Tietje, O. & Scholz, R.W. - ETH Zurich - Natural and Social Science ...
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Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
Autoren:<br />
Olaf <strong>Tietje</strong><br />
Rol<strong>and</strong> W. <strong>Scholz</strong><br />
Inhalt<br />
1. Ursprung 231<br />
2. Charakteristika: Synthese und Wissensintegration 232<br />
3. Vom Lehre-Forschungs-Anwendungs-Paradigma zur Wissensintegration 234<br />
4. Übersicht 238<br />
5. Ausblick 241
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
Zusammenfassung<br />
Die <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudienmethodik<br />
wurde in ihren Grundzügen bereits<br />
mit der Fallstudie im Jahre 1994 festgelegt.<br />
Die Fallstudien-Methoden entstammen<br />
verschiedenen Gebieten der<br />
Wissenschaft, aus der Systemanalyse<br />
(z. B. System Dynamics), der Entscheidungsforschung<br />
(z. B. multikriterielle<br />
Nutzentheorie) oder dem Bereich<br />
der spezifisch umweltnaturwissenschaftlichen<br />
Methoden (z. B. Ökobilanz<br />
und Stoffflussanalyse). Einige<br />
Methoden wurden für die Fallstudienarbeit<br />
adaptiert, <strong>and</strong>ere wurden neu<br />
entwickelt, z.B. die Raumnutzungsverh<strong>and</strong>lungen.<br />
Die <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudienmethoden<br />
unterstützen die<br />
Fallstudienarbeit, insbesondere die<br />
Synthese und die Wissensintegration<br />
in den Projektgruppen.<br />
Mit der Anwendung und Weiterentwicklung<br />
der Fallstudien-Methoden<br />
wird ein wissenschaftlicher Beitrag<br />
zur Methodenentwicklung an der<br />
Schnittstelle zwischen Umweltsozialund<br />
Umweltnaturwissenschaften geleistet.<br />
Darüber hinaus leisten die Fallstudien-Methoden<br />
einen Beitrag zur<br />
Analyse und Regelung von Systemen<br />
der Anthroposphäre (z.B. Altlastenbearbeitung,<br />
Stadtentwicklung).<br />
Keywords: ill-defined problems,<br />
Wissensintegration, multikriterielle<br />
Bewertung, Synthese, Stoffflussanalyse,<br />
dynamische Modellierung, formative<br />
Szenarioanalyse.<br />
Résumé<br />
La méthodologie des études de cas<br />
EPFZ-UNS avait déjà été fixée dans<br />
ses gr<strong>and</strong>es lignes dans l’étude de cas<br />
de 1994. Les méthodes des études de<br />
cas proviennent de divers domaines de<br />
la science, de l’analyse des systèmes<br />
(par ex. System Dynamics), de la recherche<br />
de décision (par ex. théorie du<br />
profit multicritère ou du domaine des<br />
méthodes spécifiques des sciences naturelles<br />
écologiques (par ex. analyse<br />
de cycle de vie et analyse de flux).<br />
Certaines méthodes ont été adaptées<br />
au travail des études de cas, d’autres<br />
ont été nouvellement développées, par<br />
ex. négociations de l’utilisation de<br />
l’espace. Les méthodes des études de<br />
cas EPFZ-UNS renforcent le travail<br />
des études de cas, en particulier la<br />
synthèse et l’intégration des connaissances<br />
dans les groupes de projet.<br />
L’application et l’amélioration des<br />
méthodes des études de cas apportent<br />
une contribution scientifique au développement<br />
des méthodes à l’intersection<br />
entre les sciences sociales de l’environnement<br />
et les sciences physiques<br />
et naturelles. De plus, les méthodes<br />
des études de cas fournissent une contribution<br />
à l’analyse et au règlement de<br />
systèmes de l’anthroposphère (par ex.<br />
élaboration des décharges désaffectées,<br />
développement urbain).<br />
Mots-clés: ill-defined problems,<br />
intégration des connaissances, évaluation<br />
multicritère, synthèse, analyse de<br />
flux, System Dynamics, analyse formative<br />
des scénarios.<br />
Summary<br />
The basis of the <strong>ETH</strong>-UNS case study<br />
methodology had already been developed<br />
with the case study 1994. The<br />
case study methods originate from various<br />
scientific areas, from systems<br />
analysis (e.g. system dynamics), decision-making<br />
sciences (e.g. multi-attribute<br />
utility theory) or from the specific<br />
environmental sciences (e.g. environmental<br />
assessment <strong>and</strong> material flux<br />
analysis). Some methods were adapted<br />
for the <strong>ETH</strong>-UNS case study,<br />
others were developed anew, e.g. area<br />
development negotiations. The <strong>ETH</strong>-<br />
UNS case study methods support the<br />
case study work, in particular the synthesis<br />
<strong>and</strong> the knowledge integration<br />
conducted by the study teams.<br />
The application <strong>and</strong> further development<br />
of the case study methods are<br />
a scientific contribution to the development<br />
of methods, which organize<br />
the interface between the natural <strong>and</strong><br />
social sciences of the environment.<br />
Moreover, the case study methods<br />
contribute to analysis <strong>and</strong> regulation<br />
of anthropospheric systems (e.g. treatment<br />
of contaminated sites).<br />
Keywords: ill-defined problems,<br />
knowledge integration, multi-criteria<br />
evaluation, synthesis, material flux<br />
analysis, system dynamics, formative<br />
scenario analysis.<br />
230 UNS-Fallstudie 2000
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
1 Ursprung<br />
Die gegenwärtigen Herausforderungen, vor denen die berufstätigen<br />
UmweltnaturwissenschafterInnen stehen, sind<br />
häufig sogenannte ill-defined problems, also komplexe,<br />
schlecht definierbare Probleme. Die <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudien<br />
beschäftigen sich mit solchen ill-defined problems an realen,<br />
komplexen Fällen, bei denen Umweltaspekte zentral<br />
sind. Kennzeichnend für die <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudien ist, dass<br />
sie nicht von einer einzelnen Theorie oder einem speziellen<br />
Modellansatz ausgehen und versuchen, diesen in einer Fallstudie<br />
zu illustrieren. Ausgangspunkt der Fallstudie sind<br />
reale Fälle in ihrer Gesamthaftigkeit. Die Beteiligten sollen<br />
lernen, mit diesen Fällen umzugehen und sie wissenschaftlich<br />
zu bearbeiten. Die Fallstudienmethoden dienen dazu, in<br />
diesem unscharfen Raum zu manövrieren.<br />
Seit 1994 wurde in jedem Sommersemester eine Fallstudie<br />
neuen Stils durchgeführt. Lernziel war, einen «besonderen<br />
Typ von umweltnaturwissenschaftlicher Forschung und<br />
Anwendung» zu entwickeln (<strong>Scholz</strong>, Koller, Mieg, &<br />
Schmidlin, 1995, S. 14). Hierbei st<strong>and</strong> vielfach die Nachhaltigkeit<br />
als Anwendungsziel bzw. fallbezogener Zielzust<strong>and</strong><br />
im Vordergrund. Studien zur nachhaltigen Entwicklung<br />
zeichnen sich dadurch aus, dass nicht nur der Zielzust<strong>and</strong><br />
nicht wohldefiniert ist, sondern auch unklar ist, wie nachhaltig<br />
oder unnachhaltig der Anfangs- oder Ausgangszust<strong>and</strong><br />
ist. Zudem ist häufig unklar ist, welcher Typ von Barriere bei<br />
der «Problemlösung zu überwinden ist» (s. Abb. 1). Daraus<br />
ergab sich das Forschungsziel, wissenschaftliche Methoden<br />
anzuwenden oder (weiter) zu entwickeln, mit deren Hilfe<br />
gesellschaftlich relevante (Umwelt-) Probleme gelöst werden<br />
können. Ein besonderer Aspekt bei der Entwicklung der<br />
Fallstudienmethoden war weiterhin der Einbezug der Fallakteure.<br />
Die <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudien trugen insofern auch zur<br />
Entwicklung der Methoden der Transdisziplinarität bei, einer<br />
in den letzten Jahren verstärkt diskutierten und entwickelten<br />
Form der wissenschaftlichen Arbeit (vgl. Kap.<br />
Transdisziplinaritäts-Laboratorium <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudie;<br />
<strong>Scholz</strong>, 1999).<br />
Eine Reihe von wissenschaftlichen Methoden erwiesen<br />
sich als sinnvoll und notwendig und wurden für die Fallstudienarbeit<br />
als Fallstudienmethoden adaptiert oder neu<br />
entwickelt (<strong>Scholz</strong> & <strong>Tietje</strong>, in press). Von zentraler Bedeutung<br />
sind systemanalytische Methoden, auf die wir an dieser<br />
Stelle etwas näher eingehen möchten. Für eine Analyse von<br />
Umweltsystemen stellen diese Methoden häufig eine unabdingbare<br />
Voraussetzung dar. Die <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudienmethoden<br />
greifen aber im Rahmen der Verwendung von System<br />
Dynamics-Methoden nicht nur auf die Systemökologie<br />
(Odum, 1983; Richter, 1985; Fischlin, 1992) zurück, welche<br />
vornehmlich die Dynamik von Ökosystemen bis hin zum<br />
Weltmodell zum Gegenst<strong>and</strong> hatte (Meadows, Meadows, &<br />
R<strong>and</strong>ers, 1993; Fischlin et al., 1991). Ein Beispiel für diesen<br />
eher traditionellen naturwissenschaftlichen Umgang mit<br />
System Dynamics findet sich in der Fallstudie Zentrum<br />
Zürich Nord, in der der Wasserhaushalt eines Siedlungsgebiets<br />
modelliert wurde. System Dynamics wird in der <strong>ETH</strong>-<br />
UNS Fallstudie auch im Rahmen der Optimierung des «wissenschaftlichen<br />
Managements» (Forrester, 1961) genutzt,<br />
wie es sich im Operations Research entwickelt hat. Als<br />
Beispiel sei hier die Konstruktion sogenannter «Softmodelle»<br />
im Rahmen der Fallstudie 1995 Umwelt und Bauen<br />
genannt, mit der die Auswirkungen verschiedener umweltpolitischer<br />
Massnahmen auf die Stoffflüsse modelliert wurden<br />
(<strong>Scholz</strong>, Bösch, Koller, Mieg & Stünzi, 1996). Spezifisch<br />
umweltnaturwissenschaftliche Methoden wie die<br />
Stoffflussanalyse (Baccini & Bader, 1996) und das Life<br />
Cycle Assessment (Frischknecht, Hofstetter, Knoepfel, Dones<br />
& Zollinger, 1995) lassen sich im weiteren Sinne als<br />
Weiterentwicklungen oder Vereinfachungen dieses Modellansatzes<br />
ansehen. Diese spezifischen Methoden sind an die<br />
Datenlage und die Zielsetzung angepasst und finden auch<br />
ihren Platz in den <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudien. 1<br />
Abb. 1: Komplexe, schlecht definierbare<br />
Probleme (ill-defined problems).<br />
1 Ein typisches Beispiel findet sich im Kapitel Ökobilanz der Fallstudie Sulzer-Escher Wyss-Areal (<strong>Scholz</strong> et al., 1996) bzw. in der Synthesegruppe Gebäude<br />
in der Fallstudie Zentrum Zürich Nord (<strong>Scholz</strong>, Bösch, Mieg & Stünzi, 1997).<br />
UNS-Fallstudie 2000 231
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
Der historische Bezug zur Umweltsystemanalyse ist sicher<br />
wichtig und grundlegend. Mindestens von gleicher<br />
Bedeutung bei der Entwicklung der Synthesemethoden waren<br />
die Bezüge zur wirtschaftspsychologischen Entscheidungsforschung,<br />
zur Risikoforschung und zu den Planungswissenschaften.<br />
Schon in der ersten <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudie<br />
wurde eine formative Szenarioanalyse durchgeführt, eine<br />
Methodik, die in allen darauffolgenden Fallstudien Anwendung<br />
f<strong>and</strong> und weiterentwickelt wurde. Parallel zum wirtschaftswissenschaftlichen<br />
Bereich setzte sich – wenn auch<br />
langsamer und noch nicht vollständig – im Umweltbereich<br />
die Erkenntnis durch, dass die Systemanalyse und -beschreibung<br />
durch eine Bewertung von Systemzuständen zu ergänzen<br />
sei. Dies wurde schon programmatisch in einem der<br />
ersten Artikel zu den Zielsetzungen der Fallstudie und zum<br />
Studium Umweltnaturwissenschaften zum Ausdruck gebracht:<br />
«Zentral für die Absolventen/Absolventinnen [der<br />
Umweltnaturwissenschaften] sollte die Fähigkeit sein, Umweltsysteme<br />
ausgehend von einer naturwissenschaftlichen<br />
Analyse in ihrem Gesamtzusammenhang und ihren sozialen<br />
Bestimmungskomponenten zu analysieren, zu bewerten und<br />
zu reflektieren.» (<strong>Scholz</strong>, 1993). Wichtige Bezugspunkte<br />
der Fallstudie bilden somit die Entscheidungstheorie<br />
(<strong>Scholz</strong> et al., 1997; Keeney & Raiffa, 1976; Paustenbach,<br />
1989) sowie das Systemmanagement (Dauscher, 1998;<br />
Beroggi, 1999). Weil Fallstudienarbeit im Team stattfindet,<br />
best<strong>and</strong> eine Aufgabe auch darin, Methoden zur Kommunikation<br />
(vgl. Oswald & <strong>Scholz</strong>, 1999), Organisation (vgl.<br />
Mieg, <strong>Scholz</strong> & Stünzi, 1996) und zum Teammanagement<br />
(Schnelle, 1979) zu entwickeln.<br />
Die übergeordnete <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudienmethodik beinhaltet<br />
die wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische<br />
Fundierung der Fallstudien, insbesondere die Synthese und<br />
die Wissensintegration mit Hilfe der genannten Methoden,<br />
und deren Umsetzung für den Umgang mit dem Fall und die<br />
Organisation der Fallstudie. Sie stellt den ersten Versuch<br />
dar, die genannten Methoden und deren spezifischen Beitrag<br />
für eine ganzheitliche Falluntersuchung in einem wissenschaftlichen<br />
Konzept zusammenzufassen. Grundprinzip bei<br />
der Verwendung der Fallstudienmethoden ist das Postulat,<br />
dass der Gegenst<strong>and</strong> bzw. das vorliegende Problem die Wahl<br />
und die Ausgestaltung der wissenschaftlichen Methode bestimmt<br />
und nicht umgekehrt mit einer Methode auf einen<br />
Fall losgegangen wird und so lange gesucht wird, bis sich<br />
ein geeigneter Anwendungsaspekt ergibt. Damit unterscheiden<br />
sich die Fallstudienmethoden in einem weiteren Punkt<br />
von <strong>and</strong>eren Methoden, welche als transdisziplinäre Forschungsansätze<br />
bezeichnet werden. Als Beispiel seien hier<br />
der Bedürfnisfeld-Ansatz (Minsch & Mogalle, 1998) oder<br />
der Syndrom-Ansatz (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung<br />
Globale Umweltveränderungen, 1996) genannt.<br />
Diese sind nicht spezifisch fallorientiert bzw. nicht<br />
detailliert auf spezifische Einzelmethoden bezogen.<br />
Ziel dieses Kapitels ist es, die Bedeutung der wissenschaftlichen<br />
Methodik der <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudien zu betonen,<br />
mit einem Rückblick und Überblick Verständnis dafür<br />
zu wecken und dem interessierten Leser durch die Angabe<br />
von Referenzen den Einstieg in die wissenschaftliche Struktur<br />
und Vernetzung der Fallstudienmethodik zu ermöglichen.<br />
2 Charakteristika: Synthese und<br />
Wissensintegration<br />
Jede <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudie ist etwas Neues. Sie beschäftigt<br />
sich mit einem Fall. Der Fall ist ein spezieller und in gewisser<br />
Hinsicht einmaliger Gegenst<strong>and</strong>. Ein Gegenst<strong>and</strong> wird<br />
ein Fall, da er für etwas steht und ein bestimmtes Problem<br />
repräsentiert. Der «SBB-Bahngüterverkehr in der Region<br />
Zugersee» wird zum Fall, da an ihm die aktuellen Entwicklungsprobleme<br />
und Fragen der Umweltbewertung von Güterverkehr<br />
exemplarisch in einer solchen Weise untersucht<br />
werden können, dass Erkenntnisse gewonnen werden, die<br />
auch für <strong>and</strong>ere Fälle und die Problemlage des Güterverkehrs<br />
von Aufschluss sind.<br />
Da jede <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudie Fälle mit wissenschaftlich<br />
noch wenig oder unbefriedigt untersuchten Fragestellungen<br />
definiert, wird bei der Studie des Falls vielfach wissenschaftliches<br />
Neul<strong>and</strong> betreten. Fallstudien dieses Typs werden<br />
auch «groundbreaking case studies» genannt (<strong>Scholz</strong> &<br />
<strong>Tietje</strong>, in press). Die Studierenden werden auf eine harte<br />
Probe gestellt. Das Wissen, das sie sich in den bisherigen<br />
Studienjahren angeeignet haben, muss in eigenständiger,<br />
weitgehend selbstorganisierter Arbeit in einem neuen Gebiet<br />
mit neuen, praktischen, fallspezifischen Aspekten verknüpft<br />
und sinnvoll angewendet werden.<br />
Im Rahmen einer Fallbearbeitung treffen Studierende auf<br />
höchst unterschiedliche Probleme, wie die Lärmbelastung<br />
der Bevölkerung, die Qualität des Naturraumes oder die<br />
Wirtschaftlichkeit einer Bahnstrecke. In der Regel können<br />
die Studierenden einen Teil dieser Probleme lösen, indem<br />
sie auf im Studium vermitteltes Wissen zurückgreifen. Für<br />
einige Probleme müssen sie neue Lösungsstrategien erlernen<br />
oder gar entwickeln. Unterstützt und gecoacht werden<br />
sie dabei von einem Team von Fachtutorierenden.<br />
Eine Hauptaufgabe der Fallstudienarbeit ist die Synthese,<br />
die durch verschiedene Formen der Wissensintegration vorgenommen<br />
werden kann. Eine Form der Synthese ist, dass<br />
das Wissen verschiedener Fallakteure oder Fallexperten einbezogen<br />
wird. Dies erfolgt in der Regel dadurch, dass die<br />
Studierenden und die Tutorierenden, die Betroffenen und<br />
die <strong>and</strong>eren an der Fallstudie Beteiligten mitein<strong>and</strong>er kommunizieren<br />
und kooperieren. Dieser Prozess beginnt mit<br />
dem gegenseitigen Zuhören und endet im Entwickeln von<br />
Verständnis und dem wechselseitigen Lernen (mutual learning).<br />
Im Laufe der letzten Jahre hat sich für diese Arbeit der<br />
Begriff transdisziplinär entwickelt (vgl. <strong>Scholz</strong>, 2000; Häberli,<br />
<strong>Scholz</strong>, Bill & Welti, 2000; Thompson Klein et al.,<br />
2001).<br />
Obwohl der Fall für jede Fallstudie neu definiert wird und<br />
das Fallstudienteam prinzipiell vor neuen Aufgaben steht,<br />
wird mit den Fallstudienmethoden ein Rüstzeug zur Verfügung<br />
gestellt, mit dem sich «ill-defined problems» bearbeiten<br />
lassen. Die Methoden werden problembezogen zur Organisation<br />
der Arbeit und zur Wissensintegration verwendet.<br />
Für ihre Anwendung müssen i. a. spezielle Zwischenziele<br />
oder Untereinheiten des Falls definiert oder konstruiert<br />
werden. Für eine solche Vorgehensweise im Rahmen einer<br />
Fallanalyse hat sich im Englischen der Terminus «embed-<br />
232 UNS-Fallstudie 2000
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
ded case study» durchgesetzt (Yin, 1994; <strong>Scholz</strong> & <strong>Tietje</strong>, in<br />
press).<br />
Wissensintegration bedeutet jedoch mehr als nur die Zusammenstellung<br />
verschiedener Informationen. Mit Hilfe der<br />
Fallstudienmethoden soll eine Synthese erzeugt werden.<br />
Dies ist ein neues Produkt, das ohne die Zusammenführung<br />
der verschiedenen Elemente nicht möglich ist. Ein gutes<br />
Beispiel, wie die Fallstudienmethoden eine Synthese unterstützen,<br />
ist die Formative Szenarioanalyse: Hier werden<br />
neue Zukunftsbilder, also Szenarien, in mehreren Schritten<br />
aufgebaut, anh<strong>and</strong> derer das Ziel konkret als Beschreibung<br />
des zukünftigen Systemzust<strong>and</strong>s diskutiert werden kann<br />
und deren Konsistenz und damit Glaubwürdigkeit mit einem<br />
einfachen Ansatz gemessen wird (vgl. z.B. Achermann<br />
& Kehl, 1996). Auch eine integrale Bewertung ist ein Beispiel<br />
für eine Synthese, sie kann auf verschiedene Weisen<br />
erstellt werden. Eine Möglichkeit besteht darin, über verschiedene<br />
Kriterien oder Systemperspektiven zu integrieren,<br />
eine <strong>and</strong>ere Möglichkeit ist, die Wünsche und Präferenzen<br />
eines Personenkreises zu integrieren.<br />
Das Prinzip der Fallstudienarbeit als Wissensintegration<br />
ist bereits in der Übersicht der Fallstudienmethoden im<br />
Bericht zur zweiten <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudie Industrieareal<br />
Sulzer-Escher Wyss enthalten. Folgende Typen der Integration<br />
werden genannt (<strong>Scholz</strong> et al., 1996):<br />
– Disziplinen (insbesondere Sozial- und Naturwissenschaften),<br />
– Systeme (z. B. Wasser, Boden, Luft),<br />
– Typen von Wissen (z. B. Erfahrungswissen/Wissenschaftswissen),<br />
– Interessen (von verschiedenen Beteiligten, die sich z. B.<br />
auch in Bewertungen ausdrücken).<br />
Abb. 2 gibt eine Übersicht über diese Integrationstypen.<br />
Die Wissensintegration ermöglicht die Verarbeitung heterogener<br />
Informationen und ist daher ein wesentliches Element<br />
der robusten Wahrnehmung der untersuchten Probleme.<br />
Ein Beispiel für eine Methode, mit der eine Integration<br />
von Disziplinen unterstützt wird, ist die Szenarioanalyse.<br />
Die gleichzeitige Berücksichtigung von wirtschaftlichen<br />
Einflussfaktoren (z. B. Bruttoinl<strong>and</strong>sprodukt), sozialen Ein-<br />
Abb. 2: In den Fallstudien-Methoden<br />
werden vier Typen der Wissensintegration<br />
unterschieden. Zwei Kreuze zeigen<br />
den jeweiligen Typ der Wissensintegration<br />
an, der bei der Anwendung der<br />
Methoden im Vordergrund gest<strong>and</strong>en<br />
hat, weitere Erläuterung s. Text.<br />
UNS-Fallstudie 2000 233
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
flussfaktoren (z. B. ökologisches Bewusstsein) und ökologischen<br />
Einflussfaktoren (z. B. ökologische Qualität, Biodiversität)<br />
erfordert eine gemeinsame Sprache über die Disziplinen<br />
hinweg. Die Beziehungen zwischen den Wirkgrössen<br />
werden in der formativen Szenarioanalyse entsprechend<br />
ihrer Einflusstärke modelliert. Dies ermöglicht so eine Verbindung<br />
von Disziplinen, etwa indem der Einfluss von<br />
(ökologischen) Einstellungen auf Umweltsysteme betrachtet<br />
wird.<br />
Die Ökobilanz ist ein Beispiel für die Integration von<br />
Systemen. Die Methode ermöglicht die gleichzeitige Berücksichtigung<br />
von Umweltemissionen in Wasser, Boden<br />
und Luft (Atmosphäre). Mit Hilfe der Ökobilanz erfolgt eine<br />
gemeinsame Bewertung aller Emissionen und somit eine<br />
Gewichtung der verschiedenen Umweltprobleme.<br />
Die Integration von verschiedenen Typen von Wissen erfolgt<br />
sowohl durch die direkte Begegnung mit dem Fall als<br />
auch durch den Einbezug des Erfahrungswissens der Fallakteure<br />
und durch den Kontakt mit den persönlich Betroffenen<br />
während der Fallstudie. Ein Ereignis während der <strong>ETH</strong>-<br />
UNS Fallstudie, das persönlichen Kontakt in besonderem<br />
Masse herstellt, ist der Erfahrungstag (Experiential Case<br />
Encounter). Hier werden eigene persönliche Erfahrungen<br />
durch einen Tag gemeinsamen Arbeitens mit den Fallakteuren<br />
gesammelt. Die Studierenden vollziehen einen Seitenwechsel.<br />
Sie sind einzeln mit ganz verschiedenen Arbeiten<br />
beschäftigt und tauschen hinterher die Erfahrungen unterein<strong>and</strong>er<br />
aus. Sie profitieren auch von den mitgeteilten<br />
Erfahrungen der Fallakteure. Diese Erfahrungen haben eine<br />
besondere Bedeutung für die eigene Motivation, für den Fall<br />
geeignete Problemlösungen zu finden. Die anstudierte analytisch-wissenschaftliche<br />
Denkweise wird hier ergänzt<br />
durch die intuitiv-wertende Wahrnehmung.<br />
Die Integration von Interessen ist sicher eine der anspruchsvollsten<br />
Aufgaben, weil sie in den meisten Fällen die<br />
<strong>and</strong>eren Integrationen voraussetzt. Selbst bei einem schwierigen<br />
Konsens über den Gegenst<strong>and</strong> gehen die interessensgeleitete<br />
Interpretation und die Bewertung von H<strong>and</strong>lungsoptionen<br />
oft weit ausein<strong>and</strong>er. Sicher lassen sich einige<br />
verschiedene Interessen der Fallakteure leicht ausmachen,<br />
aber in den meisten Fällen werden die genauen Positionen<br />
und Perspektiven viel ausgefeilter und schwieriger zu beurteilen<br />
sein. Durch eine multikriterielle Bewertung kann ein<br />
Bewusstmachen erfolgen. Die Diskussion, der Vergleich<br />
und die Gruppierung verschiedener Positionen helfen, Probleme<br />
aufzuzeigen und Kompromissmöglichkeiten auszuloten.<br />
3 Vom Lehre-Forschungs-<br />
Anwendungs-Paradigma zur<br />
Wissensintegration<br />
Die erste Fallstudie der Professur UNS war die Perspektive<br />
Grosses Moos (<strong>Scholz</strong>, Koller, Mieg & Schmidlin, 1995).<br />
Bereits hier wurden die wesentlichen Merkmale der <strong>ETH</strong>-<br />
UNS Fallstudien entwickelt und mit dem Begriff Lehre-Forschungs-Anwendungs-Paradigma<br />
zusammengefasst. Das<br />
bedeutet soviel wie: Die Fallstudie ist primär eine Lehrveranstaltung<br />
und daher für die Studierenden da. Darüber hinaus<br />
sollte ein Teil Forschung enthalten sein – insbesondere<br />
die Anwendung und Erprobung der Fallstudienmethoden –<br />
und ein Teil Anwendung, also das Ziel, realistische Lösungen<br />
für den Fall zu produzieren. Die Studierenden der<br />
Umweltnaturwissenschaften sollten lernen, ihr sinnvolles<br />
Wissen nicht nur für das Bücherregal, sondern für den Fall<br />
einzusetzen.<br />
Fallstudien werden nicht nur in den Umweltnaturwissenschaften<br />
eingesetzt, z.B. auch in der Lehre: In der Ausbildung<br />
zum «Master of Business Administration» in hochrangigen<br />
Einrichtungen wie der Harvard Business School werden<br />
Fallstudien eingesetzt, um ein offenes, nicht einfach<br />
lösbares Problem darzustellen und den Umgang damit einzuüben.<br />
Die vielfache Anwendung ausserhalb der Umweltnaturwissenschaften<br />
erfolgt auch unter dem Forschungsaspekt,<br />
zum Beispiel in den Erziehungs-, Wirtschafts-<br />
und Rechtswissenschaften. Aus Erfahrungen in diesen<br />
Anwendungsbereichen wurden an der Professur UNS<br />
sehr früh bereits Prinzipien herausgestellt, welche die Auswahl,<br />
die Adaption und die Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
bestimmt haben (Tab. 3.1). Die Betonung des Anwendungsaspektes<br />
der <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudie resultierte zunächst<br />
aus dem Ziel, das «Wissen der SystemkennerInnen in<br />
die Forschung zu integrieren» (<strong>Scholz</strong> et al., 1995, S. 43; s.<br />
a. Tab. 3.1). Damit wurde bereits am Anfang der Entwicklung<br />
eine Berücksichtigung dessen festgeschrieben, was<br />
unter dem Aspekt der Partizipation, der Beteiligung Betroffener<br />
inzwischen eine sehr grosse Bedeutung hat. Die Fallstudienmethodik<br />
ist daher im Ansatz transdisziplinär (Gibbons<br />
et al., 1994, <strong>Scholz</strong>, 2000).<br />
Der Bericht zur zweiten <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudie Industrieareal<br />
Sulzer-Escher Wyss (<strong>Scholz</strong> et al., 1996) enthält bereits<br />
eine erste kurze Übersicht über die Methoden der Fallstudie.<br />
Das Ziel beim Umgang mit einem schlecht definierbaren<br />
Problem (vgl. Abb. 1) soll die Synthese, die Konstruktion<br />
von neuen, integrierten Lösungen für den Fall darstellen.<br />
Als mögliche und geeignete Vorgehensweise wird das<br />
Brunswiksche Linsenmodell und der damit verbundene<br />
probabilistische Funktionalismus erläutert (Brunswik,<br />
1950). Die einzelnen Fallstudienmethoden werden in dieser<br />
Übersicht erstmals im Schema des Brunswikschen Linsenmodells<br />
dargestellt.<br />
Die Fallstudienmethoden dienen dazu, schlecht definierbare<br />
Probleme zu beh<strong>and</strong>eln. Sie helfen dem Fallstudienteam,<br />
in einem unscharfen Raum zu manövrieren (vgl. Abb.<br />
1). Der Zielzust<strong>and</strong> ist unscharf, weil die Rahmenbedingungen<br />
nicht prognostiziert werden können und weil er von<br />
234 UNS-Fallstudie 2000
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
Tab. 3.1: Prinzipien der Fallstudienforschung am Anfang der Methodenentwicklung (aus <strong>Scholz</strong> et al., 1995, S. 43).<br />
Prinzipien der Fallstudienforschung<br />
P1 Erhaltung der Komplexität und Ganzheitlichkeit des Falls: Beschreibung und Analyse des Falls sollten komplex und<br />
ganzheitlich sein und Variablen aus natürlichen und sozialen Systemen einbeziehen.<br />
P2 Erkenntnisgewinnung durch Rekonstruktion der Veränderung: Fallstudienforschung muss eine Analyse der Vergangenheit<br />
und Geschichte des untersuchten Systems einschliessen.<br />
P3 Generalisierung durch Analyse und Synthese und nicht durch statistisches Schliessen (vgl. Blumenberg, 1952): Eine<br />
Verallgemeinerung – innerhalb eines Falles und darüber hinaus – sollte theorie- und verständnisgeleitet sein («Analyse<br />
und Synthese»).<br />
P4 Studium des Verhältnisses vom Besonderen zum Allgemeinen: Obwohl sich eine Fallstudie mit einem konkreten Fall<br />
beschäftigt, ist sie dennoch nicht singulär. Vielmehr gilt es, am Fall das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen zu<br />
studieren (vgl. Otte & Vogel, 1978).<br />
P5 Integration von Wissen aller Beteiligten an der Fallstudie: Für den Fallstudienforscher ist der Fall nicht «Studienobjekt»,<br />
vielmehr charakterisiert sich die Fallstudienforschung durch die Integration des Wissens aller Beteiligten (Forscher, Entscheidungsträger,<br />
Bürger etc.).<br />
vielfachen persönlichen, wirtschaftlichen und <strong>and</strong>eren Interessen<br />
abhängt. Die Fallstudienmethoden liefern jedoch<br />
keine Lösungen in traditionellem Sinne und sind nicht als<br />
Heilmittel zu verstehen, um das schlecht-definierbare Problem<br />
nachträglich doch noch definierbar zu machen. Vielmehr<br />
geht es darum:<br />
– einige Barrieren zu identifizieren und durch besser überschaubare<br />
Barrieren zu ersetzen: zum Beispiel die unbekannte<br />
zukünftige Entwicklung auf ein dynamisches<br />
Systemmodell mit begründeten Annahmen zu reduzieren<br />
oder die unterschiedliche Bewertung von Alternativen<br />
durch Akteure mit Hilfe einer formal-quantitativen Beschreibung<br />
transparent und diskutabel zu machen;<br />
– den Zielzust<strong>and</strong> wenigstens in Hinblick auf einen Teil<br />
seiner Charakteristika zu beschreiben: Zum Beispiel, den<br />
«einzig wahren Zielzust<strong>and</strong>» als Diskussionsgegenst<strong>and</strong><br />
aufzugeben und die Diskussion über eine zukünftige<br />
Entwicklung durch die Erstellung von überschaubaren<br />
Szenarien zu ermöglichen.<br />
Nach Brunswik (1950) stehen die Informationen bezogen<br />
auf das Gesamtresultat in einer logischen Beziehung zuein<strong>and</strong>er.<br />
Elemente des Linsenmodells – die Perzeptoren –<br />
können als eine Art gleichzeitige Interpretation verst<strong>and</strong>en<br />
werden (vgl. Abb. 3.1). Nach Brunswik bilden sie eine<br />
«oder»-Relation: Eine zuverlässige Wahrnehmung erfolgt<br />
bereits, wenn einige und nicht alle Informationen vorh<strong>and</strong>en<br />
sind (vicarious mediation, vgl. <strong>Scholz</strong>, 1999). Es gibt viele<br />
bekannte Beispiele von Zeichnungen, die sich dies zunutze<br />
machen. Oft reicht es aus, ein Objekt mit nur wenigen<br />
Federstrichen darzustellen, um es erkenntlich zu machen.<br />
Hier sehen wir, dass unser Bild – zum Beispiel von einem<br />
Kind – aus einer sehr grossen Anzahl von Elementen besteht,<br />
von denen eigentlich sehr wenige schon ausreichen<br />
würden, um es zu identifizieren. Darüber hinaus könnten<br />
auch ganz <strong>and</strong>ere dieser Elemente zur Identifikation führen.<br />
Kurz gesagt, das Brunswiksche Linsenmodell liefert eine<br />
Erklärung für die robuste Informationsverarbeitung bei der<br />
visuellen Wahrnehmung. Die Fallstudienmethodik macht<br />
sich diese robuste Informationsverarbeitung bei der Lösung<br />
von schlecht definierbaren Problemen in den Umweltnaturwissenschaften<br />
zunutze.<br />
Ein Beispiel aus der Fallstudie Zentrum Zürich Nord<br />
(<strong>Scholz</strong> et al., 1997): Es soll bestimmt werden, welche<br />
langfristige Entwicklung dieses Gebiets als nachhaltig eingestuft<br />
werden kann. Dazu wird eine Formative Szenarioanalyse<br />
durchgeführt (siehe Abb. 3.1). Der erste Schritt<br />
besteht aus der Analyse und Dekomposition des Anfangszust<strong>and</strong>s,<br />
um relevante Einflussfaktoren zu identifizieren, die<br />
als Perzeptoren dienen können. In der anschliessenden formativen<br />
Synthese werden eine Reihe von Verfahrensschritten<br />
auf diese Einflussvariablen angewendet, mit denen die<br />
Art der Fallrepräsentation verändert wird (z. B. als Tabelle,<br />
als System Grid oder als Netzwerkgrafik). Das Ergebnis, die<br />
Synthese, ist eine gewisse Anzahl von konsistenten (und<br />
daher möglichen) zukünftigen Systemzuständen – den<br />
Szenarien. Die Ergebnisse der einzelnen Verfahrensschritte<br />
und insbesondere die Auswahl weniger wichtiger Szenarien<br />
geben ein robustes Bild von der zukünftigen Entwicklung<br />
des Zentrums Zürich Nord, das auf diese Art für eine (anschliessende)<br />
Untersuchung der Nachhaltigkeit zugänglich<br />
gemacht wurde. In unserem Beispiel waren es die Szenarien<br />
«Wirtschaftlicher Aufbruch», «Orientierungslosigkeit und<br />
Krise», «Polarisierung» und «Neue gesellschaftliche Werte»,<br />
aus denen mehrere Thesen für das weitere Vorgehen im<br />
Planungsprozess des Zentrums Zürich Nord abgeleitet wurden.<br />
Das Beispiel macht deutlich, warum eine robuste Wahrnehmung<br />
notwendig für die Planung und Steuerung eines<br />
Stadtteils ist. Es zeigt, wie die Fallstudienmethoden im<br />
Sinne des Brunswikschen Linsenmodells eine Reihe von<br />
Informationselementen (Perzeptoren) generieren und wie<br />
sie diese zur Synthese führen. Hervorzuheben ist, dass die<br />
Synthese ein qualitativer Denk(!)schritt ist, der aufgrund der<br />
Ergebnisse jedoch nachvollziehbar sein muss. Die Planung<br />
der Synthese – und damit die Gestaltung der Fallstudie –<br />
muss also das Schlussfolgern aus möglichen (Zwischen-)<br />
Ergebnissen einbeziehen und ist daher eine äusserst schwie-<br />
UNS-Fallstudie 2000 235
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
Abb. 3.1: Das Brunswiksche Linsenmodell für die formative Szenarioanalyse. Ausgangspunkt der Analyse ist der Fall.<br />
Zielpunkt ist ein Verständnis des zukünftigen Zust<strong>and</strong>es des Falls. Um zu letzterem zu gelangen wird eine Dekomposition<br />
vorgenommen und es werden die wichtigsten Einflussvariablen bestimmt, die als hinreichend betrachtet werden, um Zust<strong>and</strong><br />
und Dynamik des Falls zu beschreiben (z.B. Energieverbrauch). Um zu einer Synthese zu kommen, werden mit Einflussfaktoren<br />
eine Reihe von Beziehungen konstruiert und die Ergebnisse dieser Arbeit (Erarbeitung durch die Fallstudienteams) in<br />
verschiedener Form dargestellt (z.B. als Matrix oder Graph). Von diesen Repräsentationen ausgehend erfolgt dann eine<br />
qualitative Beschreibung der zukünftigen Zustände.<br />
rige und für einen Teil der Beteiligten eine neue Aufgabe.<br />
Die Erfüllung dieser Aufgabe wird wesentlich vereinfacht,<br />
wenn die Synthese als Brunswiksche Linse dargestellt und<br />
diskutiert wird.<br />
Die Notwendigkeit von speziellen Fallstudienmethoden<br />
wird offenbar allgemein akzeptiert und durch die geleistete<br />
Arbeit auch bestätigt. Es wird darauf hingewiesen, dass die<br />
Methoden Hilfsmittel zur Wissens- und Projektorganisation<br />
sind. Nachfolgend sind Leitlinien für die Anwendung der<br />
Methoden aufgelistet, wie sie nach der Fallstudie 1997<br />
erstellt wurden (<strong>Scholz</strong>, Bösch, Mieg, & Stünzi, 1998).<br />
– Die Anwendung der Methoden erfordert Vorwissen: Insbesondere<br />
einen «groben Überblick» über die Methoden,<br />
über die Theorie der Fallstudie und über ihre Architektur.<br />
– Fallverständnis: Dies ist die Voraussetzung für jede Fallstudienarbeit<br />
und insbesondere für die Anwendung der<br />
Methoden.<br />
– Das Problem bestimmt die Methode: Dies sollte ein<br />
Grundsatz für jede wissenschaftliche Untersuchung sein.<br />
– Methoden nicht mechanisch verwenden: Vielmehr soll<br />
mit ihnen kreativ umgegangen werden.<br />
– Den «epistemischen Status» der Aussagen reflektieren:<br />
Dies bedeutet, dass die fachwissenschaftliche Absicherung,<br />
der Detailliertheitsgrad und die Genauigkeit im<br />
richtigen Ausmass für alle Aussagen etwa gleichmässig<br />
gelten müssen.<br />
– Das Prinzip der Methoden verstehen: Dies ist wichtig für<br />
die Auswahl der richtigen Methode für die eigene Synthesegruppe<br />
und für die Einschätzung von Arbeitsergebnissen<br />
<strong>and</strong>erer Gruppen.<br />
Die zweite Klettgaufallstudie, Chancen der Region Klettgau<br />
(<strong>Scholz</strong>, Bösch, Carlucci & Oswald, 1999), wartet mit<br />
einer Bestimmung der Begriffe Region und L<strong>and</strong>schaft auf<br />
und diskutiert verschiedene wissenschaftliche Zugänge.<br />
Hierbei wird auf den Unterschied zwischen Verstehen, Begreifen<br />
und Erklären eingegangen, in denen sich die Architektur<br />
der Fallstudie spiegelt (s. Abb. 3.2). Darüber hinaus<br />
werden Intuition und Analyse als gleich wichtige Denkmodi<br />
in ihrer Bedeutung für die Fallstudienarbeit dargestellt.<br />
In den Fallstudien 1999 und 2000 Zukunft Schiene<br />
Schweiz wird ein inhaltlicher Schwerpunkt auf die Umwelteffizienz<br />
bzw. auf das ökologische Potential der SBB gelegt.<br />
Ein besonderer Punkt dabei ist die Einrichtung einer übergeordneten<br />
Synthesegruppe (die OeRe-Gruppe beschäftigte<br />
sich mit oekologischen Rechnungseinheiten). Auf diese<br />
Weise wird die Erstellung einer Gesamtsynthese für die<br />
Fallstudie ermöglicht. Tab. 3.2 gibt eine Übersicht der Methoden<br />
in den <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudien seit 1994.<br />
236 UNS-Fallstudie 2000
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
Abb. 3.2: Die Architektur der Fallstudie. Die<br />
Fallstudienmethoden dienen vor allem zur<br />
Synthese. Sie verbinden die Ergebnisse der<br />
vorwiegend disziplinären Arbeit in den Teilprojekten<br />
unterein<strong>and</strong>er und mit dem ganzheitlichen<br />
Erfassen des Falls.<br />
Tab. 3.2: Überblick über die Methoden in den <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudien seit 1994.<br />
Jahr Titel Methoden<br />
1994 Perspektive<br />
Grosses Moos<br />
1995 Industrieareal<br />
Sulzer-<br />
Escher Wyss<br />
1996 Zentrum<br />
Zürich Nord<br />
1997 Region<br />
Klettgau<br />
1998 Chancen der<br />
Region<br />
Klettgau<br />
1999 Zukunft<br />
Schiene<br />
Schweiz<br />
2000 Zukunft<br />
Schiene<br />
Schweiz<br />
Neu: Erkennen der Notwendigkeit einer methodenbasierten komplexen Fallanalyse, erste Methodenanwendungen<br />
Angewendete Methoden: Formative Szenarioanalyse, Fragestellungswerkstatt, die Idee zur Methode Raumnutzungsverh<strong>and</strong>lungen<br />
wird geboren, die Synthesemoderation wird als wichtiges Hilfsmittel erkannt<br />
Neu: Erste kurze Übersicht über die Methoden der Fallstudie<br />
Angewendete Methoden: erstmalige Anwendung von Ökobilanz, Formative Szenarioanalyse, die Methode der<br />
Raumnnutzungsverh<strong>and</strong>lungen und der Explorationsparcours werden entwickelt, Ideenwerkstatt, Erfahrungstage<br />
Neu: Intensive Methodenanwendungen als Ziel der Fallstudienarbeit<br />
Angewendete Methoden: Formative Szenarioanalyse, Multikriterielle Nutzentheorie (mit Explorationsparcours),<br />
System Dynamics Modellierung, Stoffflussanalyse, Risikoabschätzung, Planspiel, Erfahrungstage<br />
Neu: Kurzes Fazit über die Fallstudienmethoden zur Wissensintegration in vereinfachter Darstellung als Einstieg<br />
für den «Methodenanfänger» (Kästli & <strong>Scholz</strong>, 1998)<br />
Angewendete Methoden: Formative Szenarioanalyse, Raumnutzungsverh<strong>and</strong>lungen (einschl. Explorationsparcours),<br />
Multikriterielle Nutzentheorie, System Dynamics Modellierung, Risikoh<strong>and</strong>lungsmodell, Synthese-<br />
Moderation, Erfahrungstage<br />
Angewendete Methoden: Formative Szenarioanalyse, Zukunftswerkstatt, Multikriterielle Bewertung,<br />
Erfahrungstage<br />
Neu: Methodische Integration aller Synthesegruppen in der SG OeRe<br />
Angewendete Methoden: Formative Szenarioanalyse, Multikriterielle Nutzentheorie, Ökobilanz, Stoffflussanalyse,<br />
Erfahrungstage<br />
Neu: Rückblick auf die Entwicklung der Fallstudie und ihrer Methoden<br />
Angewendete Methoden: Formative Szenarioanalyse, Ökobilanz, Erfahrungstage<br />
UNS-Fallstudie 2000 237
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
4 Übersicht<br />
4.1 Methodenüberblick<br />
Im Jahr 2001 wurde auch das Buch zu den Fallstudienmethoden<br />
fertiggestellt (<strong>Scholz</strong> & <strong>Tietje</strong>, in press). Es gibt<br />
einen umfassenden Einblick in das Design von Fallstudien,<br />
die Anwendung von Fallstudien in verschiedenen Disziplinen<br />
und die Architektur der Fallstudien (vgl. Abb. 3.2) am<br />
Beispiel der Fallstudie Zentrum Zürich Nord. Neben detaillierten<br />
Beschreibungen der verschiedenen Fallstudienmethoden<br />
wurde auch eine Systematik und ein Überblick über<br />
die Methoden erstellt. Dort wurden die <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudienmethoden<br />
in vier Klassen eingeteilt (s. a. Tab. 4):<br />
– Fallrepräsentation und Modellierung,<br />
– Fallbewertung und Evaluation,<br />
– Fallentwicklung und Fallveränderung,<br />
– Fallstudien-Gruppen.<br />
Die meisten der beschriebenen Methoden sind bei ihrer<br />
Anwendung nicht auf die Umweltnaturwissenschaften beschränkt,<br />
sondern auch in Fallstudien aus <strong>and</strong>eren Bereichen<br />
anwendbar, sei es zum Beispiel beim Management von<br />
Organisationen, in der Pädagogik, der Medizin oder der<br />
Rechtswissenschaft.<br />
4.2 Methoden zur Fallrepräsentation<br />
und Modellierung<br />
Dies sind zunächst die formative Szenarioanalyse (FSA) und<br />
System Dynamics (SD), aber auch die Stoffflussanalyse.<br />
formative Szenarioanalyse<br />
Die Formative Szenarioanalyse versucht, mit einer definierten<br />
Menge von Annahmen Einsicht in den Fall und seine<br />
potentielle Entwicklung zu erhalten. Ein Szenario be-<br />
Tab. 4: Schlüsselfragen für die Methoden der Wissensintegration in <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudien.<br />
Methode<br />
Formative Szenarioanalyse<br />
System Dynamics<br />
Stoffflussanalyse<br />
Multiattributive Nutzentheorie<br />
Integriertes Risikomanagement<br />
Ökobilanz<br />
Bioökologische Potenzialanalyse<br />
Raumnutzungsverh<strong>and</strong>lungen<br />
Zukunftswerkstätten<br />
Erfahrungstage<br />
Synthese-Moderation<br />
Schlüsselfragen<br />
Fallrepräsentation und Modellierung<br />
- Welches sind die Variablen, die für den Systemzust<strong>and</strong> und seine Veränderung<br />
entscheidend sind?<br />
- Wie könnte und wie sollte das System sich entwickeln? Was kann passieren?<br />
- Welche Variablen bestimmen die zeitliche Dynamik des Systems?<br />
- Welche (unerwarteten) Resultate ergeben sich aus den dynamischen Wechselwirkungen<br />
zwischen den Variablen?<br />
- Welches sind die kritischen Stoffflüsse und Materialien?<br />
- Welche Quellen und Senken besitzt das System bzw. der Fall?<br />
Fallbewertung und Evaluation<br />
- Wie können verschiedene Bewertungskriterien zusammengefasst werden?<br />
- Welche Fehlwahrnehmungen ergeben sich aus übergreifenden Bewertungen?<br />
- Welche Menge von H<strong>and</strong>lungsalternativen implizieren das geringste Risiko?<br />
- Welche Alternative entspricht am ehesten meiner Bewertung?<br />
- Wie kann oder soll ich mit Unsicherheiten umgehen?<br />
- Wie können die hauptsächlichen Umweltauswirkungen bilanziert werden?<br />
- Wie kann die bioökologische Qualität des Fallareals bewertet werden?<br />
Fallentwicklung und Fallveränderung<br />
- Was verursacht Konflikte zwischen den Schlüsselakteuren des Falls?<br />
- Welche Fehlwahrnehmungen haben die Fallakteure?<br />
- Wie können wir pareto-optimale Lösungen finden?<br />
- Welche Ideen können zur Beantwortung der Fragen führen: Was kann eintreten<br />
/ was soll eintreten?<br />
Fallstudien-Gruppen<br />
- Wie sieht der Fall aus der Perspektive der Betroffenen aus?<br />
- Wie kann ich die Zusammenarbeit optimieren um den Syntheseprozess zu<br />
verbessern?<br />
- Wie finde ich die richtige Synthesemethode?<br />
238 UNS-Fallstudie 2000
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
schreibt einen hypothetischen zukünftigen Systemzust<strong>and</strong>.<br />
Dazu werden sogenannte Einflussfaktoren definiert, die den<br />
gegenwärtigen Zust<strong>and</strong> und die mögliche Dynamik des<br />
Falls charakterisieren und die im Allgemeinen aus verschiedenen<br />
Disziplinen stammen. Die Kunst der Szenarioanalyse<br />
besteht darin, eine suffiziente Menge von Einflussfaktoren<br />
zu definieren und sie so mitein<strong>and</strong>er zu verknüpfen, dass<br />
mehrere valide Fallbeschreibungen entstehen. Die Formative<br />
Szenarioanalyse besteht aus mehreren Schritten, in denen<br />
quantitative Analysen der Einflussfaktoren durchgeführt<br />
werden und die Szenarien in Hinsicht auf ihre Möglichkeit<br />
und Konsistenz eingeschätzt werden. Eine Szenarioanalyse<br />
ist angebracht, wenn keine genaue Prognose möglich ist,<br />
wenn aber die anstehenden Entscheidungen mehr Klarheit<br />
über die zukünftige Entwicklung erfordern. Eine Szenarioanalyse<br />
ist keine eindeutige Prognose, sondern eine «mehrdeutige»<br />
Zukunftsschau über verschiedene mögliche Entwicklungen.<br />
Eine Szenarioanalyse ist auch keine Bewertung,<br />
sondern erstellt nur die Zukunftsbilder und somit den<br />
Gegenst<strong>and</strong> einer Bewertung. Eine Bewertung, sei sie intuitiv<br />
oder wissenschaftlich, kann erst – wenn überhaupt – in<br />
einem weiteren, anschliessenden Schritt erfolgen. Eine<br />
Szenarioanalyse kann auch in Thesen resultieren, wie bestimmte<br />
Entwicklungen gefördert oder verhindert werden<br />
können.<br />
System Dynamics (SD)<br />
Bei der Anwendung von System Dynamics werden die Systemvariablen<br />
– im Vergleich mit den Einflussfaktoren der<br />
Szenarioanalyse – genauer mitein<strong>and</strong>er verknüpft. Die<br />
funktionalen Beziehungen der Systemvariablen unterein<strong>and</strong>er<br />
machen die Modellstruktur aus und bestimmen die Dynamik<br />
der Veränderungen. Mit der Vorhersage der Entwicklung<br />
des Systems und von zukünftigen Systemzuständen<br />
wird versucht, ein genaues Verständnis von der Dynamik<br />
des Falls zu entwickeln. Dass inzwischen recht benutzerfreundliche<br />
Software existiert, darf nicht darüber hinweg<br />
täuschen, dass man oftmals Unsicherheiten in den Daten und<br />
der Modellstruktur berücksichtigen muss, indem man verschiedene<br />
Annahmen durchrechnet. Die resultierenden Ergebnisse<br />
werden hier oft auch Szenarien genannt, weil sie<br />
ebenfalls hypothetische zukünftige Systemzustände sind.<br />
Diese Szenarien können zwar differenzierter oder valider<br />
sein als in diejenigen der Szenarioanalyse, der Informationsbedarf<br />
und der Modellierungsaufw<strong>and</strong> sind jedoch im allgemeinen<br />
auch wesentlich höher. Daher ist die Anwendung<br />
von SD nur angebracht, wenn die Aussicht auf genügend<br />
genaue Daten und Informationen besteht, um innerhalb<br />
eines Modells auch wirklich Rechnungen durchführen zu<br />
können. In den Fallstudien besteht jedoch nicht der Anspruch,<br />
mit Hilfe von SD perfekte Systemmodelle zu erstellen.<br />
Im Verlauf der Konstruktion des System Dynamics<br />
Modells wird ein spezielles Fallverständnis entwickelt.<br />
Stoffflussanalyse<br />
Die Stoffflussanalyse beinhaltet die Aufnahme, Beschreibung,<br />
und Interpretation von kritischen Flüssen in einem<br />
System. Obwohl wir vorwiegend Material- und Energie-<br />
Flüsse innerhalb von Umweltsystemen modellieren, kann<br />
die Methodik leicht auf <strong>and</strong>ere Systeme angewendet werden.<br />
Der Sinn der Methode besteht darin, fehlende Glieder<br />
in der Massen- und Energiebilanz zu bestimmen, aufgrund<br />
von Massen- und Energieerhaltung, die als (Neben-) Bedingungen<br />
in die Berechnung eingehen. Grundsätzlich beschreibt<br />
das Modell die gegenwärtigen Stoff- und Energieflüsse<br />
mit einem linearen Gleichungssystem (Baccini &<br />
Bader, 1996), ist also ein stationäres lineares Modell. Eine<br />
Erweiterung auf eine dynamische Betrachtung liegt jedoch<br />
vor. In jedem Fall ist die Anwendung wegen dem hohen<br />
Datenbedarf aufwändig, vergleichbar mit System Dynamics.<br />
Eine Reihe von Anwendungen im Umweltbereich liegen<br />
vor, so dass für weitere Anwendungen ein Teil der notwendigen<br />
Daten «recycliert» werden können.<br />
4.3 Methoden zur Fallbewertung und<br />
Evaluation<br />
Diese sind die Multiattributive Nutzentheorie, das Integrierte<br />
Risikomanagement, die Ökobilanz und die Bioökologische<br />
Potenzialanalyse.<br />
Multiattributive Nutzentheorie<br />
Die Multiattributive Nutzentheorie bildet den wissenschaftlichen<br />
Hintergrund für Bewertungen aufgrund von mehreren<br />
Kriterien. Die Kriterien messen zunächst die für die<br />
Bewertung wichtigen Eigenschaften des Falls. Sie können<br />
sich auf Teilsysteme des Falls beziehen und auch unterschiedliche<br />
disziplinäre Perspektiven repräsentieren. Darüber<br />
hinaus können sie auf verschiedenen Skalen definiert<br />
sein und einer subjektiven Einschätzung bedürfen. Wesentlich<br />
ist jedoch, dass die Wichtigkeit der Kriterien durch die<br />
verschiedenen Perspektiven und Interessen der Beteiligten<br />
bestimmt wird. Aufgabe in den <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudien ist es<br />
daher, die subjektiven Einschätzungen der Kriterien und<br />
ihre Wichtigkeit (Gewichtungen) – wie sie von einem speziellen,<br />
repräsentativen Personenkreis gesehen werden – mit<br />
Hilfe von sozialwissenschaftlichen Methoden zu messen<br />
und auszuwerten. Die Komposition der Kriterien mit ihren<br />
Gewichten zu einem Gesamturteil ist daher oft nicht das<br />
oberste Ziel. Vielmehr geht es um das Bewusstmachen von<br />
Bewertungen, um die Diskussion, den Vergleich und die<br />
Gruppierung verschiedener Positionen.<br />
Integriertes Risikomanagement<br />
Das Integrierte Risikomanagement befasst sich mit der Erstellung<br />
von H<strong>and</strong>lungsalternativen (Optionen) zur Lösung<br />
eines Problems, mit den damit verbundenen mehr oder<br />
weniger wahrscheinlichen Ereignissen (Konsequenzen,<br />
Outcomes) und mit der Konstruktion einer Risikofunktion<br />
zur integralen Bewertung der relevanten Teilaspekte des<br />
Problems.<br />
UNS-Fallstudie 2000 239
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
Ökobilanz<br />
Eine Ökobilanz dient zur gesamthaften Umweltbewertung<br />
von Alternativen (meist von alternativen Produkten). Der<br />
Nutzen der Alternativen wird als funktionelle Einheit quantifiziert.<br />
Die Bewertung erfolgt integriert über Zeit und<br />
Raum und berücksichtigt die mit der Alternative verbundenen<br />
vor- und nachgeschalteten Aktivitäten, also alle wichtigen<br />
Prozesse vom Ressourcenabbau über Produktion,<br />
Transport, Verteilung, Gebrauch bis zur Entsorgung, kurz<br />
gesagt den gesamten Lebenszyklus. Bei der Bewertung<br />
werden die aktuellen Umweltprobleme soweit wie pragmatisch<br />
möglich berücksichtigt. Dazu gehören im Moment die<br />
Ozonschichtzerstörung, die Eutrophierung der Gewässer,<br />
die Versauerung von Böden, die Beeinträchtigung der Biodiversität<br />
durch L<strong>and</strong>nutzung, aber auch die Wirkung von<br />
Schadstoffemissionen auf den Menschen und den Verbrauch<br />
von Ressourcen.<br />
Bioökologische Potenzialanalyse<br />
Die Bioökologische Potenzialanalyse ist komplementär zur<br />
Ökobilanz. Sie erfolgt als Bewertungsprozess, der den bioökologischen<br />
Wert von Gebieten und L<strong>and</strong>schaften beurteilt<br />
und sich auf St<strong>and</strong>orte in ihrer Beziehung zur Region bezieht.<br />
4.4 Methoden zur Fallentwicklung und<br />
Fallveränderung<br />
Dies sind die Raumnutzungsverh<strong>and</strong>lungen und die Zukunftswerkstätten.<br />
4.5 Methoden zur Unterstützung der<br />
Fallstudien-Gruppen<br />
Dies sind die Erfahrungstage und die Synthese-Moderation.<br />
Erfahrungstage<br />
Die Erfahrungstage basieren auf der Strategie, die Perspektive<br />
eines Insiders durch einen Seitenwechsel zu erreichen<br />
(<strong>Scholz</strong>, 1987). Die wissenschaftlichen Teilnehmer der Fallstudie<br />
agieren während der Erfahrungstage als Fallakteure,<br />
indem sie einen Tag lang auf dem Gebiet der Fallstudie eine<br />
praktische Tätigkeit ausüben. Wichtig ist hier das enaktive<br />
Lernen (Bruner, Goodnow, & Austin, 1956) und das «Learning<br />
By Doing». Die Erfahrungstage werden vorher häufig<br />
als nicht effizient, nachher jedoch überwiegend als positiv<br />
eingeschätzt. Durch diese Art des Kennenlernens wird eine<br />
persönliche Beziehung zum Fall und seinen Akteuren aufgebaut,<br />
die die Motivation zur Lösung der vorliegenden<br />
Probleme – und damit die Lösung selbst – entscheidend<br />
beeinflusst. Ein ähnliches Prinzip wird zur Weiterbildung<br />
schweizerischer Kaderleute verwendet (siehe<br />
www.seitenwechsel.ch).<br />
Synthese-Moderation<br />
Die Synthese-Moderation umfasst eine Reihe von Techniken<br />
zur Anleitung von Arbeitsgruppen, zur Ideengenerierung,<br />
Fallanalyse und Projektmanagement. Diese Techniken<br />
unterstützen in erster Linie die Fallstudiengruppen (Synthesegruppen)<br />
bei der Organisation und Kommunikation. Sie<br />
beinhalten auch Regeln zur Erzeugung einer produktiven<br />
Atmosphäre.<br />
Raumnutzungsverh<strong>and</strong>lungen (RNV)<br />
Die Raumnutzungsverh<strong>and</strong>lungen sind eine einzigartige<br />
Technik, die speziell für die <strong>ETH</strong>-UNS Fallstudien entwickelt<br />
wurde. Die Methode beinhaltet ein mehrstufiges Vorgehen:<br />
Zuerst werden die verschiedenen Interessengruppen<br />
bestimmt. Anschliessend werden ihre Interessen identifiziert,<br />
indem eine multi-attributive Nutzenbewertung durchgeführt<br />
wird. Die hierbei häufigsten Methoden zur Datenerhebung<br />
werden in den RNV durch die Technik des Explorationsparcours<br />
ergänzt. Mit dieser Technik wird eine möglichst<br />
realistische Konfrontation der Fallakteure mit den<br />
Vertretern der jeweils <strong>and</strong>eren Interessengruppen und mit<br />
den verfügbaren Informationen über den Fall erreicht.<br />
Zukunftswerkstätten<br />
Die Zukunftswerkstätten sind eine «Familie» von Techniken<br />
zur kreativen Problembearbeitung. Auf der Suche nach neuen<br />
Perspektiven und Lösungen wird das Blickfeld erweitert,<br />
um den Blick auf unkonventionelle Lösungsvorschläge zu<br />
ermöglichen. Diese Techniken erfordern und fördern das<br />
analytische und intuitive Wissen der Fallakteure.<br />
240 UNS-Fallstudie 2000
Entwicklung der Fallstudienmethoden<br />
5 Ausblick<br />
Literatur<br />
Die Fallstudienmethoden stellen in der Praxis erarbeitete<br />
und erprobte Lösungswege dar. Spezifische, prototypische<br />
Anwendungen in den Umweltnaturwissenschaften sind in<br />
den Fallstudienbänden und in <strong>Scholz</strong> & <strong>Tietje</strong> (in press)<br />
dargestellt. Die Fallstudienmethoden sind zu verstehen als<br />
ein Werkzeugkasten, der je nach Fall zu verändern oder zu<br />
ergänzen ist. Mit der Anwendung und Weiterentwicklung<br />
der Fallstudienmethoden wurde ein wissenschaftlicher Beitrag<br />
zur Methodenentwicklung an der Schnittstelle zwischen<br />
Umweltnatur- und Umweltsozialwissenschaften geleistet.<br />
Das Potenzial, das diese Methoden für Anwendungen<br />
auf weitere Fälle besitzen, ist noch lange nicht ausgeschöpft.<br />
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242 UNS-Fallstudie 2000