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THALIA | Reiseziele<br />
Meistersinger in<br />
Roulettenburg<br />
Literarische Streifzüge in Wiesbaden<br />
Dirk Heißerer<br />
Autor und „Wegweiser”<br />
des literarischen<br />
Spaziergangs im<br />
Thalia Magazin<br />
© Christina Bleier<br />
Nach Wiesbaden kommt je<strong>der</strong> gerne.<br />
Ob Bewohner, Besucher o<strong>der</strong><br />
Besatzer, durch die Zeiten hinweg<br />
fühlen sich alle hier wohl. Ein Hauptgrund<br />
dafür ist das Heilwasser, das noch heute aus<br />
14 Quellen im Stadtgebiet sprudelt. Sie verdanken<br />
sich einer einzigartigen geologischen<br />
Störungszone zwischen dem Rheinischen<br />
Schiefergebirge und dem Oberrheingraben.<br />
Schon die römischen Eroberer schätzten die<br />
Aquae Mattiacorum, die Wasser <strong>der</strong> Mattiaker,<br />
<strong>wie</strong> <strong>der</strong> damals hier ansässige germanische<br />
Stamm genannt wurde. In dem um 830 n. Chr.<br />
„Wisibada“ genannten heilsamen Wiesenbad<br />
herrschten erst die Grafen, dann die Fürsten,<br />
schließlich die Herzöge von Nassau in Schloss<br />
Biebrich direkt am Rhein. Und während sich<br />
Wiesbaden im 19. Jh. zu einem internationalen<br />
Kurort mit Spielbank entwickelte, war man<br />
nach 1866 zugleich Verwaltungssitz eines<br />
preußischen Regierungsbezirks in <strong>der</strong> Provinz<br />
Schiller-Denkmal (1905) vor<br />
dem Hessischen Staatstheater<br />
Hessen-Nassau. Von den Amerikanern im März<br />
1945 kampflos erobert, wurde Wiesbaden zur<br />
Landeshauptstadt von Hessen und ist heute<br />
mit rund 273.00 Einwohnern nach Frankfurt<br />
die größte Stadt des Bundeslandes.<br />
Verlage und Verleger<br />
Vor dem Hauptbahnhof erstreckt sich seit<br />
1932 auf einem ehemaligen Reichsbahngelände<br />
eine auf Initiative zweier Stifter<br />
angelegte Grünfläche; durch die Herbert- und<br />
Reisinger-Anlagen lässt sich trefflich Richtung<br />
Innenstadt gehen. Und wer genau hinschaut,<br />
entdeckt einen 1995 von <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
zur För<strong>der</strong>ung von Publizität und Kommunikation<br />
(GFPK) gesetzten Gedenkstein für die<br />
Brü<strong>der</strong> Herzfelde, also für John Heartfield, den<br />
„Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Politischen Fotomontage“,<br />
und Wieland Herzfelde, den „Verleger und<br />
Schriftsteller“; von den beiden heißt es: „Ihre<br />
Jugendjahre verbrachten die Brü<strong>der</strong> in<br />
Wiesbaden, später kämpften sie mit den Mitteln<br />
ihrer Kunst gegen Krieg und Faschismus.“<br />
Auch wenn <strong>der</strong> Stein schon etwas verwittert<br />
ist, sind die Brü<strong>der</strong> Herzfelde kein schlechtes<br />
Empfangskomitee. Erst recht angesichts <strong>der</strong><br />
Tatsache, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
renommierte Verlage aus Leipzig hier<br />
neu angesiedelt hatten, darunter Brockhaus,<br />
Insel, Thieme, Dieterich und Harrassowitz, von<br />
denen heute nur noch <strong>der</strong> Wissenschaftsverlag<br />
Otto Harrassowitz hier firmiert. Einige<br />
dieser Verlage fanden eine erste Anlaufstelle,<br />
<strong>wie</strong> Max Nie<strong>der</strong>mayer berichtet, „in einem<br />
ehemaligen kleinen Hotel und Badhaus, dem<br />
Pariser Hof“ in <strong>der</strong> Spiegelgasse 9 (heute<br />
Pariser Hoftheater und Sitz des Aktiven<br />
Museums). Nie<strong>der</strong>mayer selbst gründete dort<br />
den Limes-Verlag und schaffte es, den damals<br />
verfemten Dichter Gottfried Benn als Autor zu<br />
gewinnen und seinem Werk zum Durchbruch<br />
zu verhelfen. Max Nie<strong>der</strong>mayers Erinnerungen<br />
„Pariser Hof“ (1965) sind lesenswert<br />
geblieben. Nicht vergessen sei aber auch<br />
Walter Kempowskis „Uns geht‘s ja noch gold.<br />
Roman einer Familie“ (1972); Wiesbaden in <strong>der</strong><br />
amerikanischen Besatzungszeit wird darin in drei<br />
Worten zusammengefasst: „Kippensammler<br />
und Straßenkreuzer“.<br />
Kurgast Goethe<br />
Zwei „unvergleichliche Sommer“ (Albert<br />
Schaefer) hat <strong>der</strong> Dichterfürst Johann<br />
Wolfgang von Goethe 1814 und 1815 in<br />
Wiesbaden als Kurgast verbracht. Beschäftigt<br />
mit den Gedichten zum „West-östlichen<br />
Divan“, aber auch mit den Neapel-Passagen<br />
seiner „Italienischen Reise“ nahm er zugleich<br />
regelmäßig die vorgeschriebenen Bä<strong>der</strong>, so<br />
dass er in Wiesbaden einen „wahren Cur- und<br />
Lustort“ fand, von dem aus er literarisch ersprießliche<br />
Ausflüge in die nähere und weitere<br />
Umgebung unternahm: „Wenn man von <strong>der</strong><br />
Höhe vor Wiesbaden den Rhein sieht, von<br />
Oppenheim herab bei Mainz vorbeifließen<br />
und <strong>wie</strong> er dann gegen Elfeld (Eltville) die<br />
große Aue in sich faßt und weiter hinab die<br />
Reihe von Ortschaften, <strong>der</strong> Johannesberg und<br />
bis Bingen die Landschaft erscheint, so weiß<br />
man doch warum man Augen hat“, schreibt er<br />
am 27. Mai 1815 an den Freund Zelter. Häufig<br />
wan<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Dichter auch zum Neroberg und<br />
zum Geisberg hinauf und meinte dazu: „Man<br />
bedarf in Wiesbaden nur einer Viertelstunde<br />
Steigens, um in alle Herrlichkeit <strong>der</strong> Welt zu<br />
blicken.“ Die anlässlich dieser Bemerkung 1932<br />
errichtete Goethewarte in <strong>der</strong> Liebigstraße<br />
ist heute allerdings in einem Wohngebiet<br />
versteckt und <strong>der</strong> gewiss prächtige Ausblick<br />
über die hohen Bäume ist nur demjenigen<br />
vergönnt, <strong>der</strong> Einlass in den kantigen Turm mit<br />
seinen vergitterten Fenstern findet.<br />
Meistersinger, Spieler, Dichter<br />
Nicht weit von Schloss Biebrich, wo Goethe<br />
am 28. August 1814 seinen 65. Geburtstag<br />
feierte, verbrachte ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
später <strong>der</strong> Komponist Richard Wagner von<br />
Februar bis November 1862 neun Monate in<br />
<strong>der</strong> Villa Rheingaustraße 137 und „schuf“ hier,