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S e i t e | 48<br />
oder Erinnerungen angewiesen, denn Straßenschilder fehlen häufig und die<br />
spärlich bewachsenen Berge, zwischen denen Esquel wie in einer breiten<br />
Schüssel aus grauem Fels liegt, sehen zu allen Seiten gleich aus und bieten<br />
dem Auge keinen Halt. Ich komme zweimal an einem verwilderten Grundstück<br />
vorbei. Es ist eine Lücke zwischen zwei sonst kaum zu unterscheidenden<br />
weißen Einfamilienhäusern, wie sie hier das Stadtbild prägen. Disteln,<br />
Brombeeren und hohes Gras wuchern hinter einem rostigen Metallzaun und<br />
neuem Stacheldraht und sind besser geschützt gegen Eindringlinge als alle<br />
bewohnbaren Gebäude. Ich halte mich, einem Impuls folgend, wieder links<br />
und gerate bald auf eine zweispurige Straße mit begrüntem Mittelstreifen, die<br />
ich als Avenida Fontana identifiziere. Hier gibt es eine Bäckerei, die geschlossen<br />
hat, und, an der nächsten Kreuzung einen Obelisken aus rosafarbenem<br />
Sandstein. Keine Stadt in Argentinien, in der nicht irgendwo ein Obelisk<br />
stünde, und sei er noch so klein.<br />
Die Avenida Fontana stößt auf die Avenida Ameghino, die untere der beiden<br />
Hauptstraßen, von mir aus gesehen. An der Ecke zur Plaza San Martin<br />
fotografiere ich eine verduleria und betrete den Laden, um nach einem Café zu<br />
fragen. Der Verkäufer erklärt nach längerem Überlegen, die einzige Möglichkeit<br />
sei ein Automobilclub, was ich für mich selbst im Sinne von Tankstelle<br />
übersetze. Ich überquere die Straße in Richtung des kleinen Parks, der das<br />
Denkmal des Nationalhelden umgibt. Einen Moment lang bin ich im Zweifel,<br />
ob es in der Nacht vielleicht geregnet hat, denn auf den Wegen, die die Wiesen<br />
des Parks in dreieckige Flächen zerteilen wie die Streifen des Union Jack,<br />
stehen Pfützen und der Teer glänzt feucht. Offenbar werden die Beete und<br />
das Gras früh am Morgen gegen die Hitze des Tages gewässert, doch es wird<br />
nicht mehr lange dauern, bis selbst das Wasser im Schatten der hohen Bäume<br />
verdunstet ist. Schon jetzt ist zu spüren, mit welcher Intensität die Sonne in<br />
ein paar Stunden brennen wird.<br />
Bei der Suche nach dem Automobilclub halte ich mich bald nicht mehr an<br />
die Wegbeschreibung, die ich nur bruchstückweise verstanden habe, sondern<br />
gehe wieder auf gut Glück durch die scheinbar namenlosen Straßen, bis ein<br />
bemaltes Brett auf ein Lokal mit dem Namen Cardiff Inn hinweist und auf<br />
den hohen Anteil an Walisern unter den Auswanderern, die vor mehr als<br />
hundert Jahren in diesem abgelegenen Teil der Welt ein neues, besseres Leben<br />
suchten. Das Lokal erinnert an die Saloons in einer Westernstadt. Zwei Meter<br />
von der Straße zurückgesetzt, betritt man es durch einen in massive Balken<br />
gefassten Eingang. Auch im Inneren ist alles aus Holz. Die Wände sind mit<br />
Brettern getäfelt und die Tische und Stühle wirken schwer und dunkel. Zwei<br />
Männer sitzen mit Schnapsgläsern vor sich nahe der Theke. Eine Frau säubert