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Nach 90 Semestern an der Uni - Zs-online.ch

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Thema: Der Baron<br />

Verna<strong>ch</strong>lässigte Traditionen: Ornament und Türs<strong>ch</strong>ild am Roten S<strong>ch</strong>loss.<br />

«Wenn ihm das Geld<br />

ausging, reiste er<br />

aufs S<strong>ch</strong>loss und<br />

verkaufte ein weiteres<br />

Möbelstück.»<br />

«Als Intellektueller<br />

brau<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong><br />

städtis<strong>ch</strong>es Milieu.»<br />

Lernens willens studierte. Ein Exemplar<br />

<strong>der</strong> aussterbenden Gattung <strong>der</strong> Privatgelehrten.<br />

Meinhard von Seckendorff<br />

spri<strong>ch</strong>t fliessend Latein und Grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>,<br />

er kennt Sätze auf Indis<strong>ch</strong> und Indogerm<strong>an</strong>is<strong>ch</strong><br />

und zitiert am Laufmeter Philosophen,<br />

Literaten und Propheten.<br />

Das jahrel<strong>an</strong>ge Mä<strong>an</strong><strong>der</strong>n dur<strong>ch</strong> das<br />

All-you-c<strong>an</strong>-eat-Buffet des universitären<br />

Lehr<strong>an</strong>gebots hat no<strong>ch</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>e Spuren<br />

hinterlassen: Ein eigensinniges Wissenssystem,<br />

das mit mo<strong>der</strong>nem, zielgeri<strong>ch</strong>tetem<br />

Fors<strong>ch</strong>en kaum kompatibel<br />

ist. «Wenn Meinhard redet, ergeben si<strong>ch</strong><br />

endlose Assoziativketten, die letztendli<strong>ch</strong><br />

um si<strong>ch</strong> selbst kreisen», sagt Rafael<br />

Ferber, <strong>der</strong> Studienfreund und Philosophieprofessor.<br />

Für den Baron hängt alles mit allem<br />

zusammen; Zahlen, Daten, Ged<strong>an</strong>ken<br />

und Sternzei<strong>ch</strong>en. Er hüpft von einem<br />

zum <strong>an</strong><strong>der</strong>en im Takt eines Mas<strong>ch</strong>inengewehrs.<br />

M<strong>an</strong><strong>ch</strong>mal ist einem, als höre<br />

er die Bü<strong>ch</strong>er einer monumentalen Bibliothek<br />

wild dur<strong>ch</strong>ein<strong>an</strong><strong>der</strong> wispern.<br />

Diese monumentale Bibliothek hat<br />

Meinhard von Seckendorff ni<strong>ch</strong>t nur im<br />

Kopf. Son<strong>der</strong>n au<strong>ch</strong> im Keller. Dort sind<br />

die Mits<strong>ch</strong>riften aus 45 Studienjahren<br />

ar<strong>ch</strong>iviert. Tausende vollges<strong>ch</strong>riebene<br />

A5-Blöcke mit blauem R<strong>an</strong>d, die si<strong>ch</strong> kubikmeterweise<br />

zur Decke türmen. Eine<br />

monströse und <strong>ch</strong>aotis<strong>ch</strong>e Enzyklopädie<br />

universitären Wissens.<br />

25 Jahre im Hotel<br />

Auf einem Holzgestell neben den M<strong>an</strong>uskriptbergen<br />

reihen si<strong>ch</strong> weitere Zeugen<br />

<strong>der</strong> l<strong>an</strong>gen Studienepo<strong>ch</strong>e. Ein Dutzend<br />

kaputter Rollkoffer, mit denen <strong>der</strong> Baron<br />

zwis<strong>ch</strong>en Obernzenn und Züri<strong>ch</strong> hin-<br />

und herpendelte.<br />

Meist st<strong>an</strong>den die Koffer aber in<br />

den Hotelzimmern, die na<strong>ch</strong> dem Tod<br />

<strong>der</strong> Mutter 1985 Meinhard von Seckendorffs<br />

Zuhause wurden. Erst logierte er<br />

im «Rothus» im Zür<strong>ch</strong>er Nie<strong>der</strong>dorf, wo<br />

es Etagendus<strong>ch</strong>en und einmal au<strong>ch</strong> eine<br />

Lei<strong>ch</strong>e gab. Später residierte er im Dreisternehotel<br />

«Walhalla» nahe dem Zür<strong>ch</strong>er<br />

Hauptbahnhof, wo ihm <strong>der</strong> jugoslawis<strong>ch</strong>e<br />

Rezeptionist m<strong>an</strong><strong>ch</strong>mal eine<br />

Limonade spendierte. 110 Fr<strong>an</strong>ken pro<br />

<strong>Na<strong>ch</strong></strong>t kostete das Zimmer zuletzt.<br />

Wieso lebten Sie 25 Jahre l<strong>an</strong>g in Hotels,<br />

Herr Baron?<br />

Der Baron ringt um Worte. «Mir fehlte<br />

einfa<strong>ch</strong> die Kraft, eine Wohnung zu<br />

su<strong>ch</strong>en», sagt er.<br />

Ni<strong>ch</strong>t, dass er auf grossem Fuss<br />

gelebt hätte. Der Baron führte ein bes<strong>ch</strong>eidenes<br />

Dasein. Abends ass er eine<br />

Bratwurst o<strong>der</strong> einen Toast Hawaii. Kino<br />

o<strong>der</strong> Konzerte leistete er si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t.<br />

Am Samstagabend ging er m<strong>an</strong><strong>ch</strong>mal<br />

in ein Café. «Aber die Paare zogen mi<strong>ch</strong><br />

sowieso herunter», sagt er. Meist sah<br />

Meinhard von Seckendorff in seinem<br />

Hotelzimmer fern.<br />

Das Geld hätte ja rei<strong>ch</strong>en können bis<br />

<strong>an</strong>s Lebensende, meint er. Wenn T<strong>an</strong>te<br />

Jutta ni<strong>ch</strong>t gewesen wäre. 2001 kam ein<br />

Brief vom Geri<strong>ch</strong>tsvollzieher. Wegen<br />

ni<strong>ch</strong>t bezahlter Re<strong>ch</strong>nungen drohte eine<br />

Pfändung. Der Freiherr verst<strong>an</strong>d ni<strong>ch</strong>t.<br />

Und T<strong>an</strong>te Jutta, die <strong>der</strong> Baron mit <strong>der</strong><br />

Verwaltung des Erbes betraut hatte, war<br />

plötzli<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>wunden.<br />

S<strong>ch</strong>lossverkauf<br />

<strong>Na<strong>ch</strong></strong> und na<strong>ch</strong> stellte si<strong>ch</strong> heraus: Jutta<br />

hatte keine Bu<strong>ch</strong>führung gema<strong>ch</strong>t, dafür<br />

aber S<strong>ch</strong>ulden in <strong>der</strong> Höhe von 400’000<br />

Euro. «Und sie liess das Tafelsilber mitgehen»,<br />

vermutet <strong>der</strong> Baron.<br />

Meinhard von Seckendorff musste<br />

das Erbe vers<strong>ch</strong>erbeln.<br />

Erst die Waffen, die <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e Ritterrüstung<br />

im Treppenhaus und die Bil<strong>der</strong>serie<br />

eines preussis<strong>ch</strong>en Regiments.<br />

«Das war mir no<strong>ch</strong> egal, i<strong>ch</strong> bin eh Pazifist»,<br />

meint <strong>der</strong> Baron.<br />

D<strong>an</strong>n die 80 Hektaren Wald, die seine<br />

Mutter so geliebt hatte. «Das war un<strong>an</strong>genehm,<br />

aber i<strong>ch</strong> wollte ja nie auf die<br />

Jagd gehen o<strong>der</strong> so.» Immerhin bra<strong>ch</strong>te<br />

das 1<strong>90</strong>’000 D-Mark.<br />

D<strong>an</strong>n kam ein Teil des Inventars <strong>an</strong><br />

die Reihe, <strong>an</strong>tike Sekretäre, Tis<strong>ch</strong>e, Bil<strong>der</strong>,<br />

S<strong>ch</strong>muck. «Das tat d<strong>an</strong>n weh.»<br />

2004 verkaufte Meinhard von Seckendorff<br />

den Viertel des Roten S<strong>ch</strong>losses,<br />

den er geerbt hatte, für 150’000 Euro <strong>an</strong><br />

die um Denkmals<strong>ch</strong>utz bemühte Messers<strong>ch</strong>mitt-Stiftung.<br />

M<strong>an</strong> liess ihm lebensl<strong>an</strong>ges<br />

Wohnre<strong>ch</strong>t in drei Zimmern,<br />

Bad und Kü<strong>ch</strong>e.<br />

Die S<strong>ch</strong>ulden waren längst abbezahlt.<br />

Do<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Baron da<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t dar<strong>an</strong>, das<br />

Studium und das Hotelzimmer aufzugeben.<br />

Wenn ihm das Geld ausging, reiste<br />

er aufs S<strong>ch</strong>loss und verkaufte ein weiteres<br />

Möbelstück.<br />

Meinhard von Seckendorff sitzt zerknirs<strong>ch</strong>t<br />

im Wohnzimmer und s<strong>ch</strong>aut<br />

si<strong>ch</strong> das verbliebene Erbe <strong>an</strong>. «I<strong>ch</strong> da<strong>ch</strong>te<br />

einfa<strong>ch</strong>, das würde si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on alles<br />

wie<strong>der</strong> einrenken.» Er habe gehofft, irgendwie<br />

do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine Doktorarbeit<br />

hinzukriegen. D<strong>an</strong>n erzählt er von einem<br />

Freund, <strong>der</strong> ihm einen Posten als Lateinlehrer<br />

in Aussi<strong>ch</strong>t stellte, sollte er einst<br />

eine Privats<strong>ch</strong>ule eröffnen.<br />

Waffenruhe mit Celia<br />

Im J<strong>an</strong>uar 2009 gest<strong>an</strong>d si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Baron<br />

ein, dass er pleite war. <strong>Na<strong>ch</strong></strong> 45 Jahren<br />

war seine Studienzeit zu Ende. Er verabs<strong>ch</strong>iedete<br />

si<strong>ch</strong> im Hotel Walhalla vom<br />

jugoslawis<strong>ch</strong>en Rezeptionisten, <strong>der</strong><br />

ihm m<strong>an</strong><strong>ch</strong>mal Limonade offerierte,<br />

und reiste zurück auf das Rote S<strong>ch</strong>loss.<br />

Enttäus<strong>ch</strong>t, aber ni<strong>ch</strong>t g<strong>an</strong>z hoffnungslos.<br />

«I<strong>ch</strong> da<strong>ch</strong>te, Celia würde mi<strong>ch</strong> in<br />

ihr Hamburger Stadthaus holen», sagt<br />

Meinhard von Seckendorff.<br />

Aber <strong>der</strong> Besu<strong>ch</strong> im Norden endete<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>s als erhofft. Dass er die <strong>Na<strong>ch</strong></strong>t<br />

ni<strong>ch</strong>t in Celias S<strong>ch</strong>lafzimmer verbringen<br />

konnte, ärgerte den Baron. Am Morgen<br />

sagte er etwas von «Hamburger Sexualunterdrückung».<br />

Celia <strong>an</strong>twortete etwas<br />

von «direkt in St. Pauli abliefern».<br />

Der Baron reiste zurück und s<strong>ch</strong>rieb<br />

Liebesbriefe. Celia rief <strong>an</strong> und blieb hart.<br />

Der Baron knallte den Hörer auf die Gabel.<br />

Er s<strong>ch</strong>rieb ihr ein Gedi<strong>ch</strong>t, das mit<br />

«An die Eiswoge Hamburgs» beg<strong>an</strong>n.<br />

Celia rief <strong>an</strong> und for<strong>der</strong>te ihn auf, sie mit<br />

Namen <strong>an</strong>zus<strong>ch</strong>reiben.<br />

Er s<strong>ch</strong>ickte ihr eine Postkarte mit einer<br />

üppigen Frau darauf und wüns<strong>ch</strong>te<br />

«s<strong>ch</strong>önes Altern». Celia rief wie<strong>der</strong> <strong>an</strong><br />

und meinte, so alt sei sie nun au<strong>ch</strong> wie<strong>der</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t.<br />

Der Baron s<strong>ch</strong>ickte einen freundli<strong>ch</strong>eren<br />

Brief, «unter Verzi<strong>ch</strong>t auf Erotik»,<br />

seither herrs<strong>ch</strong>t Waffenruhe. Do<strong>ch</strong> die<br />

Fronten wollen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t aufwei<strong>ch</strong>en.<br />

Meinhard von Seckendorff hofft auf Ostern.<br />

D<strong>an</strong>n will er Celia wie<strong>der</strong> einladen.<br />

Der Herbert vom Stammtis<strong>ch</strong> gab ihm<br />

den Rat, einfa<strong>ch</strong> über sie herzufallen.<br />

Celia übrigens bittet um Verständnis,<br />

dass sie si<strong>ch</strong> zu <strong>der</strong> Sa<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t äussere.<br />

«Es ist do<strong>ch</strong> eine re<strong>ch</strong>t fragile Familien<strong>an</strong>gelegenheit»,<br />

sagt sie am Telefon.<br />

Premium-La<strong>ch</strong>s<br />

Zeit für ein wenig Zitronen-Bitters<strong>ch</strong>okolade,<br />

die Leibspeise des Freiherrn. In diesen<br />

s<strong>ch</strong>weren Zeiten hat er immer einige<br />

Tafeln im Kühls<strong>ch</strong>r<strong>an</strong>k gelagert.<br />

<strong>Na<strong>ch</strong></strong> <strong>der</strong> Stärkung s<strong>ch</strong>leppt Meinhard<br />

von Seckendorff von irgendwoher<br />

eine elektronis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>reibmas<strong>ch</strong>ine<br />

her<strong>an</strong>. Er s<strong>ch</strong>reibt <strong>an</strong> einem Bu<strong>ch</strong>, einer<br />

Einführung in Philosophie, steckt →<br />

34<br />

35 ZS #1 / 11 — 25.02.2011

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