dérive - Stadt erforschen - Wissenschaftskompass Wien
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komp-früh-7 16.03.2004 13:50 Uhr Seite 31<br />
Während das Gänsehäufel<br />
bis heute besteht, erinnert fast<br />
nichts mehr an jene Arbeitslosen,<br />
die 1927 mit dem Schlagwort von<br />
den „Kolonien in der Heimat“<br />
ernst machten. Nach einer illegalen<br />
Besetzung bei Orth stellte die<br />
Gemeinde <strong>Wien</strong> den KolonistInnen<br />
schließlich 1926 ein Areal am<br />
Kaiserspitz zur Verfügung. Trotz<br />
heftiger Fraktionskämpfe, konnten<br />
ab 1928 61 Familien von Arbeitslosen<br />
in der Lobau von Gartenbau<br />
und Kleintierzucht leben.<br />
Im Lauf der Jahrzehnte wuchs die<br />
<strong>Stadt</strong> um sie herum.<br />
Von temporärer Natur waren<br />
die „Zeltstädte“, die an Sommerwochenenden<br />
in der Lobau<br />
entstanden. Jugendgruppen und<br />
sozialistische Intellektuelle, trafen<br />
sich hier – auf der Hirscheninsel<br />
zum Nacktbaden, oder angezogen<br />
beim „Roten Hiasl“ (der<br />
Name des Gasthauses bezieht<br />
sich übrigens auf die Haarfarbe<br />
des ersten Besitzers). Vor allem<br />
unter Intellektuellen wurden<br />
Nacktkultur und Sexualreform<br />
zu wichtigen Schritten auf dem<br />
Weg zum neuen sozialistischen<br />
Menschen. Nach 1934 hielten<br />
SozialistInnen und KommunistInnen<br />
auch politische Versammlungen<br />
und Kongresse in der Lobau<br />
ab. Während unter dem austrofaschistischen<br />
Regime das<br />
+++ RECHERCHE +++<br />
Nacktbaden an sich verboten war –<br />
LehrerInnen zum Beispiel hatten<br />
mit disziplinären Konsequenzen zu<br />
rechnen –, hatten die nationalsozialistischen<br />
Machthaber damit keine<br />
Probleme. Schließlich waren<br />
schon um die Jahrhundertwende<br />
„Rassentheoretiker“, wie etwa<br />
Adolf Lanz (Pseudonym: Jörg Lanz<br />
von Liebenfels), von den Segnungen<br />
der Nacktkultur für die „Rassenveredelung“<br />
überzeugt gewesen.<br />
In der Lobau wurde von den Nazis<br />
ein Zwangsarbeitslager errichtet.<br />
ArbeiterInnen aus den besetzten<br />
europäischen Ländern wurden<br />
hierher verschleppt, Frauen zur<br />
Prostitution im angeschlossenen<br />
Bordell gezwungen. Der Ottakringer<br />
Gastwirt Wanicek, der das Bordell<br />
und eine Kantine im Zwangsarbeitslager<br />
betrieben hatte, erhielt<br />
nach 1945 von der Gemeinde <strong>Wien</strong><br />
das Gelände der „Oase“ für seinen<br />
neugegründeten FKK-Klub.<br />
Heute sorgt zum wiederholten<br />
Mal die befürchtete ökologische<br />
Zerstörung der Au für Diskussionen.<br />
All jenen, die sich auch über<br />
bereits verlorene Naturschätze informieren<br />
wollen, sei ein Besuch<br />
im Lobaumuseum (Lobau 256,<br />
Vorwerk 1) empfohlen. – sm<br />
Buchtipp<br />
Fritz Keller (Hg.). Lobau – Die<br />
Nackerten von <strong>Wien</strong>. 1985<br />
<strong>Wissenschaftskompass</strong> WIEN | 02 | 2004 31