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Barftgaans April-Mai 2014

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Krimis, noch mal 1913<br />

und eine Liebesgeschichte<br />

Sechs Bücher – mehr oder weniger empfohlen<br />

Feuilleton<br />

Kommissar Gereon Rath ist – mit Verlaub – ein Arschloch.<br />

Da er im Stillen die meisten seiner Kollegen auch so tituliert,<br />

sei dieses Wort ausnahmsweise zugelassen. Seine Freundin<br />

Charlotte schimpft ihn »Scheißkerl«, wenn er sich wieder<br />

einmal viel zu lange nicht meldet und auf eigene Faust<br />

recherchiert. Der Mann raucht zu viel, sein Alkoholkonsum<br />

erreicht beunruhigende Höhe und er spielt, wenn es zum<br />

Showdown kommt, gerne den Helden. Er hat nicht nur die<br />

sprichwörtliche, sondern eine reale Leiche im Keller und<br />

macht, weil erpressbar, Geschäfte mit dem Boss der Berliner<br />

Unterwelt. Der Kriminalist mag seinen Namen: Gereon Rath<br />

– weil das so wie 'Kriminalrat' klingt. Von dieser dienstlichen<br />

Hierarchiestufe allerdings dürfte der Ermittler, den Volker<br />

Kutscher nun schon durch vier seiner Bücher geistern lässt,<br />

sehr weit weg sein.<br />

Auch nach insgesamt 2237 Seiten »Der nasse Fisch«, »Der<br />

stumme Tod«, »Goldstein« und »Die Akte Vaterland« ändert<br />

man seine Meinung über diesen Polizisten nicht. Und noch<br />

etwas kommt hinzu: Großmundig angekündigt als Krimis,<br />

die im Berlin der Jahre 1929/31 spielen, erwartet der Leser<br />

entschieden anderes, Historisches auch. Es ist Ärgernis, dass<br />

der Autor offenbar der Totalitarismustheorie erliegt und<br />

grundsätzlich völlig undifferenziert über »die Kommunisten<br />

und die Nazis« (oder umgekehrt) schreibt. Dass Rath Begriffe<br />

wie »zeitnah« benutzt und Pommes frites isst, gehört<br />

genauso zu den Fehlleistungen. Schade also und eher eine<br />

Nichtempfehlung.<br />

Empfehlenswert dagegen ist das nur 73 Seiten starke Büchlein<br />

von Erik Baron »Das andere 1913«. Wer Florian Illies`<br />

»1913« gelesen hat, müsste sich diese Publikation als Ergänzung<br />

dazustellen. Vielleicht werden manche Baron einen<br />

Besserwisser schelten, aber wenn einer der Meinung ist »es<br />

fehlt was!«, darf er das auch gerne zur Kenntnis geben. Erik<br />

Baron war der Ansicht (und er hat damit Recht), dass Illies`<br />

plaudernde Betrachtungen einseitig sind. So schreibt Baron<br />

im Vorwort: »Warum ist Illies die Nennung der Geburtstage<br />

von Gert Fröbe, Peter Frankenfeld … Marika Rökk wichtig,<br />

während er Stefan Heym unter den Tisch fallen lässt?« – Es<br />

geht also wieder einmal um die Deutungshoheit von Geschichte<br />

und Barons Büchlein ist ein Einspruch. Dagegen,<br />

dass bei Illies Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Wieland Herzfelde,<br />

Ernst Barlach, Egon Erwin Kisch, Johannes R. Becher<br />

oder Hans Fallada keine Rolle spielen. Dass Illies dem Jahr<br />

1913 scheinbar tiefsten Frieden attestiert.<br />

Aber: Erich Mühsam schreibt im September in einem Bericht<br />

über den Jenaer Parteitag an die Adresse der SPD: »… wird<br />

man von Revisionisten in Ihrer Partei nicht mehr reden können.<br />

Die Revision ist vollzogen. Sie haben sich in diesem Saal<br />

in optima forma selbst als eine staatserhaltende, nationale,<br />

bürgerliche und militärfromme Partei bekannt.« Als Rosa<br />

Luxemburg im Frankfurter Raum zur selben Zeit auf Volksversammlungen<br />

»Gegen Militarismus und imperialistischen<br />

Krieg« spricht, wird sie wegen »Aufforderung zum Ungehorsam<br />

gegen Gesetze« angeklagt.<br />

Es ist schön, wenn wir durch Florian Illies (der in diesem Jahr<br />

mit dem Ludwig Börne Preis geehrt wird) erfahren, wie es<br />

Hermann Hesse erging oder was Rainer Maria Rilke machte,<br />

ein wenig mehr Politisierung hätte seinem Buch allerdings<br />

nicht geschadet. Und genau das unternimmt Erik Baron. Als<br />

wichtige Revision von Illies Jahresrevue, die er im Untertitel<br />

»Der Sommer des Jahrhunderts« nennt. Die Erwiderung<br />

Barons darauf heißt »Ein Jahrhundertsommer mit Gewitterwolken«,<br />

was der Geschichte viel näher kommt. –<br />

Ganz anders ist das Büchlein »Liebe Lotte«. Es geht, wie<br />

gleich vermutet, um Goethes Charlotte Buff aus Wetzlar,<br />

Werthers unglückliche Liaison. Ausgerechnet von einem<br />

Amerikaner, einem Mann (!), Professor für deutsche Literatur,<br />

wurde dieser Briefroman verfasst, in dem sich Lotte<br />

mit ihrer Freundin Claire austauscht über die Irrungen und<br />

Wirrungen dieser Liebe. Geschrieben ist das Ganze in der<br />

blumigen Sprache der Zeit, weshalb man sich erst einlesen<br />

muss. Der Autor folgt der seit Rousseau erfolgreichen Dialogform<br />

des Briefromans, nicht der monologischen, die Goethe<br />

mit dem »Werther« benutzt. Durch die wechselseitige<br />

Einwirkung der beiden Freundinnen wird das Geschehen<br />

beurteilt und relativiert; nicht wie bei Goethe, der den Leser<br />

direkter anspricht. Vielleicht dürfen einige Dinge, die Emanzipation<br />

der Frau um 1770 betreffend, bezweifelt werden.<br />

Obwohl sich die Leidenschaften über die Jahrhunderte nicht<br />

verändert haben – warum also nicht. Der Schluss zumindest<br />

ist überraschend und beantwortet die Frage, die Literaturwissenschaftler<br />

nicht nur angesichts der Affäre Goethes mit<br />

Lotte Buff umtreibt, sondern die bei der anderen Charlotte,<br />

der von Stein, immer mal wieder auftaucht: Haben sie nun<br />

oder haben sie nicht? Lesen Sie selbst, was der Autor Kim<br />

Vivian (eigentlich heißt als Mann so kein Mensch) im Plauderton<br />

der Zeit und mit der nötigen Melodramatik zu Papier<br />

brachte!<br />

[Barbara Kaiser]<br />

www.barftgaans.de | <strong>April</strong> / <strong>Mai</strong> <strong>2014</strong> | 13

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