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REPORTAGE.<br />
Eine Redaktion voller Narren<br />
Die Arbeit bei der erfolgreichsten Daily-Talkshow Deutschlands, ihr „traumhafter“ Moderator, und ihre „Assel“-Gäste<br />
Von Michael Lünstroth<br />
Köln, 14. Januar 2002.<br />
„Boxenluder oder Schlampe! Ich brauche<br />
dringend noch so ein Sexluder für<br />
die dritte AZ (= Aufzeichnung) morgen“,<br />
tönt es durch die Redaktion.<br />
„Meine Nummer eins für morgen hat<br />
gerade abgesagt, wo krieg’ ich jetzt<br />
noch so einen blonden Eye-Catcher?“,<br />
schallt es hinterher. Schlampe, Schnitte,<br />
Schuss: Das sind die Kategorien, die<br />
hier zählen. Von Asseln, Proleten,<br />
Hirnis und Dumpfbacken ist die Rede.<br />
Redaktionsalltag. Oder besser: Talkshowalltag.<br />
Wir sind zu Gast bei der erfolgreichsten<br />
deutschen Daily Talkshow „Die Oliver<br />
Geissen Show“ (Mo. bis Fr. um 13 Uhr<br />
auf RTL). Entgegen allen Trends, der<br />
schwindenden Quoten bei Daily Talks,<br />
schwimmt die von Talk-Altmeister<br />
Hans Meiser produzierte Schwafel-<br />
Runde von einem Erfolg zum nächsten.<br />
Nachdem jetzt auch der ärgste<br />
Konkurrent Andreas Türck im Januar<br />
die Segel gestrichen hat, ist der smarte<br />
Oliver Geissen endgültig der König des<br />
nachmittäglichen Geschwätzes.<br />
Ein Star mit Montagmorgen-Gesicht<br />
Die erste Begegnung mit dem „göttlichen<br />
Geissen“ verläuft genauso unerwartet<br />
wie unspektakulär: In blau-weißen<br />
Badeschlappen, mit einer 3/4-Jeans<br />
und einem grellen orangefarbenen T-<br />
Shirt bekleidet steht er da und lässt all<br />
das vermissen, was man von einem TV-<br />
Star erwarten würde. Kein Glamour,<br />
keine Ausstrahlung, ein schlichtes<br />
Montagmorgen-Gesicht. Zudem schaut<br />
er so verorgelt aus der Wäsche, dass ich<br />
nicht weiß, was ich ihm zuerst anbieten<br />
soll: einen Kamillentee oder ein Bett.<br />
Die Redaktionsbüros liegen mitten im<br />
beschaulichen Hürth bei Köln, auf dem<br />
Gelände der niederländischen NOB-<br />
Studios. Zwischen alten Reihenhaussiedlungen,<br />
schicken Neubauten und<br />
einem Industriegebiet wird rund um die<br />
Uhr fürs Fernsehen produziert. Neben<br />
dem Geissen-Talk werden auch<br />
Günther Jauchs „Wer wird Millionär?“,<br />
sämtliche Kai Pflaume-Sendungen<br />
und die Sat.1-Comedy „Was<br />
guckst du?“ hier aufgezeichnet. Aus<br />
den Fenstern der Oliver Geissen-Redaktion<br />
hat man einen direkten Blick<br />
auf ein Stück deutsche TV-Geschichte:<br />
Zu Füßen des Produzentenhauses, das<br />
sich die Talkshowmacher von CreaTV<br />
mit dem niederländischen Fernseh-<br />
Konzern Endemol teilen, liegt der Big<br />
Brother Container.<br />
Die Redaktion als<br />
eine eigene Soap<br />
Die Geissen-Redaktion unterscheidet<br />
sich im Grunde nicht von anderen<br />
Großraumbüros. Hier und da mal<br />
ein Bild vom Moderator, an der<br />
Wand des Männerklos hängen<br />
die Playmates des Jahres und<br />
über die fünf Fernseher der<br />
Redaktion flimmert vornehmlich<br />
irgendein Musikkanal. Im<br />
Zweifel dudeln RTL oder Pro<br />
Sieben im Hintergrund. Nicht<br />
wirklich ungewöhnlich für<br />
eine relativ junge Redaktion.<br />
Was sie von anderen<br />
Redaktionen unterscheidet,<br />
sind die Menschen,<br />
die hier arbeiten. Möglichst<br />
jung, möglichst attraktiv<br />
und möglichst<br />
hip. Sie wirken irgendwie zusammengecastet.<br />
Die Redaktion als eigene<br />
Talkshow oder Seifenoper. Jeden Tag in<br />
der gleichen Besetzung mit den gleichen<br />
Rollen: der Macho (doppelt und<br />
dreifach besetzt), die Schlampe, der<br />
Prolet, die hübsche Ausländerin, die<br />
Quoten-Schwulen und der Verschrobene.<br />
Der Unterschied zu den Gästen,<br />
die sie verlachen, verachten, selten<br />
Rückenfreies Top und Brüste raus, die „Büroschlampen“ und „Quoten-Schwulen“ der Oliver Geissen Show<br />
ernst nehmen, ist minimal. Und dennoch<br />
wird hier so gute Arbeit geleistet,<br />
dass die Show das erfolgreichste deutsche<br />
Daily-Talk-Format wurde, wie<br />
Alexander Stille, Geschäftsführer von<br />
CreaTV, gebetsmühlenartig wiederholt.<br />
Für den Erfolg der Sendung ist zu<br />
einem großen Teil auch der Moderator<br />
verantwortlich. Der 32-jährige Geissen<br />
ist der Garant dafür, dass Teenies und<br />
Mütter um 13 Uhr RTL einschalten. Für<br />
die Jüngeren ist er der attraktive Sonnyboy,<br />
für ihre Mütter der perfekte<br />
Schwiegersohn. Nicht ohne Grund bastelt<br />
sein Heimatsender gerade daran,<br />
ihn neben Günther Jauch als zweiten<br />
„Mr. RTL“ zu positionieren. Mit seinem<br />
Charme und seiner<br />
Jugendlichkeit begeistert er seine Fans,<br />
die ihm huldvoll ergeben sind. So<br />
schwärmt Naomi im Internet-<br />
Gästebuch zur Oliver-Geissen-Show,<br />
dass „die Sendung sehr gut ist und er<br />
einfach ein toller Moderator ist“. Dort<br />
wimmelt es nur so von virtuellen „Hab-<br />
Dich-Liebs“ und Liebeserklärungen<br />
von Annikas, Mareikes und Manuelas.<br />
Nirgendwo scheint der Glaube an die<br />
Allmacht des TV so groß wie hier.<br />
Jacquelines Vater ist ganz verzweifelt<br />
wegen des Gesundheitszustandes der<br />
Pop-Diva Mariah Carey. Nun versucht<br />
Jacqueline über die Oliver Geissen<br />
Show die Adresse von Mariah Carey<br />
herauszubekommen, denn „mein Vater<br />
ist seit ca. 25 Jahren Krankenpfleger<br />
(ca. 23 Jahre Psychiatrie erfahren) und<br />
deshalb meint er, ihr evtl. helfen zu<br />
können, soweit es ihm möglich ist“.<br />
Neues aus Absurdistan. Als hätte man<br />
es nicht schon vorher geahnt: Regelmäßiger<br />
Talkshow-Konsum scheint zumindest<br />
den Realitätssinn zu trüben.<br />
Fünf-Minuten Ruhm<br />
für Stunden der Tortur<br />
Fotos: internet<br />
Viele träumen davon, einmal bei Olli<br />
auf der Couch zu sitzen. Sara, 20, aus<br />
Bergisch-Gladbach, hat es geschafft.<br />
Mit ihrem engen Oberteil, den halblangen<br />
braunen Haaren und leuchtend grünen<br />
Augen macht sie auf sexy und das<br />
kommt an. Vermutlich deshalb ist sie<br />
schon zum zweiten Mal Gast der Sendung,<br />
diesmal zum Thema „Hilfe –<br />
mein Kind wird immer dicker!“.<br />
„Der Olli ist total süß und außerdem<br />
macht es unglaublich viel<br />
Spaß, im Rampenlicht zu<br />
stehen“, strahlt die Studentin<br />
über beide<br />
Ohren. Dann verschwindet<br />
sie mit<br />
einem Lächeln auf<br />
die Bühne und stolziert<br />
ihrem Fünf-<br />
Minuten-Ruhm entgegen.<br />
Dass sie immer<br />
noch so fröhlich<br />
erscheint, ist fast<br />
schon bewundernswert<br />
bei der Tortur,<br />
die sie hinter sich hat.<br />
Als Talkshow-Gast<br />
muss man vor allem<br />
zwei Dinge mitbringen:<br />
Geduld und viel Zeit.<br />
Etwa drei Stunden vor<br />
Aufzeichnungsbeginn<br />
treffen die ersten Gäste<br />
am schmucklosen Studio<br />
in Hürth ein. Ab da wartet<br />
ein Mammutprogramm auf sie:<br />
Anmeldung, Warten im Gästeraum,<br />
Maske, Warten, Tonprobe, Warten, Einverständniserklärung<br />
abgeben, Warten,<br />
letzte Vorgespräche mit der Redaktion<br />
und dann irgendwann der Auftritt.<br />
Zwischendurch gibt es belegte Brötchen,<br />
Suppen, Schokoriegel, Getränke<br />
– alles inklusive. Das schmeichelnde<br />
Gefühl von Prominenz hat schon manchen<br />
Gast dazu verführt, mehr zu erzählen,<br />
als er eigentlich will.<br />
Heide und Simone, zwei Teenie-Gören<br />
aus Berlin, sind so begeistert, dass sie<br />
gleich morgen wieder kommen wollen.<br />
Das geht natürlich nicht, da etwa ein<br />
halbes Jahr vergehen muss, ehe man<br />
denselben Gast ein zweites Mal einladen<br />
kann. „Klar fühlt man sich<br />
geschmeichelt, wenn so viele Menschen<br />
einen umsorgen“, gibt Sara ohne<br />
Probleme zu. Einmal so im Mittelpunkt<br />
zu stehen, scheint für viele eine Art<br />
Therapie gegen jahrelanges Übersehen-<br />
Werden zu sein. Genau wie bei<br />
Christian, 24, aus Oberhausen. Der solariumgebräunte<br />
Bodybuilder kennt<br />
sich aus im Talk-Business: Er ist so etwas<br />
wie ein Profi-Gast. Einige Auftritte<br />
bei Hans Meiser und nun auch schon<br />
„zum dritten Mal oder so, so genau<br />
weiß ich das nicht mehr“ bei Oliver<br />
Geissen. Christian weiß, worauf es ankommt<br />
und was er sagen muss, um<br />
noch mal eingeladen zu werden. Er ist<br />
ein Vorzeige-Chauvi, ein Provozierer,<br />
ein Spalter, einer, der für die Quote und<br />
für Geld auch unpopuläre Meinungen<br />
vertritt, wie „Schwule sind unnormal!“,<br />
„Frauen sollen an den Herd!“.<br />
Diesmal soll er gegen Dicke polemisieren<br />
oder, wie es hier schlicht heißt:<br />
„schießen“. Damit die Diskussion in<br />
den Gang kommt und es nicht zu nett<br />
bleibt. Streit und Gebrüll auf dem<br />
Podium sorgen schließlich für eine gute<br />
Quote. Nina, süße 18 und molliges<br />
Dessous-Model, wäre heute sein<br />
Angriffsziel gewesen, aber daraus wird<br />
nichts: Christian fliegt aus der Sendung,<br />
ein anderer hat seinen Job auf<br />
dem Podium übernommen, und zwei<br />
Streithähne werden nicht benötigt. Die<br />
Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben:<br />
„Und dafür habe ich jetzt<br />
den ganzen Nachmittag hier rumgehangen?“<br />
Irgendwann beruhigt er sich wieder,<br />
weil er trotzdem „gerne wieder<br />
kommen würde“. Und dann will er mal<br />
so richtig die Sau rauslassen.<br />
Enttäuscht sind manche, wenn sie das<br />
erste Mal bei einer Talkshow-Aufzeichnung<br />
dabei waren: Die Zuschauer<br />
und die Gäste zeigen sich geknickt darüber,<br />
dass „der Olli“ gar nicht so nett<br />
ist, wie er immer wirkt. Seine Talkgäste<br />
sieht er zum ersten Mal in der Aufzeichnung.<br />
Während der Werbepausen<br />
sitzt er schweigend im Publikum und ist<br />
vor allem mit sich selbst beschäftigt.<br />
Nach der Sendung verschwindet er<br />
wahlweise in sein mit einem Billardtisch<br />
ausgestattetes Büro, bereitet sich<br />
auf die nächste Aufzeichnung vor, oder<br />
braust mit seinem silbernen Porsche<br />
Carrera davon. Keine Autogramme.<br />
Keine Fotos.<br />
Das Image des netten Spitzbuben, das<br />
er auf dem Bildschirm kultiviert, hat<br />
mit der Realität eher wenig gemein. In<br />
seinen Shows ist er immer perfekt, nett<br />
und sympathisch – nur manchmal brökkelt<br />
etwas von der Fassade ab, wie<br />
jüngst, als er eine Sendung zum Thema<br />
„Ausländer“ hatte. Darin beklagte sich<br />
ein junger Ausländer über die<br />
Schwierigkeiten, die er in Deutschland<br />
habe und darüber, dass hier alles sehr<br />
fremdenfeindlich sei. Nach einigen<br />
Minuten des Hin- und Hergeplänkels<br />
fragte Geissen seinen Gast ganz nonchalant,<br />
warum er denn dann nicht<br />
zurück gehe, wenn es ihm in<br />
Deutschland nicht gefalle. Das war gar<br />
nicht der nette „Olli“, den man normalerweise<br />
kennt. In seinem virtuellen<br />
Gästebuch regte sich daraufhin auch<br />
prompt Widerstand gegen diesen Auftritt.<br />
Ansonsten pflegt der „attraktivste<br />
Mann im deutschen Fernsehen“, wie<br />
die Zeitschrift Max mal über ihn<br />
schrieb, sein Image des pflegeleichten<br />
Weichspülers gekonnt.<br />
ZDF-Samstagabend<br />
mit Olli Geissen?<br />
Schon mit 25 Jahren hatte Geissen, damals<br />
noch beim ZDF, seine erste Sendung.<br />
Von da an ging es steil bergauf<br />
für den „Hamburger Jung“; weitere<br />
Moderationen im ZDF, dann Sportchef<br />
beim Hamburger Stadtfernsehen HH1.<br />
1999 kamen die eigene Talkshow, Moderationen<br />
der Musiksendung „Top of<br />
the Pops“ und ein Jahr darauf sein bisher<br />
größter Erfolg: die Moderation der<br />
zweiten und dritten Big Brother Staffel.<br />
Wie es bei ihm weitergeht, steht derzeit<br />
noch in den Sternen. An einer neuen<br />
(Samstag-) Abendshow für den Hamburger<br />
wird gerade gebastelt. Allmählich<br />
wird es Zeit für etwas Neues: Der<br />
Ruhm von Big Brother ist verblasst, die<br />
deutsche Version von „Temptation Island“,<br />
die er moderierte, floppte, und<br />
wie lange sich die Talkshow noch halten<br />
kann, ist ungewiss. Zumal es Spekulationen<br />
gibt, dass auch die „Oliver<br />
Geissen Show“ nach der laufenden<br />
Staffel zu Ende sein soll. Neue Herausforderungen<br />
findet Geissen vielleicht<br />
bei dem Sender, bei dem seine TV-Karriere<br />
begann: Nach den letzten müden<br />
Auftritten von Thomas Gottschalk bei<br />
„Wetten dass...?“, deutet sich demnächst<br />
vielleicht dessen Abschied an...