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Nachruf von Matthias Hagedorn - neheims-netz.de

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LEBENSZEIT ALS BELICHTUNGSZEIT - EIN NACHRUF AUF DEN KÜNSTLER PETER MEILCHEN - VON MATTHIAS HAGEDORN<br />

schneidungen zwischen <strong>de</strong>n Genres. Dies irritiert all diejenigen, die Kunst und Photografie<br />

trennen möchten, und rührt an das Tabu, daß Bil<strong>de</strong>r authentisch sein müssen,<br />

aber nicht schön sein dürfen.<br />

Am Anfang seiner Photografie steht <strong>de</strong>r Apparat, <strong>de</strong>r die Topografie <strong>de</strong>r Amnesie verortet.<br />

Der Rest ist mehr o<strong>de</strong>r weniger bewusster Wi<strong>de</strong>rstand gegen die Geschwindigkeit<br />

<strong>de</strong>s Vergessens, welche <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>s Gedächtnisses bestimmt. Photografie läßt<br />

<strong>de</strong>n Augenblick <strong>de</strong>s Sehens wie Lots Weib erstarren und verewigt die tägliche Katastrophe<br />

als Idylle. Auf <strong>de</strong>m Papier ist je<strong>de</strong>s Photo <strong>de</strong>r forensische Beweis eines Verbrechens,<br />

das <strong>de</strong>n Dingen <strong>de</strong>s Lebens ihre Autonomie raubt. Es gibt Photos, die <strong>de</strong>n Blick<br />

schärfen, Dinge sichtbar machen, die das eigene Auge so bislang nicht gesehen hat.<br />

Seit geraumer Zeit hat sich auf diese Weise Photografie einen Platz inmitten <strong>de</strong>r ‚alten’<br />

Künste erobert. Gleichzeitig sind Photos so allgegenwärtig gewor<strong>de</strong>n wie Zuckertütchen<br />

zum Espresso. Sie liegen überall herum, sie süßen unseren Blick in je<strong>de</strong>r Sekun<strong>de</strong>.<br />

Mo<strong>de</strong>photos. Kriegsphotos. Mitleidsphotos. Tiere. Terror. Stars. Sex. Seit die Photos<br />

elektronisch gewor<strong>de</strong>n sind, kreisen riesige Bil<strong>de</strong>rhaufen um die Er<strong>de</strong>, ständig aufblitzend<br />

und abregnend.<br />

Christopher Isherwood behauptete einmal <strong>von</strong> sich: „Ich bin eine Kamera, mit offenem<br />

Verschluss, nehme auf, registriere nur, <strong>de</strong>nke nicht. Eines Tages wer<strong>de</strong> ich all diese<br />

Bil<strong>de</strong>r entwickelt und sorgfältig kopiert und fixiert haben.“ Genau so verfährt <strong>de</strong>r Beobachter<br />

Peter Meilchen. Weit weg da<strong>von</strong>, ein Photorealist zu sein, befragt er die Realität<br />

<strong>de</strong>r heutigen Bildwelten. Der bewegte Körper wird in seinen Bil<strong>de</strong>rn zur signifikanten<br />

Form ohne je<strong>de</strong> Alternative. Und damit gelingt Peter Meilchen die Verklärung <strong>de</strong>s Gewöhnlichen,<br />

<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Körper und seine Gebär<strong>de</strong>n, die ihn interessieren, sind vergleichsweise<br />

alltägliche Körper und Gebär<strong>de</strong>n. Peter Meilchens Arbeiten sind kühn,<br />

weil er damit das konventionelle Sehen in <strong>de</strong>r Kunst, die zwangsläufige "Erkennbarkeit"<br />

<strong>von</strong> Be<strong>de</strong>utetem und Be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>m, für überholt erklärt. Er schafft eine Kunst, die keine<br />

Pflicht hat, sich durch Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit zu legitimieren. Der<br />

Hinweis auf die "bildnerische Autonomie", die Freiheit <strong>de</strong>r Kunst, auf alles Neue, Unbekannte<br />

zuschreiten zu können und zu müssen, nach einer eigenen, inneren Logik, und<br />

keinerlei Abbildungsauftrag mehr gehorchen zu dürfen, bereitete eine Debatte vor, in<br />

<strong>de</strong>r die mo<strong>de</strong>rne Kunst <strong>de</strong>n flachen Bildmedien <strong>de</strong>n Prozess machen soll. Das Outsourcing<br />

<strong>de</strong>r Motivsuche an vorgefun<strong>de</strong>ne Photos befreit Peter Meilchen <strong>von</strong> <strong>de</strong>r<br />

Pflicht zum Bekenntnis, statt <strong>de</strong>ssen verwen<strong>de</strong>t er als Ausgangspunkt für seine Suche<br />

die behauptete Realität <strong>de</strong>r Photografie, <strong>de</strong>r er misstraut, wie aller Darstellung <strong>von</strong><br />

Realität, und letztlich wie <strong>de</strong>r Wirklichkeit selbst.<br />

Das Gehirn beschäftigt sich zu 80 Prozent mit <strong>de</strong>r so genannten Verarbeitung visuell–<br />

haptischer Eindrücke. »Warum auf Bil<strong>de</strong>rn geweint wird und warum Bil<strong>de</strong>r zum Weinen<br />

bringen«, lautet <strong>de</strong>r Titel eines Buches <strong>von</strong> James Elkins. Wer das Phänomen unterschätzt,<br />

daß Bil<strong>de</strong>r emotionale, körperliche Reaktionen hervorrufen können, wird sich<br />

<strong>de</strong>r Problemtiefe, die <strong>von</strong> visuellen Phänomenen ausgeht, überhaupt nicht nähern können.<br />

Die Bil<strong>de</strong>r gehören nicht <strong>de</strong>r Kunstgeschichte. Sie gehören je<strong>de</strong>m. Zwischen <strong>de</strong>n<br />

rein abstrakten und <strong>de</strong>r rein realen Komposition liegen die Kombinationsmöglichkeiten<br />

<strong>de</strong>r abstrakten und realen Elemente in einem Bild. Diese Kombinationsmöglichkeiten<br />

sind mannigfaltig. Das ist <strong>de</strong>r offene Horizont, vor <strong>de</strong>m sich die Mo<strong>de</strong>rne konstituierte.<br />

Je<strong>de</strong> Form ist vielseitig, also mehrsinnig.<br />

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