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Krimis, noch mal 1913<br />
und eine Liebesgeschichte<br />
Sechs Bücher – mehr oder weniger empfohlen<br />
Feuilleton<br />
Kommissar Gereon Rath ist – mit Verlaub – ein Arschloch.<br />
Da er im Stillen die meisten seiner Kollegen auch so tituliert,<br />
sei dieses Wort ausnahmsweise zugelassen. Seine Freundin<br />
Charlotte schimpft ihn »Scheißkerl«, wenn er sich wieder<br />
einmal viel zu lange nicht meldet und auf eigene Faust<br />
recherchiert. Der Mann raucht zu viel, sein Alkoholkonsum<br />
erreicht beunruhigende Höhe und er spielt, wenn es zum<br />
Showdown kommt, gerne den Helden. Er hat nicht nur die<br />
sprichwörtliche, sondern eine reale Leiche im Keller und<br />
macht, weil erpressbar, Geschäfte mit dem Boss der Berliner<br />
Unterwelt. Der Kriminalist mag seinen Namen: Gereon Rath<br />
– weil das so wie 'Kriminalrat' klingt. Von dieser dienstlichen<br />
Hierarchiestufe allerdings dürfte der Ermittler, den Volker<br />
Kutscher nun schon durch vier seiner Bücher geistern lässt,<br />
sehr weit weg sein.<br />
Auch nach insgesamt 2237 Seiten »Der nasse Fisch«, »Der<br />
stumme Tod«, »Goldstein« und »Die Akte Vaterland« ändert<br />
man seine Meinung über diesen Polizisten nicht. Und noch<br />
etwas kommt hinzu: Großmundig angekündigt als Krimis,<br />
die im Berlin der Jahre 1929/31 spielen, erwartet der Leser<br />
entschieden anderes, Historisches auch. Es ist Ärgernis, dass<br />
der Autor offenbar der Totalitarismustheorie erliegt und<br />
grundsätzlich völlig undifferenziert über »die Kommunisten<br />
und die Nazis« (oder umgekehrt) schreibt. Dass Rath Begriffe<br />
wie »zeitnah« benutzt und Pommes frites isst, gehört<br />
genauso zu den Fehlleistungen. Schade also und eher eine<br />
Nichtempfehlung.<br />
Empfehlenswert dagegen ist das nur 73 Seiten starke Büchlein<br />
von Erik Baron »Das andere 1913«. Wer Florian Illies`<br />
»1913« gelesen hat, müsste sich diese Publikation als Ergänzung<br />
dazustellen. Vielleicht werden manche Baron einen<br />
Besserwisser schelten, aber wenn einer der Meinung ist »es<br />
fehlt was!«, darf er das auch gerne zur Kenntnis geben. Erik<br />
Baron war der Ansicht (und er hat damit Recht), dass Illies`<br />
plaudernde Betrachtungen einseitig sind. So schreibt Baron<br />
im Vorwort: »Warum ist Illies die Nennung der Geburtstage<br />
von Gert Fröbe, Peter Frankenfeld … Marika Rökk wichtig,<br />
während er Stefan Heym unter den Tisch fallen lässt?« – Es<br />
geht also wieder einmal um die Deutungshoheit von Geschichte<br />
und Barons Büchlein ist ein Einspruch. Dagegen,<br />
dass bei Illies Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Wieland Herzfelde,<br />
Ernst Barlach, Egon Erwin Kisch, Johannes R. Becher<br />
oder Hans Fallada keine Rolle spielen. Dass Illies dem Jahr<br />
1913 scheinbar tiefsten Frieden attestiert.<br />
Aber: Erich Mühsam schreibt im September in einem Bericht<br />
über den Jenaer Parteitag an die Adresse der SPD: »… wird<br />
man von Revisionisten in Ihrer Partei nicht mehr reden können.<br />
Die Revision ist vollzogen. Sie haben sich in diesem Saal<br />
in optima forma selbst als eine staatserhaltende, nationale,<br />
bürgerliche und militärfromme Partei bekannt.« Als Rosa<br />
Luxemburg im Frankfurter Raum zur selben Zeit auf Volksversammlungen<br />
»Gegen Militarismus und imperialistischen<br />
Krieg« spricht, wird sie wegen »Aufforderung zum Ungehorsam<br />
gegen Gesetze« angeklagt.<br />
Es ist schön, wenn wir durch Florian Illies (der in diesem Jahr<br />
mit dem Ludwig Börne Preis geehrt wird) erfahren, wie es<br />
Hermann Hesse erging oder was Rainer Maria Rilke machte,<br />
ein wenig mehr Politisierung hätte seinem Buch allerdings<br />
nicht geschadet. Und genau das unternimmt Erik Baron. Als<br />
wichtige Revision von Illies Jahresrevue, die er im Untertitel<br />
»Der Sommer des Jahrhunderts« nennt. Die Erwiderung<br />
Barons darauf heißt »Ein Jahrhundertsommer mit Gewitterwolken«,<br />
was der Geschichte viel näher kommt. –<br />
Ganz anders ist das Büchlein »Liebe Lotte«. Es geht, wie<br />
gleich vermutet, um Goethes Charlotte Buff aus Wetzlar,<br />
Werthers unglückliche Liaison. Ausgerechnet von einem<br />
Amerikaner, einem Mann (!), Professor für deutsche Literatur,<br />
wurde dieser Briefroman verfasst, in dem sich Lotte<br />
mit ihrer Freundin Claire austauscht über die Irrungen und<br />
Wirrungen dieser Liebe. Geschrieben ist das Ganze in der<br />
blumigen Sprache der Zeit, weshalb man sich erst einlesen<br />
muss. Der Autor folgt der seit Rousseau erfolgreichen Dialogform<br />
des Briefromans, nicht der monologischen, die Goethe<br />
mit dem »Werther« benutzt. Durch die wechselseitige<br />
Einwirkung der beiden Freundinnen wird das Geschehen<br />
beurteilt und relativiert; nicht wie bei Goethe, der den Leser<br />
direkter anspricht. Vielleicht dürfen einige Dinge, die Emanzipation<br />
der Frau um 1770 betreffend, bezweifelt werden.<br />
Obwohl sich die Leidenschaften über die Jahrhunderte nicht<br />
verändert haben – warum also nicht. Der Schluss zumindest<br />
ist überraschend und beantwortet die Frage, die Literaturwissenschaftler<br />
nicht nur angesichts der Affäre Goethes mit<br />
Lotte Buff umtreibt, sondern die bei der anderen Charlotte,<br />
der von Stein, immer mal wieder auftaucht: Haben sie nun<br />
oder haben sie nicht? Lesen Sie selbst, was der Autor Kim<br />
Vivian (eigentlich heißt als Mann so kein Mensch) im Plauderton<br />
der Zeit und mit der nötigen Melodramatik zu Papier<br />
brachte!<br />
[Barbara Kaiser]<br />
www.barftgaans.de | <strong>April</strong> / <strong>Mai</strong> <strong>2014</strong> | 13