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Jochen Wüstenfeld

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Das Jahr mit Dir<br />

war viel zu kurz<br />

Im Sommer 1999 wechselte ich an die<br />

Waldorfschule in Stade. Innerhalb des<br />

freundlichen und aufgeschlossenen Kollegiums<br />

wurde mir <strong>Jochen</strong> <strong>Wüstenfeld</strong> in kürzester<br />

Zeit besonders lieb. Nicht nur, dass er<br />

mir beim Tragen des Sofas zum Einzug half<br />

und mir danach das erste Eis in der Stader<br />

Altstadt spendierte, seine verschmitzte Art<br />

brachte uns manch vergnüglichen Augenblick<br />

im beruflichen Alltag.<br />

Bald entdeckten wir eine gemeinsame philosophische<br />

Ader, wobei mich die Brillanz<br />

seiner Gedankenführung nicht minder beeindruckte<br />

als seine verbalen Skulpturen.<br />

Er galt im Kollegium als jemand, der kritisch<br />

und ehrlich um stete Belebung anthroposophischer<br />

Standpunkte rang und dies auf<br />

originelle und einleuchtende Art auszudrücken<br />

verstand. Beuys – als eine ihn inspirierende<br />

Quelle – wurde oft zitiert, aber<br />

immer war es <strong>Jochen</strong> <strong>Wüstenfeld</strong>, der es so<br />

meinte, der das Gelesene, Erfahrene,<br />

„Durchkunstete“, absolut eigenständig –<br />

und niemals bloß nachgekaut – vortragen<br />

und vertreten konnte. So befeuerte er die<br />

Konferenzen durch sein vitales Bemühen um<br />

Klarheit. Wo Verstimmungen auftraten, bemühte<br />

er sich aus echter Betroffenheit um<br />

Verständigung und Versöhnung.<br />

<strong>Jochen</strong> <strong>Wüstenfeld</strong> hatte den Mut zu offenen<br />

Fragen – der Forscher in ihm machte<br />

auch nicht Halt vor seiner eigenen Rolle als<br />

Lehrer, als Pädagoge. Einmal erörterten wir<br />

die Frage, ob nicht jeder Unterricht ein Stück<br />

Selbstinszenierung sei. Der Weg des Hinterfragens<br />

– und selbst der eigenen Eitelkeit –<br />

8<br />

Abschied von <strong>Jochen</strong> <strong>Wüstenfeld</strong><br />

war auch sein Weg. Mitunter war er hingerissen<br />

über seinen eigenen Unterricht.<br />

„<strong>Jochen</strong> <strong>Wüstenfeld</strong>“, er sprach gern in der<br />

dritten Person von sich, „du warst gut!“,<br />

sagte er dann zu uns beiden, mit seinem<br />

besonderen Strahlen in den Augen, das eine<br />

Portion Selbstironie enthielt, aber vor allem<br />

schiere Lebensfreude.<br />

Wahrscheinlich waren die Schüler auch<br />

beeindruckt von der bis in die Knochen<br />

gehenden Leuchtkraft seines Vortrages und<br />

der Schönheit seiner Gedankengebäude.<br />

Seine Botschaften konnten durchaus ihn<br />

selbst als Ersten begeistern; das bisher nur<br />

vage Geahnte, Gefühlte nun – sozusagen ex<br />

publico – ausdrücken zu können, in sein<br />

metaphysisches System zu bringen – dies<br />

muss ihm im Unterricht, im Vortrag oder im<br />

Disput einige Male gelungen sein! Das<br />

Publikum war vielleicht Teil seines (Selbst-)<br />

Erkenntnisprozesses. Und immer charmant<br />

dabei, immer angenehm verbindlich – die<br />

unterschwellige Botschaft lautete: Das<br />

machen wir schon! Er konnte wundervoll<br />

sein, dieser Mensch. Und er hatte Herz für<br />

die Schüler.<br />

Immer litt und fühlte er mit, wies Wege<br />

auf, war Vorbild, war Lehrer. Er unterrichtete<br />

mit dem Herzen. Das bisschen Show,<br />

das bisschen Selbstinszenierung waren einfach<br />

das Salz in der Suppe. – Und den absurden<br />

Moment, den kreativen, existenziellen<br />

Zweifel, der zur Neubesinnung führt – mitten<br />

im Unterricht aus dem Fenster zu schauen<br />

und sich zu fragen: „Ja, was mache ich<br />

hier eigentlich?“ – den hat er auch erlebt.

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