# 31 | März 2008 readmypony.com | Göttingen | im Frühling Punk ...
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Die Platte am Anfang<br />
Why? Alopecia<br />
Anticon | Tomlab | Indigo<br />
Seit sich der Grenzen sprengende<br />
Sound des Electronica-Folk-HipHop-<br />
Labels Anticon als »typisch« etabliert<br />
hat, ist es ziemlich ruhig um das Kollektiv<br />
aus San Francisco geworden. Weshalb man durchaus<br />
gespannt sein darf, wie das vierte Album von<br />
Why? aufgenommen wird. Denn obgleich Yoni Wolf,<br />
dessen Bruder Josiah und Doug McDiarmid <strong>im</strong>mer<br />
schon die Popper unter den hauseigenen Tüftlern<br />
waren, gehen sie mit »Alopecia« noch einen Schritt<br />
weiter. Was möglicherweise insofern interessant ist,<br />
als auch die Musiker des Sound- und Stilgrenzen<br />
überschreitenden An<strong>im</strong>al Collectives die letzten Jahre<br />
zunehmend transparenter, songorientierter, poppiger<br />
geworden sind. (Indie-)Pop hat derzeit einen<br />
weit besseren Lauf als verschrobenere Musiksorten<br />
– eine Information, die offensichtlich auch An<strong>im</strong>al<br />
Collective und Why? nicht entgangen ist.<br />
Angefangen haben Why? 2003 mit leicht dissonanten<br />
Folk-HipHop-Miniaturen, zu denen Yoni<br />
Wolf expressiv versponnene Lyrics zu einem endlosen<br />
Band knüpfte, indem er pausenlos Rapidiome<br />
und traditionellen Gesang verband. Das macht er<br />
zwar heute noch, doch hat seine St<strong>im</strong>me durch die<br />
für Label-Verhältnisse ausgewiesen kraftvolle Produktion<br />
erheblich an Volumen und Energie gewonnen,<br />
was sie wiederum in einem aggressiveren Licht<br />
erscheinen lässt.<br />
Refrainorientiert arbeiteten Why? spätestens seit<br />
2005, seit »Sanddollars« und »Elephant Eyelash«,<br />
doch so ohrwurmverliebt wie auf »Alopecia« agierten<br />
sie noch nie. Wir hören Klaviernoten, Orgelsounds,<br />
variable Rhythmen aus einfallsreich programmierten<br />
Drum<strong>com</strong>putern, folkige Gitarrenläufe und hübsche<br />
Choräle. Und eigentlich ist das alles wunderschön,<br />
deep, zupackend und dunkel sch<strong>im</strong>mernd,<br />
und durch Wolfs unverkennbare, leicht nasale Art zu<br />
rappen vielleicht sogar ein einzigartiger Indiepop-Hip-<br />
Hop-Hybrid. Wenn, ja wenn da nicht jene Songs wären,<br />
in denen sich das Trio ausgerechnet berechenbar<br />
konventionellem Breitwandpop verschreiben musste.<br />
Man sollte wohl darüber hinweghören. Und weil es so<br />
viele Stücke nicht sind, gelingt das auch. Michael Saager<br />
No Kids Come Into My House<br />
Tomlab | Indigo<br />
Dieses Trio aus Vancouver kommt<br />
scheinbar aus dem Nichts. Doch die<br />
Geschmeidigkeit ihres Debüts lässt absolute<br />
Profis erkennen. Obwohl die<br />
Musik einfach und eingängig daherkommt, entpuppt<br />
sich »Come Into My House« be<strong>im</strong> Hören über<br />
die vollen 41 Minuten Spielzeit hinweg als meisterhafte<br />
Verzahnung von Detailverliebtheit und Reduktion<br />
aufs Wesentliche.<br />
Trotz Flirt mit Easy Listening, W<strong>im</strong>p Pop, Beach<br />
Boys und Broadway-Melodien aus den zwanziger<br />
Jahren gelingt es den No Kids, hoch komplexe Pop-<br />
Arrangements extrem locker aus dem Ärmel zu<br />
schütteln. Die Stücke wurden mit bis zu neun Gastmusikern<br />
eingespielt, wirken aber an keiner Stelle<br />
überladen. Das beliebte Prinzip, alle Spuren mit<br />
Streichern und gedämpften Bläsern zuzuklatschen,<br />
haben No Kids vorbildlich vermieden. Und doch<br />
gibt es sie, die süßlichen Streicher und gedämpften<br />
Bläser – jedoch nur als leichte Tupfer.<br />
Im Graubereich von zeitgenössischem R’n’B,<br />
Burt-Bacharach und Belle & Sebastian ist den No<br />
Kids kluger Pop gelungen, der seine Klugheit nicht<br />
übermäßig zur Schau stellen muss. Diese Bescheidenheit,<br />
Zitate nicht meterdick kennzeichnen zu<br />
müssen, unterscheidet sich wohltuend vom plumpen<br />
Referenz-Pop eines Adam Green. Originalität ist<br />
hier sowieso gegeben, also muss sie auch nicht permanent<br />
bewiesen werden. »Come Into My House«,<br />
benannt nach einer Single von Queen Latifah, zelebriert<br />
Weichheit als Stärke und Dekadenz als Überlebensstrategie.<br />
Mehr kann man von gutem Pop wirklich<br />
nicht erwarten. Martin Büsser<br />
Carl Craig Sessions<br />
!k7 | Rough Trade<br />
Es ist auch mal Zeit für ein bisschen<br />
Überblick über all die seit Jahren raus<br />
gehauenen Carl-Craig-Veröffentlichungen.<br />
Seit Mitte der 80er Jahre liefert<br />
der Typ aus der zweiten Detroiter Schule diese<br />
Momente auf dem Techno-Floor, die zunächst unscheinbar,<br />
hinterher aber wie die Droge mit Retard-<br />
Effekt wirken. Carl Craig macht die Höhepunkte, die<br />
kriegt man gar nicht richtig mit. Da seine Liste bei<br />
discogs.<strong>com</strong> längst gegen unendlich tendiert, freue<br />
ich mich über: »Sessions«. Eine Doppel-Mix-CD.<br />
Die Sammlung aus klassischen Craig-Tracks in<br />
neuem Gewand, aus bisher unveröffentlichtem Material<br />
und den ultrabeliebten Remixen speist zum<br />
Beispiel der Hit des vergangenen Jahres, Craigs Remix<br />
von »Like A Child« der Junior Boys oder die<br />
nicht minder beliebte Bearbeitung von Theo Parrishs<br />
»Falling Up« in die Mix-Session ein. Dazu<br />
neue, bisher unveröffentlichte Versionen von Techno-Klassikern<br />
diverser Craig-Pseudonyme wie »Bug<br />
In The Bass Bin« vom Innerzone Orchestra oder<br />
»Throw« von den Paperclip People.<br />
Craig ist versatil. Er produziert und remixt mit<br />
dem Ziel einer elektronischen Körpermusik. Er kommuniziert<br />
nicht über den Weg der Mythenbildung.<br />
Alles kommt aus dem Equalizer: Musik zum Tanzen,<br />
Musik zum Glücklichsein oder -werden. Musik<br />
zum Rezensionenschreiben. Die gute Nachricht für<br />
die Fans heißt »Psychobeat« und besteht in einem<br />
Track des frühen Craig-Pseudonyms 69: Bei einem,<br />
der <strong>im</strong> gesamten Jahr 2007 keine eigenen Tracks produziert<br />
hat, ist es doch gut zu wissen, dass noch frische<br />
Stücke in den digitalen Archiven lagern. Der<br />
fricklige Nervenkitzel »Psychobeat« hätte auch gerade<br />
eben entstanden sein können. Christoph Braun<br />
Mark Stewart Edit<br />
Crippled Dick Hot Wax | SPV<br />
Der linksradikale Netzwerker Mark<br />
Stewart (The Pop Group) war <strong>im</strong> letzten<br />
Jahrzehnt reichlich aus dem Blick<br />
geraten. Erst das grassierende Post-<br />
<strong>Punk</strong>-Revival führte zum Erinnerungsalbum »Kiss<br />
The Future« (auf Soul Jazz Records), war als »Best<br />
of« unkonzentriert und willkürlich zusammengestellt,<br />
bot aber dafür drei neue Tracks, die aus der<br />
Zeit nach »Control Data« (1996) stammten. Gerüchte!<br />
Ein neues Album sollte folgen. Jetzt ist »Edit« da<br />
und erscheint – ausgerechnet – auf CDHW, dem<br />
Lieblingslabel für Incredibly Strange Musik und<br />
Obskures.<br />
»Edit« legt selbstbewusst wenig Wert auf hippe<br />
Zeitgenossenschaft, sondern bohrt stoisch weiter<br />
alte Bretter. Was toll ist, denn das neue Album<br />
kommt gefährlich grobmotorisch und bollerig daher,<br />
voller Rock-Riffs (»Ghostbusters!«), Dub-<br />
Effekte, geschichteten Industrial-Sound-Wänden,<br />
tiefer als der Marianengraben, verfremdeten St<strong>im</strong>men,<br />
die schwer verständlich Parolen streuen. Man<br />
vergleiche nur die beiden Versionen von »The Puppet<br />
Master« auf »Kiss the Future« und »Edit«, um<br />
zu verstehen, wie konzise gegen den Zeitgeist die<br />
Sounds von »Edit« produziert sind. Verglichen mit<br />
dem technoaffinen »Control Data« ist »Edit« fast<br />
schon rootsy, voller altmodischer Sounds, die aus<br />
der Zeit gefallen scheinen – und durch diese Fremdheit<br />
die Gegenwart be<strong>im</strong> Schlaffitchen packen.<br />
Mark Stewart bewegt sich mit seiner Polit-Parolen-Paranoia<br />
am entgegen gesetzten Ende des Spektrums<br />
wie Manu Chao, doch beide Musiker fungieren<br />
als Transmitter des globalen »Radio Freedom«.<br />
Mindestens zwei Hits hat es auf »Edit«: »Strange<br />
Cargo« hat eine solide Gr<strong>im</strong>e-Basis und handelt von<br />
Sklaverei, »Mr. You´re A Better Man Than I« ist ein<br />
Yardbirds-Cover und eine ausgesprochen gelungene<br />
Coop mit Ari Up (The Slits), High Ideals & Crazy<br />
Dreams Version 08. Ulrich Kriest<br />
Sons & Daughters This Gift<br />
Domino | Rough Trade<br />
Die musikalische Formel der Glasgower<br />
Sons & Daughters ist nicht besonders<br />
originell, aber sehr effektiv. Das<br />
hatte dereinst auch der Kopf von Franz<br />
Ferdinand so gesehen, sie kurzerhand zur Lieblingsband<br />
erklärt und mit auf Tour genommen. Inzwischen<br />
sind Alex Kaprano und seine Jungs weg vom<br />
Fenster. Das gemischtgeschlechtliche Quartett indessen<br />
mischt die Retro-Tanzszene erneut auf.<br />
Tatsächlich lässt es sich gut herumhüpfen zu<br />
»This Gift«, wenn man sich mit der Tatsache angefreundet<br />
hat, dass ihr refrainverliebter Country-<br />
Rock’n’Roll-<strong>Punk</strong> erstens produktionstechnisch aufgeblasen<br />
worden ist, es zweitens etwas geradliniger<br />
zur Sache geht und drittens aus Sixties-<strong>Punk</strong> teilweise<br />
Sixties-Pop wurde. Dennoch: Schlagzeugspiel, Gitarrenriffs<br />
und Basslicks treffen derart punktgenau<br />
in den Magen, dass es eine schöne Wucht ist und die<br />
reine Freude würde, wenn Adele Bethel und Scott Paterson<br />
nun noch ihren hingerotzt coolen Gesang anst<strong>im</strong>mten,<br />
als Duett. Warum also, würde man gerne<br />
wissen, lässt Bethel ihren Lebenspartner eigentlich<br />
kaum noch ans Mikro? Michael Saager<br />
26 Platten Platten<br />
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