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Nach 90 Semestern an der Uni - Zs-online.ch

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Thema: Der Baron<br />

Heute nur no<strong>ch</strong> für «Ri<strong>ch</strong>ter Alex<strong>an</strong><strong>der</strong> Hold» im Einsatz: Füll-Halter-Tinte.<br />

Monströse Enzyklopädie: Vorlesungsnotizen aus <strong>90</strong> <strong>Semestern</strong>.<br />

«‹Und wir hatten<br />

grossartigen Sex›,<br />

betont Meinhard von<br />

Seckendorff»<br />

nistik, osteuropäis<strong>ch</strong>er Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, alles<br />

mitein<strong>an</strong><strong>der</strong> und wild dur<strong>ch</strong>ein<strong>an</strong><strong>der</strong>.<br />

Zweimal nahm er eine Doktorarbeit in<br />

Angriff, beide verliefen im S<strong>an</strong>d.<br />

Meinhard von Seckendorffs Studieneifer<br />

entspr<strong>an</strong>g ni<strong>ch</strong>t nur dem Interesse<br />

fürs Geistige. Son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> dem Desinteresse<br />

<strong>an</strong> allem <strong>an</strong><strong>der</strong>en. «Alles Materielle<br />

war ihm einfa<strong>ch</strong> nur lästig», erinnert<br />

si<strong>ch</strong> Rafael Ferber. Geld kümmerte ihn<br />

genauso wenig wie Arbeit.<br />

Do<strong>ch</strong> vor allem vers<strong>ch</strong><strong>an</strong>zte si<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />

Baron in Züri<strong>ch</strong> vor den Erwartungen, die<br />

auf ihm lasteten. «Meinhard st<strong>an</strong>d unter<br />

gewaltigem Druck seiner Mutter, das Erbe<br />

<strong>an</strong>zutreten», sagt Barbara Straka, die<br />

in den 80er-Jahren mit dem Freiherrn<br />

liiert war und heute die Br<strong>an</strong>denburger<br />

Akademie <strong>der</strong> Künste präsidiert. «Seine<br />

Mutter gab ihr Leben dafür hin. Meinhard<br />

dagegen kam selten aufs S<strong>ch</strong>loss<br />

und reiste so s<strong>ch</strong>nell wie mögli<strong>ch</strong> wie<strong>der</strong><br />

na<strong>ch</strong> Züri<strong>ch</strong> ab. Die wertvollen Gemälde,<br />

die Möbel, alles, was mit Familie und<br />

Tradition zusammenhing, interessierte<br />

ihn einfa<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t.»<br />

Als die Mutter starb, überliess <strong>der</strong><br />

Baron die Verwaltung des S<strong>ch</strong>losses und<br />

<strong>der</strong> Güter einer Nürnberger T<strong>an</strong>te namens<br />

Jutta.<br />

T<strong>an</strong>zen für den Sektenführer<br />

Er war mit <strong>an</strong><strong>der</strong>em bes<strong>ch</strong>äftigt. Oft mit<br />

Frauen. Meinhard von Seckendorff flirtete<br />

im Vorlesungssaal, im Tram, in Strassencafés,<br />

am geliebten Züri<strong>ch</strong>see. Der<br />

Adelsst<strong>an</strong>d gerei<strong>ch</strong>te ihm dabei ni<strong>ch</strong>t<br />

zum <strong>Na<strong>ch</strong></strong>teil. Es gibt ein Foto aus jungen<br />

Jahren. Ein s<strong>ch</strong>l<strong>an</strong>ker M<strong>an</strong>n mit beigem<br />

Pullover und Intellektuellenbrille steht<br />

im englis<strong>ch</strong>en Garten vor dem Blauen<br />

S<strong>ch</strong>loss. Keine s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Partie.<br />

Do<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Freiherr zog ni<strong>ch</strong>t die<br />

einfa<strong>ch</strong>sten Frauengemüter <strong>an</strong>. Seine<br />

erste Ehefrau Isabella raste einmal im<br />

Tiefflug über das rote S<strong>ch</strong>loss und warf<br />

einen Stein mit <strong>an</strong>geklebter Grusskarte<br />

ab. Die Ehe endete vor dem Bundesgeri<strong>ch</strong>t<br />

in Laus<strong>an</strong>ne. Eine <strong>an</strong><strong>der</strong>e Gefährtin<br />

s<strong>ch</strong>miss Meinhard von Seckendorff samt<br />

Gepäck <strong>an</strong> einer T<strong>an</strong>kstelle aus dem Auto.<br />

Eine Dritte br<strong>an</strong>nte mit einem sizili<strong>an</strong>is<strong>ch</strong>en<br />

Weinhändler dur<strong>ch</strong>.<br />

Wenn die Frauen geg<strong>an</strong>gen waren,<br />

s<strong>ch</strong>rieb <strong>der</strong> Baron Gedi<strong>ch</strong>te und tröstete<br />

si<strong>ch</strong> mit Esoterik. Als ihn eine Freundin<br />

namens Madeleine verliess, reiste er mit<br />

einer indis<strong>ch</strong>en Sekte na<strong>ch</strong> Finnl<strong>an</strong>d.<br />

Sie t<strong>an</strong>zten die g<strong>an</strong>ze <strong>Na<strong>ch</strong></strong>t um das Bild<br />

des Sektenführers und s<strong>an</strong>gen «Baba<br />

nam hevalam». Der Baron musste dazu<br />

trommeln. Später wollte ihn die Sekte zu<br />

einem spirituellen Minister ernennen,<br />

aber da war ihm die Lust verg<strong>an</strong>gen.<br />

1999, mit 55 Jahren, f<strong>an</strong>d er sie d<strong>an</strong>n,<br />

in einer Lateinvorlesung, die Frau seiner<br />

Träume. Patrizia, 40 Jahre, Spra<strong>ch</strong>wissens<strong>ch</strong>aftlerin<br />

mit jugendli<strong>ch</strong>em<br />

Charme; «trotz ihrer Narben», wie Meinhard<br />

von Seckendorff einwirft. Sie heirateten<br />

no<strong>ch</strong> im selben Jahr, s<strong>ch</strong>ieden si<strong>ch</strong><br />

zwar na<strong>ch</strong> einigen Monaten, kamen aber<br />

glei<strong>ch</strong> wie<strong>der</strong> zusammen.<br />

Der Baron glüht, wenn er von Patrizia<br />

spri<strong>ch</strong>t. «Sie ko<strong>ch</strong>te wun<strong>der</strong>bar mittelmeeris<strong>ch</strong>»,<br />

sagt er. Sie gingen t<strong>an</strong>zen, sie<br />

ma<strong>ch</strong>te ihm die Wäs<strong>ch</strong>e, sie reisten na<strong>ch</strong><br />

Paris und Rom, sie redeten über Latein<br />

und Indogerm<strong>an</strong>istik.<br />

«Und wir hatten grossartigen Sex»,<br />

betont Meinhard von Seckendorff.<br />

Do<strong>ch</strong> Patrizia rau<strong>ch</strong>te. Sie rau<strong>ch</strong>te<br />

in den Hotelzimmern, sie rau<strong>ch</strong>te,<br />

wenn sie ko<strong>ch</strong>te, sie rau<strong>ch</strong>te, wenn sie<br />

des <strong>Na<strong>ch</strong></strong>ts Übersetzungen ma<strong>ch</strong>te, um<br />

ihr Studium zu fin<strong>an</strong>zieren. So kam sie<br />

auf 60 Zigaretten am Tag. Heute ma<strong>ch</strong>t<br />

si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Baron Vorwürfe. «I<strong>ch</strong> hätte es<br />

ihr verbieten müssen, aber i<strong>ch</strong> war ja<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr ihr Ehem<strong>an</strong>n.» 2003, na<strong>ch</strong><br />

vierjähriger Beziehung, starb Patrizia<br />

<strong>an</strong> Lungenkrebs.<br />

«I<strong>ch</strong> da<strong>ch</strong>te, das sei die Beziehung<br />

fürs Leben», sagt Meinhard von Seckendorff.<br />

«I<strong>ch</strong> da<strong>ch</strong>te au<strong>ch</strong>, Patrizia könnte<br />

meine Alterspflegerin werden.»<br />

Der Baron ist eine ehrli<strong>ch</strong>e Haut.<br />

Das S<strong>ch</strong>limmste aber sei gewesen, dass<br />

er den S<strong>ch</strong>merz mit niem<strong>an</strong>dem teilen<br />

konnte. Wenigstens <strong>der</strong> bek<strong>an</strong>nte Zür<strong>ch</strong>er<br />

Militärstrategie-Professor Albert<br />

Stahel hörte si<strong>ch</strong> die traurige Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />

in einer Vorlesungspause <strong>an</strong>.<br />

Der letzte Privatgelehrte<br />

Die Jahre na<strong>ch</strong> Patrizias Tod waren keine<br />

Jubeljahre für den Baron. Es klappte<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr mit den Frauen, eine <strong>Na<strong>ch</strong></strong>t<br />

mit einer ostdeuts<strong>ch</strong>en Germ<strong>an</strong>istin und<br />

die zweideutige Äusserung einer Mensa<strong>an</strong>gestellten<br />

bezügli<strong>ch</strong> <strong>Na<strong>ch</strong></strong>tis<strong>ch</strong> mal<br />

ausgenommen.<br />

An <strong>der</strong> <strong>Uni</strong> war er zum Exoten geworden.<br />

Die Professoren von einst waren<br />

pensioniert o<strong>der</strong> tot, die Studienfreunde<br />

längst vers<strong>ch</strong>wunden o<strong>der</strong> inzwis<strong>ch</strong>en<br />

selbst Professoren.<br />

Do<strong>ch</strong> Meinhard von Seckendorff zog<br />

sein Programm dur<strong>ch</strong>. Tägli<strong>ch</strong> se<strong>ch</strong>s bis<br />

a<strong>ch</strong>t Stunden Vorlesungen über dieses<br />

und jenes. In den Kaffeeecken und Dozentenzimmern<br />

munkelte m<strong>an</strong> etwas<br />

von einem S<strong>ch</strong>loss und einem Vermögen,<br />

do<strong>ch</strong> genauer wusste kaum einer<br />

über den Baron Bes<strong>ch</strong>eid. Er war «<strong>der</strong><br />

freundli<strong>ch</strong>e ältere Herr, <strong>der</strong> <strong>an</strong> unerwarteten<br />

Stellen laut la<strong>ch</strong>te und mit Getöse<br />

Notizblöcke volls<strong>ch</strong>rieb», wie si<strong>ch</strong> Professoren<br />

erinnern.<br />

Es s<strong>ch</strong>wingt Wehmut mit, wenn sie<br />

<strong>an</strong> Meinhard von Seckendorff zurückdenken.<br />

Für sie war er das Fleis<strong>ch</strong> gewordene<br />

Gegenstück zur ungeliebten Bologna-Reform;<br />

jem<strong>an</strong>d, <strong>der</strong> nur um des →<br />

32<br />

33 ZS #1 / 11 — 25.02.2011

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