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Material Vittual für Schulen - Volkstheater Rostock

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Zum Roman und Film „Populärmusik aus Vittula“<br />

Rasende Geschwindigkeit<br />

Ein Lärm! Das Gewitter brach los. Ein Pulverfass explodierte und sprengte das Zimmer. Der<br />

Sauerstoff ging zur Neige, wir wurden gegen die Wände geschleudert, waren an die Tapete<br />

gepresst, während sich die Kammer in rasender Geschwindigkeit drehte. Wir klebten wie die<br />

Briefmarken fest, das Blut wurde uns ins Herz gepresst, sammelte sich in einem darmroten<br />

Klumpen, bevor alles kehrt machte und in die andere Richtung sprang, bis in die Finger und<br />

Zehenspitzen, rote Speerspuren von Blut im ganzen Körper, bis wir wie die Fische nach Luft<br />

schnappten. Nach einer Ewigkeit hielt der Wirbel an. Die Luft sauste durch das Schlüsselloch<br />

wieder davon, und wir fielen als kleine feuchte Häufchen wieder auf den Boden. ROCK ’N’<br />

ROLL MUSIC. BEATLES. Das war zu schön um wahr zu sein.<br />

Mikael Niemi: Populärmusik aus Vittula. Roman. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt,<br />

btb Verlag in der Random House Gruppe, München 2004.<br />

Zerrissene Gesellschaft<br />

Mikael Niemi über eine zerrissene Gesellschaft<br />

Das Gefühl der Zerissenheit zwischen zwei Kulturen und Sprachen das ist etwas, was alle<br />

Tornedaler kennen. Das erste Mal ist es mir bewusst geworden, als ich aufs Gymnasium<br />

kam. Ich habe den technischen Zweig besucht, und zwei von den insgesamt vier Jahren<br />

habe ich in Luleå verbracht. Luleå liegt etwa 220 Kilometer südlich von Pajala, aber das ist<br />

<strong>für</strong> mich schon Südschweden, eine ganz andere Kultur. … Ich habe mich auf vielfältige<br />

Weise den anderen unterlegen gefühlt, dachte, mit mir stimmt etwas nicht, aber ich hatte<br />

keine Worte da<strong>für</strong>. Das neue Tornedal’sche Selbstbewusstsein hatte sich zu der Zeit noch<br />

nicht herausgebildet…<br />

Unser Tornedal’sches Bewusstsein, unsere Tornedal’sche Identität war nicht<br />

intellektualisiert. Wir hatten ein sehr geringes Bildungsniveau, waren sehr arm. Die Leute<br />

konnten es sich ganz einfach nicht leisten, in die Schule zu gehen. Erst nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg, als Schwedens Wirtschaft schnell wuchs, profitierten auch wir davon. Meine<br />

Generation konnte zur Schule gehen und so waren wir es, die es in Worte fasste: Wir im<br />

Tornedal waren eine Minderheit! Das kam einer Revolution gleich.<br />

Es stimmt, dass sich die gesamte Politik und Kultur in Schweden sehr stark auf den Süden<br />

und die Hauptstadt konzentriert. Es hat dass historische Gründe, dass man das<br />

Machtzentrum in den Süden verlegte. Wir im Norden haben uns aber deswegen immer sehr<br />

ausgeschlossen gefühlt. Das ist sehr traumatisch <strong>für</strong> die eigene Identität. … Bei uns trifft die<br />

indoeuropäische Kultur auf die finnisch-ugrische Kultur und Sprache. Das Finnische hat<br />

außer dem Ungarischen keine anderen Verwandten mehr, während die skandinavischen<br />

Sprachen germanische Sprachen sind und viele Verwandte haben… Für mich sind die<br />

indoeuropäischen Völker Meeresmenschen. Sie leben gerne am Meer, sie brauchen das<br />

Wasser, sie fahren zur See und betreiben Landwirtschaft. Für uns ist der Wald quasi unser<br />

Körper. Ich erinnere mich da an ein Erlebnis mit einer Freundin von mir, die aus Luleå kam.<br />

Ich fuhr mit ihr zu einem sehr abgelegenen Dorf, weit draußen im Tornedal. Damals lebten<br />

dort vielleicht 100 Menschen, heute sind es sicherlich noch weniger. Und ich war so<br />

glücklich! Umgeben vom Wald, von den Vögeln im Wald, es war das richtige Gefühl von<br />

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