Ansehen - Evangelische Kirchengemeinde Nierstein
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Wer kann merken, wie oft er<br />
fehlet? Kein Mensch kann ohne<br />
Sünde leben. Seit Adam und Eva<br />
vom Baum der Erkenntnis des<br />
Guten und Bösen gegessen<br />
haben, leben wir nicht mehr in<br />
paradiesischer Unschuld sondern<br />
wissen, um unser böses Tun.<br />
Kein Mensch lebt ohne Sünde,<br />
auch nicht die »wiedergeborenen<br />
Christen«, die von ihrer Umkehr<br />
und der neuen Kreatur in<br />
Christus sprechen. Sie beziehen<br />
sich auf Paulus, aber gerade der<br />
hat im Römerbrief 3, 22 –23<br />
geschrieben:<br />
Wenn ich schon nicht von meiner eigenen<br />
Schuld weiß, wie kann ich mir anmaßen,<br />
von den Verfehlungen anderer zu wissen.<br />
Oder: Wenn ich mit dem Finger auf einen<br />
anderen zeige, zeigen drei Finger auf mich.<br />
4<br />
Ich rede aber von der Gerechtigkeit<br />
vor Gott, die da kommt<br />
durch den Glauben an Jesus<br />
Christus zu allen, die glauben.<br />
Denn es ist hier kein Unterschied:<br />
sie sind allesamt Sünder<br />
und ermangeln des Ruhmes,<br />
den sie bei Gott haben sollten.<br />
Der Gegensatz zur Sünde ist<br />
nicht die Tugend, wie es unsere<br />
Moralapostel gerne hinausposaunen<br />
sondern Glaube und Vertrauen<br />
auf Gott. Nicht das<br />
sündlose Leben ist das Ziel, –<br />
das ist dem Menschen, seit dem<br />
»… Sprung in die Existenz«,<br />
wie der Philosoph Hegel den<br />
Sündenfall im Paradies bezeichnete,<br />
nicht möglich. Freiheit,<br />
Getrenntsein von Gott und wahres<br />
Menschsein sind bei Hegel<br />
dasselbe. Das ist die Vertreibung<br />
aus dem Paradies.<br />
1. Mose 2,22–23 Und Gott der<br />
HERR sprach: Siehe, der Mensch<br />
ist geworden wie unsereiner und<br />
weiß, was gut und böse ist. Nun<br />
aber, dass er nur nicht ausstrecke<br />
seine Hand und breche auch von<br />
dem Baum des Lebens und esse<br />
und lebe ewiglich!<br />
Da wies ihn Gott der HERR aus<br />
dem Garten Eden, dass er die<br />
Erde bebaute, von der er genommen<br />
war.<br />
Dieses Getrenntsein von Gott,<br />
das ist die Sünde, in der wir<br />
leben, weil wir Menschen sind,<br />
nicht weil wir schlechte Menschen<br />
sind. Deshalb hat Martin<br />
Luther am 1.August 1521 den<br />
umstrittenen Satz an Philipp<br />
Melanchton geschrieben: »pecca<br />
fortider, sed fortius fide« –<br />
»sündige tapfer, aber tapferer<br />
glaube!« Im ausgehenden Mittelalter<br />
klang diese Aufforderung<br />
provokativ. Sünde, Tod und Teufel<br />
waren Realitäten, die Angst<br />
vor Höllenqualen und Fegefeuer<br />
allgegenwärtig. Luthers »sündige<br />
tapfer« wirkte wie ein Hohn auf<br />
die Kirche, die alle Anstrengung<br />
darauf verwandte, die Sündenlast<br />
dem Menschen bewusst zu<br />
machen, um sie dann mindern<br />
zu können. Die institutionalisierte<br />
Gnadenvermittlung war<br />
gefährdet, die Kirche alarmiert.<br />
Theologen aller Generationen<br />
(auch evangelische) haben versucht,<br />
dieses Lutherwort abzuschwächen.<br />
Luther wäre überarbeitet<br />
gewesen oder habe wieder<br />
einmal rhetorisch übertrieben,<br />
heißt es. Seine Gegner warfen<br />
ihm vor, den Sittenverfall zu<br />
befördern, Hurerei und Mord<br />
Vorschub zu leisten.<br />
All dies hatte Luther natürlich<br />
nicht im Sinn, er meinte kein<br />
»sündige drauf los«. Wenn dies<br />
jemand dennoch tun wollte,<br />
Nur schnell ein paar Einkäufe,<br />
weil ich grad’ in der Stadt bin.<br />
Ich gehe auf den Eingang<br />
des Fußgängertunnels zu, und<br />
da schreit es mich an: »Du bist<br />
schuld!« Die beiden, die direkt<br />
darunter hergehen und es über<br />
ihren Köpfen haben – sozusagen<br />
als Überschrift? Die sind<br />
ahnungslos, sehen die Schrift am<br />
Betonsturz nicht. Ich entkomme<br />
ihr nicht. Ich weiß, der unbekannte<br />
Sprayer kennt mich nicht!<br />
Aber: Er beunruhigt mich.