PDF-Download - Bayerische Staatsoper
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pelléas ist in intelligenten<br />
kommentaren ersäuft<br />
worden. es ist schwer,<br />
dem zu entkommen und<br />
wieder das wirkliche<br />
drama zu entdecken.<br />
den, neue Orchesterfarben. Jeden Moment<br />
wollte er immer noch klarer fassen.<br />
Am intimsten und zugleich leidenschaftlichsten<br />
sind die Zwischenspiele.<br />
Durch eine Art von Leitmotiven sind sie<br />
mit den Charakteren verknüpft. Aber<br />
sie sind ins Symphonische geweitet<br />
und stellen dem Hörer grundsätzliche<br />
Fragen, lassen ihn über seine eigenen<br />
Beziehungen nachdenken.<br />
Erfordert Pelléas eine besonders<br />
intensive Zusammenarbeit zwischen<br />
Dirigent und Regisseur?<br />
Die sollte es immer geben. Die Partitur<br />
muss der entscheidende Text sein.<br />
Im Schauspiel kann man das Tempo<br />
wählen, im Musiktheater gibt es<br />
Gesetze, die alles festlegen, Tempo,<br />
Dynamik, alles. Der Komponist hat das<br />
vor dir entschieden. Regisseur und<br />
Dirigent müssen sich in enger Zusammenarbeit<br />
über diesen Text verständigen.<br />
Wenn du alles vorher weißt, ist die<br />
Oper tot. Diese Produktion begleitet<br />
mich seit 1995, als ich musikalischer<br />
Direktor der Opera North war. Die drei<br />
Wochen vor der Premiere waren wie<br />
der letzte Anstieg zum Gipfel, das<br />
Härteste, was ich je gemacht habe.<br />
Du kannst auf jeder Partiturseite entscheiden,<br />
wie es weitergeht, welcher<br />
Charakter die Führung übernehmen<br />
soll, ob das Orchester führen soll, ob<br />
du mutig genug bist, Momente der<br />
Stille zu ertragen, in denen keiner führt,<br />
sondern letztlich das Publikum.<br />
Ist Pelléas nicht ein ziemlich undramatisches<br />
Stück?<br />
Oh nein, Pelléas hat eine sehr dramatische<br />
Handlung – mindestens so komplex<br />
wie Le nozze di Figaro. Die Charaktere<br />
sind genau gezeichnet. Wenn<br />
man nicht ganz sorgfältig ist, dann wird<br />
das ein Märchen. Aber wenn man bei<br />
jedem Charakter überlegt, wofür er<br />
steht, dann entwickelt sich eine komplexe<br />
Geschichte, nichts Symbolistisches.<br />
Symbolismus ist ein Etikett,<br />
das man benutzt, wenn man sich nicht<br />
genug mit den Charakteren auseinandersetzt.<br />
Die Leute, die wir Symbolisten<br />
nennen, waren aber sehr präzise<br />
in ihren Gedanken und Geschichten.<br />
Mélisande ist aber doch sehr<br />
geheimnisvoll.<br />
Natürlich – ein passiv aggressiver<br />
Charakter. Sie manipuliert und ist nicht<br />
besonders sympathisch. Das ist selten.<br />
Meistens sind solche Charaktere<br />
Opfer, wie Violetta, oder sie haben<br />
sadistische Züge, wie Salome. Viele<br />
Opern über Frauen handeln von<br />
Opfern. Pelléas versucht, niemanden<br />
schuldig oder zum Opfer werden zu<br />
lassen – sehr ungewöhnlich. Mélisande<br />
beeinflusst die Menschen auf eine<br />
ganz seltsame Art. Mit ihrer Unschuld<br />
zieht sie Golaud an, diesen ziemlich<br />
sadistischen Mann. Aber er begreift<br />
sofort, dass er von ihr nicht bekommen<br />
wird, was er braucht. In Mélisande<br />
steckt eine Menge von Lulu.<br />
Inwiefern?<br />
Sie ist ein Opfer, aber obwohl sie am<br />
Ende stirbt, hat sie alle anderen zerstört,<br />
sehr bewusst. Sie wirft ihren Ring<br />
weg und bringt Pelléas dazu, ein Verhältnis<br />
mit ihr einzugehen. Gleichzeitig<br />
hat diese Beziehung etwas Kindliches.<br />
Sie lieben sich leidenschaftlich, Minuten<br />
später hassen sie sich. Mélisande<br />
ist ein unglaublich komplexer Charakter<br />
und deshalb so schwer zu verstehen.<br />
Aus diesem Grunde wurde das<br />
alles so gerne als Impressionismus<br />
und Symbolismus gedeutet.<br />
Ist Pelléas et Mélisande eher ein<br />
Stück für Experten?<br />
Überhaupt nicht. Eigentlich sollte<br />
man gar nicht über das Stück reden,<br />
man muss es erleben. Was in Allemonde<br />
passiert, ist wie in einer guten soapopera<br />
im Fernsehen. Richard Jones<br />
und ich versuchen, das zu zeigen.<br />
Nehmen Sie die Szene zwischen<br />
Pelléas und Golaud in den Gewölben.<br />
Golaud lebt in seiner depressiven Welt,<br />
aus der er gar nicht entfliehen möchte.<br />
Er schleppt Pelléas in diese feuchten,<br />
dunklen Gewölbe. Pelléas will ins<br />
Freie, an die Luft. Wie viele amerikanische<br />
Filme haben solche Szenen?<br />
Ein Auto stürzt ins Wasser. Die Person<br />
im Inneren versucht, die Tür zu öffnen,<br />
erstickt beinahe, gelangt in letzter<br />
Sekunde an die Oberfläche – genau<br />
die Szene in Pelléas, absolut realistisch.<br />
Und wir überlegen, wie symbolhaft<br />
das alles ist. Pelléas ist in intelligenten<br />
Kommentaren ersäuft worden.<br />
Es ist schwer, dem zu entkommen und<br />
wieder das wirkliche Drama zu entdecken.<br />
Nein, bloß keine Spezialisten!<br />
Interview: Oswald Beaujean<br />
TAKT 1 11