Improvisation - Sanitas Troesch AG
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Ein Pirat im Alpenland<br />
Er zierte früher jeden Stall, kommt im volkstümlichen Theater vor<br />
und brilliert im Heimatfilm: der Melkstuhl. Konkret: der einbeinige<br />
Melkstuhl oder -schemel mit meist runder Sitzfläche und einem Leder-<br />
riemen, der um die Hüfte geschnallt wird. Ein Gegenstand, der an das<br />
Holzbein eines Piraten erinnert. Und der wie kein anderer für eine<br />
gelungene <strong>Improvisation</strong> steht.<br />
sanitas troesch November 2011 casanova 17<br />
Es gibt kunstvoll geschnitzte Melkstühle<br />
aus Holz — wie im Heimatfilm. Oder auch<br />
Melkstühle mit Plastiksitzfläche und Metallbein<br />
aus der Landi. Doch eigentlich sind<br />
beide Varianten Relikte aus der Vergangenheit<br />
und nur noch selten im Stall anzutreffen.<br />
Denn auch in der Landwirtschaft hat die<br />
Moderne Einzug gehalten und mit ihr<br />
automatisierte Melkstände und Melkroboter.<br />
Und so sitzt der Milchbauer heute mehr am<br />
PC als neben der Kuh.<br />
Was nun folgt, soll kein Lamento über die Moderne sein, sondern<br />
eine Würdigung eines genial-simplen Arbeitsgeräts, das Alpenländer<br />
wie die Schweiz prägte. Und das gleichzeitig ein Symbol für eine<br />
perfekte <strong>Improvisation</strong> ist. Aber, wann entstand der einbeinige «Alpenpirat»<br />
überhaupt? Frage 1 — und schon gibt es mehr Fragezeichen<br />
als Antworten. Diverse Museen, die sich mit dem Alpenraum<br />
beschäftigen, sind überfragt. Auch der Schweizerische Milchverband<br />
Swissmilk kann zur Entstehung des Melkschemels nichts Genaues<br />
sagen. Und dies, obwohl die Milchproduzenten ihren Wohlstand<br />
Kuh und Melkstuhl verdanken! Wie konnte ein so<br />
urschweizerisches Symbol so wenig Spuren in unserer Geschichte<br />
hinterlassen? Erst Peter Bretscher, Kurator im Historischen Museum<br />
Thurgau, bringt etwas Licht ins Dunkle. Laut ihm kannten «frühe<br />
Darstellungen des Mittelalters den Melkstuhl noch nicht». Die Melkerin<br />
um 1300 kniete oder kauerte am Boden. Um 1480 werden in<br />
schriftlichen Quellen bereits Melkstühle im Zusammenhang mit<br />
Alpaufzügen erwähnt. Oberlichtentwürfe für Kirchen von Schweizer<br />
Glasmalern um 1600 zeigen dann erstmals Sennen mit dem<br />
typischen umgeschnallten Stuhl. Gemäss dem Schweizerischen<br />
Idiotikon, Band XI, dienten Melkstühle nicht nur zum Melken:<br />
Abends versammelten sich die Sennen auf ihnen ums Feuer, um<br />
zu essen und sich auszutauschen. Interessanterweise wandelte<br />
sich das Melken in den Alpen zwischen 1250 und 1500 vom<br />
Frauen- zum Männerberuf (im Flachland erst im 19. Jahrhundert).<br />
atelier-oi ®<br />
Die Milchwirtschaft war zur Haupteinnahmequelle<br />
und damit männlich geworden. Gute<br />
Melker waren überall gefragt: Nicht von ungefähr<br />
nannte man Melker auch «Schweizer». Die<br />
Berufsmelker trugen laut Experten stark zur<br />
Verbreitung des einbeinigen Melkstuhls bei.<br />
Dass der Melkstuhl ein gängiger Gegenstand<br />
war, zeigt auch das Sprichwort: «Wem s Glück<br />
will, dem chalberet dr Mälchstuel.»<br />
Doch wie kam der Melkstuhl eigentlich zum<br />
Senn? Nicht belegt, aber zu vermuten ist, dass<br />
die Melker einfach bequemer arbeiten wollten. Eines schönen<br />
Tages, wohl zwischen 1300 und 1480, hatte ein findiger Senn<br />
(oder wars eine Frau?) in Italien, Österreich oder der Schweiz den<br />
Geistesblitz. Er verband einen starken Ast mit einem Holzbrett —<br />
und schon war der erste Melkschemel improvisiert! Die Sennen<br />
stellten ihre Melkstühle meist selbst her, nur Vermögende liessen<br />
ihren Melkstuhl vom Tischler herstellen. Der einbeinige Melkstuhl<br />
wurde vor allem in den Alpen, im abschüssigen Gelände, benutzt.<br />
Im Flachland waren drei- oder vierbeinige Stühle verbreitet. Laut<br />
Leopold Schmidt, der 1962 dem einbeinigen Melkstuhl in Kärnten<br />
nachforschte, fand sich der «Alpenpirat» von der Westschweiz<br />
übers Tirol und Südtirol bis nach Kärnten. Neben dem einfachen<br />
Handling überzeugten wohl auch die Details: Die Mehrzahl aller<br />
Melkschemel hat ein Fettloch oder eine Rille ums Stuhlbein zur<br />
Aufbewahrung des Melkfetts. Dieses wurde aufgetragen, um wunden<br />
Kuheutern vorzubeugen.<br />
Unsere Vorfahren wussten instinktiv, was gutes Design ist. Ein<br />
Gegenstand, der in erster Linie funktioniert — und der von der Form<br />
her so reduziert ist, dass er gerade deswegen auch schön ist. Kein<br />
Wunder, wurden Melkstühle auch als Kuhschmuck beim Alpaufzug<br />
verwendet: «En Melchstüel han zwüschen d’Hörner bunden und en<br />
grossen Meien dran von den schönsten Tulipan, wo mer nun hein<br />
funden», so wurde es bereits um 1480 beschrieben. Und auch<br />
heute noch tragen die Kühe diesen Kopfputz stolz bergauf …