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Nachruf von Matthias Hagedorn - neheims-netz.de

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LEBENSZEIT ALS BELICHTUNGSZEIT - EIN NACHRUF AUF DEN KÜNSTLER PETER MEILCHEN - VON MATTHIAS HAGEDORN<br />

ohne Attitü<strong>de</strong> benennt Peter Meilchen so die Quelle seiner reichen und doch nie vagen<br />

»Texte«.<br />

Exemplarisch läßt sich Meilchens Arbeit an einem Multimediaprojekt ver<strong>de</strong>utlichen.<br />

»Schland« ist <strong>de</strong>r Versuch, <strong>de</strong>n Blick gleichsam zu konservieren und mit <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>r<br />

Vergewisserung die Seele <strong>de</strong>s Augenblicks festzuhalten. Diese multimediale Arbeit beschreibt<br />

einen akustischen Raum in einem räumlichen Behältnis, <strong>de</strong>m „neuen“<br />

DeutSchland, einem fiktiven Staat, tiefste Provinz. Schland folgt <strong>de</strong>m poetischen<br />

Kernsatz: „Nur die Fiktion ist noch wirklich, weil die Wirklichkeit durch mannigfaltige<br />

Wahrheiten verunstaltet wur<strong>de</strong>.“ Schland ist nicht nur ein Acker in Herdringen, auf <strong>de</strong>m<br />

Milchproduzenten umherlaufen, Schland ist überall. Es geht (ganz im Sinne Poes: „Man<br />

sieht es und sieht doch hindurch“) um <strong>de</strong>n Blick, das Sehen, die Kurzsichtigkeit. Peter<br />

Meilchen präsentiert mit Schland ein durchaus ernsthaftes Projekt über ein Tier, <strong>de</strong>ssen<br />

Faszinationspotenzial gering scheint, <strong>de</strong>m aber ein entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Anteil an <strong>de</strong>r<br />

Sesshaftwerdung <strong>de</strong>s Menschen, also <strong>de</strong>r wesentlichen zivilisationsgeschichtlichen<br />

Wegmarke überhaupt zugesprochen wer<strong>de</strong>n kann. Das Kühe, die gütigen Ammen <strong>de</strong>r<br />

Menschheit sind, wissen wir seit <strong>de</strong>m alten Testament, die Grün<strong>de</strong> dafür, dass <strong>de</strong>r Kuh<br />

eher das Image <strong>von</strong> Behäbig– und Mittelmäßigkeit anhaftet, vollzieht Peter Meilchen in<br />

seinem Projekt nach, in<strong>de</strong>m er zeigt, wie ursprünglich biologische Konstitutionsmerkmale<br />

o<strong>de</strong>r historische Notwendigkeiten mit symbolischem Gehalt gefüllt wer<strong>de</strong>n. Er<br />

präsentiert die körperliche Ruhe <strong>de</strong>r Kuh, die sie zum Sinnbild <strong>de</strong>s Stoischen hat wer<strong>de</strong>n<br />

lassen, mit ihrer Eigenschaft als Beutetier. Für das ist es in freier Wildbahn überlebensnotwendig,<br />

we<strong>de</strong>r Panik noch Schmerz zu zeigen, um nicht die Aufmerksamkeit<br />

<strong>de</strong>s Raubtiers auf sich zu lenken. Ähnlich: ihre Augen. Sie sind dafür geschaffen, ein<br />

maximal großes Sichtfeld zu haben, um Angreifer möglichst früh erkennen zu können.<br />

Uns sind sie in<strong>de</strong>s vor allem Ausdruck <strong>de</strong>r psychischen wie physischen Lethargie <strong>de</strong>r<br />

Kuh. Wie tief gera<strong>de</strong> das Bild <strong>de</strong>r Kuh als Indikator <strong>von</strong> Normalität im kulturellen Gedächtnis<br />

verankert ist, wird beson<strong>de</strong>rs an jenen Untergangsvisionen augenscheinlich,<br />

in <strong>de</strong>nen die Kuh zum Vorboten <strong>de</strong>s Unheils wird, das bald auch <strong>de</strong>n Menschen erreichen<br />

wird. Was mit <strong>de</strong>n Kühen in <strong>de</strong>r biblischen Apokalypse–Darstellung beginnt, setzt<br />

sich fort in amerikanischen Weltuntergangsfilmen wie »Apocalypse Now«, »Twister«<br />

o<strong>de</strong>r »Jurassic Park«, in <strong>de</strong>nen die durch die Luft fliegen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r schweben<strong>de</strong> Kuh zum<br />

untrügliches Zeichen dafür wird, dass die Welt aus <strong>de</strong>n Fugen geraten ist. Sein Trick<br />

besteht darin, daß es natürlich gar nicht um die Wahrheit über die Kuh geht, son<strong>de</strong>rn<br />

darum, gera<strong>de</strong> durch die verschie<strong>de</strong>nen Projektionen etwas über die die Menschen<br />

und ihre Zeit selbst zu erfahren. Peter Meilchen geht mit seiner Kamera so dicht an die<br />

Dinge dieser Welt heran, daß diese ihren Anspruch aufgeben, Dinge dieser Welt zu sein<br />

– und zum Bild wer<strong>de</strong>n können. Einstudierte Wahrnehmungsklischees wer<strong>de</strong>n hier infrage<br />

gestellt. Im »Wörterbuch <strong>de</strong>r philosophischen Begriffe« <strong>von</strong> 1904 fin<strong>de</strong>t am diese<br />

Definition: "Erhaben ist alles Grosse, Kraftvolle, Mächtige, sofern wir uns ihm gegenüber<br />

klein dünken, wenn wir uns unmittelbar damit vergleichen." Dieses "Wörterbuch"<br />

verweist aber auch auf <strong>de</strong>n Philosophen Edmund Burke, <strong>de</strong>ssen Überlegungen zum<br />

Sublimen <strong>de</strong>n zeitgenössischen Photographien weit näher kommen, <strong>de</strong>nn "nach Burke<br />

ist erhaben, was die Vorstellung <strong>von</strong> Schmerz und Gefahr für uns zu erwecken vermag;<br />

es wirkt angenehm, wenn wir uns sicher fühlen". Peter Meilchen geht mit seiner Kamera<br />

so dicht an die Dinge dieser Welt heran, daß diese ihren Anspruch aufgeben, Dinge<br />

dieser Welt zu sein – und zum Bild wer<strong>de</strong>n können. Sein 'Sehen' ist kein Begaffen,<br />

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