst einmal allen ideologischen<br />

Kategorien entzieht.<br />

Niemand würde die Luft, die er atmet, mit<br />

rigorosen Einschränkungen oder ehrgeizigen<br />

Deutungen belasten. Nur das Essen<br />

wird zum Bekenntnis stilisiert, bis sein eigentlicher<br />

Sinn fast vergessen scheint und<br />

aus der Lust die Last am Essen wird. Dabei<br />

könnte es so einfach sein: Gegessen wird,<br />

was auf den Tisch kommt.<br />

n<br />

thorsten.firlus@wiwo.de<br />

FOTO: CORBIS/MICHAEL OCHS ARCHIVES<br />

114 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Perspektiven&Debatte | Kost-Bar<br />

ALLES ODER NICHTS<br />

ANDREAS BAHR<br />

Gründer und Vorstand der<br />

Kommunikationsagentur<br />

Fluent AG<br />

Cabrio oder SUV?<br />

Cabrios sind nicht meine Welt,<br />

aber hoffentlich nächstes Jahr<br />

ein Mustang Coupé Bj. 1967.<br />

Apartment oder Villa?<br />

Hauptsache, viel Licht und in<br />

der Stadt.<br />

Fitnessstudio oder Waldlauf?<br />

Laufen ist so ziemlich der einzige<br />

Sport, den ich nicht mag.<br />

Buch oder E-Reader?<br />

Definitiv Buch – ich liebe das<br />

haptische Gefühl beim Lesen.<br />

Paris oder London?<br />

Sehr gut gehen auch Stockholm,<br />

Kopenhagen oder<br />

Perth.<br />

Dusche oder Wanne?<br />

Jeden Morgen Dusche und,<br />

wann immer es geht, Meer.<br />

Nass oder trocken rasieren?<br />

Es geht nur nass, muss aber<br />

nicht jeden Morgen sein.<br />

Jazz oder Klassik?<br />

Eigentlich Crossover, aber<br />

bitte ohne Jazz.<br />

Berge oder Meer?<br />

Meer geht immer und überall,<br />

wenn man an der Küste geboren<br />

ist.<br />

Fenster- oder Gangplatz?<br />

Gangplatz, bei meiner Größe<br />

am liebsten am Notausgang.<br />

Tee oder Kaffee?<br />

Kaffee, Espresso und viel<br />

Wasser.<br />

KUNST IN MÜNSTER<br />

Britischer Eigensinn<br />

Das Museum für Kunst und Kultur in Münster erinnert mit der Ausstellung „Das<br />

nackte Leben“ an die Tradition der figurativen Malerei in Großbritannien. Rund 100<br />

Werke dokumentieren <strong>vom</strong> 8. 11. an den eigensinnigen Weg der britischen Kunst der<br />

Fünfziger- bis Siebzigerjahre. Neben Werken von Malern wie Francis Bacon, Lucian<br />

Freud und David Hockney werden auch unbekanntere Meister wie Euan Uglow<br />

gezeigt, dessen Aktstudien durch ihre grafische Präzision bestechen (Bild). lwl.org<br />

ARCHITEKTUR AM MAIN<br />

Himmelhoch<br />

Unter dem Titel „Himmelstürmend“<br />

widmet sich das<br />

Deutsche Architekturmuseum<br />

<strong>vom</strong> 8. November an der Hochhausgeschichte<br />

der Stadt Frankfurt.<br />

Die Ausstellung richtet<br />

den Blick auf den Wiederaufbau<br />

nach 1945 und die Karriere zum<br />

globalen Finanzzentrum. Herausragende<br />

Bauwerke wie der<br />

Messeturm oder der Commerzbank<br />

Tower werden ebenso vorgestellt<br />

wie neue Planungen im<br />

Maintor Quartier. In der begleitenden<br />

Vortragsreihe sprechen<br />

Architekten und Planer wie<br />

Helmut Jahn, Christoph Mäckler<br />

und Albert Speer. dam.de<br />

THE NEW YORKER<br />

„Does this desk make my job look big?“<br />

FOTO: DET KEMPE; EUAN UGLOW: THE DIAGONAL, 1971–77, PRIVATBESITZ © THE ESTATE OF EUAN UGLOW/FOTO: COURTESY OF BROWSE & DARBY LTD;<br />

CARTOON: ROBERT LEIGHTON/CONDÉ NAST PUBLICATIONS/WWW.CARTOONBANK.COM<br />

116 Redaktion: christopher.schwarz@wiwo.de<br />

Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Schweiz CHF8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland €6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien €6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal €6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien €6,00 | Tschechische Rep. CZK 200,- | Ungarn FT 2140,-<br />

Leserforum<br />

Frau Dr. Seltsam<br />

Oder: Wie ich lernte, die schwarze Null zu lieben<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

Die Politik der schwarzen Null dient<br />

als Alibi für den wirtschaftlichen<br />

Stillstand. Heft 44/2014<br />

Kein Verständnis<br />

Mit Interesse habe ich den Beitrag<br />

gelesen. Ich stimme dem<br />

Autor in vielen Punkten zu. Für<br />

den Halbsatz: „Rüstungskäufe,<br />

deren rechtfertigendes Bedrohungsszenario<br />

längst überholt<br />

ist...“ habe ich jedoch keinerlei<br />

Verständnis. Seit der Wiedervereinigung<br />

hat unser Land keine<br />

so nahen und komplexen<br />

Krisenherde erlebt wie derzeit.<br />

Ukraine, Syrien, Irak, Libyen<br />

sind zwei bis drei Flugstunden<br />

entfernt. Außerdem können wir<br />

unsere Bündnisverpflichtungen<br />

im Rahmen der Nato nicht voll<br />

erfüllen.<br />

Dr. Jost Hammerschmidt<br />

via E-Mail<br />

Geld&Börse<br />

Wie Dividenden von ausländischen<br />

Unternehmen besteuert werden.<br />

Heft 44/2014<br />

Großes Erstaunen<br />

Der Artikel ist in Bezug auf<br />

Spanien nur bedingt richtig:<br />

Nachdem ich mich im vorigen<br />

Frühjahr erzürnt, aber ergebnislos<br />

durch die Formblätter<br />

und Ausfüllhilfen zur Rückerstattung<br />

zu viel bezahlter Quellensteuern<br />

auf Telefónica-Dividenden<br />

gewühlt hatte, war ich<br />

eigentlich entschlossen, mich<br />

von diesen Aktien zu trennen.<br />

Umso größer war mein Erstaunen,<br />

als mir die Deutsche Bank<br />

44<br />

27.10.2014|Deutschland €5,00<br />

4 4<br />

4 1 98065 805008<br />

am 8. August 2013 eine „Erstattung<br />

spanischer Quellensteuer“<br />

für 2007 und 2008 schickte.<br />

Demnach scheint es jetzt doch<br />

ein automatisiertes Verfahren<br />

zu geben. Der Deutschen Bank<br />

liegt von mir die übliche „Vollmacht<br />

zur Durchführung von<br />

Steuererstattungen und Vorabbefreiungen<br />

gemäß Doppelbesteuerungsabkommen“<br />

vor.<br />

Barbara Bernt, via E-Mail<br />

Düsseldorf<br />

Unproblematisch<br />

Ihr Artikel informiert sehr gut<br />

über die Problematik der Dividenden<br />

ausländischer Unternehmen.<br />

Nur fehlt leider bei<br />

den USA der wichtige Hinweis,<br />

dass nur 15 Prozent Quellensteuer<br />

in den USA abgezogen<br />

werden, wenn Sie vorab über<br />

die Bank einen Antrag abgeben.<br />

Somit sind diese Dividenden<br />

genauso unproblematisch wie<br />

die in den Niederlanden oder<br />

Großbritannien.<br />

Ralf Ortheil<br />

via E-Mail<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

Die EU will den Schadstoffausstoß<br />

beim Pkw um 40 Prozent senken.<br />

Heft 43/2014<br />

Enorme Kosten<br />

Es ist ja sehr lobenswert, wenn<br />

Europa sich ökologisch korrekt<br />

verhalten möchte. Aber selbst<br />

wenn unsere Pkws gar kein CO 2<br />

mehr emittieren würden, hätte<br />

dies nahezu keinen Effekt. Einfache<br />

Rechnung: Großzügig<br />

geschätzte vier Prozent der<br />

weltweiten CO 2 -Produktion<br />

werden durch Menschen verursacht,<br />

davon relativ 2,23 Prozent<br />

in Deutschland und davon<br />

wiederum relativ 11,9 Prozent<br />

von Pkws. Das bedeutet, deutsche<br />

Pkws haben einen Anteil<br />

von 0,01 Prozent des weltweiten<br />

CO 2 -Ausstoßes. Wohlgemerkt<br />

alle Pkws in Deutschland zusammen.<br />

Rechtfertigt das wirklich<br />

all die Diskussionen,<br />

Grenzwerte und enormen Kosten,<br />

die letzten Endes wir als<br />

Verbraucher tragen müssen?<br />

Oliver Harloff, via E-Mail<br />

Lübeck<br />

Politik& Weltwirtschaft<br />

Berlin intern: Henning Krumrey über<br />

Politik und Charakter.<br />

Heft 42/2014<br />

Nützliche Idioten<br />

Will man derartige Zitate wirklich<br />

lesen? Sollen wir nun auch<br />

noch wortwörtlich erfahren,<br />

was Willy Brandt nach seinem<br />

Rücktritt 1974 über Wehner,<br />

Nollau und Genscher gesagt<br />

hat? Oder Helmut Schmidt<br />

nach seinem Sturz 1982 über<br />

Lambsdorff, Genscher und andere<br />

FDP-Politiker, die kurz zuvor<br />

noch mit ihm am Kabinettstisch<br />

gesessen hatten, oder über<br />

seine parteiinternen Gegner,<br />

insbesondere die Jusos? Das<br />

Spektakuläre bei Kohl ist doch<br />

Die Top Fünf der Woche<br />

Die beliebtesten Artikel auf WirtschaftsWoche Online<br />

1So kleiden sich Männer richtig<br />

http://www.wiwo.de/10879452.html<br />

2Discounter mischen den Weinhandel auf<br />

http://www.wiwo.de/10883972.html<br />

3Was die Mimik verrät<br />

http://www.wiwo.de/10887002.html<br />

4Wie wir zuckersüchtig werden<br />

http://www.wiwo.de/10864566.html<br />

5Den Börsen droht der Ausverkauf<br />

http://www.wiwo.de/10899212.html<br />

wohl allenfalls, dass er mit<br />

einem besonders ausgeprägten,<br />

äußerst schlichten Freund-<br />

Feind-Denken gesegnet war,<br />

was ihm machtpolitisch vermutlich<br />

oft geholfen hat, fast<br />

alle einstigen Gefolgsleute aber<br />

heute wie nützliche Idioten<br />

erscheinen lässt.<br />

Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann<br />

via E-Mail, Berlin<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

Der Zustrom von Flüchtlingen<br />

überfordert viele deutsche Städte.<br />

Heft 40/2014<br />

Alle überprüfen<br />

Der Großteil der nach Europa<br />

strömenden Flüchtlinge kommt<br />

nicht zu uns, weil er verfolgt<br />

wird, sondern er schiebt als<br />

Grund die Verfolgung vor. Ich<br />

habe zwei Jahre in der sudanesischen<br />

Provinz Darfur gelebt<br />

und gearbeitet, wo ab 2003 ein<br />

grausamer Genozid geschah.<br />

Viele Einheimische von dort<br />

wären auch gern nach Europa<br />

geflüchtet, sie schafften es aber<br />

nicht. Heute machen auf dem<br />

Mittelmeer skrupellose Menschenhändler<br />

ihr Geschäft mit<br />

Tausenden von afrikanischen<br />

Wirtschaftsflüchtlingen. Dennoch:<br />

Auch die Gesuche der<br />

Flüchtlinge aus Syrien und dem<br />

Irak müssen auf den Prüfstand.<br />

Nur die Flüchtlinge von dort,<br />

die in Lebensgefahr und der<br />

Folter ausgesetzt sind, sollten in<br />

Europa aufgenommen werden.<br />

Selbstverständlich sollte es<br />

auch sein, dass die Flüchtlinge<br />

auch wieder zurück in ihre<br />

Heimat gehen, um dort mit<br />

Fleiß und unserer Hilfe ihr Land<br />

wieder aufzubauen.<br />

Erwin Chudaska, via E-Mail<br />

Rödermark (Hessen)<br />

Leserbriefe geben die Meinung des<br />

Schreibers wieder, die nicht mit der<br />

Redaktionsmeinung übereinstimmen<br />

muss. Die Redaktion behält sich vor,<br />

Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen.<br />

WirtschaftsWoche<br />

Postfach 10 54 65<br />

40045 Düsseldorf<br />

E-Mail: leserforum@wiwo.de<br />

Bei Zuschriften per E-Mail bitten wir<br />

um Angabe Ihrer Postadresse.<br />

TITEL: FOTOKOLLAGE DMITRI BROIDO; FOTOS: MARCO URBAN, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

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Firmenindex<br />

Hervorgegangen aus<br />

DER DEUTSCHE VOLKSWIRT<br />

Gegründet 1926<br />

Pflichtblatt der Wertpapierbörsen in<br />

Düsseldorf, Frankfurt und Stuttgart<br />

40045 Düsseldorf, Postfach 105465,<br />

(für Briefe)<br />

40213 Düsseldorf, Kasernenstraße 67,<br />

(für Pakete, Päckchen und Frachtsendungen)<br />

Fon (0211) 887–0, E-Mail wiwo@wiwo.de<br />

REDAKTION<br />

Chefredakteurin Miriam Meckel<br />

Stellvertretende Chefredakteure Henning Krumrey,<br />

Franz W. Rother<br />

Geschäftsführende Redakteurin/Chefin <strong>vom</strong> Dienst<br />

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Creative Director/Leiter Produktentwicklung Holger Windfuhr<br />

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Chefreporter international Florian Willershausen<br />

Menschen der Wirtschaft Hermann J. Olbermann;<br />

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Politik & Weltwirtschaft Konrad Handschuch; Bert Losse,<br />

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Unternehmen & Märkte Reinhold Böhmer, Stephanie Heise;<br />

Jürgen Berke, Mario Brück, Rebecca Eisert, Henryk Hielscher,<br />

Rüdiger Kiani-Kreß, Michael Kroker, Peter Steinkirchner,<br />

Reporter: Anke Henrich, Hans-Jürgen Klesse, Jürgen Salz,<br />

Harald Schumacher, Dr. Andreas Wildhagen,<br />

Management: Julia Leendertse*<br />

Technik & Wissen Lothar Kuhn; Thomas Kuhn, Dieter Dürand<br />

(Dossiers), Wolfgang Kempkens (Autor)*, Susanne Kutter,<br />

Andreas Menn, Jürgen Rees<br />

Management & Erfolg Manfred Engeser; Lin Freitag, Kristin Schmidt,<br />

Claudia Tödtmann<br />

Geld & Börse Hauke Reimer; Christof Schürmann, Frank Doll,<br />

Martin Gerth, Stefan Hajek, Niklas Hoyer, Sebastian Kirsch,<br />

Dr. Anton Riedl<br />

Perspektiven & Debatte Thorsten Firlus-Emmrich;<br />

Dr. Christopher Schwarz (Reporter)<br />

Green Economy/Autoren Lothar Kuhn; Dieter Dürand (Konzeption und<br />

Koordination), Constantin Alexander*, Armin Dahl*, Susanne Kutter,<br />

Jürgen Rees, Benjamin Reuter*, Daniel Schönwitz*<br />

Layout Svenja Kruse (stv. AD); Beate Clever, Karin Heine,<br />

Claudia Immig, Horst Mügge, Juliane Reyes Nova*<br />

Bildredaktion Silke Eisen; Lena Flamme, Patrick Schuch<br />

Syndication wiwo-foto.de<br />

Bildbearbeitung Uwe Schmidt<br />

Informationsgrafik Anna Tabea Hönscheid, Konstantin Megas,<br />

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Schlussredaktion Martina Bünsow; Dieter Petzold<br />

Produktion Markus Berg, Ute Jansen, Petra Jeanette Schmitz<br />

BÜROS<br />

Berlin Henning Krumrey; Dr. Christian Ramthun, Max Haerder,<br />

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Brüssel Silke Wettach*, 13b, Av. de Tervuren, B-1040 Bruxelles,<br />

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E-Mail silke.wettach@wiwo.de<br />

Frankfurt<br />

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Unternehmen & Märkte Mark Fehr, Cornelius Welp,<br />

Politik & Weltwirtschaft Angela Hennersdorf<br />

Geld & Börse Hauke Reimer; Annina Reimann, Heike Schwerdtfeger<br />

Eschersheimer Landstraße 50, 60322 Frankfurt<br />

Fon (069) 2424–4903, Fax (069) 2424594903<br />

London Yvonne Esterházy*, 1 Mansel Road,<br />

London SW19 4AA, Fon (0044) 2089446985,<br />

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München Matthias Kamp, Nymphenburger Straße 14,<br />

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Shanghai Philipp Mattheis*, 100 Changshu Lu, No 2/App. 105,<br />

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Konrad Handschuch (Politik&Weltwirtschaft, Der Volkswirt),<br />

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(Geld&Börse), Manfred Engeser (Management&Erfolg),<br />

Thorsten Firlus (Perspektiven&Debatte), Hermann J. Olbermann<br />

(Menschen der Wirtschaft), Lothar Kuhn (Technik&Wissen)<br />

ONLINE<br />

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Stellvertretende Leitung Dr. Silke Fredrich<br />

Chef <strong>vom</strong> Dienst Daniel Rettig<br />

Redaktion Stephan Happel, Ferdinand Knauß, Saskia Littmann, Meike<br />

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Toller<br />

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VERLAG<br />

Handelsblatt GmbH<br />

(Verleger im Sinne des Presserechts)<br />

Geschäftsführung Gabor Steingart (Vorsitzender), Frank Dopheide,<br />

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(gegen Nachweis) 232,90 Euro, zuzüglich MwSt. in den EU-Ländern.<br />

Luftpostzuschläge auf Anfrage.<br />

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Die Mitglieder der folgenden Verbände/Vereine erhalten die<br />

WirtschaftsWoche im Rahmen ihres Mitgliedsbeitrages geliefert:<br />

Bundesverband Deutscher Studentischer Unternehmensberatungen<br />

e.V.; Bundesverband deutscher Volks- und Betriebswirte e.V. (bdvb);<br />

studentische Mitglieder des Bundesverbandes der Börsenvereine an<br />

Deutschen Hochschulen (BVH); EWH – Europäischer Wirtschaftsverband<br />

für Handelsvermittlung und Vertrieb e.V.; Young Professionals<br />

des BME – Bundesverband Materialwirtschaft; Einkauf und Logistik<br />

e.V., b.b.h. – Bundesverband selbstständiger Buchhalter und Bilanzbuchhalter;<br />

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Die Mitglieder der folgenden Verbände/Vereine erhalten die<br />

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Elektronik, Informationstechnik e.V.<br />

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Die Angaben bezeichnen den<br />

Anfang des jeweiligen Artikels<br />

A<br />

Adidas..........................................................70<br />

Allianz Consulting......................................... 88<br />

Alte Leipziger............................................... 92<br />

Amazon..................................................10, 12<br />

Apple....................................................... 9, 10<br />

Assekurata...................................................92<br />

AT&T.............................................................. 9<br />

B<br />

Barkawi........................................................91<br />

Bayer........................................................... 48<br />

BB Biotech.................................................107<br />

Beats............................................................. 9<br />

Bebo............................................................74<br />

Beiersdorf.............................................. 10, 14<br />

BHP Billiton................................................111<br />

Biogen Idec................................................ 107<br />

BMW............................................................70<br />

Boehringer Ingelheim....................................48<br />

Bonnier........................................................ 16<br />

Boston Consulting Group...............................82<br />

Brandmeyer................................................. 70<br />

C<br />

Cash Life...................................................... 92<br />

CC Pharma................................................... 48<br />

Chevron....................................................... 74<br />

Cold Brew Labs.............................................74<br />

Commerzbank............................................ 107<br />

CVS................................................................9<br />

D<br />

Deloitte.................................................. 56, 84<br />

Detecon International................................... 89<br />

Deutsche Bahn.............................................82<br />

Deutsche Bank..................................... 62, 107<br />

Deutsche Börse............................................ 62<br />

Deutsche Lufthansa......................................82<br />

Deutsche Telekom.................................... 8, 74<br />

Dominion of Canada....................................108<br />

E<br />

E.On.............................................................84<br />

Ebay.......................................................10, 82<br />

E-Plus............................................................ 8<br />

Etsy............................................................. 74<br />

Europa Apotheek..........................................48<br />

Europcar...................................................... 10<br />

Expedia........................................................10<br />

EY................................................................82<br />

F<br />

4Flow...........................................................91<br />

Facebook............................................... 68, 74<br />

Faurecia.......................................................86<br />

Ferrari........................................................109<br />

Fiat Chrysler...............................................109<br />

Forrester Research....................................... 74<br />

Friends for Provident.................................... 92<br />

G<br />

GfK.............................................................. 70<br />

Goldman Sachs.............................................62<br />

Google......................................................... 74<br />

Groß & Cie....................................................18<br />

Groupon.......................................................74<br />

Gruner + Jahr............................................... 74<br />

H<br />

H&M............................................................ 70<br />

Hasbro....................................................... 108<br />

Henkel................................................... 14, 82<br />

Horváth & Partner.........................................86<br />

HSH Nordbank..............................................64<br />

HypoVereinsbank..........................................62<br />

I<br />

Infineon........................................................58<br />

InteraXon..................................................... 81<br />

IT-Economics................................................84<br />

J<br />

JP Morgan....................................................62<br />

K<br />

Kabel Deutschland..........................................8<br />

Kempinski.............................................. 16, 18<br />

klein-windkraftanlagen.com..........................79<br />

KPMG.....................................................64, 82<br />

L<br />

Liquid Broadband........................................... 8<br />

Lululemon Athletica......................................74<br />

M<br />

Mastercard.................................................102<br />

Stella McCartney.......................................... 70<br />

McKinsey............................................... 62, 82<br />

Merck.......................................................... 48<br />

MetOffice.....................................................16<br />

Meyer Werft................................................. 86<br />

Mieschke Hofmann&Partner......................... 84<br />

Moody’s....................................................... 64<br />

MyBook........................................................16<br />

MySpace......................................................74<br />

N<br />

Neo..............................................................70<br />

Net-a-porter.................................................74<br />

Netflix..........................................................68<br />

New York Times Mediengruppe......................74<br />

Nike....................................................... 70, 74<br />

Novo Nordisk................................................48<br />

NR Holding...................................................16<br />

O<br />

Obi...............................................................10<br />

Osram..........................................................58<br />

Otto Group................................................... 82<br />

P<br />

Path.............................................................74<br />

Payback....................................................... 10<br />

Paypal..........................................................10<br />

Pfizer........................................................... 48<br />

Philips..........................................................58<br />

Pinspire........................................................74<br />

Pinterest...................................................... 74<br />

Policen Direkt...............................................92<br />

Porsche Consulting.................................82, 86<br />

Pricewaterhouse Coopers............................. 82<br />

Probiodrug................................................. 107<br />

Procter & Gamble......................................... 70<br />

Promerit.......................................................89<br />

R<br />

Reebok........................................................ 70<br />

Rewe............................................................10<br />

Roche.......................................................... 48<br />

ROI Management Consulting......................... 86<br />

Roll & Pastuch..............................................88<br />

RWE.............................................................84<br />

S<br />

Saatchi & Saatchi......................................... 70<br />

Sanofi.......................................................... 16<br />

SAP..............................................................14<br />

SEBN........................................................... 89<br />

Second Life.................................................. 74<br />

SEW Eurodrive........................................90, 91<br />

Shareaholic.................................................. 74<br />

Shearman & Sterling.....................................64<br />

Siegel+Gale..................................................14<br />

Siemens....................................................... 89<br />

Simon Kucher & Partners.............................. 82<br />

Sixt.............................................................. 10<br />

Skype...........................................................68<br />

Spire............................................................ 81<br />

Sumitomo Electric........................................ 89<br />

T<br />

TaylorMade...................................................70<br />

Telefónica......................................................8<br />

Thync...........................................................81<br />

T-Mobile.........................................................9<br />

Toluna..........................................................79<br />

Travelers....................................................108<br />

TTS Marine...................................................88<br />

Twitter......................................................... 74<br />

U<br />

Uber.........................................................9, 74<br />

UBS....................................................... 62, 82<br />

Ullstein........................................................ 16<br />

V<br />

Verizon...........................................................9<br />

Viega............................................................82<br />

Vienna Life................................................... 92<br />

Visa............................................................102<br />

Vodafone..................................................8, 62<br />

Volkswagen.................................................. 89<br />

W<br />

Wal-Mart........................................................ 9<br />

Wassermann.................................................90<br />

Wingas.........................................................84<br />

X<br />

Xapo.......................................................... 102<br />

Xing............................................................. 82<br />

Y<br />

Yahoo...........................................................74<br />

Yohji Yamamoto............................................ 70<br />

Youtube........................................................68<br />

Z<br />

Zalando........................................................10<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 119<br />

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Ausblick<br />

„Wir werden nicht sofort<br />

unser Scheckbuch herausholen<br />

und einen Scheck über<br />

zwei Milliarden Euro schreiben.<br />

Wenn man so eine Rechnung<br />

erhält, ist das dann hilfreich<br />

für eine britische<br />

EU-Mitgliedschaft? – Nein!“<br />

David Cameron<br />

britischer Premierminister, über<br />

eine Nachzahlung an die EU über<br />

2,1 Milliarden Euro<br />

„Ich bin sehr zurückhaltend<br />

damit, ein einzelnes Unternehmen<br />

gefährlich zu nennen.“<br />

Andreas Mundt<br />

Präsident des Bundeskartellamtes,<br />

über den Internet-Konzern Google<br />

„Googles Macht ist groß. Ich<br />

habe keine Angst vor Google.“<br />

Timotheus Höttges<br />

Vorstandsvorsitzender der<br />

Deutschen Telekom<br />

„Die Europäer erscheinen<br />

in der Welt als alt, reich<br />

und schwach. Das ist keine gute<br />

Kombination, um in einer<br />

wenig friedlichen Welt eine gesicherte<br />

Zukunft anzustreben.“<br />

Joschka Fischer<br />

Ex-Bundesaußenminister<br />

(Die Grünen)<br />

„Die heimische Wirtschaftspolitik<br />

verunsichert die<br />

Unternehmen zunehmend,<br />

vor allem den Mittelstand.“<br />

Martin Wansleben<br />

Hauptgeschäftsführer des<br />

Deutschen Industrie- und Handelskammertages<br />

(DIHK)<br />

„Es war wunderschön.“<br />

Alan Eustace<br />

Google-Manager, nach<br />

seinem Fallschirmsprung aus<br />

41 Kilometer Höhe<br />

„Deutschland<br />

wird an dem Grundprinzip<br />

der Bewegungsfreiheit<br />

in der EU nicht rütteln.“<br />

Angela Merkel<br />

Bundeskanzlerin (CDU)<br />

„Wer will schon Quotilde sein?“<br />

Nicola Leibinger-Kammüller<br />

Geschäftsführerin des<br />

Maschinenbauers Trumpf,<br />

über die Frauenquote<br />

„Das Bankgeheimnis<br />

in seiner alten Form hat ausgedient.<br />

Ich fand es immer<br />

problematisch, mit Hehlern<br />

zusammenarbeiten zu müssen,<br />

um Recht zu wahren.“<br />

Wolfgang Schäuble<br />

Bundesfinanzminister (CDU), über<br />

Ankäufe von CDs mit gestohlenen<br />

Daten von Steuersündern<br />

„Ich werde kandidieren, sobald<br />

meine verheerende Verurteilung<br />

wegen Steuerbetrugs<br />

<strong>vom</strong> Gerichtshof für Menschenrechte<br />

aufgehoben wird.“<br />

Silvio Berlusconi<br />

Ex-Ministerpräsident Italiens,<br />

über seine politische Zukunft<br />

„Wenn Google intellektuelle<br />

Werte aus der EU bezieht,<br />

dann kann die EU diese Werte<br />

schützen und von Google eine<br />

Abgabe dafür verlangen.“<br />

Günther Oettinger<br />

EU-Internet-Kommissar, über<br />

seinen Vorschlag, ein<br />

einheitliches europäisches Urheberrecht<br />

einzuführen<br />

»Die EU ist wie ein durstiger<br />

Vampir, der sich <strong>vom</strong> Blut der<br />

britischen Steuerzahler ernährt.«<br />

Nigel Farage<br />

Chef der EU-feindlichen United Kingdom Independence Party (Ukip), über<br />

Nachzahlungen an die EU über 2,1 Milliarden Euro<br />

„Schon in 15 Jahren<br />

könnten wir Computer haben,<br />

die in der Lage sind, es<br />

mit dem menschlichen Gehirn<br />

aufzunehmen.“<br />

Shmuel Eden<br />

Chefvisionär des weltgrößten<br />

Chipherstellers Intel<br />

„Bisher habe ich weniger<br />

als ein Prozent verwendet.“<br />

Heribert Schwan<br />

Buchautor, zu den Tonbandaufnahmen<br />

für seine Biografie über Altbundeskanzler<br />

Helmut Kohl (CDU)<br />

„Ganz ehrlich, mir gehen<br />

diese Mitteilungen von<br />

Banalitäten und auch Selfies<br />

teilweise auf den Keks.“<br />

Oliver Bierhoff<br />

Manager der deutschen<br />

Fußballnationalmannschaft, über<br />

die Benutzung von Smartphones<br />

„Alles hat einmal ein Ende.“<br />

Reto Francioni<br />

Vorstandsvorsitzender der Deutschen<br />

Börse, über seinen altersbedingten<br />

Rücktritt Mitte Mai 2015<br />

ILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER<br />

120 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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<strong>Ausgabe</strong> 2, November 2014<br />

Karriere<br />

Veni. Digi. Vici.<br />

Welche Digitaljobs gefragt sind, was Sie wissen<br />

müssen – und wie viel Sie verdienen können<br />

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Editorial<br />

Die Digitalisierung krempelt unsere Arbeitswelt<br />

radikal um. Wer sich dem Wandel verweigert,<br />

setzt seine Karriere aufs Spiel. Von Manfred Engeser<br />

Digitaler Darwinismus<br />

Espresso oder Latte macchiato?<br />

Den Kaffee in mittlerer Stärke, als<br />

große oder kleine Portion? Und<br />

den Milchschaum ganz locker<br />

oder lieber fest? Mit ein paar schnellen Bewegungen<br />

wischt Carla Kriwet durch das<br />

Menü ihrer Smartphone-App. Und so ganz<br />

kann die Philips-Deutschland-Chefin ihren<br />

Stolz nicht verbergen, als sie mir nicht<br />

mal eine Minute später in der Versuchsküche<br />

im 14. Stock des Philips Towers in<br />

Hamburg einen Cappuccino mit perfektem<br />

Schaum kredenzt. „Eigentlich habe<br />

ich für solche Spielereien gar nicht viel übrig,<br />

aber das Produkt ist toll“, hatte mir die<br />

43-Jährige zuvor in einem ausführlichen<br />

Gespräch verraten. Auch, weil sie das<br />

Frühstück zu Hause zur gerätefreien Zone<br />

erklärt habe. Abseits des Esstischs aber hat<br />

sie den digitalen Wandel verinnerlicht:<br />

„Wir brauchen Mitarbeiter, für die der<br />

Umgang mit digitalen Technologien<br />

selbstverständlich ist“ (siehe Seite 20).<br />

Digitaler Daumen gesucht:Das gilt nicht<br />

nur für Kriwet und ihre rund 7000 Mitarbeiter.<br />

Vom Konzern bis zum Start-up, <strong>vom</strong><br />

Automobilhersteller bis zum Zahnlabor,<br />

<strong>vom</strong> Datenbankspezialisten bis zum Logistiker<br />

transformiert die Digitalisierung nicht<br />

nur die Wertschöpfungsketten vieler Unternehmen,<br />

sondern auch unsere Art, zu<br />

arbeiten. Schon 2012 schuf die Digitalisierung<br />

hierzulande 1,5 Millionen neue Jobs,<br />

so der High-Tech-Verband Bitkom – Tendenz<br />

steigend.<br />

Paradiesische Zustände? Von wegen.<br />

Wer die Revolution verschläft, setzt seine<br />

Karriere aufs Spiel. Willkommen im Zeitalter<br />

des digitalen Darwinismus.<br />

GEH DEINEN WEG!<br />

Welche Chancen also habe ich in einer digitalisierten<br />

Berufswelt? Welche Jobprofile<br />

sind künftig gefragt, welche nicht? Welche<br />

Qualifikationen muss ich künftig mitbringen?<br />

Wie viel kann ich in diesen Berufen<br />

verdienen? Wie finden mich die Unternehmen<br />

überhaupt in der Welt der Algorithmen?<br />

Welche Unternehmen suchen welche<br />

Spezialisten? Wie mache ich im digitalen<br />

Dickicht überhaupt auf mich aufmerksam?<br />

Und bin ich überhaupt gemacht für eine digitale<br />

Karriere in einem klassischen Konzern?<br />

Oder bin ich in der lockeren Kultur eines<br />

Start-ups nicht besser aufgehoben?<br />

Fragen, bei deren Beantwortung wir auf<br />

den kommenden Seiten Orientierung bieten<br />

wollen. Die aber letztlich jeder für sich<br />

selbst klären sollte. „Jeder muss seinen eigenen<br />

Weg gehen, seine eigenen Stärken<br />

finden“, empfiehlt auch Philips-Chefin Kriwet.<br />

„Und Spaß dabei haben.“<br />

n<br />

Inhalt<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

SCHWERPUNKT: KARRIERE DIGITAL<br />

4 Zahlen und Fakten<br />

6 Branchenreport Die Digitalisierung<br />

revolutioniert nicht nur die Wertschöpfungsketten<br />

aller Branchen und<br />

Unternehmen, sondern auch unsere<br />

Art zu arbeiten. Welche Jobs gesucht<br />

sind, was Arbeitgeber erwarten<br />

12 Berufe der Zukunft 13 Jobs mit Perspektive<br />

im Profil: Was Sie können<br />

müssen, welche Unternehmen Sie einstellen.<br />

Und wie viel Sie verdienen<br />

können<br />

16 Gründen Wie man als Entrepreneur in<br />

Residence ohne Startkapital, mit wenig<br />

Risiko und festem Gehalt zum Unternehmer<br />

wird<br />

18 Karriereleiter So wird Ihr digitales<br />

Profil zum Kickstarter Ihrer Karriere<br />

20 Mein Weg | Interview Carla Kriwet<br />

Wie sich die Philips-Deutschland-Chefin<br />

den Mitarbeiter für die digitale Zukunft<br />

vorstellt. Warum sie Job und Familie<br />

problemlos koordinieren kann,<br />

keine Urlaubsfotos postet und mit der<br />

U-Bahn ins Büro fährt<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 3<br />

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Zahlen und Fakten<br />

Unaufhaltsamer Umbruch<br />

DIGITALE TRANSFORMATION | Innovative Geschäftsmodelle, neue Jobprofile,<br />

veränderte Qualifikationen: Wie die Digitalisierung die Wirtschaft verändert.<br />

Was Führungskräfte von der<br />

Digitalisierung erwarten...<br />

Sie wird die Wettbewerbsfähigkeit Europas steigern<br />

Sie wird bestehende Geschäftsmodelle in den nächsten Monaten grundlegend ändern<br />

Sie führt zur Abwanderung von Kunden, sollten Unternehmen nicht zeitnah reagieren<br />

96%<br />

62%<br />

63%<br />

Quelle: Accenture<br />

...welche Herausforderungen<br />

sie an die Unternehmen stellt...<br />

28%<br />

Geeignete Mitarbeiter<br />

finden<br />

22%<br />

Die Organisationsstruktur<br />

anpassen<br />

19%<br />

Unflexible<br />

Prozesse abschaffen<br />

18% Die Qualität der<br />

Daten verbessern<br />

Quelle: McKinsey<br />

...wie hoch der digitale IQ in einzelnen Branchen ist...<br />

46% 53% Industriegüter 55% 59% 66%<br />

Energie und<br />

Handel und<br />

Bergbau<br />

Konsumgüter<br />

Versorger 62% 65% Gesundheit<br />

Automobil<br />

Unternehmensdienstleistungen<br />

69% 71%<br />

87%<br />

68% Finanzdienstleistungen<br />

Freizeit<br />

Medien und<br />

Unterhaltung<br />

Technologie<br />

Quelle: PwC<br />

...in welchen Bereichen Mitarbeiter<br />

für die Transformation gebraucht<br />

werden...<br />

40%<br />

23%<br />

44%<br />

28%<br />

...wer für die digitale Strategie<br />

verantwortlich ist...<br />

CIO<br />

CEO<br />

2012<br />

2013<br />

2014<br />

2012<br />

2013<br />

2014<br />

59%<br />

63%<br />

69%<br />

46%<br />

55%<br />

61%<br />

...und wie viel Führungskräfte<br />

in der Digitalwirtschaft<br />

verdienen können<br />

Quelle: Cribb<br />

16% 18%<br />

Datenanalyse<br />

Projektmanagement<br />

Softwarearchitektur<br />

IT-Sicherheit<br />

Cloud Computing<br />

Mobile- und Online-Entwicklung<br />

Quelle: McKinsey<br />

CMO<br />

CFO<br />

CDO<br />

2012<br />

2013<br />

2014<br />

2012<br />

2013<br />

2014<br />

2012 k.A.<br />

2013<br />

2014<br />

2012<br />

2013<br />

2014<br />

24%<br />

30%<br />

24%<br />

25%<br />

27%<br />

32%<br />

37%<br />

46%<br />

59%<br />

54%<br />

61%<br />

Andere<br />

Vorstandsmitglieder<br />

0% 30% 60%<br />

General Management<br />

Digitalisierung<br />

Vertrieb<br />

Marketing<br />

Kreation<br />

IT<br />

Organisation<br />

Personal<br />

Einkauf<br />

Produktmanagement<br />

Finanzen<br />

Beratung<br />

ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT<br />

4 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Branchenreport<br />

Digitaler Daumen<br />

gesucht<br />

KARRIERE DIGITAL | Die Digitalisierung verändert nicht nur die Wertschöpfungsketten<br />

vieler Unternehmen, sondern auch unsere Art zu arbeiten.<br />

Wie Einsteiger in der digitalen Welt ganz real Karriere machen.<br />

So wird sich Marketing<br />

innerhalb der nächsten<br />

fünf Jahre ändern<br />

Datenanalyse wird zur Kernkompetenz<br />

im Marketing<br />

42 %<br />

Mehr als 75 Prozent des<br />

Marketingbudgets wird in<br />

digitale Kanäle fließen<br />

37 %<br />

Mehr als 50 Prozent des<br />

Marketingbudgets wird für<br />

Mobile ausgegeben<br />

35 %<br />

Quelle: Accenture<br />

Erst erläuft er den Pass mit drei, vier schnellen<br />

Schritten, hält den gegnerischen Verteidiger<br />

auf Distanz, schiebt den Ball schließlich mit<br />

einem platzierten Linksschuss vorbei am<br />

Torwart flach ins Eck. Und bereitet kurz darauf<br />

mit einem Zuspiel in den Strafraum das zweite Tor<br />

der Partie durch seinen Mannschaftskollegen Danny<br />

Welbeck vor: Mit einem Tor und einer Vorlage beim<br />

Auswärtsspiel gegen Aston Villa feierte Mesut Özil im<br />

Trikot seines Clubs Arsenal London am 20. September<br />

ein viel beachtetes Comeback in der englischen Premier<br />

League – nach langer Verletzung und Formtief.<br />

„Finally! 79 sec for a goal and one assist“, postete Özil<br />

kurz nach dem Spiel auf Facebook, „really happy with<br />

it. Let your #instincttakeover.“ Nur 79 Sekunden habe<br />

er für ein Tor und eine Vorlage gebraucht und sei wirklich<br />

glücklich damit – „lass deinen Instinkt das Kommando<br />

übernehmen“.<br />

Hinter den Zeilen, die sich wie ein spontan verfasster<br />

Gefühlsausbruch des Fußballprofis lesen, steckt jedoch<br />

nicht Özil selbst, sondern Birgit Schönlein. Die<br />

30-Jährige kümmert sich als Digital Marketing Manager<br />

beim Sportausrüster Adidas um die Fußballsparte<br />

und hat Özils Post eingefädelt. Der Hashtag am Schluss<br />

von Özils Kommentar ist Teil einer gezielten Marketingkampagne<br />

ihres Arbeitgebers. „Instinct takes over“<br />

lautet nämlich auch der Slogan für den neuen Fußballschuh<br />

des Konzerns, für den Schönlein Özil zum Helden<br />

aufbaute. Der Link führt die User auf Adidas-Seiten<br />

bei Facebook, den Kurznachrichtendienst Twitter<br />

und über weitere Hashtags zu mehreren Clips auf der<br />

Videoplattform YouTube.<br />

Schönlein spielt auf der gesamten Klaviatur des Digitalmarketings:<br />

Legt wöchentlich fest, welche Werbebotschaften<br />

sich an aktuelle Termine koppeln lassen,<br />

welche Ereignisse sich für Imagewerbung anbieten,<br />

welche Blogs oder Posts sich mit den Adidas-Produkten<br />

verlinken lassen und welche Werbung mit dem<br />

E-Commerce-Shop verknüpft werden sollte. Mit der<br />

Social-Media-Agentur der Firma beaufsichtigt sie außerdem<br />

Fotoshootings und Filmaufnahmen, ersteigert<br />

Werbeplätze im Internet und schaltet Fotos, Filme,<br />

Posts und Tweets in allen für Adidas relevanten Web-<br />

Kanälen – von Google+ über Instagram bis zur App des<br />

Fußballmagazins Kicker.<br />

BESTES ANTI-AGING-PROGRAMM<br />

Schönlein startete 2009 als Praktikantin im Adidas-<br />

Marketingteam, „als QR-Codes noch neu und sexy waren“.<br />

Nach einem ersten Job im klassischen Marketing<br />

wechselt Schönlein ins digitale Fach, weil sie hier „ständig<br />

Neues ausprobieren“, „so nah wie nie mit der Zielgruppe<br />

kommunizieren“ und „die Werbewirkung einer<br />

Kampagne sofort messen“ kann. Ihre Zielgruppe: 14-<br />

bis 19-jährige Jungs. „Den Spruch ,Das haben wir schon<br />

immer so gemacht‘ gibt es in diesem Job nicht“, sagt sie.<br />

„Digital ist das beste Anti-Aging der Welt.“<br />

Und ein Karriereturbo: Die Wirtschaft reißt sich um<br />

Leute wie Schönlein. Leute mit Business-Denke und<br />

digitalem Daumen. Die wissen, wie man über soziale<br />

Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram Kunden<br />

erreicht, die Wertschöpfung steigert, Abläufe vereinfachen<br />

kann. Die aus den Unmengen digitaler Spuren<br />

und Daten, die Kunden im Netz hinterlassen, deren<br />

Bedürfnisse analysieren und daraus digitale Geschäftsmodelle<br />

ableiten. Und damit Karriere machen.<br />

Der Bedarf an Digitalprofis wie Schönlein ist riesig.<br />

Laut der Studie „The Digital Talent Gap“, für die Capgemini<br />

Consulting 2013 weltweit rund 130 Top-Manager<br />

befragte, fehlt es 90 Prozent aller Unternehmen an digitalem<br />

Wissen. Zugleich räumen 87 Prozent ein, dass die<br />

digitale Transformation ihnen Wettbewerbsvorteile verschaffen<br />

würde. Klar ist:Die Digitalisierung wird die Art,<br />

wie wir wirtschaften, immer weiter auf den Kopf stellen.<br />

Vom Großkonzern über den Mittelständler bis zum<br />

Fünf-Mann-Betrieb, <strong>vom</strong> Automobilhersteller über den<br />

Maschinenbauer bis zum Sportartikelhersteller: Die<br />

Wertschöpfungsketten aller Unternehmen werden über<br />

kurz oder lang neu zusammengesetzt, viele Stufen werden<br />

verschwinden, neue hinzukommen.<br />

»<br />

FOTO: MATTHIAS SCHMIEDEL FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

6 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Birgit Schönlein, 30<br />

Ausbildung Sportökonomin<br />

Unternehmen Adidas<br />

Job Digital Marketing Managerin<br />

Motto Ein Digitaljob ist das<br />

beste Anti-Aging-Programm<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 7<br />

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Branchenreport<br />

Johann Schießer, 30<br />

Ausbildung Kulturwissenschaftler<br />

Unternehmen TUI<br />

Job Manager Digital Business Solutions<br />

Motto Technik und Kommunikation vereinen<br />

Wie die Deutschen ihre<br />

Reisen buchen*<br />

Über den<br />

Computer<br />

Im<br />

Reisebüro<br />

Am Verkaufsautomaten<br />

63 %<br />

17 %<br />

6%<br />

* Werte gerundet; Quelle:<br />

German Digitalization<br />

Consumer Report 2014<br />

»<br />

Die Folge: Ein Jobparadies für digitale Talente. Allein<br />

2012 brachte die Digitalisierung hierzulande 1,5<br />

Millionen neue Jobs hervor, so der High-Tech-Verband<br />

Bitkom – Tendenz steigend. Schon weil Produktion, IT<br />

und Internet immer mehr zusammenwachsen. Für<br />

Entwicklung und Management von Daten-Clouds, die<br />

intelligente Analyse großer Datenmengen, die fortschreitende<br />

Automatisierung der Produktion durch<br />

die Kommunikation zwischen Maschinen und Robotern<br />

braucht die Wirtschaft Könner mit Technik- und<br />

Geschäftsverstand, die diese neuen Abläufe und Strukturen<br />

entwickeln, bedienen und steuern können.<br />

Paradiesische Zustände also für Software- und Programmierspezialisten<br />

wie Data Scientists, Cloud Specialists<br />

oder App Developer – Berufsbilder, die es teilweise<br />

erst seit wenigen Jahren gibt (siehe Seite 12). Einerseits.<br />

Andererseits bleiben auch traditionelle Branchen<br />

von der Digitalisierung nicht unberührt. Weder<br />

die Großbäckerei, die exotischste Brotsorten auf Kundenwunsch<br />

per Knopfdruck mischt. Noch der Chirurg,<br />

der kleine Eingriffe an Hüfte oder Herz, Magen, Knie<br />

oder Bandscheibe an Patienten in Kiel per Computer,<br />

Internet und Roboter auch von Konstanz aus operieren<br />

kann. Oder der Archäologe, der Kamera-Roboter<br />

vorschickt, um Ruinen zu erforschen.<br />

„Die Digitalisierung wirbelt den Arbeitsmarkt<br />

durcheinander“, sagt Katharina Wolff, Gründerin und<br />

Geschäftsführerin der auf die Vermittlung digitaler<br />

Fach- und Führungskräfte spezialisierten Personalberatung<br />

Premium Consultants. „Die Arbeitswelt digitalisiert<br />

sich und die Jobs aller Bereiche mit ihr.“<br />

MIT APPS DIE ARBEIT ERLEICHTERN<br />

Einen dieser Jobs trat Diana Basso im März dieses Jahres<br />

an – beim Hamburger Start-up MyTaxi. Die Softwareentwicklerin<br />

gestaltet das Herzstück des Unternehmens:<br />

eine App, die es möglich macht, dass Taxikunden<br />

ohne Bargeld oder Karte bezahlen. Dass Fahrer<br />

Kunden eine Nachricht schreiben können, sollte im<br />

Wagen etwas liegen geblieben sein. Und dass Fahrgast<br />

und Fahrer sich gegenseitig bewerten können.<br />

Schon im Studium hatte die auf Kuba geborene<br />

Deutsche Apps entwickelt – etwa Mount Vista, ein Miniprogramm,<br />

das Globetrottern auf einer interaktiven<br />

Karte Web-Cams und Fotos von mehr als 25 000 Reisezielen<br />

bereitstellt. „Tausenden von Menschen die Arbeit<br />

zu erleichtern und dafür auch noch bezahlt zu<br />

werden“, sagt Basso, „das genieße ich.“<br />

Ebenso wie das Start-up-Flair und den Ausblick aus<br />

ihrem Büro: Vor den bodentiefen Fenstern schippern alle<br />

paar Minuten große Elbkähne vorüber. Allein unter<br />

acht Männern zu sein stört Basso nicht, das war an der<br />

Uni nicht anders. Als bei ihrem Vorstellungsgespräch in<br />

der Firmenküche gekickert wurde, hielt sie das für Show.<br />

Heute spielt sie selbst mit – und gewinnt auch mal.<br />

„Work hard – play hard“ heißt es bei MyTaxi – von<br />

den Meetings um 10 Uhr morgens über Salatclubs am<br />

Mittag, in denen jeder mal für die Kollegen einkauft<br />

FOTOS: WERNER SCHUERING UND REINER PFISTERER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

8 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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und kocht, bis zur abendlichen Pizza <strong>vom</strong> Lieferservice,<br />

wenn mal Überstunden anfallen. Bassos Höhepunkt:ein<br />

zweiwöchiges Boot Camp im dänischen Rømø.<br />

„Mit den Kollegen in einem Ferienhaus coole Sachen<br />

zu entwickeln – genauso habe ich mir die Arbeit<br />

bei einem Start-up vorgestellt.“<br />

Auch den nächsten Entwicklungsschritt hat die<br />

28-Jährige klar vor Augen: Product Owner – also IT-<br />

Projektleiter, der Produkte plant, Mitarbeiter führt und<br />

als Schnittstelle zu anderen Teams dient.<br />

„Mitarbeiter müssen heute digitale Wellenreiter<br />

sein“, sagt Ewald Manz von der Personalberatung Odgers<br />

Berndtson. „Sie müssen stets aufs Neue beobachten,<br />

wie sich die nächste Welle entwickelt, um sie dann<br />

möglichst geschickt abzusurfen.“<br />

Jessica Vogt weiß, wie das geht – obwohl die Maschinenbauerin<br />

auf den ersten Blick in einem ganz konventionellen<br />

Job arbeitet: in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung<br />

des Getriebeherstellers Wittenstein<br />

im fränkischen Igersheim. Die Entwicklungsingenieurin<br />

testet neue Getriebe für Roboter und Werkzeugmaschinen.<br />

Versuchsplanung und Aufbau an den<br />

Prüfständen laufen noch in Handarbeit. Anders als ihre<br />

Vorgänger muss Vogt aber weder Sicherheitsschuhe<br />

noch Schutzbrille anziehen, um, über Maschinen gebeugt,<br />

Ergebnisse mühsam abzulesen – die Daten kontrolliert<br />

sie per Rechner von ihrem Schreibtisch aus.<br />

Schon in ihren Praktika während des Studiums hatte<br />

die 28-Jährige nicht nur gelernt, wie man schweißt,<br />

sägt, feilt oder fräst. Sondern auch, wie man Halbleiterchips<br />

programmiert oder Kaffeeautomaten elektronisch<br />

steuert. Kenntnisse, die sie bei Wittenstein gut<br />

gebrauchen kann. Während die Kollegen früher die per<br />

Jessica Vogt, 28<br />

Ausbildung Maschinenbauingenieurin<br />

Unternehmen Wittenstein<br />

Job Entwicklungsingenieurin<br />

Motto Mit Software umgehen ist wie Fahrrad fahren<br />

Post gelieferten Wälzlager-Kataloge Seite für Seite nach<br />

geeigneten Produkten durchforsten mussten, sucht sie<br />

online. Statt Messprotokolle auszudrucken und abzuheften,<br />

greift sie übers digitale Firmennetz darauf zu.<br />

Und Versuchsaufbauten dokumentiert sie per Digicam,<br />

statt sie zu zeichnen oder analog abzulichten und<br />

den Film zum Entwickeln ins Labor zu schicken.<br />

DIGITALE UND ANALOGE WELT VERKNÜPFEN<br />

„Jobeinsteiger können nicht länger damit punkten, als<br />

Digital Natives aufgewachsen zu sein. Denn das sind<br />

alle Vertreter ihrer Generation – und die aller nachkommenden<br />

erst recht“, warnt Christian Hoffmeister,<br />

Dozent an der Hochschule Fresenius für Medienökonomie<br />

und Digital Business. Er verlangt von seinen<br />

Studenten, neue Verknüpfungen zwischen digitaler<br />

und analoger Welt herzustellen – egal, ob sie ein Leben<br />

als Angestellte oder Selbstständige planen. „Ob sie ihre<br />

Ideen ihrem Chef verkaufen müssen oder einem Investor,<br />

macht keinen Unterschied.“<br />

Und wer neben technischem Verständnis Einfühlungsvermögen<br />

und Kommunikationstalent mitbringt,<br />

hat potenzielle Arbeitgeber schnell überzeugt.<br />

So wie Johann Schießer, Kulturwissenschaftler mit<br />

Auslandssemester in Australien, sozialisiert mit Stu-<br />

»<br />

Industrie 4.0<br />

In fünf Jahren<br />

werden mehr als<br />

80 Prozent der<br />

Unternehmen<br />

ihre Wertschöpfungskette<br />

digitalisiert<br />

haben.*<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 *Quelle: PwC<br />

9<br />

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Branchenreport<br />

Diana Basso, 28<br />

Ausbildung Informatikerin<br />

Unternehmen MyTaxi<br />

Job App-Programmiererin<br />

Motto Work hard – play hard<br />

So viele Apps gibt es im<br />

App-Store<br />

3000<br />

2008 100 000<br />

2009<br />

500 000<br />

2011<br />

950 000<br />

2013<br />

Quelle: Apple<br />

300 000<br />

2010<br />

700 000<br />

2012<br />

1 300 000<br />

2014<br />

»<br />

diVZ, YouTube und Instagram. Dass er sein digitales<br />

Wissen auch anderen vermitteln kann, hat der heute<br />

30-Jährige schon in seinem Studentenjob bewiesen: Als<br />

Kundenberater bei einer Social-Media-Agentur führte er<br />

Marketingabteilungen in die Welt des Web 2.0 ein. Seit<br />

Juli 2013 entwickelt er für den Reisekonzern TUI digitale<br />

Konzepte. Nicht in der Zentrale in Hannover, sondern in<br />

Berlin, wo TUI sein Social-Media-Team angesiedelt hat –<br />

am Hausvogteiplatz im trendigen Stadtbezirk Mitte.<br />

Schießer hat daran mitgearbeitet, dass Kommentare<br />

und Fotos der TUI-Kunden auf den griechischen Inseln<br />

auch groß auf den Flachbildschirmen in den Hotellobbys<br />

zu sehen sind – selbst die negativen. Und auf<br />

Kos organisierte Schießer kürzlich den ersten TUI Photowalk<br />

mit Goldie Berlin, einer in der Reiseszene bekannten<br />

Bloggerin, auf der Fotoplattform Instagram.<br />

Sie zeigte TUI-Kunden vor Ort, wie man Sonnenuntergänge<br />

perfekt in Szene setzt oder die schönsten Selfies<br />

schießt. Schießers jüngstes Projekt: das Verlinken von<br />

Urlaubsschnappschüssen mit virtuellen Hotelrundgängen<br />

und Apps des entsprechenden Anbieters, über<br />

den sich mit wenigen Klicks eine Reise buchen lässt.<br />

Kollegen, denen die neuen Möglichkeiten nicht so<br />

eingängig sind, bietet TUI digitale Nachhilfe in Blog-<br />

Workshops. „Im Gespräch mit älteren Kollegen“, sagt<br />

Schießer, „muss ich schon mal Überzeugungsarbeit<br />

leisten.“<br />

Auch andere Unternehmen lassen sich inzwischen einiges<br />

einfallen, um ihre Belegschaften auf die digitalen<br />

Herausforderungen einzustellen. Über seine Networking<br />

Academy macht Cisco IT-Dozenten und -Auszubildende<br />

an Berufsschulen fit für die digitale Zukunft. Neben<br />

klassischen Aufgaben können Teilnehmer in Lernspielen<br />

bundesweit gegeneinander antreten, auf einer<br />

Selbstlernplattform ihr Wissen vertiefen und Web-Konferenzen<br />

abhalten. „Die Technologie ändert sich rasant“,<br />

sagt Akademieleiter Carsten Johnson. „Wir können<br />

nicht erwarten, dass das Bildungswesen allein mithält.“<br />

Die Initiatoren des Software Campus sehen das genauso.<br />

Das Ziel der 19 Partner aus Wirtschaft und Wissenschaft,<br />

darunter Bosch, Siemens und Telekom: aus<br />

ausgewählten IT-Doktoranden Top-Manager von morgen<br />

machen. Und IBM fordert mit der internen Weiterbildungsinitiative<br />

Think 40 seine Mitarbeiter auf, laufende<br />

Projekte liegen zu lassen, um sich weiterzubilden – 40<br />

Stunden pro Jahr. Das lohnt sich, denn Führungskräfte<br />

werden mehr und mehr zu E-Managern, so die Prognose<br />

von empirica: Bis 2020 lässt die Digitalisierung den<br />

Anteil anspruchsvoller Jobs im Management am stärksten<br />

wachsen – um 44 Prozent im Vergleich zu 2011.<br />

Steffen Müller hat schon heute einen von ihnen –<br />

ganz ohne Informatik-Hintergrund. Der 28-jährige Betriebswirt<br />

ist bei der Deutschen Post als Leiter Briefzustellung<br />

in der Region Schwetzingen für den Einsatz<br />

von 250 Mitarbeitern an 18 Standorten zuständig – vor<br />

allem Postboten. Statt wie seine Vorgänger mit handgezeichneten<br />

Straßenkarten, Wandkalendern und<br />

Umlaufmappen plant Müller alles am Bildschirm: Personaleinsatz-<br />

und Urlaubsplanung, Reports und Budgets,<br />

Kennzahlenvergleiche und Prognosen. „Durch<br />

die Digitalisierung ist die Arbeit viel schneller und effizienter<br />

geworden“, sagt Müller. „Die täglichen Updates<br />

sind für mich wie Wasserstandsmeldungen.“<br />

HÖHERE ANSPRÜCHE<br />

Konnten seine Vorgänger Mitarbeiterengpässe häufig<br />

erst erkennen, wenn sie kaum noch Reaktionsmöglichkeiten<br />

hatten, ist Müller in der Lage, drohenden Personalengpässen<br />

nicht nur frühzeitig gegenzusteuern – er<br />

sieht auch rasch, ob seine Maßnahmen gegriffen haben.<br />

So rasant wie für Post-Manager Müller hat sich das<br />

Arbeiten für viele Mitarbeiter der Logistikbranche verändert:<br />

Dank computergesteuerter Abläufe können<br />

Kunden Waren heute sehr viel kleinteiliger und kurzfristiger<br />

bestellen – und Unternehmen schneller und<br />

auf mehr Vertriebswegen liefern. Suchten Kommissionierer<br />

früher mit ausgedruckten Picklisten Warenkörbe<br />

nacheinander zusammen, läuft heute alles über drahtlose<br />

Datenübermittlung in Echtzeit. Die Packer arbeiten<br />

für mehrere Kunden, sehen am Terminal die Waren, der<br />

Rechner ermittelt ihnen die kürzeste Route. Auf den<br />

Kartons aufgeklebte Barcodes versprechen eine fehlerfreie<br />

Zuordnung der Bestellungen, die Kunden können<br />

den Weg ihrer Bestellungen verfolgen. Und DHL kann<br />

in Echtzeit auf Kundennachfragen reagieren. „Die Ansprüche<br />

an die Mitarbeiter“, heißt es bei der Post, „sind<br />

durch die Digitalisierung eindeutig gestiegen.“<br />

FOTO: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

10 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Davon kann auch Florian Kreis ein Lied singen: Nach<br />

seiner Lehre zum Landmaschinenmechaniker schien<br />

sein Berufsleben vorgezeichnet – geprägt von der Reparatur<br />

von Getrieben und dem Austausch von Hydraulikschläuchen.<br />

Weil er sich aber eher für Software-Updates<br />

für Mähdrescher-Terminals und Fehlerdiagnosen<br />

per Laptop interessierte, sattelte er ein Studium für<br />

Wirtschaftsingenieurwesen drauf und kam als studentische<br />

Hilfskraft mit iGreen in Kontakt – ein Projekt, für<br />

das sich rund zwei Dutzend Unternehmen wie John<br />

Deere, Claas, SAP und Deutsche Telekom zusammengeschlossen<br />

hatten, um Landmaschinen digital zu verknüpfen<br />

und Daten auszutauschen. „Damals“, sagt<br />

Kreis, „habe ich meinen digitalen Daumen entdeckt.“<br />

Heute arbeitet der 29-Jährige beim Landmaschinenhersteller<br />

Claas in Harsewinkel als Prozessingenieur<br />

und Produktmanager. Ein Job, für den er Anzug und<br />

Krawatte genauso häufig braucht wie Outdoorjacke<br />

und Arbeitsschuhe – „der perfekte Mix aus Bürojob<br />

und Arbeit beim Kunden auf dem Feld“.<br />

Sein Projekt: Farming 4.0. Das System vernetzt die<br />

Softwaresysteme von Traktoren und Mähdreschern,<br />

sodass der Traktorfahrer dank seines Bordcomputers<br />

weiß, wann der Korntank der Mähdrescher wie voll ist<br />

und wann und wo er die Ernte abholen muss. Ein Paradigmenwechsel:<br />

Mussten Mähdrescherfahrer doch<br />

früher ihre Maschinen nach Gefühl ständig neu einstellen<br />

– je nach Beschaffenheit des Feldes, Getreideart<br />

und Wetter. Heute steuert diesen Prozess eine Software,<br />

die die Daten Tausender Ernten berücksichtigt.<br />

Ziehen am Horizont dicke Wolken auf, arbeitet der<br />

Mähdrescher automatisch schneller, um das Getreide<br />

noch rechtzeitig einzubringen. Ist das Wetter stabil<br />

und freundlich, stellt der Mähdrescher automatisch<br />

auf kraftstoffsparenden Einsatz um.<br />

KALKULIERTER KARRIERESCHUB<br />

Die Bedürfnisse der Bauern vermittelt Kreis seinen Informatikern,<br />

die die Software für die Maschinen entwickeln.<br />

Mit Projektpartner Telekom entwickelt er Geschäftsmodelle,<br />

betreut Tests auf dem Feld, hilft bei der Fehlersuche.<br />

„Faszinierend, wie wir klassischen Maschinenbau<br />

mit modernster Technik tunen können“, sagt Kreis. „Die<br />

Digitalisierung hilft unseren Kunden und verschafft uns<br />

einen wichtigen Wettbewerbsvorteil.“<br />

Und ihm einen Karriereschub: Ob im Vertrieb oder<br />

im Ausland – Kreis stehen viele Wege offen. „Claas hat<br />

mehr als 11 000 Jobs, und die Digitalisierung macht vor<br />

keinem von ihnen halt“, sagt er. „Da lässt sich also ganz<br />

sicher etwas Passendes finden.“<br />

Davon ist auch TUI-Jungmanager Schießer überzeugt:<br />

„Die Digitalisierung verändert die Geschäftsmodelle<br />

so schnell, dass voraussagbare Karrieren fast unmöglich<br />

sind“, sagt er. „Den Job, den ich in zehn Jahren<br />

machen werde, gibt es heute noch gar nicht.“<br />

n<br />

judith-maria gillies | mangement@wiwo.de<br />

Fachkräftemangel<br />

58 Prozent<br />

der Online-Shop-<br />

Betreiber<br />

glauben, dass<br />

fehlende<br />

Fachkräfte im<br />

E-Commerce in<br />

den kommenden<br />

fünf Jahren zum<br />

Problem der<br />

Branche werden.*<br />

*Quelle: PwC<br />

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Berufe der Zukunft<br />

Irgendwas mit digital<br />

JOBPROFILE | Diese 13 Berufe werden künftig gefragt sein. Welche Aufgaben Sie in diesen Jobs haben,<br />

was Sie können müssen, wer Sie einstellt und wie viel Sie damit verdienen können.<br />

BIG DATA SCIENTIST<br />

Was muss ich tun? Zunächst muss der Big Data Scientist<br />

herausfinden, in welchen Abteilungen welche Daten<br />

anfallen. Diese muss er zusammentragen, um sie<br />

anschließend auszuwerten. Dazu bedient er sich verschiedener<br />

Analysetools und programmiert Abfragen,<br />

damit der Datenwust auch die richtigen Antworten<br />

preisgibt. Je nach Größe des Unternehmens ist er aber<br />

nicht nur für die Auswertung der Daten zuständig, sondern<br />

entwickelt aus den gewonnenen Informationen<br />

auch selbst Ideen für neue Geschäftsmodelle und strategische<br />

Konzepte.<br />

Was muss ich können? Der Big Data Scientist sollte in<br />

jedem Fall Informatik studiert haben, braucht gleichzeitig<br />

aber eine hohe soziale Kompetenz und muss<br />

sich durchsetzen können. Schließlich ist es seine Aufgabe,<br />

den Egoismus der Fachabteilungen zu überwinden<br />

und diese dazu zu bringen, ihre jeweiligen Daten<br />

offenzulegen.<br />

Wo kann ich arbeiten? Vor allem in der Finanzwirtschaft,<br />

in der Logistikbranche, im Handel und in der<br />

Industrie werden sie eingesetzt.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Ein Big Data Scientist<br />

kann bis zu 80 000 Euro verdienen.<br />

s<br />

Riesenwust<br />

Die Datenmenge<br />

soll sich weltweit<br />

bis 2020<br />

verzehnfachen –<br />

auf 44 Billionen<br />

Gigabyte*<br />

CATEGORY MANAGER<br />

Was muss ich tun? Das Sortiment eines Online-Shops<br />

zu organisieren ist sein Job. Über Marktrecherchen findet<br />

er heraus, was die Konkurrenz anbietet, und passt<br />

das eigene Angebot bei Bedarf an. Außerdem achtet er<br />

auf die Benutzerfreundlichkeit der Web-Site. Er platziert<br />

Produkte und besondere Angebote so, dass Käufer sie<br />

möglichst leicht finden. Er wird auch als Online-Shop-<br />

Manager oder E-Commerce-Manager bezeichnet.<br />

Was muss ich können? Er ist in der Regel studierter Betriebswirt.<br />

Und bringt erste Erfahrung aus der E-Commerce-Branche<br />

mit.<br />

Wo kann ich arbeiten? In Unternehmen, die ihre Produkte<br />

oder Dienstleistungen online anbieten und ein<br />

vielschichtiges Sortiment haben.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Je nach Berufserfahrung<br />

zwischen 60 000 und 80 000 Euro.<br />

CHIEF DIGITAL OFFICER (CDO)<br />

Was muss ich tun? Der CDO ist der oberste Digitalisierungsbeauftragte<br />

eines Unternehmens – oftmals sogar<br />

auf Vorstandsebene. Er gibt die Leitlinien für die Digitalisierung<br />

vor: entwickelt neue Geschäftsmodelle,<br />

führt innovative Technologien ein und fördert vernetztes<br />

Arbeiten in seinem Konzern.<br />

Was muss ich können? Der CDO sollte ein Wirtschaftswissenschaftler<br />

mit großem Interesse an technologischen<br />

Neuerungen sein. In seiner Position<br />

muss er die zukünftige Richtung vorgeben, Mitarbeiter<br />

und Anteilseigner in die digitale Transformation<br />

mitnehmen. Dazu braucht er neben fachlichen Qualifikationen<br />

vor allem Überzeugungskraft, Risikobereitschaft<br />

und Neugier.<br />

Wo kann ich arbeiten? Bislang beschäftigen nur wenige<br />

Unternehmen einen CDO. Das wird sich jedoch ändern,<br />

da der digitale Wandel letztlich in allen Branchen<br />

Einzug hält.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Hängt von der Größe des<br />

Unternehmens und dem Stellenwert der Digitalisierung<br />

in der jeweiligen Branche ab – 200000 bis 700000 Euro.<br />

CONTENT MARKETING MANAGER<br />

Was muss ich tun? Die Unternehmen haben erkannt,<br />

dass die Zeiten platter Werbebotschaften vorbei sind<br />

und es auf die Kommunikation mit dem Kunden ankommt.<br />

Deshalb ist es Aufgabe des Content Marketing<br />

Managers, diese Kunden gezielt mit individuell für sie<br />

relevanten Inhalten anzusprechen. Allerdings schreibt<br />

er nicht selbst Einträge auf Facebook-Pinnwänden<br />

oder einen Artikel für E-Mail-Newsletter. Er ist eher eine<br />

Art Chefredakteur, der die Leitlinien und Inhalte für<br />

die Kommunikation mit den Kunden vorgibt.<br />

ILLUSTRATIOENN. THOMAS FUCHS<br />

12 *Quelle: EMC<br />

Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Was muss ich können? Content Marketing Manager<br />

bringen oft Erfahrung aus dem Journalismus oder<br />

der PR mit. Sie brauchen ein Gespür für ihre Zielgruppe<br />

und Marketingerfahrung, müssen die verschiedenen<br />

Verbreitungskanäle kennen und einschätzen<br />

können. Wer sich für diesen Beruf interessiert,<br />

sollte auch eine hohe Technologie-Affinität mitbringen.<br />

Wo kann ich arbeiten? In Unternehmen aller Branchen<br />

und Agenturen.<br />

Wie viel kann ich verdienen? 40 000 bis 60 000 Euro.<br />

DATA STRATEGIST<br />

Was muss ich tun? Er gibt die Leitlinien für den Umgang<br />

mit Daten vor. Welche Informationen können<br />

bedenkenlos in welchem Zusammenhang verwendet<br />

werden? Wo liegen rechtliche Grauzonen bei der<br />

Auswertung von Daten? Wo ethische Barrieren? Seine<br />

Position ist meist nah am Vorstand angesiedelt, da<br />

eine Fehlentscheidung schnell ernsthafte Probleme<br />

verursachen kann.<br />

Was muss ich können? Sowohl Mathematiker und Informatiker<br />

als auch Physiker sind für die Tätigkeit des<br />

Data Strategist besonders geeignet. Denn hohes technisches<br />

Verständnis ist Grundvoraussetzung, um<br />

nachvollziehen zu können, wie die Daten überhaupt<br />

erhoben werden.<br />

Wo kann ich arbeiten? Dieser Spezialist ist vor allem<br />

in Branchen gefragt, in denen große Mengen sensibler<br />

Daten anfallen: beispielsweise bei Banken, Versicherungen,<br />

Krankenkassen oder Kreditkartenunternehmen.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Je nach Berufserfahrung<br />

und Unternehmensgröße zwischen 100 000 und<br />

300 000 Euro.<br />

FEEL GOOD MANAGER<br />

Was muss ich tun? Dieser Beruf ist die moderne Variante<br />

des Personalmanagers. Der Feel Good Manager<br />

kümmert sich um das Wohlbefinden der Angestellten.<br />

Er findet heraus, was ihnen wichtig ist, und versucht,<br />

diesen Anforderungen gerecht zu werden. Das kann<br />

von der wöchentlichen Bestellung eines Obstkorbes<br />

über die Organisation eines Familienfests bis hin zur<br />

Buchung eines Firmen-Yogakurses gehen.<br />

Was muss ich können? Die meisten Feel Good Manager<br />

kommen aus dem Personalbereich, aber auch<br />

Quereinsteiger sind nicht selten. Ein Studium ist für<br />

diesen Job keine Voraussetzung. Wichtig sind vielmehr<br />

Fähigkeiten wie Kommunikationsbereitschaft, Empathie<br />

und Organisationstalent.<br />

Wo kann ich arbeiten? Derzeit finden sich vor allem in<br />

der Digitalbranche viele Unternehmen, die einen solchen<br />

Feel Good Manager beschäftigen. Erstens, weil in<br />

diesem Bereich viele Mitarbeiter der Generation Y einsteigen,<br />

und zweitens, da der Kampf um die besten<br />

Köpfe dort besonders groß ist.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Das Einstiegsgehalt liegt<br />

bei etwa 35 000 Euro und steigt mit zunehmender Berufserfahrung<br />

bis auf 45 000 Euro an.<br />

s<br />

Top 5<br />

Die beliebtesten<br />

Arbeitgeber unter<br />

Informatikern*:<br />

1. Google<br />

2. Microsoft<br />

3. Apple<br />

4. Audi<br />

5. SAP<br />

MOBILE DEVELOPER<br />

Was muss ich tun? Dieser Entwickler kümmert sich<br />

um neue Programme für Smartphones und Tablets.<br />

Bei kleineren Unternehmen ist er nicht nur Ideengeber,<br />

sondern programmiert die Anwendungen auch<br />

selbst.<br />

Was muss ich können? Die meisten Mobile Developer<br />

sind entweder auf das Apple-Betriebssystem iOs<br />

oder Googles Konkurrenzprodukt Android spezialisiert.<br />

Früher ein Feld für Autodidakten, ist dieser Job<br />

heutzutage am besten für Informatiker geeignet –<br />

egal, ob studiert oder mit Berufsausbildung zum<br />

Fachinformatiker.<br />

Wo kann ich arbeiten? In Konzernen aus allen Branchen,<br />

Agenturen mit einem Schwerpunkt auf mobiles<br />

Marketing und bei Spieleentwickler.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Je nach Berufserfahrung<br />

verdienen Mobile Developer zwischen 40 000 und<br />

50 000 Euro.<br />

NETZPLANER ENERGIE<br />

Was muss ich tun? Wer diesen Job macht, ist verantwortlich<br />

für eine zuverlässige Stromversorgung. Netzplaner<br />

prognostizieren den Strombedarf, analysieren<br />

Kapazitäten und berechnen anhand von Computersimulationen<br />

etwa, was passiert, wenn ein Kurzschluss<br />

im Netz für eine Störung sorgt. Bedingt durch die<br />

Energiewende – also die Abkehr <strong>vom</strong> Atomstrom zugunsten<br />

einer stärkeren Nutzung regenerativer Energien<br />

–, müssen Netzplaner die Spezifika neuer Energiequellen<br />

in ihre Planungen einbeziehen – etwa dass<br />

Fotovoltaik- oder Windkraftanlagen nur bei Sonnenschein<br />

beziehungsweise Wind Strom liefern. Außerdem<br />

stellen die studierten Ingenieure fest, zu welcher<br />

Uhrzeit Arbeiten am Netz den Stromfluss am wenigsten<br />

behindern.<br />

Was muss ich können? Jeder Netzplaner sollte ein Studium<br />

der elektrischen Energietechnik absolviert haben<br />

– egal, ob an einer Universität oder einer Fachhochschule.<br />

Weitere Voraussetzungen: analytisches<br />

»<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 *Quelle: Universum Communications<br />

13<br />

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Berufe der Zukunft<br />

»<br />

Denkvermögen und der Wille zur ständigen Weiterbildung.<br />

Nicht zuletzt auch die Bereitschaft, sich langfristig<br />

an ein Unternehmen zu binden. Da jedes Stromnetz<br />

seine Eigenheiten hat und die Einarbeitung sehr<br />

lange dauert, sind Arbeitgeber in diesem Berufsfeld<br />

überdurchschnittlich stark an stabilen Verhältnissen<br />

interessiert.<br />

Wo kann ich arbeiten? Bei Energieversorgern und<br />

Stadtwerken, aber auch bei Projektplanern, die zum<br />

Beispiel Windparks hochziehen. Vor allem weil einige<br />

Kommunen ihre Stromnetze zurückkaufen, werden<br />

künftig mehr Netzplaner gebraucht – dennoch sind<br />

diese Stellen auch künftig eher rar gesät.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Das Gehalt liegt zwischen<br />

50 000 und 70 000 Euro, wer Personalverantwortung<br />

hat, kann auch etwas mehr verlangen.<br />

OPERATIONS MANAGER<br />

Was muss ich tun? Hinter diesem Berufsbild steckt die<br />

digitale Weiterentwicklung des Logistikmanagers. Ein<br />

Operations Manager arbeitet vor allem im Bereich<br />

E-Commerce und muss dafür sorgen, dass das Sortiment<br />

eines Online-Shops auch im Lager verfügbar ist<br />

und die im Netz publizierten Liefertermine realistisch<br />

sind. Außerdem organisiert er das Lager so, dass häufig<br />

bestellte Produkte gut zu erreichen sind.<br />

Was muss ich können? Ein betriebswirtschaftliches<br />

Studium mit dem Schwerpunkt Logistik ist empfehlenswert,<br />

aber nicht zwingend notwendig. Wichtig ist,<br />

dass die Betriebswirte verstehen, wie Online-Shops<br />

funktionieren, und schon erste Erfahrungen im<br />

E-Commerce-Bereich gesammelt haben.<br />

Wo kann ich arbeiten? In jedem Unternehmen, das<br />

seine Produkte online anbietet – von Amazon bis Zalando.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Einstiegsgehälter liegen<br />

bei etwa 50 000 Euro. Mit erster Berufserfahrung steigen<br />

sie auf bis zu 70 000 Euro.<br />

So viele Unternehmen<br />

haben Probleme,<br />

Spezialisten für IT-<br />

Sicherheit zu finden<br />

13 %<br />

2013 2014<br />

Quelle: Robert Half<br />

28 %<br />

PERFORMANCE MARKETING MANAGER<br />

Was muss ich tun? Der SEO-Manager – die Abkürzung<br />

steht für Search Engine Optimization, zu Deutsch:<br />

Suchmaschinen-Optimierung – ist der wohl bekannteste<br />

unter der Gruppe der Performance Marketing<br />

Manager. Er ist dafür verantwortlich, Inhalte von Web-<br />

Seiten so zu optimieren, dass sie von Suchmaschinen<br />

möglichst gut gefunden werden. Ebenfalls zu dieser<br />

Gruppe gehören der SEM- und der SEA-Manager. Sie<br />

sind für Search Engine Marketing beziehungsweise<br />

Search Engine Advertising zuständig. Das heißt, sie entscheiden<br />

unter anderem, bei welchen Suchbegriffen eine<br />

Anzeige ihres Arbeitgebers erscheint, und kontrollieren<br />

den Erfolg solcher Maßnahmen. Ebenfalls in den<br />

Aufgabenbereich von Performance Marketing Managern<br />

fallen Direktmarketingaktionen zum Beispiel via<br />

E-Mail oder die Schaltung von Werbebannern.<br />

Was muss ich können? Wirtschaftswissenschaftler, am<br />

besten mit Schwerpunkt Marketing, aber auch Wirtschaftsinformatiker<br />

passen auf diese Stellen. Voraussetzung:<br />

Neben Wissen über und Gespür für Vermarktungsstrategien<br />

sollten sie technische Affinität mitbringen.<br />

Denn sie müssen verstehen, wie Suchmaschinen<br />

funktionieren und Internet-Seiten aufgebaut sind.<br />

Wo kann ich arbeiten? Bei Unternehmen, die Produkte<br />

online vertreiben – <strong>vom</strong> Versandhändler über den Reiseanbieter<br />

bis hin zum Modelabel.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Mit erster Berufserfahrung<br />

verdient er zwischen 45 000 und 55 000 Euro. Mit<br />

Führungsverantwortung, steigt das Gehalt schnell auf<br />

mehr als 65 000 Euro.<br />

PRODUKTIONSINGENIEUR<br />

Was muss ich tun? Diese Ingenieure überwachen, leiten<br />

und optimieren Produktionsabläufe. Sie entscheiden,<br />

welche Maschinen zur Herstellung der von ihrem<br />

Arbeitgeber zu produzierenden Güter taugen, und geben<br />

deren Entwicklung in Auftrag. Produktionsingenieure<br />

übernehmen aber auch organisatorische Aufgaben,<br />

wie Personalplanung und die Gestaltung von<br />

Arbeitsplätzen im Werk.<br />

Was muss ich können? Das Berufsbild des Produktionsingenieurs<br />

ändert sich durch die Digitalisierung<br />

gewaltig. Seit die Maschinenkommunikation Einzug in<br />

deutsche Fabriken hält, müssen die Ingenieure zunehmend<br />

IT-Kenntnisse mitbringen, die immer häufiger<br />

als Zusatz in den klassischen ingenieurwissenschaftlichen<br />

Studiengängen vermittelt werden.<br />

Wo kann ich arbeiten? In Industrieunternehmen aller<br />

Branchen.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Je nach Berufserfahrung<br />

und Komplexität der Aufgaben zwischen 55 000 und<br />

100 000 Euro.<br />

SECURITY MANAGER<br />

Was muss ich tun? Datenlecks vermeiden und eine<br />

Strategie zur IT-Sicherheit entwickeln, das sind die<br />

zentralen Aufgaben des IT Security Managers. Dafür<br />

muss er beispielsweise folgende Fragen beantworten:<br />

Können wir den Mitarbeitern erlauben, berufliche<br />

ILLUSTRATION. THOMAS FUCHS<br />

14 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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E-Mails auf ihrem privaten Handy abzurufen? Welchen<br />

Zugang zu unseren Systemen gewähren wir Lieferanten?<br />

Welche Daten können wir ohne Sicherheitsbedenken<br />

in die Cloud auslagern? Außerdem schult<br />

der IT Security Manager die Mitarbeiter im Umgang<br />

mit ihren eigenen Daten und denen der Kunden.<br />

Was muss ich können? Er muss ein großes technisches<br />

Verständnis mitbringen, gleichzeitig juristische Fallstricke<br />

zum Beispiel beim Datenschutz im Auge behalten.<br />

Diese Position ist ideal für Wirtschaftsinformatiker,<br />

weil sie im ökonomischen Teil des Studiums zumindest<br />

einige Rechtsvorlesungen besuchen müssen.<br />

Aber auch Informatiker sind geeignet, wenn sie sich in<br />

die juristischen Zusammenhänge einarbeiten können<br />

oder für diesen Teil der Arbeit externes Wissen einkaufen.<br />

Ein umfassendes Wissen über die IT-Architektur<br />

des Arbeitgebers ist unerlässlich.<br />

Wo kann ich arbeiten? In jedem Unternehmen, das eine<br />

komplexe IT-Infrastruktur hat.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Die Gehaltsspanne reicht<br />

von etwa 60 000 Euro bis über 120 000 Euro. Denn je<br />

nach Unternehmen kann die Position direkt unterhalb<br />

des Vorstandes angesiedelt sein.<br />

SOCIAL MEDIA MANAGER<br />

Was muss ich tun? Während so manchem Angestellten<br />

das Surfen im Netz während der Arbeitszeit strikt untersagt<br />

ist, bekommt der Social Media Manager genau<br />

Facebook<br />

& Co.<br />

28 Prozent der<br />

Arbeitnehmer<br />

nutzen soziale<br />

Medien täglich<br />

zur geschäftlichen<br />

Kommunikation*<br />

*Quelle: ibi research<br />

s<br />

dafür Geld. Er kümmert sich um die Internet-Gemeinde<br />

seines Arbeitgebers, versorgt diese mit ständig neuen<br />

Inhalten, hält die Community so am Leben. Doch<br />

um dieses Ziel zu erreichen, muss er wissen, welche<br />

Infos auf den jeweiligen Kanälen fruchten. Passt ein<br />

Gewinnspiel nur zu den Facebook-Fans, oder soll es<br />

auch an die Twitter-Follower gehen? Auf welcher Plattform<br />

finden Fotoaktionen am meisten Anklang? Wo<br />

werden unsere Inhalte verlinkt? Wer tummelt sich auf<br />

unseren Seiten? Antworten auf diese Fragen liefern die<br />

Statistiken, die ein Social Media Manager ebenfalls regelmäßig<br />

auswerten muss, um die Strategie in den sozialen<br />

Netzwerken daraufhin anzupassen.<br />

Was muss ich können? In diesem Bereich gibt es viele<br />

Quereinsteiger. Wichtig ist vor allem Interesse an den<br />

sozialen Netzwerken und der dahinterstehenden<br />

Technik sowie Freude an intensiver Kommunikation.<br />

Viele Social Media Manager haben Medieninformatik<br />

studiert, ein Muss ist dieser Studiengang aber keineswegs.<br />

Wo kann ich arbeiten? In Unternehmen, die mehrere<br />

soziale Netzwerke nutzen oder deren einziger Vertriebskanal<br />

das Internet ist.<br />

Wie viel kann ich verdienen? Je nach Unternehmensgröße,<br />

Branche und Aufgaben rangiert das Gehalt zwischen<br />

30 000 und 70 000 Euro. Mit Personalverantwortung<br />

ist auch mehr drin.<br />

n<br />

kristin.schmidt@wiwo.de<br />

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Gründen<br />

Betreutes Gründen<br />

ENTREPRENEUR IN RESIDENCE | Wer die Start-up-Kultur dem Arbeiten im Konzern vorzieht, das Risiko<br />

der Selbstständigkeit aber noch scheut, kann unter dem Dach von Inkubatoren unternehmerische<br />

Erfahrung sammeln und erste Geschäftsideen umsetzen.<br />

Fruchtbarer Schulterschluss<br />

Etventure-Mitgründer<br />

Philipp Herrmann<br />

(links) mit Steffen<br />

Manes, Entrepreneur<br />

in Residence<br />

und Mitgründer des<br />

Internet-Start-ups<br />

Mobile Job<br />

Eines Tages ein Start-up zu gründen, davon träumt<br />

Kerem Köksal schon lange. Erst während seines<br />

Management-Studiums, später bei Praktika beim<br />

Autozulieferer Knorr-Bremse und der Wirtschaftsauskunftei<br />

Schufa grübelt er über Apps für Smartphones,<br />

innovative Internet-Plattformen und neuartige<br />

E-Books. Allein: „Keine Idee hat mich restlos überzeugt“,<br />

sagt der 27-Jährige heute. Also legt Köksal auf<br />

dem Weg zum Unternehmer einen Zwischenschritt<br />

ein: Im Mai heuerte er beim Hamburger Unternehmen<br />

Hanse Ventures an – als Entrepreneur in Residence<br />

(EiR) – zu Deutsch: Unternehmer im Hause.<br />

In den USA gibt es solche Programme seit dem Internet-Boom<br />

Ende der Neunzigerjahre – damals holten<br />

sich Wagnisfinanzierer Gründer ins Haus, um gemeinsam<br />

Geschäftsideen umzusetzen. Inzwischen verbreitet<br />

sich das Konzept auch in Deutschland. Mal gleicht<br />

es eher einem Praktikum, mal gründet der Teilnehmer<br />

ein eigenes Unternehmen. So sucht das Bergisch Gladbacher<br />

Biotech-Unternehmen Miltenyi derzeit einen<br />

EiR, der helfen soll, ein internes Online-Start-up-Projekt<br />

zu etablieren. Der Berliner Sportnahrungshändler<br />

Egg wiederum wirbt um Praktikanten, die „operativ<br />

und strategisch voll durchstarten“ wollen.<br />

„Wir gründen nicht mit jedem Entrepreneur in Residence<br />

ein Unternehmen“, sagt auch Tobias Seikel.<br />

„Aber als EiR kannst du Start-up-Luft atmen und zusammen<br />

mit uns nach guten Geschäftsideen suchen.“<br />

Seikel ist Partner bei Hanse Ventures, wo auch<br />

Kerem Köksal gelandet ist. Hanse Ventures ist ein Inkubator,<br />

brütet Start-ups am Fließband aus, finanziert sie<br />

und verkauft seine Anteile daran nach einigen Jahren.<br />

Gründer und Mitarbeiter sitzen am Sandtorkai in der<br />

Hamburger Speicherstadt Tisch an Tisch, was es leicht<br />

macht, voneinander zu lernen – und wo sie während<br />

ihrer ersten Schritte von Hanse Ventures unterstützt<br />

werden. Hier sitzt auch Köksal, ein halbes Jahr, für 1500<br />

Euro monatlich. Reich wird er damit nicht, aber er<br />

kann hinter die Kulissen diverser Start-ups blicken,<br />

den Gründeralltag kennenlernen, an Workshops teilnehmen.<br />

„Von Anfang an ging es Schlag auf Schlag“,<br />

sagt Köksal. Erst half er dabei, pflege.de, ein Online-<br />

Portal für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, weiterzuentwickeln.<br />

Dann suchte Köksal für Hanse Ventures<br />

neue Geschäftsideen. „Wir werfen die Leute mit<br />

Ideen zu, damit sie sich ausprobieren“, sagt Partner<br />

Seikel. Auch Köksal: „Eins ist klar – auch ich werde<br />

gründen.“<br />

Lukas Zels hat diesen Schritt schon hinter sich. Der<br />

Berliner hat im Frühjahr 2012 bei Rocket Internet angeheuert.<br />

Der börsennotierte Start-up-Brüter bewirbt<br />

sein EiR-Angebot als „globales Rotationsprogramm“, in<br />

dem die Teilnehmer alle drei, vier Monate zum nächs-<br />

»Ohne die Hilfe von<br />

Etventure hätte ich<br />

Mobile Job nie gestartet«<br />

FOTOS: ANDREAS CHUDOWSKI UND ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

16 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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»Wir werfen die Leute<br />

mit Ideen zu, damit sie<br />

sich ausprobieren«<br />

ten Start-up wechseln – in einem neuen Land, mit<br />

neuem Job. Zels’ Stationen: Kambodscha, Philippinen,<br />

Nigeria. „Mein Leben steckte in einem Rollkoffer.“<br />

Inzwischen baut er in Berlin sein eigenes Start-up<br />

auf: Locafox, das Online-Kunden mit Einzelhändlern<br />

in ihrer Umgebung zusammenbringt. Motto: online<br />

nach Produkten suchen, offline kaufen. Kaum gestartet,<br />

konnten Zels und seine Mitgründer ein siebenstelliges<br />

Investment einsammeln und beschäftigen mehr<br />

als 30 Mitarbeiter aus 14 Ländern. Zels ist überzeugt,<br />

dass er dieses schnelle Wachstum den Erfahrungen<br />

verdankt, die er bei Rocket Internet gesammelt hat –<br />

von der Finanzplanung über die Logistik bis zur Mitarbeiterführung.<br />

„Meine Lernkurve war so steil wie nie<br />

sonst in meinem Leben.“<br />

Er profitiert nicht nur <strong>vom</strong> Rocket-Netzwerk, etwa<br />

bei der Suche nach Partnern und Investoren. „Ich habe<br />

damals auch gelernt: Gründen ist nicht schwer“, sagt<br />

Zels. „Und wenn du scheiterst, ist das keine Blamage,<br />

sondern eine sehr wertvolle Erfahrung, um es beim<br />

nächsten Mal besser zu machen.“<br />

WO SCHEITERN ZUM ALLTAG GEHÖRT<br />

Auch in den Ackerhöfen in Berlin-Mitte gehört Scheitern<br />

zum Alltag. Auf mehreren Etagen eines alten Fabrikgebäudes<br />

hat sich die Start-up-Schmiede Etventure<br />

eingerichtet. „Aus 150 Ideen werden etwa zehn<br />

Gründungen“, sagt Philipp Herrmann, der Etventure<br />

2010 mit Philipp Depiereux und Christian Lüdtke gestartet<br />

hat. Etventure beschäftigt inzwischen mehr als<br />

60 Mitarbeiter, die Hälfte davon in einem Dutzend<br />

Start-up-Projekten. Die Ideen sucht das Team in<br />

der Welt der Konzerne und Mittelständler. „Dort heißt<br />

es oft: Man müsste mal dieses oder jenes besser machen“,<br />

sagt Herrmann, der lange für Bertelsmann gearbeitet<br />

hat, „und genau diese Man-müsste-mal-Probleme<br />

lösen wir.“<br />

Etventure setzt dabei auf die Lean-Startup-Methode<br />

des US-Unternehmers Eric Ries, die Herrmann an der<br />

Stanford University kennengelernt hat. In einem kreativen<br />

Prozess entwickelt das Unternehmen dabei ein<br />

„minimum viable product“, also eine Art kleinstmöglichen<br />

Prototypen, der die wesentlichen Funktionen des<br />

späteren Produkts erfüllt, sich aber schnell und günstig<br />

herstellen und am Markt testen lässt. Je nach Feedback<br />

verwirft Etventure die Idee, passt sie an oder gründet<br />

ein Start-up mit einem seiner Entrepreneure in Residence.<br />

„Sie sind von Anfang an Gründer“, sagt Herrmann,<br />

„und haben in der Regel schon Berufserfahrung,<br />

wenn sie bei uns anfangen.“<br />

So wie Steffen Manes. Der 29-Jährige hatte schon im<br />

Design-Studium eine Agentur gegründet, als er merkte,<br />

dass er besser Geschäfte machen konnte als zeichnen:<br />

Als sein Vater ein Buch schrieb, aber keinen Verlag<br />

finden konnte, baute er mit ihm selbst einen auf. Anschließend<br />

arbeitete er als Fund Manager bei einem<br />

Wagnisfinanzierer, wo er aber nach eigenen Worten zu<br />

viel verdiente und zu viel schlief: „Ich musste wieder<br />

etwas Operatives machen.“<br />

Schließlich wagte er sich mit Etventure an ein Problem,<br />

mit dem sich viele Unternehmen herumschlagen:<br />

Wenn sie Elektriker, Lageristen oder Kfz-Mechaniker<br />

einstellen, finden sie nur schwer genügend gute<br />

Kandidaten. Denn Arbeiter suchen online kaum nach<br />

Jobs, tun sich mit Bewerbungen schwer und erscheinen<br />

oft nicht zu Vorstellungsgesprächen. Manes und<br />

seine Mitstreiter entwickelten eine Plattform, über die<br />

Unternehmen diese Mitarbeiter via Handy rekrutieren<br />

können. Die Bewerber beantworten per SMS einige<br />

Fragen zu ihrem Lebenslauf, erhalten über diesen Kanal<br />

auch eine Einladung zum Vorstellungsgespräch<br />

und werden per SMS an den Termin erinnert.<br />

Die ersten SMS von Bewerbern beantwortete Manes<br />

noch selbst und manuell – auch mitten in der Nacht. Das<br />

Geschäft lief, er gründete Mobile Job mit Startkapital von<br />

Etventure, baute eine Online-Plattform auf, die die Jobinterviews<br />

per SMS komplett automatisiert führt. Das<br />

war im Januar – inzwischen hat das Start-up fast 2000<br />

Bewerber vermittelt und beschäftigt sieben Mitarbeiter.<br />

Zwar halten Manes und sein Mitgründer nur ein Drittel<br />

der Anteile an seinem Unternehmen, der Rest gehört Etventure<br />

und Investoren. „Das ist schmerzhaft, aber anders<br />

als die meisten Gründer erhalte ich von Anfang Finanzierung,<br />

Infrastruktur und ein Gehalt“, sagt Manes.<br />

„Ohne Etventure hätte ich Mobile Job nie gestartet.“ n<br />

jens.tönnesmann@wiwo.de<br />

Helfer im<br />

Hintergrund Kerem<br />

Köksal (vorne),<br />

Entrepreneur in<br />

Residence bei<br />

Tobias Seikel <strong>vom</strong><br />

Inkubator Hanse<br />

Ventures<br />

WirtschaftsWoche 3.11.2014 Nr. 45 17<br />

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Karriereleiter<br />

»Google-Alarm auf Ihren Namen«<br />

DIGITALE SELBSTVERMARKTUNG | Sechs Profis verraten, wie Berufseinsteiger ihre Karriere im Netz<br />

vorantreiben können.<br />

»Was würde ein Headhunter oder Interessent wohl eingeben,<br />

wenn er beispielsweise die Detailsuche bei Xing nutzt, um jemand wie<br />

Sie zu finden? Stimmen Sie Ihr Profil darauf ab, streichen Sie Überflüssiges.<br />

So wird niemand nach Teamfähigkeit suchen, wohl aber nach<br />

Kenntnissen in agilem Projektmanagement wie Six Sigma und Scrum.<br />

Denken Sie auch an verschiedene Schreibweisen, wie Product Manager<br />

und Produktmanager und nehmen Sie beide Möglichkeiten in<br />

Ihr Profil auf.«<br />

Svenja Hofert berät Unternehmen und Privatleute in Karrierefragen<br />

»Es mag altbacken klingen:<br />

Aber auch im Netz ist ein kräftiges Profilbild das A und O –<br />

aussageschließlich<br />

hinterlassen Sie darüber<br />

bei potenziellen Arbeitgebern den<br />

ersten Eindruck. Achten Sie auf das<br />

richtige Format und einen hellen<br />

Hintergrund. Und natürlich sollten<br />

Sie gut erkennbar sein.«<br />

Joachim Rumohr<br />

Coach mit Schwerpunkt berufliche Netzwerke<br />

»Investieren Sie Zeit, um sich gezielt<br />

eine Online-Reputation aufzubauen.<br />

Dazu empfiehlt sich beispielsweise das<br />

regelmäßige Publizieren von fachlichen<br />

Inhalten in einem professionellen Blog.<br />

Verlinken Sie die Texte auf Ihren<br />

anderen Online-Profilen.«<br />

Klaus Eck<br />

entwickelt Social-Media-Strategien für Unternehmen<br />

und Privatpersonen<br />

»Berufseinsteiger sollten in ihren<br />

Online-Profilen auch Fähigkeiten und<br />

Erfahrungen außerhalb der formalen<br />

Qualifikationen angeben – etwa ein<br />

Ehrenamt, politisches Engagement oder<br />

sportliche Erfolge. Und zwar nicht als<br />

Hobby, sondern unter dem Punkt<br />

Berufserfahrung – schließlich werden<br />

auch hier relevante Kompetenzen<br />

erworben und vertieft.«<br />

Constanze Wolff<br />

schreibt Karriereratgeber für die sozialen Netzwerke<br />

»Richten Sie sich einen Google<br />

Alert mit Ihrem Namen ein, um<br />

stets zu wissen, was über Sie<br />

geschrieben wird. Denn alles,<br />

was Sie auf diese Weise über sich<br />

erfahren, bringt auch ein<br />

Personaler in Erfahrung.«<br />

Michael Wurster<br />

ist Autor des Buchs „Karriere-Schmiede“<br />

»Wählen Sie lieber einige wenige<br />

Portale oder Netzwerke aus, aber pflegen<br />

Sie Ihre Profile dort nachhaltig.<br />

Seien Sie keine Eintagsfliege. Treten Sie<br />

Gruppen bei, die in Ihr Interessengebiet<br />

gehören. Kontaktieren Sie alte<br />

Kommilitonen, Professoren und<br />

Kollegen früherer Arbeitgeber.<br />

Je aktiver Sie sind, desto<br />

besser können Sie gefunden werden.«<br />

Kathrin Südmeyer<br />

Coach für Bewerbungstrainings<br />

So viele Mitglieder hat<br />

Xing (in Millionen)*<br />

4,8 8,8 11,7 14<br />

2007 2009 2011 2013<br />

*Zahlen gerundet; Quelle: Xing<br />

«<br />

FOTO: SIMONE SCARDOVELLI<br />

18 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Mein Weg<br />

»Geh deinen<br />

Weg«<br />

INTERVIEW | Carla Kriwet Wie sich die Philips-<br />

Deutschland-Chefin den Mitarbeiter<br />

der Zukunft vorstellt. Und warum sie mit<br />

der U-Bahn ins Büro fährt.<br />

Frau Kriwet, haben Sie heute beim Frühstück schon<br />

mit Ihrem iPad gesprochen?<br />

Das Frühstück gehört der Familie, in dieser Zeit sind<br />

diese Geräte für uns tabu. Aber warum sollte ich mit<br />

meinem iPad sprechen?<br />

Um Ihrer Kaffeemaschine mitzuteilen, ob Sie den<br />

Kaffee mild oder lieber kräftig mögen. So wie Philips<br />

es gerade auf der IFA demonstriert hat.<br />

Ein tolles Produkt. Ich bin aber kein Typ für technische<br />

Spielereien, sondern brauche Innovationen, die einen<br />

echten Nutzen haben.<br />

Wie können solche Spielereien eine Traditionsmarke<br />

wie Philips fit machen fürs digitale Zeitalter?<br />

Ein schickes Design oder eine lustige Idee reichen da<br />

sicher nicht. Wichtig ist nicht die Entwicklung isolierter<br />

Produkte, sondern integrierter Lösungen, über die wir<br />

nach unserem Motto „Innovation&You“ bis 2025 weltweit<br />

drei Milliarden Menschen erreichen wollen.<br />

An welche Lösungen denken Sie?<br />

Künftig wird man mit wenigen Personen in der Lage<br />

sein, die Beleuchtung ganzer Städte individuell zu<br />

steuern – von Parkhäusern, deren Leuchten den Weg<br />

zu Ihrem Auto weisen, bis zur Beleuchtung eines<br />

Schulwegs, um Kinder sicher zum Unterricht zu bringen.<br />

Mehr Komfort bei weniger Energieverbrauch –<br />

das ist Mehrwert, den ich meine.<br />

Wie stark wird die Digitalisierung Struktur, Organisation<br />

und Jobs bei Philips verändern?<br />

Signifikant. So ziemlich jeder Job wird sich in den kommenden<br />

zehn Jahren durch die Digitalisierung verändern,<br />

manche Profile werden verschwinden, viele sich<br />

graduell verändern, andere neu entstehen. Letztlich<br />

brauchen wir auf vielen Ebenen Mitarbeiter mit erweiterten<br />

Profilen. Auch wer nicht mit der Digitalisierung<br />

aufgewachsen ist, kann sich nicht zurücklehnen – ob<br />

im Verkauf, im Marketing oder in der Produktion. Wir<br />

brauchen Mitarbeiter, für die der Umgang mit digitalen<br />

Technologien selbstverständlich ist.<br />

Mit dem iPad kann heute jedes Kleinkind umgehen...<br />

Das genügt genauso wenig, wie Innovationen isoliert<br />

in der Forschungsabteilung zu entwickeln.<br />

Was braucht es also?<br />

Innovatives Denken über klassische Abteilungs-, ja<br />

Unternehmensgrenzen hinweg. Die wichtigsten Anregungen<br />

kommen von unseren Kunden, wir kooperieren<br />

mit Start-ups. Die ganze Art, zu denken und zu interagieren,<br />

muss und wird sich ändern.<br />

Woran machen Sie fest, ob jemand dieses neue<br />

digitale Denken mitbringt?<br />

Jeder muss lernbereit sein, egal, in welchem Alter. Neulich<br />

habe ich mich mit einem Kollegen unterhalten, der<br />

digitale Themen mit seinem Enkel diskutiert und dann<br />

selbst ausprobiert. Klasse! Wir brauchen in jedem Alter,<br />

auf jeder Hierarchiestufe Neugier, Offenheit und Flexibilität.<br />

Wir brauchen Mitarbeiter, die überlegen, was sie<br />

tun würden, wenn Philips ihr Unternehmen wäre. Die<br />

lieber einmal mehr um Entschuldigung fragen als um<br />

Erlaubnis. Die mit offenen Augen durchs Leben gehen<br />

und daraus Geschäftsideen ableiten statt darauf warten,<br />

dass ein anderer ihnen sagt, was sie zu tun haben.<br />

FOTO: CHRISTIAN O. BRUCH FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

20 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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Oder eine andere?<br />

DIE ZIELSTREBIGE<br />

Das kann mal nach Mitternacht sein, weil ich noch einen<br />

Auftrag verhandelt habe. Oder auch mal um vier<br />

Diversity ist ein wichtiges Thema, aber das Geschlecht<br />

ist kein allein entscheidendes Kriterium. Es geht auch Kriwet, 43, steht seit Uhr nachmittags, wenn ich meinem Sohn bei einem<br />

um Internationalität, Altersstruktur, unterschiedliches April 2013 an der Fußballspiel zusehen will. Da unterwerfe ich weder<br />

Denken. Und am Ende gilt: Am richtigen Platz ist die Spitze von Philips meine Mitarbeiter noch mich starren Normen. Menschen<br />

sollen dort und dann arbeiten, wo es für ihren<br />

Deutschland. Nach<br />

Person, die eine Aufgabe am besten erfüllen kann.<br />

dem Abitur half sie<br />

Sie gehören derzeit noch zu den wenigen Frauen, die mehrere Monate in Job oder ihr Projekt am sinnvollsten ist.<br />

es in deutschen Unternehmen ins Top-Management einer Aidsstation in Sie haben drei kleine Kinder – wie schaffen Sie es,<br />

geschafft haben. Wie fühlen Sie sich als Exotin in<br />

einer stark von Männern dominierten Welt?<br />

Burundi. 1995 startete<br />

die promovierte<br />

Job und Familie zu vereinbaren?<br />

Ich bin auch nicht die Superduper-mache-alles-Mutter.<br />

Bei uns kümmert sich hauptsächlich mein Mann<br />

Ich fühle mich gar nicht als Exotin. Unser Managementteam<br />

besteht zur Hälfte aus Frauen. Ich hatte in<br />

um die Kinder.<br />

Ökonomin bei<br />

Adtranz in Indien,<br />

wechselte 1997 zur<br />

meiner Karriere auch nie das Gefühl, als Frau benachteiligt<br />

worden zu sein.<br />

Group, 2003 zu Nie. Er findet unsere Aufteilung gut, genau wie ich. Als<br />

Boston Consulting<br />

Wie oft ist diese Rollenverteilung Thema bei Ihnen?<br />

Welche Ihrer Eigenschaften haben Sie dahin<br />

Linde und 2011 zu Freiberufler kann er sich flexibel organisieren und hat<br />

gebracht, wo Sie jetzt sind?<br />

Dräger. Die dreifache viel Zeit für die Kinder. Ich habe es diesbezüglich ziemlich<br />

einfach.<br />

Ich denke, dass ich viel Unternehmertum mitbringe Mutter ist Vize-Auf-<br />

und Menschen begeistern kann. Ich bin eine sehr ehrgeizige<br />

Lernerin. Ob von meinen Kollegen, Mitarbei-<br />

Gar nicht. Wir sind ein holländisches Unternehmen,<br />

sichtsratsvorsitzen-<br />

de der Kinderrechts-<br />

Bei Philips duzt man sich. Wie schwer fällt Ihnen das?<br />

organisation Save<br />

tern, Kunden – ich lerne jeden Tag und bin neugierig the Children. mich duzt hier jeder.<br />

auf neue Ideen.<br />

Neben Frauenpower und lockeren Umgangsformen<br />

Kriegen Sie die auch, wenn Sie mit Rad und U-Bahn<br />

ins Büro fahren?<br />

Das mache ich, weil es viel praktischer ist, als im Stau<br />

zu stehen. Ich brauche keine Statussymbole und genieße<br />

es, Zeit zu haben, um mich auf Themen vorbereiten<br />

steht Philips derzeit für Jobabbau und Restrukturierung:<br />

Der Konzern wird aufgespalten, bis Ende 2014<br />

sollen weltweit 1,5 Milliarden Euro gespart werden.<br />

Nicht optimal im Kampf um die besten Talente...<br />

Philips steht vor allem für ein Unternehmen mit klarer<br />

zu können und in Ruhe den Tag zu planen.<br />

Wachstumsstrategie, das den Menschen in den Mittel-<br />

Wann ist der Tag für Sie zu Ende? punkt stellt...<br />

»<br />

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Mein Weg<br />

»Ratschläge von oben halte ich für<br />

schwierig. Jeder muss seine Stärken<br />

finden und Spaß dabei haben«<br />

»<br />

...und bis Jahresende 6700 Stellen abbauen will.<br />

Wir zählen in einschlägigen Wettbewerben seit vielen<br />

Jahren regelmäßig zu den besten Arbeitgebern und bekommen<br />

viele herausragende Bewerbungen. Natürlich:<br />

Es gibt immer Lebenszyklen für Produkte und Geschäftsmodelle.<br />

Aber wir investieren viel in innovative<br />

Forschung, stellen viele Spezialisten ein, wollen aber<br />

auch die gesamte Organisation voranbringen, haben<br />

den Trainingsetat für Digitales verdreifacht.<br />

Für wie digital halten Sie sich selbst?<br />

Ich treibe bei Philips digitale Geschäftsmodelle voran,<br />

sie sind Kern unserer Wachstumsstrategie.<br />

Der letzte Eintrag auf Ihrem Facebook-Account ist<br />

allerdings gut zwei Jahre alt...<br />

Stimmt, ich poste nicht und kann auch aus Zeitgründen<br />

nicht alle Anfragen beantworten.<br />

Opel-Marketing-Vorstand Tina Müller twittert auch<br />

mal ein Foto aus dem Urlaub...<br />

Ich nicht. Ich halte mein Privatleben privat. Meine Kinder<br />

sollen selbst entscheiden, was sie von sich preisgeben<br />

und was nicht. Aber ich nutze digitale Plattformen,<br />

um geschäftsrelevante Informationen zu teilen.<br />

Haben Sie die neue Apple Watch bestellt?<br />

Ich probiere diverse Fitnessuhren aus und sehe mir die<br />

dazugehörigen Apps an – schon weil wir selbst große<br />

Hoffnungen auf die Digitalisierung des Gesundheitsbereichs<br />

setzen. Ich kenne auch die Uhr von Apple –<br />

das Design finde ich beeindruckend, halte sie aber<br />

eher für ein cooles Gadget. Und ich glaube, dass die<br />

Welt mehr als Gadgets braucht – nämlich Lösungsketten<br />

dahinter, wie die Verbindung zum Hausarzt oder<br />

zu einer Klinik, die über all ihre Messdaten verfügen<br />

und daraus individuelle Therapien ableiten können.<br />

Das Thema Gesundheit zieht sich wie ein roter Faden<br />

durch Ihre Biografie. Wie kamen Sie auf die Idee, in<br />

Burundi bei der Behandlung von Aidskranken zu<br />

helfen und dafür sogar Ihre Abi-Feier zu schwänzen?<br />

Auf der Abi-Feier hab ich wohl nicht so viel verpasst.<br />

Mich hat dieser Bereich einfach immer interessiert, ich<br />

habe auch lange überlegt, in der Entwicklungshilfe zu<br />

arbeiten oder Medizin zu studieren.<br />

Sie haben sich dann doch für ein BWL-Studium und<br />

eine Managerkarriere entschieden. Weil Ihnen Ihr<br />

Vater, damals Vorstandsvorsitzender von Thyssen,<br />

auf die Finger geklopft hat?<br />

(Lacht) Keinesfalls. Ich war damals 18, konnte also tun,<br />

was ich wollte. Und mein Vater hätte sich bei dieser<br />

Entscheidung auch nicht eingemischt. Ich habe nach<br />

dem Projekt die Region mit dem Rucksack bereist und<br />

mir Zeit gelassen – damals waren Mobiltelefone noch<br />

nicht verbreitet, man war nicht ständig erreichbar.<br />

Was Carla Kriwet in<br />

Afrika gelernt hat<br />

• Sich selbst nicht so<br />

wichtig zu nehmen<br />

• Sich nicht so schnell<br />

über alles aufzuregen<br />

• Scheinbar große<br />

Probleme zu relativieren<br />

BURUNDI<br />

Ärztin oder Entwicklungshelferin sind Sie trotzdem<br />

nicht geworden...<br />

Ich glaube, dass ich als Ökonomin auch meinen Beitrag<br />

leisten kann. Ich engagiere mich als stellvertretende<br />

Aufsichtsratsvorsitzende der Kinderrechtsorganisation<br />

Save the Children Deutschland. Und bei Philips<br />

kann ich Hilfe und Geschäft sogar verbinden: Wir haben<br />

mit Partnern vor Ort eine zuverlässige, leicht zu<br />

wartende Solarleuchte entwickelt, die Slums, Marktstände<br />

oder Schulwege beleuchten kann. Damit fördern<br />

wir Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung und<br />

über Hilfe zur Selbsthilfe die Bildung vor Ort. Diese<br />

Möglichkeiten berühren mich extrem. Spenden sind<br />

sehr wichtig, aber schlaue Ideen, die als Multiplikator<br />

wirken, sind noch besser.<br />

Was haben Sie aus Ihrer Zeit in Burundi mitgenommen<br />

fürs Leben?<br />

Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Das hilft vor allem,<br />

wenn es mal nicht so gut läuft, ein Auftrag floppt,<br />

ich mit den Kindern über die Wahl des richtigen Fußballclubs<br />

diskutiere. Man kann sich ja schnell über alles<br />

Mögliche aufregen. Aber wenn man Menschen hat<br />

sterben sehen, dann relativiert sich vieles.<br />

Sie haben eine Karriere im Raketentempo hingelegt,<br />

bis es nach Ihrem Wechsel zu Dräger mit Ende 30 zu<br />

einem unerwarteten Knick kam: Sie mussten nach elf<br />

Monaten wieder gehen. Wie haben Sie diesen Rückschlag<br />

verdaut?<br />

Ich bin selbst gegangen, und es gab gute Gründe dafür.<br />

Ich möchte die Zeit bei Dräger auch nicht missen – gerade<br />

aus Rückschlägen kann man extrem viel lernen.<br />

Warum haben Sie bald danach das Engagement für<br />

Save the Children angenommen, statt einfach<br />

mal mehr Zeit für Ihre eigenen Kinder zu haben?<br />

Das sollte man nicht aufrechnen. Ich engagiere mich<br />

für die Organisation, weil sie Millionen von Kindern<br />

die Chance auf eine gute Zukunft gibt. Das ist eine unheimliche<br />

Bereicherung.<br />

Warum haben Sie sich dann für Philips entschieden?<br />

Weil mich die für einen Konzern ungewöhnlich offene<br />

Unternehmenskultur anspricht. Die soll sich dann<br />

auch in unseren neuen Räumen spiegeln, die wir 2015<br />

mit den 1100 Mitarbeitern beziehen werden, die derzeit<br />

hier im Tower arbeiten. Momentan sitzen wir zwar<br />

im Zentrum Hamburgs, und ich habe einen fantastischen<br />

Blick über die Stadt. Aber wir verbringen viel zu<br />

viel Zeit im Aufzug. Künftig schaffen wir mehr Raum<br />

für zufällige Begegnungen und übergreifende Projekte.<br />

Aber Sie haben weiter ein Einzelbüro?<br />

Nein, das brauche ich auch nicht.<br />

Ihr Vater zählte über Jahrzehnte zu den mächtigsten<br />

Managern Deutschlands. Was war sein bester Rat?<br />

Dass er nie Ratschläge gegeben hat. Er hat uns fünf Kinder<br />

so genommen, wie wir waren, und hatte nie den<br />

Anspruch, einem von uns den Lebensweg vorzudefinieren.<br />

So mache ich es auch bei meinen Kindern, aber<br />

auch mit Mitarbeitern: Ratschläge von oben halte ich<br />

für schwierig. Jeder muss seinen eigenen Weg gehen,<br />

seine eigenen Stärken finden und Spaß dabei haben. n<br />

manfred.engeser@wiwo.de<br />

22 Nr. 45 3.11.2014 WirtschaftsWoche<br />

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