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Nach 90 Semestern an der Uni - Zs-online.ch

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Mitgema<strong>ch</strong>t<br />

Text: Andreas Rizzi<br />

Bild: Anja Hasse<br />

Die Müdigkeit erfasst Andreas au<strong>ch</strong> nü<strong>ch</strong>tern im Zug.<br />

Nü<strong>ch</strong>tern in vollen Zügen<br />

Zwei Mäd<strong>ch</strong>en. Eine Cola. Null Promille.<br />

Trocken dur<strong>ch</strong> die Samstagna<strong>ch</strong>t.<br />

Ein Protokoll.<br />

«Dasselbe Bild<br />

au<strong>ch</strong> hier: lauter<br />

übernä<strong>ch</strong>tigte, halbtote<br />

Gestalten.»<br />

Das letzte Mal länger als 20 Minuten Zug<br />

gefahren bin i<strong>ch</strong> im Sommer. Jetzt liegen<br />

mehrere Stunden <strong>Na<strong>ch</strong></strong>tstrecke vor mir.<br />

Nü<strong>ch</strong>tern. So habe i<strong>ch</strong> den <strong>Na<strong>ch</strong></strong>tzug<br />

no<strong>ch</strong> nie erlebt.<br />

Züri<strong>ch</strong> HB, 00:59 Uhr<br />

I<strong>ch</strong> stehe auf dem Perron 23 / 24 und überlege<br />

mir, wohin es als Erstes gehen soll.<br />

Eine Gruppe Jugendli<strong>ch</strong>er rennt o<strong>der</strong>,<br />

besser gesagt, stolpert die Treppe runter.<br />

Die Mäd<strong>ch</strong>en und Jungs, viellei<strong>ch</strong>t 16<br />

Jahre alt, ma<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>on um diese Zeit<br />

einen ni<strong>ch</strong>t mehr allzu nü<strong>ch</strong>ternen Eindruck.<br />

Unter sägendem Gelä<strong>ch</strong>ter und<br />

ausgestattet mit halbvollen Flas<strong>ch</strong>en, in<br />

denen si<strong>ch</strong> rote und grüne Flüssigkeiten<br />

befinden, betreten sie den wartenden<br />

Zug. I<strong>ch</strong> setze mi<strong>ch</strong> in ihr Abteil.<br />

SN5 Ri<strong>ch</strong>tung Pfäffikon SZ, 01:02 Uhr<br />

Die ersten Minuten vergehen ohne grosse<br />

Überras<strong>ch</strong>ungen. Es wird gela<strong>ch</strong>t, gelallt,<br />

von <strong>der</strong> «geilen Party» ges<strong>ch</strong>wärmt,<br />

und die Höhepunkte des Abends werden<br />

aufgezählt: «D’ Salome is<strong>ch</strong> use eis go<br />

rau<strong>ch</strong>e und gseht de Giuseppe mit ere<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>e umema<strong>ch</strong>e. Die sind voll no nöd<br />

l<strong>an</strong>g usen<strong>an</strong>d!» Sie reden sehr laut, das<br />

Ki<strong>ch</strong>ern <strong>der</strong> Mäd<strong>ch</strong>en wirkt stark übertrieben.<br />

I<strong>ch</strong> habe vergessen, wie einem<br />

betrunkene Kids auf den Wecker gehen<br />

können. Ein Junge torkelt am mir vorbei,<br />

aus dem Zwis<strong>ch</strong>enabteil höre i<strong>ch</strong> ihn flu<strong>ch</strong>en.<br />

«S<strong>ch</strong>eisse, M<strong>an</strong>n!» Die Toilette ist<br />

ni<strong>ch</strong>t benutzbar, er muss weitersu<strong>ch</strong>en.<br />

Als er zurückkommt, ärgert er si<strong>ch</strong> über<br />

die Strenge seiner Mutter und darüber,<br />

dass er um halb zwei zu Hause sein muss.<br />

Allen Gesells<strong>ch</strong>aftskritikern zum Trotz<br />

gibt es also au<strong>ch</strong> heutzutage no<strong>ch</strong> so etwas<br />

wie elterli<strong>ch</strong>e Fürsorge. Die Clique<br />

steigt in Uster aus und i<strong>ch</strong> mit ihnen.<br />

SN7 Ri<strong>ch</strong>tung Bassersdorf, 02:11 Uhr<br />

Das Abteil ist gefüllt mit Mens<strong>ch</strong>en. Betrunkene<br />

Jugendli<strong>ch</strong>e dominieren au<strong>ch</strong><br />

hier die Szene, die Anzahl heimkehren<strong>der</strong><br />

Partygänger ist errei<strong>ch</strong>t den Hö<strong>ch</strong>stst<strong>an</strong>d.<br />

Links von mir s<strong>ch</strong>lafen zwei junge<br />

Mäd<strong>ch</strong>en, sie stützen si<strong>ch</strong> dabei gegenseitig.<br />

Von <strong>der</strong> lauten Welt um sie herum<br />

– es wird gejohlt und geki<strong>ch</strong>ert – s<strong>ch</strong>einen<br />

sie ni<strong>ch</strong>ts mitzubekommen, sie haben<br />

si<strong>ch</strong> ausgeklinkt.<br />

Trotz <strong>der</strong> kalten <strong>Na<strong>ch</strong></strong>t sind sie nur<br />

knapp bekleidet, m<strong>an</strong> erkennt mehr, als<br />

ihnen und vor allem mir lieb sein k<strong>an</strong>n.<br />

«Wie ist es wohl, mit so wenig Stoff einen<br />

g<strong>an</strong>zen kalten Abend herumlaufen<br />

zu müssen?» Als eines <strong>der</strong> Mäd<strong>ch</strong>en die<br />

Augen l<strong>an</strong>gsam und s<strong>ch</strong>werfällig öffnet<br />

und im ersten Moment verwirrt um si<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>aut, überlege i<strong>ch</strong> mir eine Sekunde<br />

l<strong>an</strong>g, sie d<strong>an</strong>a<strong>ch</strong> zu fragen. I<strong>ch</strong> komme<br />

aber ni<strong>ch</strong>t dazu, im nä<strong>ch</strong>sten Augenblick<br />

sind ihre Augen wie<strong>der</strong> ges<strong>ch</strong>lossen.<br />

Erst jetzt fällt mir auf, dass i<strong>ch</strong> einer<br />

<strong>der</strong> Ältesten sein muss. I<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>aue mi<strong>ch</strong><br />

um und erblicke gegenüber ein gutgekleidetes<br />

Paar. I<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ätze Mitte 30. Es<br />

sieht na<strong>ch</strong> Theaterbesu<strong>ch</strong> und <strong>an</strong>s<strong>ch</strong>liessendem<br />

Guter-Wein-mit-guten-Freunden-und-guten-Gesprä<strong>ch</strong>en-Umtrunk<br />

aus und passt ni<strong>ch</strong>t <strong>an</strong> diesen Ort.<br />

Weiter vorne erklingt Musik. Laute,<br />

s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Musik in mieser Qualität. Niem<strong>an</strong>d<br />

s<strong>ch</strong>eint si<strong>ch</strong> dar<strong>an</strong> zu stören, nur<br />

<strong>der</strong> Theaterm<strong>an</strong>n s<strong>ch</strong>aut ab und zu genervt<br />

in Ri<strong>ch</strong>tung des Lärms. Er sagt aber<br />

ni<strong>ch</strong>ts. Au<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> beginne l<strong>an</strong>gsam, mi<strong>ch</strong><br />

über die fünf Hobby-DJs aufzuregen. Wie<br />

k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong> nur so doof sein und <strong>an</strong><strong>der</strong>e<br />

Mitreisende <strong>der</strong>massen stören?<br />

I<strong>ch</strong> beneide die Mäd<strong>ch</strong>en, die immer<br />

no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lafen und si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t stören lassen.<br />

Am liebsten würde i<strong>ch</strong> rübergehen<br />

und den Jungs klarma<strong>ch</strong>en, dass m<strong>an</strong><br />

au<strong>ch</strong> Kopfhörer benutzen k<strong>an</strong>n. Um Ärger<br />

zu vermeiden, lasse i<strong>ch</strong> es aber sein<br />

und rege mi<strong>ch</strong> wie <strong>der</strong> Theaterm<strong>an</strong>n<br />

innerli<strong>ch</strong> auf. Dass si<strong>ch</strong> die fünf von mir<br />

ni<strong>ch</strong>ts hätten sagen lassen, wird klar, als<br />

<strong>der</strong> Zugbegleiter sie bittet, den Kra<strong>ch</strong><br />

leiser zu ma<strong>ch</strong>en. Sie s<strong>ch</strong>nöden ihn <strong>an</strong>,<br />

<strong>der</strong> eine ma<strong>ch</strong>t einen aggressiveren Eindruck.<br />

<strong>Na<strong>ch</strong></strong> kurzer Diskussion geben sie<br />

aber klein bei, und i<strong>ch</strong> steige in Kloten<br />

aus. Die Mäd<strong>ch</strong>en fahren weiter. Hoffentli<strong>ch</strong><br />

haben sie ihre Haltestelle ni<strong>ch</strong>t<br />

vers<strong>ch</strong>lafen.<br />

SN8 Ri<strong>ch</strong>tung La<strong>ch</strong>en, 03:13 Uhr<br />

Mittlerweile bin i<strong>ch</strong> sehr müde, obwohl<br />

i<strong>ch</strong> vor meinem Ausflug ein paar Stunden<br />

ges<strong>ch</strong>lafen habe. I<strong>ch</strong> trinke eine<br />

lauwarme Cola in <strong>der</strong> Hoffnung, wa<strong>ch</strong>er<br />

zu werden. Dasselbe Bild au<strong>ch</strong> in diesem<br />

Zug: lauter übernä<strong>ch</strong>tigte, halbtote Gestalten.<br />

Im Vorbeigehen sehe i<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>e,<br />

die si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine Dose Bier zutrauen.<br />

Ein M<strong>an</strong>n s<strong>ch</strong>läft mit einer sol<strong>ch</strong>en in<br />

<strong>der</strong> H<strong>an</strong>d und mir tun die Leute leid, die<br />

die si<strong>ch</strong> <strong>an</strong>bahnende Sauerei am Morgen<br />

aufwis<strong>ch</strong>en müssen.<br />

Die Stimmung ist ruhiger als in den<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>en Zügen. Nur ab und zu hört m<strong>an</strong><br />

ein kurzes Gesprä<strong>ch</strong>, d<strong>an</strong>a<strong>ch</strong> herrs<strong>ch</strong>t<br />

wie<strong>der</strong> Stille. Die fortges<strong>ch</strong>rittene Uhrzeit<br />

for<strong>der</strong>t erste Opfer.<br />

Das grelle Kunstli<strong>ch</strong>t im Abteil stört<br />

mi<strong>ch</strong>, und deshalb laufe i<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die<br />

Gänge. Die Müdigkeit überkommt mi<strong>ch</strong><br />

nun vollends, i<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te raus aus dem<br />

Lei<strong>ch</strong>enzug. I<strong>ch</strong> setze mi<strong>ch</strong> zu einem<br />

älteren Tamilen hin, <strong>der</strong> einen sehr erholten<br />

Eindruck ma<strong>ch</strong>t. Er komme aber<br />

ni<strong>ch</strong>t vom Ausg<strong>an</strong>g, o<strong>der</strong>? «Nein, von<br />

<strong>der</strong> Arbeit», <strong>an</strong>twortet er. Als Lagerist in<br />

<strong>der</strong> <strong>Na<strong>ch</strong></strong>ts<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t fährt er nun s<strong>ch</strong>on seit<br />

über einem Jahr jeden Sonntagmorgen<br />

mit diesem Zug na<strong>ch</strong> Hause.<br />

Er findet mein Unterf<strong>an</strong>gen, eine<br />

<strong>Na<strong>ch</strong></strong>t l<strong>an</strong>g Zug zu fahren, seltsam. Das<br />

wäre ni<strong>ch</strong>ts für ihn, «einfa<strong>ch</strong> so herumzusitzen».<br />

Er la<strong>ch</strong>t. <strong>Na<strong>ch</strong></strong>ts<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten können<br />

ihm ni<strong>ch</strong>ts <strong>an</strong>haben. «M<strong>an</strong> gewöhnt<br />

si<strong>ch</strong> <strong>an</strong> alles. I<strong>ch</strong> k<strong>an</strong>n s<strong>ch</strong>lafen, wenn alle<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>en arbeiten müssen.» Und all die<br />

Betrunkenen? Die stören ihn eigentli<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t, die meisten würden ja s<strong>ch</strong>lafen<br />

und vor s<strong>ch</strong>lafenden Besoffenen habe er<br />

keine Angst. In Thalwil verabs<strong>ch</strong>iede i<strong>ch</strong><br />

mi<strong>ch</strong> von dem freundli<strong>ch</strong>en M<strong>an</strong>n, und<br />

er wüns<strong>ch</strong>t mir alles Gute.<br />

Bahnhof Hardbrücke, 04:05 Uhr<br />

Hier steige i<strong>ch</strong> aus und lasse all die Betrunkenen,<br />

s<strong>ch</strong>lafenden Mäd<strong>ch</strong>en und<br />

<strong>Na<strong>ch</strong></strong>tarbeiter hinter mir. I<strong>ch</strong> steige in ein<br />

Taxi und frage mi<strong>ch</strong>, ob <strong>der</strong> Fahrer mi<strong>ch</strong><br />

für einen von ihnen hält. I<strong>ch</strong> bewun<strong>der</strong>e<br />

ihn, muss er do<strong>ch</strong> jedes Wo<strong>ch</strong>enende<br />

nü<strong>ch</strong>tern mit Betrunkenen fahren. ◊<br />

12<br />

13 ZS #1 / 11 — 25.02.2011

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