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# 31 | März 2008 readmypony.com | Göttingen | im Frühling Punk ...

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Renaissance der<br />

alten Männer<br />

Die Coen-Brüder haben sich in ihrem neuen Film »No Country For Old<br />

Men« um gehaltvolle Männerrollen bemüht: Javier Bardem alias Chigurh<br />

spielt sogar Satan und Gott zugleich. Die Frauen dürfen indes Kaffee kochen.<br />

Kerstin Cornils<br />

Am Nebentisch planen zwei Unbekannte ihren Kinoabend.<br />

Zur Auswahl stehen die Cormac-McCarthy-Adaptation<br />

»No Country For Old Men« von den<br />

Coen-Brüdern sowie »Vier Monate, drei Wochen und<br />

zwei Tage«, Cristian Mungius Film über eine Abtreibung<br />

<strong>im</strong> Bukarest der späten Ceausescu-Jahre. Sorgfältig<br />

treffen die beiden ihre Entscheidung: Der mit<br />

der Goldenen Palme prämierte Film aus Rumänien<br />

sei sicherlich »künstlerisch wertvoll«, findet der<br />

eine; auch sei es interessant, das osteuropäische Kino<br />

kennenzulernen. Der andere gibt zu bedenken, dass<br />

sich der rumänische Abtreibungs-Streifen nicht gerade<br />

unterhaltsam anhöre. Müsse man sich etwas so<br />

Depr<strong>im</strong>ierendes antun? Ausgerüstet mit einem großen<br />

Popcornhaufen verschwinden die beiden Nachtschwärmer<br />

<strong>im</strong> Film von Ethan und Joel Coen.<br />

Doch wie ist »No Country For Old Men« in den<br />

Ruf gekommen, nicht depr<strong>im</strong>ierend zu sein? Gestorben<br />

wird <strong>im</strong> glühenden Grenzland zwischen Texas<br />

und Mexiko jedenfalls ordentlich: Kein Sw<strong>im</strong>mingpool<br />

ist zu schäbig, kein Motel zu abgelegen und<br />

kein Auto zu rostig, um sich nicht von einem Moment<br />

auf den anderen in ein farbenfrohes Schlachtfeld<br />

zu verwandeln. Warum soll der Anblick eines<br />

zwar herzzerreißenden, aber gar nicht sonderlich<br />

besudelten Fötus in Bukarest so viel unzumutbarer<br />

sein als all die mit Blut gurgelnden, zappelnden und<br />

von Kugeln zersiebten Menschen in Texas?<br />

Zugegeben, Mungiu schwelgt nicht eben in Heiterkeit.<br />

Indem er von zwei Freundinnen erzählt,<br />

die in einer durch Bestechung regulierten Gesellschaft<br />

nicht genug Geld und Kontakte haben, um<br />

eine auch nur halbwegs würdevolle Abtreibung finanzieren<br />

zu können, spielt der Regisseur Konstellationen<br />

weiblicher Machtlosigkeit von beklemmender<br />

Düsternis durch. Doch auch die Logik der Coens<br />

baut auf betrüblichen Lebenssituationen auf: Weder<br />

der qualvoll in der brennenden texanischen Sonne<br />

verdurstende mexikanische Drogendealer noch die<br />

harmlosen Männer und Frauen, deren Überlebenschance<br />

vom Killer Chigurh kaltblütig mit Hilfe eines<br />

Münzwurfs ermittelt wird, verbreiten Frohsinn.<br />

Und trotzdem: Es darf vermutet werden, dass den<br />

Kinogängern ihr Popcorn in der Obhut der Coen-<br />

Brüder in der Regel recht gut bekommt – während<br />

ihnen die weißen Krümel in Mungius Abtreibungsdrama<br />

durchaus <strong>im</strong> Hals stecken bleiben könnten.<br />

Mungiu erlaubt seinen Zuschauern kein Entrinnen<br />

aus den tristen rumänischen Verhältnissen: Konsequent<br />

schildert er die Ceausescu-Diktatur aus der<br />

Perspektive seiner zwei Heldinnen (ein schmieriger<br />

Engelmacher verharrt am Rande des Films und<br />

kommt als Identifikationsfigur nicht in Betracht).<br />

Ganz anders der Film der Brüder aus Minnesota,<br />

dessen Clou <strong>im</strong> nahtlosen Überblenden von Macht<br />

und Ohnmacht besteht. Sobald dem Zuschauer die<br />

teilnehmende Sorge am Schicksal der niedergemetzelten<br />

Opfer zu viel wird, kann er mühelos zu einer<br />

erhabeneren Perspektive wechseln: Wieso um den<br />

verdurstenden mexikanischen Drogendealer zittern,<br />

wenn man <strong>im</strong> selben Moment den Wagemut von Llewelyn<br />

bewundern kann, der zwischen Leichen und<br />

Sterbenden ungerührt nach Drogengeld sucht?<br />

Technisch makelloses Spiel –<br />

um nichts<br />

Warum sich feministisch für die herumkommandierte<br />

Carla Jean ereifern, wenn man gleichzeitig<br />

vorgeführt bekommt, mit welch beeindruckender<br />

Entschlossenheit ihr Ehemann einer Killerbande<br />

trotzt? Und warum den ohne Vorwarnung abgeknallten<br />

Alten mit seinem armseligen Lastwagen<br />

voller Hühner beweinen, wenn man sich genauso<br />

gut am Bösewicht Chigurh weiden kann, der mit seiner<br />

treuherzigen Prinz-Eisenherz-Frisur so gruselig<br />

und komisch aussieht? Die Coen-Brüder umstellen<br />

ihren Film mit pendelnden moralischen Horizonten,<br />

die es dem Zuschauer erlauben, zu lachen, zu weinen<br />

und zu erschrecken – alles zur gleichen Zeit.<br />

Wertekonservativer und weniger spielerisch als<br />

der Film ist Cormac McCarthys Roman angelegt.<br />

Seitenlang lässt der Autor einen sympathischen alten<br />

Sheriff namens Bell über Sterbehilfe, Abtreibung,<br />

Drogen, Kids mit grünen Haaren und das Aussterben<br />

höflicher Anredeformen lamentieren. Bells pseudonaive<br />

Klage über die moderne Zivilisation steht in<br />

einem eigenartigen Kontrast mit McCarthys ausgeklügelter<br />

Prosa, die Gefühle lakonisch ausspart und<br />

sich stattdessen Waffen und Lederstiefeln widmet.<br />

Geschickt entschlacken die Coens McCarthys Roman,<br />

indem sie dessen moralisierenden Implikationen<br />

verknappen und relativieren. Der mit pompösen<br />

Allegorien aufgeladene Kampf zwischen Gut und<br />

Böse verwandelt sich in ein unterhaltsames und technisch<br />

makelloses Spiel – um nichts.<br />

Den von McCarthy ersonnenen Frauen, die zumeist<br />

in der Küche anzutreffen sind, halten die Coen-Brüder<br />

die Treue. Während die Männer Reden schwingen<br />

(Bell), in coolen Klamotten gegen das Böse ankämpfen<br />

(Llewelyn) und sich die Rolle eines satanischen Gottes<br />

anmaßen (Chigurh), schauen die Damen mit Kulleraugen<br />

zu. Carla Jean und Bells fürsorgliche Ehefrau<br />

kochen Kaffee und tun das, was ihnen gesagt wird.<br />

Ihre Rollen sind so winzig wie die Blümchen auf ihren<br />

Schürzen. Nicht nur in »No Country For Old Men«,<br />

sondern auch in zahlreichen anderen zeitgenössischen<br />

Filmen wie »Todeszug nach Yuma«, »American<br />

Gangster« und »There Will Be Blood« erstrahlen<br />

die alten Männerbilder in neuem Glanz. Längst wirkt<br />

ein Mann wie der »American Gigolo«, der in den achtziger<br />

Jahren lustvoll mit weiblich konnotierten Rollen<br />

spielte, wie ein peinlicher Gruß aus einer verblassten<br />

Vergangenheit. Kein Land für alte Männer? »Kein Land<br />

für neue Männer« wäre passender.<br />

»No Country For Old Men«; Regie: Ethan &<br />

Joel Coen; mit Javier Bardem, Josh Brolin,<br />

Tommy Lee Jones; USA 2007; 123 Minuten;<br />

seit 28.2.08 <strong>im</strong> Kino<br />

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