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Kurzmanuskript<br />
» Forum 3<br />
Prof. Dr. Roland Schmidt, Professor für Gerontologie und -Versorgungsstrukturen an <strong>der</strong> Fachhochschule Erfurt<br />
Auswirkungen des Fachkräftemangels auf Angebotsstrukturen und<br />
Leistungsprozesse in sozialwirtschaftlichen Unternehmen in <strong>der</strong> Pflege<br />
Der sich abzeichnende und mancherorts bereits präsente<br />
Fachkräftemangel wird die Langzeitpflege langfristig in<br />
ihrer Entwicklung zentral beeinflussen. Erst dann, wenn<br />
die Generation <strong>der</strong> Babyboomer verstorben ist – also ca.<br />
im Jahr 2045 ff. – könnte nachfrageseitig eine allmähliche<br />
Entspannung <strong>der</strong> Situation eintreten. Dabei ist das<br />
Ausmaß an Hilfe und Pflege nur mit Unsicherheiten behaftet<br />
abzuschätzen. Konsequenterweise werden bei handwerklich<br />
soliden Prognosen des zukünftigen Hilfe- und<br />
Pflegebedarfs unterschiedliche Modellannahmen zugrunde<br />
gelegt, um im Resultat Korridore zu identifizieren, innerhalb<br />
<strong>der</strong>er sich nach heutigem Stand des Wissens die zukünftige<br />
Entwicklung bewegen könnte.<br />
1. Bereits im Hinblick auf die Mortalitätsentwicklung existieren<br />
konkurrierende Annahmen in <strong>der</strong> Demografie, die<br />
mal besagen, dass <strong>der</strong> zukünftig zu erwartende Mortalitätsrückgang<br />
mo<strong>der</strong>ater als zuletzt ausfallen wird (Statistisches<br />
Bundesamt), mal jedoch hervorkehren, dass<br />
durch ein Mehr an (primärer, sekundärer und tertiärer)<br />
Prävention das Entstehen chronischer Krankheiten mit<br />
hohen gesundheitlichen Risiken (z. B. Adipositas) reduziert<br />
werden kann mit <strong>der</strong> Folge, dass auch weiterhin ein<br />
markanter Mortalitätsrückgang zu verzeichnen sein<br />
könnte.<br />
2. Entscheidend für die Nachfrage nach Hilfe und Pflege<br />
ist aber <strong>der</strong> Zusammenhang von Mortalitäts- und Morbiditätsentwicklung.<br />
Auch <strong>hier</strong> sind divergierende Modellannahmen<br />
zu konstatieren, die unmittelbar Auswirkungen<br />
auf Bedarfsprognosen zeitigen. Zwar ist davon auszugehen,<br />
dass die <strong>der</strong>zeitige Prävalenz von Pflegebedürftigkeit<br />
nicht konstant bleiben wird, jedoch differieren die<br />
Annahmen darüber, ob sich die gewonnenen Lebensjahre<br />
eher als Jahre bei relativer Selbstständigkeit o<strong>der</strong> als<br />
Jahre mit Beeinträchtigungen nie<strong>der</strong>schlagen. Man kann<br />
unter Bezugnahme auf die Bi-Modalitätsthese davon ausgehen,<br />
dass die verlängerte Lebenszeit in etwa je hälftig<br />
als autonome und als abhängige nie<strong>der</strong>schlagen wird.<br />
O<strong>der</strong> man kann eine Kompression <strong>der</strong> Morbidität annehmen,<br />
die besagt, dass sich Phasen weitgehen<strong>der</strong> Abhängigkeit<br />
in Folge chronischer Krankheit und Behin<strong>der</strong>ung allmählich<br />
ins immer höhere Alter hinausschieben und dabei zugleich<br />
in ihrer zeitlichen Dauer gegenüber heute zusehends<br />
verkürzen.<br />
3. Hiervon unbeeinflusst ist die Frage, in welchem Ausmaß<br />
zukünftig <strong>der</strong> steigende Hilfe- und Pflegebedarf im<br />
Rahmen von Haushaltsproduktion o<strong>der</strong> mittels Dienstleistungsbezug<br />
gedeckt werden kann bzw. muss. Der<br />
Geburtenrückgang <strong>hier</strong>zulande kommt in erster Linie<br />
dadurch zustande, dass immer größere Anteile von (Ehe-)<br />
Paaren kin<strong>der</strong>los bleiben und sie dadurch im hohen<br />
Alter auch nicht bzw. nur eingeschränkt über familiäre<br />
Unterstützungsressourcen verfügen. Dies legt es nahe,<br />
von einem langfristig steigenden Dienstleistungsbezug<br />
auszugehen. Allerdings könnte <strong>hier</strong> ein Systemwechsel<br />
im SGB XI hin zu einem Pflegegeld z. B. österreichischer<br />
Prägung auch Ressourcen dort erweitert mobilisieren,<br />
wo das Generationengefüge in <strong>der</strong> Familie nicht „abgerissen<br />
ist“.<br />
Der Bedarf an Hilfe und Pflege wird steigen. Offen ist,<br />
wie steil <strong>der</strong> Anstieg ausfällt. Dies spiegelt sich nicht zuletzt<br />
in den durchaus abweichenden Prognosen bereits<br />
aktuell fehlen<strong>der</strong> Pflegefachkräfte wi<strong>der</strong>. Und <strong>der</strong> Bedarf<br />
wird sich vermehrt auch als Nachfrage nach Dienstleistungen<br />
nie<strong>der</strong>schlagen – unabhängig von <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong><br />
den Erstellungsorten (Privathaushalt, betreutes Wohnen,<br />
ambulant betreute Wohngemeinschaften, Pflegeheime).<br />
Während die Nachfrage deutlich o<strong>der</strong> gar steil steigt, ist<br />
das Angebot an Dienstleistungen unter gegenwärtigen<br />
Rahmenbedingungen limitiert. Angesichts rückläufiger<br />
Zahlen an Schulabsolventen in den nachfolgenden Generationen<br />
<strong>hier</strong>zulande müsste sich <strong>der</strong> Anteil, <strong>der</strong> einen<br />
Pflegeberuf ergreift, deutlich nach oben bewegen. Derzeit<br />
verweilt dieser bei 4 Prozent eines Jahrgangs – ungeachtet<br />
aller Imagekampagnen. Vor diesem Hintergrund<br />
ist es nachvollziehbar, dass Träger, die sich nicht<br />
» in <strong>der</strong> Ausbildung engagieren,<br />
» zugleich auch Pflegekräfte aus dem Ausland zu gewinnen<br />
suchen und<br />
» parallel um Mitarbeiterbindung und Gesundheitsför<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> (älteren) Arbeitnehmer bemühen,<br />
in eine Nachteilposition geraten, die nicht nur Wachstum<br />
verunmöglicht, son<strong>der</strong>n den Unternehmensbestand zu gefährden<br />
droht. Bereits <strong>der</strong> Erhalt des Status quo erweist<br />
sich mancherorts <strong>der</strong>zeit als erhebliche Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />
die – unter Bedingungen (mancherorts) sozialrechtlich<br />
vorgegebener Personalschlüsseln und ordnungsrechtlich<br />
gefor<strong>der</strong>ter Fachkraftquote – nur in Annäherung erfolgreich<br />
gelingt.<br />
Es wird vor diesem Hintergrund unabwendbar sein,<br />
Rationalisierungspotenziale zu suchen und zu mobilisieren.<br />
1. Rationalisierung <strong>der</strong> Versorgungsstruktur: Rationalisierungspotenziale<br />
sind insbeson<strong>der</strong>e in den Schnittflächen<br />
von SGB V und SGB XI zu verorten. Ein Umbau<br />
des Gesundheitswesens, <strong>der</strong> dem verän<strong>der</strong>ten Krankheitspanorama<br />
Rechnung trägt, ist <strong>hier</strong>bei von entscheiden<strong>der</strong><br />
Bedeutung (z. B. Weiterentwicklung <strong>der</strong> DMP im Hinblick<br />
auf Multimorbidität und Einbezug <strong>der</strong> Demenz, Auflösung<br />
systemischer Blockaden bei <strong>der</strong> Rehabilitation geriatrischer<br />
Patienten). Pflegebedürftigkeit ist in Grenzen<br />
beeinflussbar, aber <strong>der</strong> Schlüssel <strong>hier</strong>für liegt im „vorgelagerten“<br />
System (SGB V).<br />
2. Rationalisierung <strong>der</strong> Pflege I: Ein Aufgreifen von Rationalisierungspotenzialen<br />
auf <strong>der</strong> betrieblichen Ebene<br />
setzt eine konsequente Orientierung an spezifischen Bedarfsgruppen<br />
voraus, die unterschiedliche Anfor<strong>der</strong>ungsprofile<br />
an betreuende und pflegerische Hilfen stellen.<br />
Bedingung <strong>hier</strong>für ist eine assessmentgestützte individuelle<br />
Pflegeplanung, die zudem geeignet ist,<br />
Bedarfsgruppen zu identifizieren. Dementsprechend ist<br />
<strong>der</strong> Personalmix berufsgruppenspezifisch differenziert zusammenzustellen<br />
– was mal die Dauerpräsenz von Fachpflege<br />
erfor<strong>der</strong>t, mal hingegen betreuende Berufe im<br />
Spektrum hauswirtschaftlicher sowie heil- und sozialpädagogischer<br />
Kompetenz bei punktueller Hinzuziehung von<br />
Pflege, wo erfor<strong>der</strong>lich, ermöglicht. Fachpflege und pflegerische<br />
Unterstützung sind somit auf die Situationen zu fokussieren,<br />
die pflegerische Kompetenz vor aus setzen.<br />
3. Rationalisierung <strong>der</strong> Pflege II: Weiterhin gilt es,<br />
Steuerungs- und Ressourcenverantwortung zu unterscheiden<br />
von <strong>der</strong> Durchführung pflegerischer Verrichtungen. Dies kann<br />
» mittels Implementierung eines anspruchsvollen Pflegeorganisationssystems<br />
(Primary Nursing) geschehen, das<br />
fallbezogen Planungs-, Durchführungs- und Delegationsverantwortung<br />
personell bündelt und beson<strong>der</strong>s qualifizierten<br />
Mitarbeitern überantwortet (= Ausdifferenzierung<br />
von zukünftigen Qualifikationsniveaus und beruflichen<br />
Rollen),<br />
» o<strong>der</strong> aber und dann eher pragmatisch orientiert beide<br />
Funktionen auf Dauer scheiden mit dem Ziel, Pflegemitarbeiter,<br />
die keine Steuerungsfunktionen wahrnehmen<br />
können und wollen, von den Anteilen <strong>der</strong> beruflichen<br />
Praxis zu entlasten, die sie überfor<strong>der</strong>n bzw. die mit <strong>der</strong><br />
beruflichen Identität konfligieren (= Akzeptanz gegebener<br />
unterschiedlicher Kompetenzen).<br />
In beiden Fällen geht es um eine Hierarchisierung in <strong>der</strong><br />
Pflege auf <strong>der</strong> Basis differenzierter Kompetenzniveaus.<br />
Die aktuellen Rahmenbedingungen, unter denen Langzeitpflege<br />
ausgeübt wird, gewährleisten keinen angemessenen<br />
Einsatz <strong>der</strong> knappen Ressource „Fachpflege“.<br />
Werden Rationalisierungspotenziale auf versorgungsstruktureller<br />
und betrieblicher Ebene nicht realisiert, könnten<br />
Rationierungsversuche Raum greifen. Dies ist bereits<br />
heute grundsätzlich mit Blick auf die Beantragung vollstationärer<br />
Pflege möglich. Der MDK könnte verstärkt als<br />
Gatekeeper den Zugang zu personalaufwendigen Versorgungsorten<br />
regulieren. ««<br />
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