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seine Ware, nimmt Geld entgegen und macht Anstalten, das Wechselgeld<br />
herauszugeben, auch wenn nur selten jemand darauf besteht. Andere, die<br />
Musik machen, jonglieren, Witze erzählen oder auch etwas anbieten – Schlüsselanhänger,<br />
Taschenlampen, Tabletten, wer lange genug unterwegs ist, kann<br />
fast alles in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt kaufen – bekommen<br />
auch Geld, nur die, die einfach durch die Züge gehen oder an der Straße sitzen<br />
und betteln, gehen meistens leer aus. Sie leben in den Armensiedlungen,<br />
die jenseits der Gleise zu sehen sind, bevor der Zug in den Retiro-Bahnhof<br />
einfährt.<br />
Am Retiro-Bahnhof steigen die meisten Menschen aus, nur der Schaffner und<br />
der Einarmige bleiben im Zug und machen eine kurze Pause, bevor sie die<br />
Strecke wieder zurückfahren. Die Kronleuchter in der Bahnhofshalle leuchten,<br />
die Taxis und Busse auf dem Vorplatz schalten ihre Scheinwerfer an. Die<br />
junge Frau habe ich schon im Gewühl auf dem Bahnsteig aus den Augen<br />
verloren.<br />
Etwa fünfhundert Meter vom Bahnhof entfernt stößt man auf die Plaza San<br />
Martín, ein von Bäumen eingefasster Platz. Hier sind Schautafeln aufgestellt,<br />
auf denen Bilder der Stadt zu sehen sind. Ein vergittertes Tor, eine gepflasterte<br />
Ausfallstraße und ein Rikschafahrer auf der Avenida 9 de Julio, mit dem<br />
Obelisk im Rücken – Schwarzweißfotografien, die das Leben in der Stadt<br />
eingefroren haben wie der Winter.<br />
Das nächste Bild entsteht auf der Florida, der kommerziellen Fußgängerzone.<br />
Hier riecht es nach Räucherstäbchen und gebrannten Mandeln. Als die ersten<br />
Regentropfen fallen, raffen die Straßenverkäufer ihre Sachen zusammen, prall<br />
gefüllte Plastiktüten, manche Leute spannen ihren Schirm auf, wenn sie einen<br />
dabei haben oder ziehen sich die Kapuze über den Kopf. Ein Latino, der auf<br />
der Florida zur Musik seines Kofferradios Tango getanzt hat, sammelt die<br />
von Passanten auf ein Tuch geworfenen Münzen ein, während seine Partnerin<br />
ihm dabei zusieht. Sie hält sich eine Plastiktüte, zum Schutz vor den Regentropfen,<br />
über den Kopf. Eine Tangotänzerin in engem, rotem Kleid mit Plastiktüte<br />
überm Kopf.<br />
Als der Regen etwas nachgelassen hat, gehe ich in Richtung Avenida Santa Fe<br />
weiter. Bei Notorious in der Avenida Callao bleibe ich einen Moment stehen.<br />
Der Besitzer kurbelt gerade das Gitter vor der Tür herunter. Im Schaufenster<br />
entdecke ich neben vielen Blues- und Jazz-Platten auch eine Aufnahme der<br />
Dreigroschenoper mit Lotte Lenya.