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STAR TREK<br />

CAST AWAY<br />

RENE BARZ<br />

TABULA RASA<br />

Roman<br />

<strong>Star</strong> <strong>Trek</strong>©<br />

Cast Away<br />

Band 2<br />

Deutsche Erstausgabe<br />

Ω<br />

MAYEN, 2006<br />

STARFURY PRODUCTIONS<br />

Band 02<br />

Deutsche Erstausgabe<br />

2


Nichts auf der Welt ist so gewiss wie der Tod.<br />

JEAN FROISSART<br />

4


In der Zukunft ist die Menschheit überheblich geworden.<br />

1. Die Föderation beurteilt technischen Fortschritt viel zu<br />

optimistisch. Was fehlt, ist die warnende Stimme. Irgendwann<br />

werden die Forscher die Kontrolle über ihre<br />

Entdeckungen verlieren: was technisch möglich ist, wird<br />

auch gemacht - Ohne, dass die Entdecker und Erfinder<br />

dafür Verantwortung übernehmen. Seit Entdeckung des<br />

Omega-Partikels ist jedoch zu beobachten, dass die Föderation<br />

die Notwendigkeit erkannt hat, über die Konsequenzen<br />

ihrer Forschung nachzudenken. Deshalb verweigern<br />

sich einzelne Individuen heiklen Themen. Nicht<br />

jede Entdeckung sollte gemacht, nicht jede technische<br />

Möglichkeit ausgenutzt werden.<br />

2. Die Föderation glaubt allem gewachsen zu sein. Außenteams<br />

werden auf fremde Welten gebeamt, nur mit einem<br />

dünnen Zweiteiler bekleidet, einem Handphaser und Tricorder<br />

bestückt. Bei Routineeinsätzen mag das gut gehen.<br />

Wenn aber ein Notfall eintritt, kann niemand auf die<br />

Konsequenzen vorbereitet sein. Wer unerwartet, von einem<br />

Augenblick zum anderen, seiner gewohnten Umgebung<br />

entrissen und beispielsweise in den Urwald transportiert<br />

wird, findet sich in einer völlig anderen Natur<br />

wieder. Gefährliche Wetterbedingungen, giftige Pflanzen,<br />

wilde Tiere. Und wie jedes in sich geschlossene Ö-<br />

kosystem, duldet diese fremde Welt keine Touristen,<br />

sondern fordert Eindringlinge mit Gefahren und Überraschungen<br />

heraus und nur die stärksten und anpassungsfähigsten<br />

Individuen überleben.<br />

Darum geht es in dieser Miniserie.<br />

5


Einleitung<br />

Im Jahr 2385 startete ein Föderationsraumschiff der Akira-<br />

Klasse unter dem Befehl von Admiral Alynna Nechayev zu<br />

einer diplomatischen Mission tief in den unerforschten, cardassianischen<br />

Raum.<br />

Die Crew bestand aus einer knapp vierhundert Mann starken<br />

Besatzung, die sich nach einem katastrophalen Zwischenfall<br />

plötzlich inmitten eines Krieges, gestrandet auf einem weit<br />

entfernten Mond wiederfand.<br />

Sie kämpften gegen die Tücken eines fremden Ökosystems,<br />

gegen einen unbarmherzigen, brutalen Gegner und Verrat aus<br />

den eigenen Reihen.<br />

Diese Besatzung erlitt die höchste Opferzahl, seit dem Ende<br />

des Dominion-Krieges.<br />

Dies waren die Männer und Frauen der USS Shenandoah,<br />

NCC 74101<br />

Das ist ihre Geschichte.<br />

6


Lazarett<br />

„Schmerzen hat sie jetzt keine mehr.“, sagte Doktor Smith und<br />

zog die improvisierte Plastikplane zu, um der schlafenden Hallie<br />

ein wenig Privatsphäre zu gönnen.<br />

Die Techniker hatten ganze Arbeit geleistet und binnen weniger<br />

Stunden drei Rettungskapseln vollständig auseinandergenommen,<br />

umgebaut und an anderer Stelle, mitten im Basislager,<br />

wieder zusammengeschweißt, um für die Gestrandeten eine<br />

kleine Krankenstation mit Laborbereich zu erstellen. Zwar<br />

war alles mehr als improvisatorisch, nur mit viel Tesa und einem<br />

Häufchen Glück zusammengehalten, aber immerhin verfügten<br />

sie über zwei zweckentfremdete Luken als Betten, drei<br />

Stühle und einigen Arbeitsablagen. Jedenfalls war den Patienten<br />

dadurch ein wenig Schutz vor Wind und Witterung gegönnt.<br />

Sanitäter Roe stand neben Smith im Halbdunkel. Die Leuchtstoffröhren<br />

glühten nur matt, um kostbare Energie der Batteriezellen<br />

zu sparen. Obwohl sein Gesicht nur undeutlich zu<br />

sehen war, erkannte Smith in seinen Zügen äußerste Konzentration,<br />

aber auch Sorge. Roe schien ein recht fähiger Arzt zu<br />

sein. Er drückte komplexe medizinische Vorgänge in einfachen<br />

Worten aus, was zum einen vom Umstand herrührte, dass<br />

er nur selten und wenig redete und zum anderen von seiner<br />

Heimatwelt.<br />

Smith sah in seinen Augen, dass er schon hinreichend Krisensituationen<br />

durchgemacht, genug Tote und Verletzte gesehen<br />

hatte. Trotz seines jungen Alters, waren seine Augen nämlich<br />

7


alt. Aber er strahlte Kompetenz aus. Trotzdem war Smith nervös.<br />

Schließlich lag ihr Freund Cooper Hawk auf dem anderen<br />

Bett. Sein Zustand war nicht mehr so kritisch wie noch vor ein<br />

paar Stunden, aber sie befanden sich weit weg von zu Hause.<br />

Und hier draußen, ohne medizinische Versorgung, ohne dringend<br />

benötigte Wirkstoffe und ohne ausreichend Energie für<br />

die wenigen Gerätschaften, die ihnen zur Verfügung standen,<br />

mochte schon ein einfacher, giftiger Insektenstich tödlich enden.<br />

Hawk hatte die Augen geschlossen. Er konnte noch immer<br />

nichts sehen und allmählich machte sich Smith ernsthafte Sorgen.<br />

Der Pilot drehte den Kopf und seufzte. Hawk befand sich<br />

aufgrund der starken Morphium-Narkose irgendwo zwischen<br />

einem Wach- und Schlafzustand. Sein Oberkörper war entblößt,<br />

die Haut noch immer stark verbrannt und aufgedunsen.<br />

Außerdem begannen die Wunden bereits zu eitern.<br />

„Wird er wieder gesund?“, fragte Roe und starrte auf Hawks<br />

geschundenen Körper.<br />

„Glaube schon.“, sagte Smith. „Ich habe ihm noch einmal eine<br />

Dosis Steroide zusätzlich zu dem Morphium gegeben, er atmet<br />

jetzt schon viel leichter. Außerdem können Sie sehen, dass die<br />

Schwellungen am Brustkorb allmählich wieder zurückgehen.“<br />

Erhebliche Sorgen bereiteten ihr dagegen sein Augenlicht. Seit<br />

der Detonation von Joe Toyes Kapsel, sah Hawk überhaupt<br />

nichts mehr und Smith wusste genau, dass seine Netzhaut<br />

durchgebrannt war. Ein solcher Schaden war irreparabel. Zumindest<br />

hier draußen auf diesem verdammten Mond, auf dem<br />

sie abgestürzt waren. Und wenn Hawk nicht möglichst bald in<br />

Behandlung kam – und Smith wusste genau, dass dies höchst<br />

unwahrscheinlich war -, könnten Folgeschäden sein Sehvermögen<br />

für immer einschränken.<br />

Selbst die Sternenflottenmedizin vermochte dann nicht mehr<br />

viel auszurichten.<br />

8


Smith wusch sich mit den Handrücken Schweiß von der Stirn.<br />

Dabei kam sie an die Bandage, die sie noch immer am Kopf<br />

trug. Das Blut daran war getrocknet. Sie betrachtete sich kurz<br />

im Spiegelbild eines deaktivierten Schaltkastens und erspähte<br />

dort eine schmutzige Frau. Das Haar zerzaust und staubig. Roe<br />

sah auch nicht besser aus. Erst jetzt hatten die beiden Mediziner<br />

eine kleine Verschnaufpause bekommen. Vor wenigen<br />

Minuten war der letzte Patient – ein dünner Riss an der Schulter<br />

– gegangen.<br />

Smith seufzte erschöpft und sah durch eines der kleinen Fenster<br />

nach draußen. Es war noch immer Nacht. Hin und wieder<br />

wurde die Dunkelheit durch Wetterleuchten am Himmel erhellt.<br />

Auf einem nahen Hügel, jenseits des Lagers, glaubte<br />

Smith die Silhouette von Admiral Alynna Nechayev und ihrem<br />

Leibwächter Nottingham erkennen zu können. Smith<br />

drehte sich von der Luke weg und reichte Roe ein Gerät. Ein<br />

kleiner, schuhkartongroßer Kasten mit einem Pistolengriff und<br />

mehreren futuristisch aussehenden Reglern. „Wir brauchen<br />

Energie für diesen Scanner.“<br />

Roe runzelte die Stirn. „Hat Admiral Nechayev das Ding nicht<br />

vorhin reingebracht?“<br />

„Stimmt genau.“<br />

„Ist kein medizinisches Gerät, oder?“<br />

„Nein, aber die Sache ist wirklich wichtig.“, entgegnete Smith.<br />

„Wir sollten warten, bis die Sonne aufgeht, der Jeep muss erst<br />

seine Solarzellen auf-“<br />

„Der Jeep hat noch ein paar Reserven.“, schnitt Smith ihm<br />

sanft das Wort ab. „Für den Notfall. Wir brauchen das Gerät,<br />

Roe.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Bitte, sehen<br />

Sie, was Sie tun können. Und dann versuchen Sie ein wenig zu<br />

schlafen, ich komme jetzt hier drin alleine klar.“<br />

Roe warf abwechselnd ihr, dann dem Kasten einen Blick zu.<br />

Anschließend nickte er knapp und kletterte durch die enge Luke<br />

nach draußen.<br />

9


„Rhonda...“<br />

Smith drehte sich um. Hawk seufzte und hatte den Kopf in ihre<br />

Richtung gedreht, auch wenn er sie nicht sehen konnte.<br />

„Cooper. Ich dachte du schläfst.“<br />

Hawk schmatzte. „Wir schlafen alle, Rhonda.“<br />

Sie begriff nicht, was er ihr sagen wollte und führte es auf das<br />

Morphium zurück. Er redete Unsinn.<br />

„Wie soll ich bei dem Lärm schlafen? Du hast mir zu wenig<br />

Morphium gegeben.“ Er hob schwach seinen Arm und wollte<br />

in ihr entgegenstrecken. Sachte drückte Smith ihn wieder zurück.<br />

„Nein, Cooper. Ich habe dir genug Morphium gegeben.“<br />

„Nur noch eine Injektion-“<br />

„Cooper. Du musst schlafen.“<br />

Hawk schloss die Augen. Als Smith glaubte, dass er das Bewusstsein<br />

verloren hatte, griff er plötzlich nach ihrem Arm<br />

und drückte ungewöhnlich feste zu. Er zog sie näher zu sich<br />

heran. Seine Stimme kam flüsternd. „Rhonda, lass dich unter<br />

keinen Umständen von Nechayev manipulieren.“<br />

„Cooper-“<br />

„Sie ist gefährlich!“ Er versuchte sich aufzurichten, brachte<br />

den Brustkorb aber nur wenige Zentimeter hoch, ehe er wieder<br />

zurücksank.<br />

„Du darfst dich nicht bewegen.“<br />

„Rhonda, Sie ist sehr gefährlich!“<br />

Smith schluckte. „Cooper, du hast viel Morphium bekommen.<br />

Ich schätze du weißt nicht was du überhaupt sagst.“<br />

Hawk schüttelte den Kopf. Es kostete ihn viel Anstrengung.<br />

„Nicht manipulieren lassen, hörst du?“, sagte er leise. „Egal,<br />

was du ihr schuldest.“<br />

Er schloss die Augen. Sein Körper erschlaffte ein wenig. „Egal,<br />

was du ihr schuldest.“ Dann schlief er ein.<br />

10


Basislager<br />

Blitze zuckten. Nun grollte vereinzelt sogar weit entfernter<br />

Donner. D’Agosta, Shannyn, Judy und Fowler saßen niedergeschlagen<br />

und entrüstet an einem knisternden Feuer, abseits<br />

des Lagers und achteten darauf, dass sich niemand sonst in ihrer<br />

Nähe befand, oder sie belauschen konnte. Sie waren erst<br />

vor kurzem nach einer langen Wanderung über die Berge wieder<br />

zurückgekehrt.<br />

Inzwischen war es mitten in der Nacht. Die Ebene war dunkel<br />

und still. Um die Kapseln lagen überall, einem Wall gleich,<br />

Heuhaufen verteilt, die nun in der Nacht loderten und gruslige<br />

Schatten warfen. Die Gestrandeten hatten sie mit der Hilfe der<br />

ortsansässigen Amphion zusammengesucht. Auf Athols Anraten<br />

und D’Agostas Befehl hin, waren sie angezündet worden,<br />

um „die Unsichtbaren“ fernzuhalten. D’Agosta wusste noch<br />

immer nicht genau, was er davon halten solle, bisher hatten sie<br />

keine Probleme mit Unsichtbaren gehabt und auch keine gesehen,<br />

was aber auch an der Natur ihres Namens liegen konnte.<br />

Aber er beschloss dennoch Athol zu vertrauen. Die Amphion<br />

mochte primitiv und sogar sehr abergläubig sein, wie er<br />

festgestellt hatte, aber sie kannten im Gegensatz zu der gestrandeten<br />

Sternenflottencrew das Terrain und die darin enthaltenen<br />

Gefahren. Sie waren auf die Amphion angewiesen.<br />

Im Moment bereitete D’Agosta aber etwas ganz anderes große<br />

Sorgen.<br />

„Vielleicht war die Intensität dieses Moleküls nicht so stark,<br />

wie wir jetzt annehmen.“, sagte Fowler unsicher. „Könnte<br />

11


doch sein, dass uns nur ein paar Tage vom Föderationsraum<br />

trennen. Das ist doch möglich, oder?“<br />

Seine Frage war an Shannyn gerichtet, die einzige Person außer<br />

Nechayev, die über das ominöse Omega-Molekül genauestens<br />

bescheid zu wissen schien. Sie war gerade damit beschäftigt<br />

ihren Rucksack notdürftig zu flicken. Die Begegnung<br />

mit den Blutkatzen hatte ihr zwei zusätzliche Löcher in dem<br />

alten Stoff beschert. Shannyn sah auf. Ihr Blick wanderte für<br />

einen Moment zu Judy. Sie beschloss das Mädchen nicht zu<br />

belügen. „Es werden mehr als nur ein paar Tage sein.“, sagte<br />

sie. „Man stellte aber fest, dass einzelne Omega-Moleküle unterschiedlich<br />

stark geladen sind. Die Auswirkungen einer Destabilisierung<br />

hängt außerdem maßgeblich von der Anzahl der<br />

Moleküle ab. Je weniger dort oben waren, desto besser für<br />

uns. Ich denke nicht, dass es viele waren. Dennoch könnten<br />

uns Wochen, vielleicht sogar ein paar Monate vom Föderationsraum<br />

trennen.“ Sie sah wieder zu Judy herüber. „Nur ein<br />

paar Monate. Allerhöchstens.“<br />

Das Mädchen schwieg.<br />

„Woher wissen Sie das alles, überhaupt?“, fragte Fowler.<br />

„Wenn Omega tatsächlich so selten und unter einer derart<br />

strengen Geheimhaltung steht, wie Sie behaupten, dann<br />

schnappt man Infos über so etwas doch nicht ein einem x-<br />

beliebigen Raumhafen auf.“<br />

„Ich habe meine Quellen.“, entgegnete Shannyn lediglich.<br />

Fowler grunzte nur.<br />

Eine Pause entstand.<br />

Dann stieß er D’Agosta neben sich an. „Chef, sagen Sie auch<br />

mal etwas, dazu.“<br />

D’Agosta nahm einen Stein in die Hand und legte ihn auf den<br />

sandigen Boden vor sich. Dann ergriff er einen zweiten und<br />

legte ihn in etwa dreißig Zentimetern Abstand daneben. Er<br />

deutete auf den ersten Stein. „Das ist unser Bestimmungsort,<br />

Portas IV.“ Und zum zweiten Stein: „Das sind wir.“<br />

12


„Nette Karte.“, sagte Fowler sarkastisch.<br />

„Wir sind vor zwei Tagen von Deep Space Nine gestartet. Unsere<br />

Reisegeschwindigkeit betrug konstant Warp Fünf. Korrekt?“<br />

Fowler zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung, ich war nicht<br />

auf der Brücke.“<br />

„Wir flogen mit Warp Fünf.“, bestätigte D’Agosta seine eigene<br />

Aussage. „Zwei Tage lang. Wir müssten also vier Tage von<br />

unserem Bestimmungsort entfernt sein. Genau hier.“ Er deutete<br />

wiederholt auf den zweiten Stein. „Das sind in etwa zwei<br />

Lichtjahre. Zwei Lichtjahre mit Impuls. Also wirklich nur ein<br />

paar Monate. Und wenn die Sternenflotte unseren Kurs ganz<br />

exakt verfolgt, dann wird uns die Suchmannschaft finden, ohne<br />

zusätzlichen Zeitverlust.“<br />

„Sagte Nechayev nicht, wir hätten eine Kurskorrektur vorgenommen?“,<br />

fragte Shannyn.<br />

„Das kann nur eine Minimale gewesen sein.“, sagte D’Agosta.<br />

„Andernfalls hätten Commander Bowman, oder Captain<br />

O’Conner doch etwas verdächtiges gemeldet. Wie auch immer,<br />

wenn die Sternenflotte nach einen geraden Kurs verfolgt,<br />

finden sie uns sehr einfach. Das heißt, wenn sie erst einmal in<br />

unsere Reichweite kommen.“<br />

„Das heißt, wenn sie uns überhaupt suchen.“, sagte Fowler<br />

und schüttelte den Kopf. „Nichts gegen eure Wissenschaftsund<br />

Navigationsvorlesung hier. Nein, ehrlich, ich genieße das<br />

richtig. Aber wir sind hier mitten im Nirgendwo, tief im unerforschten<br />

cardassianischen Territorium. Die Sternenflotte wird<br />

eine große Explosion registriert haben, sich erstaunt am Kopf<br />

kratzen und anschließend die cardassianische Regierung konsultieren.<br />

Diese wiederum verbietet typisch paranoid die Einreise,<br />

denn sie hält die Explosion sicherlich für einen weiteren<br />

Versuch der Föderation den cardassianischen Raum zu besetzten<br />

– davon bin ich überzeugt. Die Sternenflotte erklärt eine<br />

13


Rettungsaktion für nicht unternehmenswert und schreibt uns<br />

ab.“<br />

„Die Sternenflotte lässt niemanden-“<br />

„Dann wird es eben dauern.“, fiel Fowler D’Agosta ins Wort.<br />

„Da wir nicht im Föderationsraum gestrandet sind, ist das jetzt<br />

eine Sache der Politiker.“, sagte er. „Und bei denen ist es immer<br />

dasselbe. Viel reden, wenig unternehmen. Ein Papierkrieg<br />

nach dem anderen entsteht und es wird erst mal wochenlang<br />

mit Regierungen über Einreisegenehmigungen und Notfallmaßnahmen<br />

debattiert.“ Er stand kopfschüttelnd auf. „Wir sitzen<br />

hier fest, Leute! Alle Mann! Das wird tatsächlich kein<br />

Aufenthalt von wenigen Tagen, sondern von Monaten! Scheiße,<br />

wir sind erst ein paar Stunden hier und ich wurde bislang<br />

bereits verprügelt und beinahe von einem verdammten Riesenskorpion<br />

aufgespießt.“<br />

„Ich habe Sie doch gerettet, oder?“, fragte Shannyn.<br />

„Ja, ganz toll, Wonderwoman. Aber ihre Superkräfte halten sicher<br />

nicht ewig.“, erwiderte Fowler. Er wurde wütend und<br />

hysterisch. „Unser Schiff ist zerstört. Wir können nirgendwo<br />

hin. Wir können nichts mehr tun. Ich sag’s ihnen, wir werden<br />

alle st-“<br />

„Sagen Sie es nicht!“, entgegnete Shannyn. Sie packte Fowler<br />

am Arm und zog ihn rabiat zu sich. Shannyn sprach so leise,<br />

dass nur er sie verstehen konnte: „Verängstigen Sie Judy<br />

nicht.“<br />

Fowler warf dem Mädchen einen kurzen Blick zu. Sie schien<br />

recht gefasst zu sein. „Was macht denn das noch aus?“, fragte<br />

er. „Früher oder später wird sie es- Autsch! Was soll denn<br />

das?“<br />

Shannyn hielt seinen Arm fest umklammert. Ihr Gesicht war<br />

knapp vor Fowlers und ihre Hand ruhte auf dem Schwertknauf<br />

an ihrem Gürtel. „Hören Sie auf sich aufzuführen, wie ein<br />

Arschloch.“, sagte sie leise. „Sie reißen sich jetzt zusammen,<br />

Fowler. Haben Sie mich verstanden?“<br />

14


Fowler nickte. „Das ändert aber nur sehr wenig an unserer Situation.“<br />

Shannyn starrte ihn ein paar Sekunden einfach nur an, dann<br />

sagte sie laut und ohne den Blick von ihm abzuwenden: „Wir<br />

werden es schaffen. Die Intensität der Omega-Detonation war<br />

nicht immens, da bin ich sicher. Hätten sich viele Partikel in<br />

diesem Sternensystem befunden, wären sie schon vorher von<br />

Schiffen entdeckt geworden. Die Sternenflotte hat diesen<br />

Raumbereich auch früher, während des Krieges durchflogen.<br />

Größere Omega-Vorkommnisse wären ihnen nicht entgangen.“<br />

Dann sah sie Judy tröstend an. „Mach dir keine Sorgen.<br />

Unsere Situation ist schlechter als zunächst gedacht, aber nicht<br />

aussichtslos. Vertrau mir.“<br />

Judy nickte kaum merklich. Am Himmel grollte wieder Donner,<br />

diesmal näher als zuvor. Es war Judy unheimlich. Sie hatte<br />

noch nie ein Gewitter erlebt. Wo auch? Auf der Erde verhinderte<br />

das Wetterkontrollsystem seit beinahe zweihundert<br />

Jahren Unwetter. Und auf vielen anderen Planeten hatte sie<br />

sich nicht aufgehalten. Das Wetterleuchten machte ihr Angst.<br />

Dazu noch diese unheimliche Stille-<br />

„Wie sollen wir das alles den anderen Leuten erklären?“, fragte<br />

Judy, um sich abzulenken.<br />

Fowler schnaufte. „Was sollen wir denen schon großartig erklären?“<br />

„Was wirklich passiert ist.“, sagte Judy. „Und das wir nicht<br />

gerettet werden. Nicht sofort.“<br />

Shannyn schüttelte den Kopf. „Niemand von uns sagt ihnen<br />

zum jetzigen Zeitpunkt etwas. Diese Leute haben gerade mit<br />

knapper Not ein katastrophales Schiffsunglück überstanden,<br />

was glaubt ihr, wie sie auf diese Neuigkeit hier reagieren werden?“<br />

„Nicht sehr gut, jedenfalls.“, begriff Fowler.<br />

„Ganz genau.“, sagte Shannyn. „Wenn wir ihnen erklären was<br />

geschehen ist, ohne es selbst gänzlich zu verstehen, ohne ge-<br />

15


nau zu wissen, wie schlimm die Omega-Explosion war, riskieren<br />

wir eine Panik.“<br />

„Aber warum haben Sie uns dann davon erzählt?“, fragte<br />

Fowler. Er wäre lieber nicht über die Situation aufgeklärt<br />

worden und erkannte in diesem Moment, dass Unwissenheit<br />

tatsächlich ein Segen sein konnte.<br />

„Weil der Verantwortliche für diese Gruppe die Fakten kennen<br />

muss, um richtige und erforderliche Entscheidungen zu<br />

treffen.“, sagte Shannyn. Sie sprach leiser, als sie den Kopf zu<br />

D’Agosta drehte. „Und ob Sie es wollen, oder nicht, Allan, Sie<br />

sind dieser Verantwortliche im Moment.“<br />

D’Agosta rieb sich stöhnend die Augen, als ob er so aus einem<br />

Alptraum erwachen könne. Dann knabberte er an seinen Nägeln<br />

und sah nachdenklich zum Basislager herüber. Irgendjemand<br />

lachte dort. Eine kleine Gruppe saß - ähnlich wie sie<br />

selbst -, gerade an einem Lagerfeuer und erzählte Witze. Chief<br />

Crocker tat mit Anekdoten und alten Raumfahrergeschichten<br />

sein übriges, um die Stimmung zu heben und die Moral aufrecht<br />

zu erhalten. Der Mann hätte einen Orden dafür verdient,<br />

dachte D’Agosta.<br />

Allan war nicht begeistert. Weder von der Vorstellung jetzt für<br />

diese Männer und Frauen verantwortlich zu sein, solange Nechayev<br />

die Umgebung erkundete – und das tat sie schließlich<br />

fortwährend – und auch nicht davon, sie alle anzulügen. Das<br />

wiederstrebte ihm völlig. Andererseits sah er ein, dass Shannyn<br />

recht hatte.<br />

„Eine Panik ist das Letzte, was wir brauchen.“, sagte er langsam,<br />

den Blick noch immer auf das Lager gerichtet. „Wenn<br />

wir ihnen mitteilen, was wir bisher wissen ... was wir bisher<br />

annehmen, dann rauben wir ihnen die Hoffnung. Und Hoffnung<br />

ist eine sehr gefährliche Sache, wenn man sie verliert.“<br />

Er wusste es aus eigener, leidiger Erfahrung. D’Agosta nickte<br />

und fasste eine Entscheidung: „Außerdem unterliegt diese<br />

Omega-Sache der Geheimhaltung. Wir sollten nicht zu viele<br />

16


Personen darin einweihen, sonst könnten wir wirklich Ärger<br />

bekommen.“<br />

„Den haben wir schon.“, brummte Fowler. D’Agosta ignorierte<br />

ihn. „Nein, wir können es ihnen nicht sagen. Noch nicht.<br />

Wir warten besser ab, bis sich die Lage stabilisiert und beruhigt<br />

hat. Bis wir einen Weg gefunden haben, zu ergründen,<br />

wie heftig das Partikel war und bis wir ein Lebenszeichen von<br />

Captain O’Conner erhalten. Er wird wissen, was zu tun ist.<br />

Dann sehen wir weiter.“<br />

„Es hat nie ein Omega-Partikel gegeben?“, fragte Fowler stirnrunzelnd.<br />

D’Agosta nickte. „Also lügen wir. Und hoffen, dass vorerst<br />

niemand zu neugierig wird.“ Aber wer sollte das schon?<br />

Sicherheitsoffizier Antonio Garnere warf einen flüchtigen<br />

Blick zum nachtschwarzen Himmel hoch. Es gab keine Sterne.<br />

Selbst der nahe Planet war hinter den hängenden Wolken<br />

kaum zu erkennen. Hin und wieder blitzte es.<br />

Wetterleuchten.<br />

Donner ertönte kaum, wenn, dann nur aus weiter Ferne. Alles<br />

war gespenstig still. Er schraubte den Verschluss einer Wasserflasche<br />

auf und trank gierig. Garnere war Anfang zwanzig,<br />

dunkelhaarig und kompakt gebaut. Er trug eine verschlissene<br />

Uniformjacke und eine Hose, die so staubig war, wie der Boden<br />

selbst. Aber einen besseren Anblick boten alle anderen<br />

auch nicht. Manche in der Sicherheitsabteilung konnten Garnere<br />

nicht leiden, hielten ihn für aufgeblasen und anmaßend.<br />

Andere, wie Fowler, mochten ihn gerade aufgrund seiner direkten<br />

Art.<br />

Garnere wollte die Flasche zu einem weiteren Schluck an seine<br />

Lippen bringen, als jemand danach grapschte und sie ihm<br />

grob aus den Händen riss.<br />

17


„He!“, brummte Crocker verärgert. „Du sollst mir helfen das<br />

Zeug zu sortieren, Söhnchen, nicht es zu vergeuden.” Der alte<br />

Chief stand halb gebückt in einer der Fluchtkapseln und untersuchte<br />

ihren Bestand an Vorräten. Garnere half Crocker die<br />

Kapseln und Umgebung nach nützlichen Dingen durchzusuchen.<br />

Nahrunge, Geräte - alles, was sozusagen Nützlich war. Und in<br />

den Augen des Chiefs war einfach alles Verwendbar. Sie hatten<br />

also einiges an Arbeit. Nicht nur die Kapseln, von denen<br />

inzwischen nur noch fünf Übrig geblieben waren und eng beieinander<br />

standen, galt es auszuschlachten. Nein, überall in einem<br />

weit verstreutem Gebiet waren Trümmer runtergekommen.<br />

Manche noch brauchbar, manche nicht. Die meisten Teile<br />

wurden als provisorische Dächer verwendet, damit die Gestrandeten<br />

Schutz vor Wind und Wetter besaßen, wenn sie<br />

schliefen,<br />

Garnere konnte kaum noch auftreten, so sehr schmerzen ihn<br />

seine Füße. Bis kurz vor Sonnenuntergang waren sie stundenlang<br />

durch die heiße Ebene gewandert und hatten dabei alles<br />

abgesucht. Dann war dieser Fremde – Athol – mit den anderen<br />

drei Einheimischen und D’Agostas Gruppe aufgetaucht und<br />

ihnen sogleich offenbart, sie dürften sich in der Nacht nicht<br />

vom Lichtkreis der Lagerfeuer entfernen. Warum auch immer.<br />

Es ging um Geister oder so einen Blödsinn. Er wusste es nicht<br />

genau, aber Garnere war es recht. So hatte er immerhin eine<br />

kleine Verschnaufpause.<br />

„Verdammt, Chief. Ich trockne noch aus!“<br />

„Du wirst es überleben, Junge.“, erwiderte Crocker ungerührt<br />

und schüttelte die Flasche um den Inhalt zu prüfen. Sie war<br />

nur noch zur Hälfte voll. „Es ist notwendig zu Rationieren,<br />

Garnere. Sowohl das Essen, als auch das Wasser. Wenn die<br />

Sternenflotte sich verspätet, schauen wir dumm aus der Wäsche.“<br />

18


„Chief.“, sagte Garnere klagend und breitete die Arme aus.<br />

„Sehen Sie nach oben. Es blitzt und donnert. Da bewegt sich<br />

ein ausgewachsenes Gewitter direkt auf unser Lager zu und<br />

wird jeden hier, noch vor Anbruch des Tages, zweifellos derart<br />

durchnässen, dass sich selbst ein Aquaner unwohl fühlen<br />

würde. Und Sie wollen mir dieses bisschen Wasser jetzt nicht<br />

gönnen?“<br />

„Wer garantiert mir, ob der Regen hier überhaupt trinkbar ist<br />

hm?“ Crocker gab ihm die Flasche wieder zurück und deutete<br />

auf die Kapsel, die wie ein Monument, ungefähr nur zehn Meter<br />

neben dem Lazarett ruhte und somit am nächsten an ihnen<br />

dran war. Sie hatten sie als Vorratskammer missbraucht und<br />

deponierten dort nun Nahrung, Wasser- und Kleidungsvorräte.<br />

„Schon gut.“, sagte Garnere. „Ich tue Sie weg.“ In Wahrheit<br />

wartete er, bis Crocker sich wieder umgedreht hatte und trank<br />

noch schnell einen Schluck. Anschließend beförderte er die<br />

Flasche mit einem geschickten Wurf durch die kleine Luke in<br />

die Vorratskapsel hinein. Sie landete Weich auf ein paar staubigen<br />

Uniformen.<br />

Garnere wusch sich den Mund ab. „Wollen Sie wissen, was<br />

ich gehört habe?“, fragte er. „Ich habe gehört, dass die Breen<br />

den Prototypen eines neuen Waffensystems entwickelt haben.<br />

Ein viel verheerenderes als die Dämpfungswaffe vom Krieg.<br />

Und sie bereiten sich darauf vor, die Föderation damit erneut<br />

anzugreifen. Der Geheimdienst hat davon Wind bekommen<br />

und Nechayev auf unser Schiff geschickt, weil die Shenandoah<br />

kampferprobt ist. Diese diplomatische Mission war nur ein<br />

Vorwand. Eine Täuschung. In Wahrheit sollten wir die Breen<br />

aufhalten. Tja, vergeigt, würde ich sagen. Wie auch immer –<br />

das habe ich gehört.“<br />

Crocker blickte ihn kurz an. „Und du glaubst das, Junge?“<br />

„Zuerst nicht.“, erwiderte Garnere. „Aber das sagen alle hier.<br />

Diese Gerüchte verstummen nicht. Sie waren doch auf der<br />

Brücke, oder?“<br />

19


„Aye, ich war auf der Brücke.“<br />

„Und? Waren es die Breen, die uns erwischten?“<br />

„Nicht die Breen.“<br />

„Nicht die Breen?“, fragte Garnere. Er sah Crocker eingehend<br />

an.<br />

„Nein.“<br />

„Dann ist es also nicht wahr?“<br />

Crocker seufzte. „Bist du schwer von Begriff, Junge? Es waren<br />

keine Breen. Ich weiß nicht was es war, aber es waren<br />

nicht die Breen. Jedenfalls keines ihrer Waffensysteme, das<br />

kann ich dir sagen.“ Er wandte sich ab und durchsuchte nun<br />

die Kisten. Er fand Rauchgranaten. Auch eine Art Betäubungsgranate<br />

war dabei. Crocker runzelte die Stirn und fragte<br />

sich, wozu sie dieses Zeug vorfanden, aber keine weiteren<br />

Nahrungsrationen.<br />

Garnere fragte: „Was macht Sie da so sicher?“<br />

„Ganz einfach: Was immer uns da oben zugesetzt hat, es erwischte<br />

auch die Breen.“<br />

„Deren Schiff ist ebenfalls abgestürzt?“, fragte Garnere verwundert.<br />

„Runtergekracht, wie wir, Aye. Ich hab’s mit eigenen Augen<br />

gesehen. Was immer du gehört hast, Sohn, es ist falsch. Völlig<br />

falsch. Ich glaube keiner von uns weiß, was da oben wirklich<br />

passiert ist. Hier, schau mal.“ Er hatte in den Trümmern etwas<br />

gefunden. Eine zylindrisches Objekt, von dreißig Zentimetern<br />

Länge. Schwarz, mit einer rauen Oberfläche. Wie der Lauf eines<br />

Mörsers.<br />

„Was ist das?“<br />

„Ein Stück Schrott natürlich. Aber in Kombination mit anderem<br />

Schrott, könnten wir hier draus ein Leuchtfeuer basteln.<br />

Wir haben doch das Kerosinkonzentrat gefunden, richtig?“<br />

Garnere schien verwirrt. „Ja, aber das wird doch nur in den<br />

Bremsraketen verwendet, um die Zündung bei einem Ausfall<br />

20


der Systeme manuell, durch eine Explosion, durchführen zu<br />

können. Wie sollte uns das weiterhelfen?“<br />

„Ganz einfach.“, sagte Crocker. „Da ist ne Rauchgranate. Die<br />

enthalten Toroaxyl, ein chemisches Konglomerat. Im Grunde<br />

harmlos, aber zusammen mit dem Kerosinonzentrat? Was<br />

meinst du?“<br />

Garnere überlegte und begutachtete das Teil genau. Es sah<br />

stabil genug aus und hatte auch die richtige Größe. „Könnte<br />

funktionieren.“<br />

Könnte uns aber auch um die Ohren fliegen, dachte er.<br />

„Dann sollten wir die restlichen Teile suchen.“, sagte Crocker<br />

und begann wieder in den Kisten zu wühlen. Garnere schwieg<br />

eine Zeitlang. Er sah durch die Reihen der Gestrandeten. Abseits<br />

des Basislagers erspähte er D’Agosta, wie er mit seiner<br />

Tochter und der blonden Frau am Lagerfeuer saß. Fowler war<br />

auch bei ihnen.<br />

D’Agosta hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Dann<br />

schaute er zu dem Mädchen und nahm sie ermutigend in den<br />

Arm. Er machte auf Garnere aber keinen optimistischen Eindruck.<br />

„So sieht doch kein Anführer aus.“, murmelte Garnere.<br />

„Was meinst du?“, fragte Crocker ohne aufzusehen.<br />

„D’Agosta.“, antwortete Garnere. „Der Kerl hat doch momentan<br />

das Sagen über uns.“<br />

„Bis der Captain zurück ist, Aye.“<br />

Garnere schnaufte. „Falls er jemals zurückkehrt. Falls er nicht<br />

schon längst Futter für die Maden ist. Nein, ich schätze wir<br />

müssen uns mit dem da anfreunden. Zum Teufel! Ein weichherziger<br />

Familienmensch.“<br />

„Du scheinst kein großes Vertrauen in Lieutenant Commmander<br />

D’Agosta zu haben.“, stellte Crocker fest.<br />

„Nehmen Sie es mir wirklich nicht übel, Chief.“, sagte Garnere.<br />

„D’Agosta ist bestimmt ein ganz netter Bursche, aber im<br />

Kommandobereich absolut falsch aufgehoben. Der kann sich<br />

21


doch nicht durchsetzen, macht immer das, was andere ihm sagen,<br />

oder vorschlagen. Ich meine, was ist seine Aufgabe? Ist<br />

er nicht Analytiker?“<br />

„Systemanalytiker, Aye.“<br />

„Was brauchen wir hier einen Analytiker, frage ich? Wir hatten<br />

eine außerordentlich schlecht verlaufene Evakuierung, fabrizierten<br />

einen Crashdown und stecken, bis die Sternenflotte<br />

endlich eintrifft, mächtig im Dreck. Analyse beendet.“ Er<br />

schüttelte den Kopf. „Schlimmer kann’s kaum sein.“<br />

Crocker seufzte und spähte aus der Luke hinaus. Erst Rechts,<br />

dann Links. Niemand da. Dann fixierte er Garnere und sagte<br />

leise: „Es kann schlimmer sein!“<br />

„Wüsste nicht wie.“<br />

Crocker deutete zu einem Hügel, ein paar Hundert Meter vom<br />

Lager entfernt. Garnere glaubte Admiral Nechayev in der<br />

Dunkelheit erkennen zu können.<br />

„Die ist uns schließlich auch keine große Hilfe.“, sagte Crocker<br />

Nechayev saß einfach da, mitten in der Nacht und starrte auf<br />

einen fernen Punkt jenseits der Ebene. Crocker verzog das Gesicht.<br />

„D’Agosta macht das nur für ein paar Tage, das dürfte<br />

für uns doch wohl kein Problem sein. Und jetzt helf mir endlich,<br />

anstatt ständig zu quatschen. Wir haben viel Arbeit vor<br />

uns.“<br />

22


Tarnung<br />

Alex Penkala wog das Gerät in den Händen und betrachtete es<br />

argwöhnisch. „Was ist das?“, fragte er Sanitäter Roe, der ihm<br />

das Instrument grade erst gegeben hatte.<br />

„Dasselbe habe ich auch gefragt.“, antwortete Roe. „Ein Scanner,<br />

denke ich.“<br />

„So einen habe ich noch nie gesehen.“, sagte Penkala.<br />

„Können Sie ihn denn aufladen?“, fragte Roe.<br />

Penkala warf einen Blick zu Joseph Dike, der neben ihm auf<br />

dem Beifahrersitz saß. Sie beide wollten die Nacht wieder im<br />

Jeep Explorer verbringen. Die Sitze waren ungemein bequemer<br />

als die Felsen, der harte Boden, oder die engen Kapseln.<br />

Da sie den Jeep überhaupt erst auf die Oberfläche gebracht<br />

hatten, beanspruchten sie gewissermaßen Besitzrecht. Keiner<br />

der anderen wandte dagegen etwas ein. Der Jeep gehörte nun<br />

offiziell den beiden.<br />

Dike rollte mit den Augen. „Roy, richtig?“<br />

„Ro-i. Es wird Ro-i gesprochen. Nicht Roy und auch nicht Rö.<br />

Ro-i.“<br />

„Tschuldigung.“, sagte Dike. „Warten Sie bis morgen früh,<br />

Roe. Die Batterien sind fast erschöpft, wir haben heute alles<br />

aufgebraucht, um ein paar Phaser und die Energiezellen für alle<br />

Leuchtröhren im Lazarett partiell aufzuladen. Im Jeep ist bis<br />

auf eine kleine Reserve nicht mehr viel drin und wir wollen<br />

ihn lieber für den Notfall bereit halten.“<br />

„Es ist wichtig. Admiral Nechayev will-“<br />

„Nechayev?”, fiel ihm Penkala ins Wort. „Von Nechayev ist<br />

dieses Ding?“<br />

23


Roe nickte. „Ich denke schon. Sie hat es Doktor Smith gegeben.“<br />

„Dann ist es verteufelt!“<br />

„Alex.“, sagte Dike leise. „Wenn es von Nechayev ist, sollten<br />

wir das Ding lieber laden. Die knüpft uns sonst auf.“<br />

„Schön, von mir aus.“, hob Penkala die Hände. „Tut, was ihr<br />

nicht lassen könnt.“ Er reichte das Gerät an Dike weiter, der<br />

bereits die Anschlüsse für die Energiezellen öffnete. „Aber du<br />

machst das.“ Umständlich kletterte Penkala aus dem Jeep. Er<br />

streckte sich und stöhnte. Dann marschierte er auf die dunkle<br />

Ebene zu.<br />

„He, wo willst du hin?“, rief Dike.<br />

„Ich muss mal für kleine Ausrüstungsoffiziere.“<br />

„Exzellente Idee! Verlasse in der Dunkelheit das Basislager.<br />

Warum malst du dir nicht noch eine Zielscheibe auf die Uniform?“<br />

Penkala drehte sich zu Dike um und hob die Arme. „Hast du<br />

Angst, die Steine fressen mich?“<br />

„Weniger die Steine, mehr die Unsichtbaren. Commander<br />

D’Agosta hat gesagt, wir sollen Nachts das Lager nicht verlassen.<br />

Außerdem weißt du, dass ich irgendwas da draußen gesehen<br />

habe.“<br />

„Was soll ich denn machen?“, fragte Penkala. „An eine der<br />

Kapseln pinkeln?“<br />

Eine Pause entstand. Die beiden Männer sahen sich an. Penkala<br />

schüttelte den Kopf. „Ich geh ja nicht weit. Unsichtbare -<br />

So ein Blödsinn.“<br />

„Nimm wenigstens eine Lampe mit!“, rief Dike hinterher.<br />

„Ne Lampe? Wozu denn eine Lampe? Ich muss ihn nicht suchen.<br />

Du etwa?“<br />

„Sicher ist sicher.“<br />

Penkala machte eine abfällige Geste und antwortete: „Damit<br />

mich auch ja alle beim Wasser lassen beobachten können,<br />

was? Du hast tolle Ideen, Dike. Tolle Ideen.“<br />

24


Er machte eine abfällige Geste und wandte sich dem nächtlichen<br />

Flachland hinter dem Lager zu.<br />

Stille lag über der Ebene. Penkala hörte nur das leise Zirpen<br />

einiger übergroßen Zikade in der Dunkelheit. Fast zu still hier,<br />

dachte er. Nein, das war Schwachsinn. Er lies sich doch von<br />

den Schauergeschichten eines primitiven Einheimischen nicht<br />

einschüchtern.<br />

Unsichtbare.<br />

So ein Quatsch!<br />

Trotzdem blieb Penkala unmittelbar hinter den Lagerfeuern<br />

stehen und starrte eine Weile auf die Lichtung hinaus. Er sah<br />

nichts. Das ganze Gelände lag still. Der benachbarte Planet<br />

stand voll am Himmel, von etlichen Regenwolken bedeckt.<br />

Wetterleuchten erhellten vereinzelt die Nacht. Aber kein Lüftchen<br />

regte sich. Gar nichts. Penkala schüttelte den Kopf und<br />

entfernte sich von dem Lager. Vielleicht zwanzig, dreißig Meter.<br />

Er entdeckte schließlich einen aufragenden Felsen, der ihm<br />

angenehm erschien und wählte ihn für sich aus. Er marschierte<br />

darauf zu. Und stolperte über einen Stein. Plötzlich kreischte<br />

vor ihm etwas auf. Penkala taumelte zurück und sah etwas<br />

schwarzes auf ihn zustürzen. Es drehte im letzten Moment ab<br />

und flog mit kräftig schlagenden Flügeln davon.<br />

Penkala fluchte. Einer dieser dämlichen, dreiköpfigen Vögel.<br />

Er hatte ihn aufgeschreckt. Penkala blieb stehen und lauschte.<br />

Der Vogel entfernte sich schnell, kreischte in der Ferne, bis<br />

die Geräusche ganz abstarben. Penkala wartete mit klopfendem<br />

Herzen und starrte den dunklen Felsen an. Schließlich gestand<br />

er sich ein, dass er sowieso keine Wahl hatte. Er war seit<br />

dem Absturz nicht mehr auf einer Toilette gewesen. Das waren<br />

jetzt ungefähr vierundzwanzig Stunden. Vierundzwanzig!<br />

Nun, vielleicht nicht ganz. Der Mond auf dem sie sich befan-<br />

25


den, hatte eine rasantere Rotationsgeschwindigkeit, als die Erde.<br />

Aber es war dennoch eine lange Zeit her.<br />

Der Druck in der Hose wurde einfach zu groß. Penkala setzte<br />

sich in Bewegung. Als er den Felsen erreicht hatte, hörte er<br />

sich noch einmal um und öffnete dann den Reißverschluss. Er<br />

seufzte noch einmal, während sich sein Körper entspannte. Ein<br />

kräftiger Strahl Urin rauschte gegen den Felsen. Kein Wunder!<br />

Was für eine Qual! Er hob den Kopf und sah in die dunkle<br />

Nacht hinaus. Und während er noch so dastand und pinkelte,<br />

hörte er das unmissverständliche Geräusch eines atmenden<br />

Lebewesens.<br />

Im Jeep sah Joseph Dike immer wieder über das Armaturenbrett<br />

und versuchte Penkala im Auge zu behalten. Er war nervös.<br />

Vermutlich nervöser als Penkala selbst.<br />

Was tat er nur? Wieso hatte er sich so weit vom Lager entfernt?<br />

Das war mehr als unvernünftig! Immer wieder sah Dike<br />

in die Richtung in der Penkala verschwunden war, direkt vor<br />

dem Jeep und wünschte sich, er würde endlich wieder auftauchen.<br />

Er war schon sehr lange weg. Mindestens ein oder zwei<br />

Minuten. Dike biss sich auf die Lippe und versuchte sich auf<br />

die Steckverbindungen in seiner Hand zu konzentrieren. Die<br />

Kabel hingen lose aus der Schalttafel des Beifahrers. Er probierte,<br />

sie mit der Energiezelle des Scannergeräts zu verbinden.<br />

„Das ist ein bisschen kompliziert in dem schummrigen<br />

Licht hier.“, erklärte er. „Ich sehe nicht richtig, welche Kabel<br />

ich in der Hand habe und könnte sonst was aktivieren. Wenn<br />

wir gleich einen Satz nach vorne machen, dann habe ich den<br />

Motorblock mit Energie versorgt anstelle ihres kleinen Kastens<br />

hier.“<br />

Sanitäter Roe hatte sich neben ihn auf den Fahrerplatz gesetzt.<br />

Er zog aufgrund Dikes Bemerkung lieber das Bein in die Fahrerkabine<br />

und schloss die Tür. Er bemerkte Dikes Nervosität.<br />

26


„Fürchten Sie die Skorpione, von denen D’Agosta erzählte,<br />

könnten angreifen?“<br />

„Nein.“, schüttelte Dike den Kopf. „Dieser Einheimische, A-<br />

thol, meinte die würden nur Tagsüber angreifen.“<br />

„Wieso?“<br />

Dike zuckte mit den Schultern und sah noch einmal auf. Keine<br />

Spur von Penkala. „Weiß nicht.“<br />

Warum jagten sie nur Tagsüber? Alle möglichen Erklärungen<br />

fielen ihm ein. Die Skorpione hatten vielleicht Angst vor den<br />

Sternenflottenleuten und dem Lager. Die Kapseln waren wie<br />

Meteoriten mit Getöse und Gepolter vom Himmel gekracht,<br />

vor so etwas mussten sich Tiere einfach ängstigen. Nachts<br />

wirkten die aufragenden Kapseln vielleicht nicht mehr so bedrohlich.<br />

Aber Dike befürchtete, dass die einfachste Erklärung<br />

auch die richtige war – dass das Gebiet in der Ebene das Territorium<br />

eines anderen Jägers wurde, sobald die Sonne unterging.<br />

Dass es Geruchsmarkiert und Verteidigt wurde. Aber<br />

wessen Territorium war es. Das dieser Unsichtbaren? Und wer<br />

waren die überhaupt?<br />

Roe rieb sich müde die Augen. „Was ist mit der Energie? Ich<br />

würde gerne schlafen gehen.“<br />

„Bin gleich soweit.“, sagte Dike.<br />

Penkala stand vor dem Felsen und machte keine Bewegung.<br />

Er hatte aufgehört zu urinieren und lauschte. Er hörte leise,<br />

schnaubende Atemgeräusche, wie die eines ruhigen Pferdes.<br />

Ein abwartendes Tier. Das Geräusch kam von links. Penkala<br />

drehte langsam den Kopf. Ganz langsam. Aber er konnte ü-<br />

berhaupt nichts entdecken. Der Planet schien matt auf die E-<br />

bene. Er sah links die Kapseln und den dunklen Umriss des<br />

Jeeps. Rechts nur eine offene Fläche und Gestrüpp.<br />

Sonst nichts.<br />

27


Er lauschte angestrengt und starrte. Das leise Schnauben dauerte<br />

an. Es war kaum lauter als eine schwache Brise. Dabei<br />

war es doch Windstill, die Büsche bewegten sich nicht. Oder<br />

vielleicht doch? Penkala hatte das Gefühl, dass irgend etwas<br />

nicht stimmte. Etwas direkt vor seinen Augen, etwas das er<br />

sah und doch nicht sah. Da er so angestrengt starrte, konnte es<br />

immerhin sein, dass seine Augen ihm einen Streich spielten.<br />

Da!<br />

Er glaubte von Rechts, bei einigen Farnwedeln eine Bewegung<br />

zu erkennen. Das Muster der Blätter schien sich im schwachen<br />

Planetenlicht zu verändern. Zu verändern und wieder zu stabilisieren.<br />

Penkala sah hoch, ohne den Kopf zu bewegen. Er<br />

drehte nur die Augen. Der Planet war durch eine Lücke in den<br />

Wolken gebrochen. Eine Lichtveränderung. Penkala konzentrierte<br />

sich wieder auf die Büsche. Er war sich nicht sicher, ob<br />

er wirklich etwas gesehen hatte. Er starrte angestrengt in diese<br />

Richtung. Und dabei merkte er, dass nicht die Büsche seine<br />

Aufmerksamkeit erregt hatten, sondern die Farnwedel. Sie besaßen<br />

ein spezielles Muster. Und irgendwas an diesem Muster<br />

war merkwürdig.<br />

Das Muster schien sich zu bewegen, schien schwache Wellen<br />

zu werfen. Penkala sah genau hin. Vielleicht bewegten sie sich<br />

ja wirklich, dachte er. Ein Tier, dass dagegen stieß, eine der<br />

Kellerasseln vielleicht. Aber das schien nicht zu stimmen, irgendwie.<br />

Es war etwas anderes.<br />

Plötzlich flammten die Scheinwerfer des Jeeps auf. Das Licht<br />

der Scheinwerfer fiel durch ein paar Büsche, die zwischen<br />

Penkala und dem Lager standen und warf ein unregelmäßiges<br />

Muster dunkler Schatten auf die Lichtung und die Büsche, die<br />

Penkala so verdächtig vorkamen. Und einen kurzen Augenblicklang<br />

– nur ganz kurz – sah Penkala, dass die Büsche eine<br />

merkwürdige Form hatten. Und dass es in Wahrheit zwei Tiere<br />

waren, beide aufrechtlaufend, über zwei Meter groß, die<br />

28


nebeneinander standen und ihn direkt anstarrten. Ihre Körper<br />

schienen sich wie Flickenmuster aus Hell und Dunkel überzogen<br />

zu haben, das sie vollständig an die Blätter hinter ihnen<br />

anpasste.<br />

Ihre Tarnung war perfekt – zu perfekt, bis das Licht aus den<br />

Scheinwerfern sie unvermittelt in Helligkeit tauchte. Mit angehaltenem<br />

Atem sah Penkala sich dieses Phänomen an. Und<br />

während er zusah, passten sich die Tiere an die neuen Lichtverhältnisse<br />

an. Sie verschwanden vor seinen Augen wieder.<br />

Und es ging schnell! So enorm schnell! Er musste sich sehr<br />

anstrengen, um die Umrisse ihrer Körper noch erkennen zu<br />

können. Es waren Chamäleons. Aber mit einer Verwandlungstechnik,<br />

wie Penkala sie noch nie bei einem Chamäleon gesehen<br />

hatte. Langsam wich er von ihnen zurück, trat hinter den<br />

Felsen. Sie folgten ihm. Und knurrten.<br />

Roe hatte nach Luft geschnappt, als der Motor aufgejault hatte<br />

und die Frontscheinwerfer aufgeglüht waren.<br />

„Tut mir leid.“, sagte, Dike. „Ich muss das falsche Kabel erwischt<br />

haben. In der Dunkelheit sieht man ja nichts.<br />

Roe antwortete nicht, was Dike dazu veranlasste, aufzublicken.<br />

Roe starrte dorthin, wo die Scheinwerfer hinleuchteten.<br />

„So etwas hat man in der ganzen Tierwelt doch noch nicht gesehen.“,<br />

murmelte er.<br />

„Was ist denn?“, fragte Dike. Er konnte nichts erkennen. „Ist<br />

es Penkala?“<br />

„Schauen Sie.“, sagte Roe. Sie starrten durch die Sichtscheibe<br />

hindurch.<br />

„Bei den Büschen? Was? Was gibt’s denn da zu-“<br />

„Schauen Sie!“, sagte Roe erneut.<br />

Sie starrten hinaus und Dike schüttelte den Kopf. „Tut mir<br />

leid.“<br />

29


„Fangen Sie unten bei den Büschen an.“, sagte Roe. „Und lassen<br />

Sie den Blick dann sehr langsam nach oben wandern.<br />

Schauen Sie genau hin. Dann sehen Sie den Umriss.“<br />

Er hörte Dike seufzen. „Wirklich nicht, nein.“<br />

„Schalten Sie das Licht aus und wieder an.“, sagte Roe. Etwas<br />

in seiner Stimme veranlasste Dike, keine weiteren Fragen zu<br />

stellen und seiner Aufforderung nachzukommen. Er löste das<br />

Kabel, der Motor erstarb, das Licht erlosch. Und einen Augenblick<br />

lang sah er deutlich die bleichen Körper. Beinahe sofort<br />

verschwand die Farbe, welche die Scheinwerfer auf sie<br />

geworfen hatten wieder.<br />

„Tatsächlich.“, sagte Dike. „Es sind zwei, nicht?“<br />

„Ja. Nebeneinander.“<br />

„Und die Farbveränderung verschwindet?“<br />

„Ja, sie verschwindet einfach.“ Sie sahen, wie die Tiere die<br />

Farben der Büsche hinter ihnen annahmen. Aber eine so komplexe<br />

Musterung legte nahe, dass der Aufbau ihrer Haut dem<br />

der Chromatophoren, wirbellosen Meerestieren ähnelte. Die<br />

Raffiniertheit der Schattierung, die Schnelligkeit des Wechsels<br />

deutete darauf hin.<br />

Dike atmete stoßweise. „Was sind das für Tiere?“, fragte er.<br />

„Chamäleons von unerreichter Verwandlungsfähigkeit.“, antwortete<br />

Roe. „Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es gerechtfertigt<br />

ist sie mit Chamäleons zu vergleichen, da die ja nur die<br />

Fähigkeit-“<br />

„Was sind sie?“, fragte Dike ungeduldig.<br />

„Ich weiß nicht. Beutejäger, denke ich.“<br />

Dike’s Augen weiteten sich. „Wo ist Penkala?“<br />

„Ist hinter den Felsen getreten. Was tun wir jetzt?“<br />

„Woher soll ich das wissen? Sehen Sie sich die Dinger an,<br />

diese Tiere wiegen sicher je fünfhundert Kilo. Und es sind<br />

zwei. Ich habe ihm gesagt, er soll nicht hinausgehen. Aber<br />

jetzt-“<br />

30


Roe runzelte die Stirn. Sie starrte zu den Tieren. Ihre leises<br />

knurren drang bis zum Jeep vor. Sie setzten sich langsam in<br />

Bewegung, hinter den Felsen, wo Penkala offenbar Schutz gesucht<br />

hatte. „Schalten Sie das Licht wieder an.“<br />

„Ich würde lieber-“<br />

„Licht an!“<br />

Dike hantierte nervös an den Kabeln herum. Er erwischte das<br />

Falsche, die Schalttafel vor ihm erwachte zum Leben. Er zog<br />

die Kabel wieder auseinander und verband andere. Das Licht<br />

ging an.<br />

„Aus!“<br />

Dike schaltete aus.<br />

„An!“<br />

Er schaltete wieder ein.<br />

„Sehen Sie.“, sagte Roe. „Das hat ihnen gar nicht gefallen. Es<br />

gibt eine Verzögerung bei ihrer Tarnung.“ Er stieg aus dem<br />

Wagen. „Haben wir Phaser?“<br />

„Nicht hier.“, sagte Dike.<br />

Roe sah zurück zum Lager, zu den anderen. Mindestens zehn<br />

Meter. Zu lange. „Haben wir Taschenlampen?“<br />

Dike öffnete eine Klappe zwischen den beiden sitzen und holte<br />

zwei Lampen heraus. „Was haben Sie vor?“, fragte Dike.<br />

„Wir.“, erwiderte Roe grimmig. „Wir.“<br />

Penkala stand mit dem Rücken an einer breiten Felswand und<br />

starrte nach vorn. Rechts von ihm hatte jemand das Licht des<br />

Jeeps an- und ausgeschaltet. Dann war es für eine Weile angeblieben.<br />

Nun war es wieder aus. Die Lichtung war jetzt<br />

wieder dunkel. Er hörte eine Bewegung, ein leises Rascheln.<br />

Und dieses Atmen. Und dann sah er die beiden Chamäleons,<br />

die ihm hinter den Felsen folgten. Das Muster ihrer Haut<br />

schien sich in der Bewegung zu verändern und es war schwierig<br />

sie nicht aus den Augen zu verlieren. Aber sie kamen di-<br />

31


ekt auf ihn zu. Jetzt senkten sie die Köpfe und spähten vorsichtig<br />

zur Felswand. Sie schnaubten und schnupperten. Die<br />

Schwänze bewegten sich langsam hin und her, wie bei einer<br />

Katze, die gleich angriff. Penkala hoffte, dass sie ihn vielleicht<br />

übersehne würden, wenn er sich nicht rührte. Doch dann bückte<br />

sich der eine und starrte ihn direkt an.<br />

Er kam auf ihn zu.<br />

Penkala hielt den Atem an und dachte nach, was er tun könnte.<br />

Waffen? Hatte er keine. Flucht? Die Biester waren vermutlich<br />

viel schneller als er und griffen bei der kleinsten Bewegung<br />

an.<br />

Plötzlich blitzten vor dem Basislager zwei helle Lichter auf.<br />

Die Lichtkegel bewegten sich, fielen auf die Körper der Chamäleons,<br />

wanderten unstet hin und her, wie Suchscheinwerfer.<br />

Die beiden Tiere waren plötzlich deutlich sichtbar und das gefiel<br />

ihnen ganz und gar nicht.<br />

Sie knurrten und versuchten den Lichtstrahlen auszuweichen,<br />

aber die Kegel bewegten sich ständig, sie folgten ihnen und<br />

huschten über ihre Körper. Wenn das Licht die Tiere traf,<br />

wurde die Haut bleich und reproduzierte die Bewegung der<br />

Strahlen, aber erst, nachdem das Licht schon weitergewandert<br />

war. Die Körper bekamen helle Streifen, wurden Dunkel und<br />

bekamen wieder helle Stellen. Die Tiere blinzelten, wurden<br />

immer erregter, wandten sich von Penkala ab und brüllten die<br />

Lichter an. Sie bewegten sich drohend ein Stück auf die Lichter<br />

zu. Aber das war nur ein halbherziger Versuch. Ganz offensichtlich<br />

behagten ihnen diese fielen sich bewegenden<br />

Lichter nicht. Nach einigen Augenblicken trotteten sie davon,<br />

die Lichter folgten ihnen und trieben sie vom Lager weg. Penkala<br />

setzte sich in Bewegung, ging schnell auf die Lichter zu<br />

und sah auf einmal Dike und Roe vor sich. Sie schwenkten<br />

Taschenlampen. Gemeinsam liefen sie in den schützenden<br />

Wall der Lagerfeuer zurück.<br />

32


Penkala schloss seine Hose und ließ sich gegen den Jeep<br />

plumpsen. „So viel Angst hatte ich in meinem ganzen Leben<br />

noch nicht.“, sagte er.<br />

Dike schüttelte den Kopf. „Und ich erst. Du hast sie doch<br />

nicht mehr alle!“<br />

„Joseph.“, mahnte Penkala mit kalter Stimme. „Reiß dich zusammen.“<br />

Er nahm eine Taschenlampe entgegen und legte sie<br />

wieder in das Fach in den Wagen.<br />

„Da rauszugehen war Wahnsinn.“, sagte Dike und wischte<br />

sich die Stirn. Er war schweißgebadet, die Uniform klebte an<br />

seinem Körper.<br />

„Nein, es war ein Volltreffer.“, erwiderte Roe und wandte sich<br />

an Penkala. „Wir konnten sehen, dass die Tiere bei der Hautreaktion<br />

eine gewisse Verzögerung zeigen. Sie reagieren zwar<br />

sehr schnell, verglichen zum Beispiel mit einer terranischen<br />

Krake, aber eine gewisse Verzögerung gibt es. Ich vermute,<br />

dass sich diese Tiere wie alle Tiere verhalten, die sich auf ihre<br />

Tarnung verlassen. Sie sind nicht besonders schnell oder aktiv.<br />

Sie stehen stundenlang bewegungslos in einer sich nicht verändernden<br />

Umgebung, verschmelzen mit dem Hintergrund<br />

und warten, bis ein argloses Beutetier vorbeikommt. Aber<br />

wenn sie sich dauernd an neue Lichtverhältnisse anpassen<br />

müssen, wissen sie, dass sie sich nicht mehr verstecken können.<br />

Sie bekommen angst und laufen weg. Genau das ist passiert.“<br />

Dike drehte sich zu Penkala und starrte ihn wütend an. „Das<br />

ist alles deine Schuld. Wenn du nicht einfach so mir nichts, dir<br />

nichts da rausgegangen wärst-“<br />

„Joseph!“ Penkala schnitt ihm das Wort ab. „Ich musste Wasser<br />

lassen! Bin auch nur ein Mensch, okay? Vierundzwanzigstes<br />

Jahrhundert und fortschrittliche Spezies hin oder her, aber<br />

Grundbedürfnisse hat mein Körper trotz allem noch. Woher<br />

33


soll ich denn wissen, dass da draußen menschenfressende<br />

Chamäleons rumlaufen?“<br />

Dike sagte nichts mehr. Er schmollte. Penkala drehte sich zu<br />

dem Sanitäter. „Danke Roe. Sie haben mir das Leben gerettet.“<br />

„Ist nichts persönliches, nur mein Job. Nun wissen wir<br />

wenigstens, worum es sich bei den Unsichtbaren handelt und<br />

können entsprechende Maßnahmen ergreifen. Ich werde<br />

D’Agosta gleich morgen früh unterrichten.“<br />

Penkala seufzte. „Riesenskorpione, Formwandler...“<br />

„Chamäleons.“, berichtigte Roe. „Formwandler sind wieder<br />

was anderes.<br />

„...Formwandler, Blutkatzen ... was kommt nur als nächstes?“<br />

Roe zuckte mit den Schultern und sah zur dunklen Ebene hinaus.<br />

„Wer weiß, was diese uns unbekannte Natur noch für Gefahren<br />

und Herausforderungen bereithält.“<br />

34


Nacht<br />

Athol deutete in eine bestimmte Richtung und sagte mit düsteren<br />

Unterton: „Gefährlich!“ Die Amphion hatten sich um die<br />

Pflege der Feuers um das Lager herum gekümmert. Athol war<br />

gerade damit beschäftigt gewesen weiteres Zündholz zu suchen,<br />

als D’Agosta vorbeigekommen war. Er hatte ihn angehalten.<br />

Nun folgte D’Agosta stirnrunzelnd seinem Blick.<br />

Athol zeigte auf einen Felsen hinter Rettungskapsel siebenundvierzig.<br />

Er sah genauso aus, wie alle anderen Felsen. Rot<br />

und Zerklüftet. Vielleicht ein bisschen größer und löchriger als<br />

die anderen.<br />

„Was... was ist daran gefährlich?“, fragte D’Agosta.<br />

„Das ist ein fressender Felsen.“, antwortete Athol nur. „Äußerst<br />

tückisch. Ihr müsst ihn meiden.“<br />

D’Agostas verwirrter Blick wechselte zwischen Athol und<br />

dem harmlosen Felsen. Nicht zum ersten Mal äußerte der<br />

Amphion düstere Warnungen, schien gleichzeitig aber nicht<br />

gewillt mehr zu verraten. Ob das aus Absicht geschah, oder ob<br />

er einfach erwartete, dass die Sternenflotte seinem Urteil folgte,<br />

konnte D’Agosta nicht sagen. Er seufzte, denn Allan war<br />

müde. Ihm gingen eine ganze menge Dinge durch den Kopf<br />

und er hatte momentan einfach keinen Nerv, um Athol alles<br />

aus der Nase zu ziehen. Also nickte er und sah sich nach einem<br />

anderen Sternenflottenoffizier um. Die meisten saßen zusammen<br />

in kleinen Gruppen. Manche hatten sich unter kleine,<br />

überhängende Felsen zurückgezogen und schliefen, mit den<br />

Decken aus den Notfallkisten bedeckt. D’Agosta erspähte<br />

schließlich Isaac.<br />

35


„Brenda!“, rief er. „Brenda.“<br />

Die bajoranerin schlug gerade ihre Decke aus, als sie ihn hörte.<br />

D’Agosta deutete auf den Felsen, den Athol ihm gezeigt<br />

hatte. „Die Leute sollen sich davon fernhalten.“<br />

„Was stimmt denn mit dem Gestein nicht?“<br />

„Sie sollen sich einfach fernhalten, ja? Leiten Sie das weiter?“<br />

„Sicher, mach ich.“<br />

„Danke sehr.“ Er berührte sie sanft an der Schulter und durchquerte<br />

dann das Lager bis er Crocker und Garnere an der Vorratskapsel<br />

antraf. Die beiden Offiziere hatten die übriggebliebene<br />

Ausrüstung zusammengetragen und sortiert. Garnere<br />

musterte D’Agosta geringschätzig. Allan wusste nicht wieso,<br />

aber offenbar hielt der Sicherheitsoffizier nicht sonderlich fiel<br />

von ihm und er machte auch keinen Hehl daraus. Crocker war<br />

so brummig wie immer. Allan fragte ihn: „Chief, haben Sie<br />

noch eine Decke für mich?“<br />

„Aye.“, sagte Crocker und begann kurz in den Sachen zu wühlen.<br />

Im gedimmten Licht der Leuchtstoffröhren, bemerkte<br />

D’Agosta, dass die Kapsel erstaunlich voll war. Es gab neun<br />

Kisten voller Wasserflaschen. Außerdem waren noch Notrationen<br />

vorhanden. Schokoriegel, Nusstüten und vakuumverpackte<br />

Nahrungsgerichte. Sie hatten keinen guten Ruf bei den<br />

Sternenflottencrews.<br />

D’Agosta überschlug im Kopf schnell die Zahlen. Bei siebenundvierzig<br />

Überlebende, die sie waren, würden die Vorräte<br />

nur wenige Tage ausreichen, dafür brauchte man kein Mathegenie<br />

zu sein. Daneben stapelten sich Waren des täglichen<br />

Bedarfs. Zahnpasta, Shampoo, Kämme und Bürsten, ein paar<br />

Kleidungsstücke wie Uniformjacken, rote und blaue Rollies<br />

und Winteroutfits, die ihnen hier draußen herzlich wenig nützten.<br />

D’Agosta entdeckte auch einen Erhitzer für die Notrationen,<br />

der auf die Wasserkisten gestellt worden war. Die Tür<br />

stand weit offen, Kabel hingen im Innern heraus. Das Fenster<br />

hatte Sprünge. Sonderlich viel war nicht übrig geblieben.<br />

36


„Beeindruckende Sammlung.“, sagte D’Agosta dennoch.<br />

Garnere schwieg.<br />

Crocker wühlte in den Kisten herum. „Ich sollte einen Deckenladen<br />

eröffnen und mich zur Ruhe setzen. Sind ziemlich<br />

gefragt die Dinger.“ Nach einer Weile wurde er fündig. Es war<br />

eine Sternenflottennotdecke, mit der Aufschrift „<strong>Star</strong>fleet USS<br />

Shenandoah“. Nicht besonders hübsch, aber wärmespendend.<br />

Die Oberfläche war überzogen mit kleinen, hitzespeichernden<br />

Noppen. Ideal für die kühlen Nächte.<br />

„Danke, Chief.“, sagte D’Agosta. „Gute Nacht.“<br />

„Nacht.“<br />

„Gute Nacht, Mr. Garnere.“<br />

Garnere zögerte. „Nacht.“<br />

Dann wanderte D’Agosta zu Rettungskapsel dreißig hinüber,<br />

in der sich Judy aufhielt. Es hatte keine Wiederworte gegeben,<br />

als Shannyn in der Gruppe vorgeschlagen hatte, dem Mädchen<br />

die Kapsel zur Übernachtung zur Verfügung zu stellen. Judy<br />

saß an die Wand gelehnt auf dem Boden, zwischen den Sitzen,<br />

und döste. Sie öffnete die Augen, als ihr Vater eintrat und die<br />

Luke hinter sich schloss. D’Agosta rollte das Laken im beengten<br />

Innenraum auf, setzte sich neben Judy und deckte sie beide<br />

zu. „Ist dir auch warm genug?“<br />

„Ja.“<br />

„Okay, gut.“<br />

Eine Pause entstand.<br />

„Brauchst du sonst noch was? Bist du hungrig?“<br />

„Nein.“<br />

„Durstig?“<br />

„Nein, Dad.“<br />

Eine weitere Pause.<br />

„Hör mal.“, sagte D’Agosta langsam. „Wegen dem, was Fowler<br />

vorhin sagte ... Mach dir keine Gedanken, ja? Es wird etwas<br />

länger dauern, aber wir kommen hier wieder weg.“<br />

„Ich weiß.“, sagte Judy nur.<br />

37


D’Agosta hob verwundert die Brauen. „So? Und warum bist<br />

du dir da so sicher?“<br />

Judy zuckte mit den Schultern. „Weil Shannyn das gesagt hat.<br />

Sie ist sich sicher, wir würden gerettet. Und ich glaube ihr.“<br />

D’Agosta legte die Stirn in Falten und musterte Judy. Er musste<br />

schmunzeln. Judy redete eindeutig mit ehrlichem Respekt<br />

von ihr, wenn sie ihren Namen aussprach. Und das war selten<br />

bei ihr, vor allem, wenn sie jemanden erst so kurze Zeit kannte.<br />

Eigentlich war Ashley Bowman die einzige Person, der Judy<br />

so viel Respekt entgegen brachte. Aber selbst da sprach sie<br />

nicht voller Ehrfurcht.<br />

„Shannyn, wie?“<br />

Judy nickte.<br />

„Verstehe.“ D’Agosta sagte nichts mehr. Er sah alle Anzeichen<br />

von Heldenverehrung. Und er war froh drüber. Ein Mädchen<br />

konnte schlimmeres tun, als eine Shannyn Bartez zu bewundern.<br />

Zumindest war sie keine Holovid-Darstellerin oder<br />

eine der vielen Rockstars, die auf zahlreichen Postern Judys<br />

Zimmer schmückten. Genaugenommen war es sogar erfrischend,<br />

dass Judy jemanden bewunderte, der keine Tattoos,<br />

keine Piercings und keine schwarzen Augenränder hatte, sondern<br />

jemanden, der taff und mutig war. Auch, wenn Shannyn<br />

für D’Agosta’s Geschmack zu mutig war.<br />

Nach einer Weile sagt Judy leise: „Dad?“<br />

„Ja?“<br />

„Tut mir leid, dass wir uns gestritten haben. Auf dem Schiff,<br />

meine ich. Ich wollte dir keinen Ärger bereiten.“<br />

Allan legte seinen Arm um Judy und drückte sie ein wenig an<br />

sich. „Ist schon gut. Du bist bisher die Einzige, die mir kein<br />

Kopfzerbrechen bereitet. Ich bin sehr stolz auf dich, Spätzchen.“<br />

„Und weswegen?“<br />

„Du schlägst dich ganz prima. Wie du mit den Amphion umgehst<br />

- das ist toll. Wirklich toll. Dank dir haben wir einen<br />

38


Verbündeten auf dem Mond gefunden. Weiß auch nicht so<br />

recht, aber wenn wir Erwachsenen etwas sagen, scheint Athol<br />

zu überzulegen, ob er uns überhaupt trauen kann. Aber wenn<br />

du etwas sagst, hören die Amphion zu. Für sie bist du unschuldig<br />

und Ehrlich.“ D’Agosta lächelte. „Du bist unser Verbindungsmann<br />

zwischen den Spezies.“<br />

Die Tatsache schien Judy zu gefallen.<br />

„Ich nehme an, wir werden die Amphion auch brauchen.“,<br />

seufzte D’Agosta. „Jedenfalls erhöht das unsere Chancen e-<br />

norm.“ Er lehnte seinen Kopf gegen die Wand. „Wir werden<br />

gerettet werden, Judy. Alles wird gut.“<br />

„Ich weiß.“ Sie schloss die Augen. Kurz darauf begann sie leise<br />

zu schnarchen. D’Agosta starrte noch eine Weile vor sich<br />

her, versuchte das Geschehene zu verarbeiten. Die Evakuierung,<br />

den Absturz. Und die Tatsache, dass ihnen der Rückweg<br />

abgeschnitten war und in der nächsten Zeit keine Rettung nahen<br />

würde. Nach einer Weile schloss er die Augen. Und<br />

schlief ein.<br />

Allan D’Agosta hatte in dieser Nacht einen sehr merkwürdigen<br />

Traum. Irgendwann drehte er den Kopf und sah, wie eine<br />

schemenhafte Gestalt in der Rettungskapsel stand. Eine Frau.<br />

Sie bewegte sich langsam, als wäre sie müde, oder ganz verträumt,<br />

während sie sich Ohrringe auszog. Sie stand von ihm<br />

abgewandt, aber D’Agosta konnte ihr Gesicht in der Spiegelung<br />

eines Schaltkastens sehen.<br />

Seine Frau.<br />

Deborah.<br />

Sie sah wunderschön aus, so wunderschön. Fast königlich. Ihre<br />

Gesichtszüge wirkten wie gemeißelt, stärker, als er sie in<br />

Erinnerung hatte, aber vielleicht lag es an der Dunkelheit. Und<br />

sie leuchtete. Eine Aura aus schwachem, blauen Licht schien<br />

sie zu umgeben.<br />

39


Allan lehnte noch immer an der Wand, mit Judy im Arm. Er<br />

hatte die Augen nur halb geöffnet, fühlte sich furchtbar<br />

schwach. Zu schwach um sich zu bewegen, zu schwach um zu<br />

begreifen, was geschah.<br />

Deborah lächelte, als sie sich umdrehte und kniete sich neben<br />

ihn. „Allan.“, sagte sie. Ihre Stimme klang fern und hatte einen<br />

merkwürdigen Nachhall. „Allan. Halte dich an die Tochter<br />

der Sterne.“ D’Agosta atmete schnell, kniff die Augen zu.<br />

„Deb ... Deborah?“<br />

„Die Tochter der Sterne, Allan.“ Sie wurde immer leiser, lachte<br />

und leuchtete noch immer. Die Deborah-Gestalt erhob sich<br />

sanft lächelnd und schwebte zum Eingang. D’Agosta wollte<br />

aufstehen und ihr folgen, aber er konnte seinen Körper nicht<br />

bewegen.<br />

Eine Schwere Müdigkeit hielt ihn fest, lähmte ihn förmlich. Er<br />

war so erschöpft, dass er kaum noch atmen konnte. Dieses<br />

bleierne Müdigkeitsgefühl nahm rasch zu und überwältigte<br />

sein waches Bewusstsein. Es war wie eine Ohnmacht.<br />

D’Agosta schloss die Augen und schlief ein.<br />

Draußen, vor der Kapsel der D’Agostas, stieß Antonio Garnere<br />

Fowler an. „He, alles in Ordnung?“, fragte er. Garnere hatte<br />

sich gerade zu einer der vorübergehenden Schlafstellen unter<br />

den Felsen begeben wollen, als er Fowler mit merkwürdigem<br />

Blick, inmitten des Lagers einfach dastehend und lauschend<br />

gesehen hatte.<br />

„Ich weiß nicht.“, antwortete Fowler. Er starrte angestrengt<br />

zur Ebene hinaus und schien dort irgendwas bestimmtes zu<br />

suchen. Aber nichts rührte sich. Alles war still. „Liegen hier in<br />

der Kapseln nicht D’Agosta und das Mädchen?“<br />

„Glaube schon. Warum fragst du?“<br />

„Mir war eben so, als hätte ich hinter der Kapsel etwas gesehen.<br />

Irgendein ... irgendein Licht. Eine ... eine flüchtige Er-<br />

40


scheinung, eine schemenhafte Bewegung. Als ich die Kapsel<br />

aber umrundete, war da nichts mehr und dann habe ich etwas<br />

aus den Augenwinkeln in der Ebene gesehen.“<br />

Garnere folgte seinem Blick. Nach einer Weile sagte er: „Also<br />

ich sehe nichts.“<br />

Fowler seufzte. „Ich glaube ich verliere allmählich den<br />

Verstand.“<br />

„Hast du längst.“ Aber Fowler lachte nicht über den Scherz.<br />

Ernsthafter fügte Garnere hinzu: „Du wirst dir was eingebildet<br />

haben. Das ist die Anstrengung, das ist die Hitze und das<br />

sind die Strapazen der letzten Tage. Wir spüren es alle.<br />

Komm, was du brauchst, sind ein paar Stunden Ruhe. Legen<br />

wir uns schlafen, T’Mir übernimmt die Nachtwache. Und<br />

morgen früh erklärst du mir dann, worüber D’Agosta, die<br />

Blondine und du dauernd tuscheln.“<br />

„Ja.“, sagte Fowler langsam. „Ja, ich glaube du hast recht.“ Er<br />

sah noch einmal zur Ebene und versuchte etwas zu entdecken,<br />

aber da war nichts. Gar nichts. Vielleicht habe ich es mir wirklich<br />

nur eingebildet, dachte er und wandte den Blick ab. Mit<br />

einem mulmigen Gefühl, begab er sich zu einer Gruppe von<br />

Sicherheitsoffizieren, die dicht gedrängt unter einem breiten,<br />

überhängenden Fels lagen.<br />

Fowler warf sich noch einige Male unruhig umher, ehe er einschlief.<br />

Im Lazarett rieb sich Doktor Smith die schmerzenden Augen<br />

und seufzte hinter der engen Arbeitsablage. Roe hatte ihr eben<br />

noch den aufgeladenen Handscanner vorbei gebracht, bevor er<br />

sich schlafen gelegt hatte.<br />

Bald würde Nechayev kommen und das Gerät abholen. Bis<br />

dahin hatte sie noch Ruhe. Schließlich deaktivierte Smith die<br />

kleine Lampe über der Arbeitsablage, erhob sich und sah nach<br />

41


ihren Patienten. Hallie hatte im Schlaf ihre Bettdecke weggetreten.<br />

Smith zog sie wieder hoch.<br />

Roe lag über den unebenen Sitzgelegenheiten ausgestreckt –<br />

eine zweifelsfrei unbequeme Unterlage. Dennoch war er beinahe<br />

sofort eingeschlafen und schnarchte nun leise vor sich<br />

hin.<br />

Hawk sah noch immer schlimm aus, aber er schlief tief und<br />

fest, sein Atem kam sanft und regelmäßig. Smith schob eine<br />

Kiste neben Hawk’s Bett, tastete nach seiner Hand und hielt<br />

sie feste. Und während sie sich setzte und an die Wand lehnte,<br />

begann sie seine Finger zu massieren.<br />

Sie seufzte.<br />

Draußen blitzte es.<br />

Smith wandte den Kopf zu den kleinen Fenstern und stellte<br />

sich vor, wie Nechayev dort draußen irgendwo auf sie wartete.<br />

Smith schüttelte den Kopf. Sie zwang sich, an etwas anderes<br />

zu denken, um endlich selbst ein wenig zu schlafen. Sie hatte<br />

es bitternötig. Dann spürte sie, wie Hawk den Druck auf ihre<br />

Hand im Schlaf erwiderte. Er fühlte sich warm an. Die Berührung<br />

tat erstaunlich gut. Schließlich und endlich fiel Smith in<br />

einen unruhigen Schlaf.<br />

42


Regen<br />

D’Agosta wachte auf, stützte sich auf den Ellenbogen und<br />

blinzelte in das helle Licht, dass durch die Kapselfenster hereinströmte.<br />

Er schaute hinaus und sah, dass der Himmel noch<br />

immer wolkenbehangen war. Diesmal sogar mehr, als in der<br />

Nacht.<br />

Es donnerte. Das herannahende Gewitter hatte ihn geweckt.<br />

D’Agosta schätzte, dass sie frühen Morgen hatten. Die meisten<br />

der anderen würden noch schlafen. Der Traum von letzter<br />

Nacht war ihm noch gut in Erinnerung. Er kam ihm ausgesprochen<br />

real vor, überhaupt nicht wie ein Traum. D’Agosta<br />

gähnte müde und sah dann neben sich. Judy befand sich nicht<br />

unter der Decke. Sie befand sich überhaupt nicht in der Kapsel.<br />

Die Luke war nicht ganz geschlossen, Judy musste bereits<br />

aufgestanden und nach draußen gegangen sein.<br />

Allein.<br />

Und plötzlich stieg Panik in D’Agosta auf. Sein Herz hämmerte.<br />

Er schlug die Decke zurück und öffnete die Luke, um nach<br />

draußen zu gehen. Obwohl der Tag wohl erst vor kurzem angebrochen<br />

war, war es bereits jetzt fürchterlich warm, im Gegensatz<br />

zur drastischen Kälte in der Nacht. Er glaubte sofort<br />

zu spüren, wie er schwitzte.<br />

D’Agosta sah sich um. Die meisten schliefen tatsächlich noch.<br />

Sie hatten sich in die restlichen Kapseln gezwängt, oder lagen<br />

in kleinen Einbuchtungen der großen Felsen und Steine.<br />

D’Agosta entdeckte Athol und die drei Amphion, wie sie innerhalb<br />

eines Felsens, dicht zusammengedrängt um eine<br />

43


Pflanze herum im Schneidersitz saßen und einen beruhigenden<br />

Gesang anstimmten.<br />

Alex Penkala und Joseph Dike lagen in dem Jeep Explorer,<br />

hatten die Füße auf das Armaturenbrett gelehnt und schlummerten<br />

vor sich hin.<br />

Dann entdeckte D’Agosta endlich Judy. Das Mädchen hatte<br />

sich nicht weit von ihrer Kapsel entfernt und stand nun auf einem<br />

kleinen Geröllhaufen, wo sie ihre Jacke ausschlug. Eine<br />

Staubwolke bildete sich um sie herum und verflog schnell in<br />

einer lauen Brise.<br />

Judy ging es gut. D’Agosta seufzte und lehnte sich erleichtert<br />

an die Kapsel. Es begann zu regnen. Hauchdünne Tropfen fielen<br />

zu Boden. Noch sehr schwach. Aber es konnte jeden Moment<br />

ein wahrer Wolkenbruch losbrechen, das spürte er.<br />

Ensign T’Mir war noch auf den Beinen. Sie hatte die Nachtwache<br />

übernommen, da sie wenig Schlaf benötigte und marschierte,<br />

nach Gefahren Ausschau haltend, durch das Lager.<br />

T’Mir war Vulkanierin, erst vor kurzem auf die Shenandoah<br />

versetzt worden aber schon jetzt legendär als diejenige, die<br />

Ronald Spiers regelmäßig mit ihrer stoischen Art vor den<br />

Kopf gestoßen hatte. D’Agosta kannte sie nur flüchtig von den<br />

Abteilungsbesprechungen und da hatte sie auf ihn immer einen<br />

sehr nüchternen, eben typisch vulkanischen Eindruck gemacht.<br />

Der Regen wurde stärker. D’Agosta trat einen Schritt von der<br />

Kapsel weg. „Judy-“<br />

Neben seinem Ohr zischte es. Er blieb stehen und sah auf seine<br />

Schulter. Etwas fraß sich durch den Stoff der Uniformjacke.<br />

Säure? D’Agosta runzelte die Stirn und sah nach oben, zu<br />

den drohenden Wolken. Er streckte die Hand aus. Ein Tropfen<br />

fiel darauf. Und fraß sich durch die Haut. Brennender Schmerz<br />

durchzuckte D’Agosta und er zog die Hand schnell weg,<br />

schüttelte sie aus.<br />

44


„O Nein!“, sagte er. Sein Herz begann zu hämmern. Und er<br />

schrie: „Säure! Alle Mann aus dem Regen, das ist Säure!“<br />

Judy drehte sich überrascht zu ihm um. In dem Moment erwischte<br />

sie einer der fadenartigen Tropfen im Nacken. Sie<br />

zuckte zusammen.<br />

Donner grollte, ein Platzregen begann. Allan wollte loslaufen,<br />

seine Tochter in Sicherheit bringen, als er plötzlich von jemandem<br />

an der Schulter gepackt und zurück in die Kapsel geschleudert<br />

wurde. Es war Shannyn, die noch in der gleichen<br />

Bewegung an ihm vorbeistürmte. Wie eine Marathonläuferin<br />

jagte sie mit unglaublicher Geschwindigkeit durch das Lager.<br />

Auf Judy zu.<br />

Dabei zog Shannyn schnell ihre Jacke aus. Die ersten Säuretropfen<br />

erwischten sie, zersengten ihr Haar und die Haut. Sie<br />

verzog keine Mine. Shannyn gab sich keine Mühe stehen zu<br />

bleiben, sondern packte Judy noch im Laufen, stülpte ihr die<br />

Jacke über und riss das Mädchen mit sich. Halb strauchelnd,<br />

halb laufend folgte Judy ihr. Das letzte Stück hob Shannyn sie<br />

hoch. Der Regen wurde stärker. Sie sprang und rollte mit Judy<br />

unter eine Fluchtkapsel. In dem Moment setzte der Wolkenbruch<br />

ein.<br />

Durch die offene Frontscheibe des Jeeps sah Penkala Shannyn<br />

mit dem Kind unter dem Arm durch das Lager rennen. Er<br />

blinzelte verschlafen und versuchte zu sich zu kommen. Der<br />

Regen wurde jetzt stärker, das Wasser tropfte von den Stangen<br />

des Jeeps.<br />

In der Entfernung donnerte es, ein Blitz zuckte grell zur Erde<br />

und erhellte davonfliegende, dreiköpfige Vögel. Penkala öffnete<br />

die Tür und wollte aussteigen, nachsehen, was denn los<br />

war. Unerwartet durchzuckte ein jäher Schmerz seinen Oberschenkel.<br />

Augenblicklich stank es nach verbranntem Fleisch.<br />

Was hatte D’Agosta eben gerufen?<br />

45


Säure?<br />

Säure!<br />

Ein oder zwei schreckliche Sekunden saß Penkala einfach da<br />

und betrachtete das entstandene Loch in seiner Hose. Es zischte.<br />

Dann begriff er das ganze Ausmaß der Katastrophe.<br />

„Dike!“, rief er. „Dike, verflucht, wach auf!“ Er stieß dem<br />

schlafenden Dike unsanft in die Rippen und sprang aus dem<br />

Wagen.<br />

Es regnete Säure!<br />

Es regnete verdammte Säure und sie saßen in einem Jeep ohne<br />

geschlossenes Dach!<br />

Dike krümmte sich zusammen und keuchte. „Was ist?“<br />

„Säure, das ist-“<br />

Der Säureregen erwischte Penkala. Seine Kopfhaut brannte,<br />

als stünden die Haare in Flammen. Penkala ließ sich geschockt<br />

fallen und kroch unter das Auto. Die Beifahrertür ging auf.<br />

Penkala drehte den Kopf und sah Dike’s Stiefel. Er stieg aus<br />

dem Auto aus.<br />

„Raus aus dem Regen!“, rief Penkala.<br />

„Die Solarzellen! Autsch! Wir müssen die Solarzellen schützen!“,<br />

erwiderte Dike, versuchte sich schnell und unter<br />

Schmerzen die Jacke auszuziehen und über die Zellen zu legen,<br />

die auf dem Dach montiert waren. Sie waren effektiver<br />

und weniger gebrechlich als die alten Fotovoltaikzellen. Sie<br />

waren sogar mit einer stoßabsorbierenden Vorrichtung versehen,<br />

für den Fall, dass der Jeep umstürzte. Aber Säure? Das<br />

würden sie nicht lange standhalten. Und dann hätten sie keine<br />

Energie für das Fahrzeug, oder die anderen elektrischen Geräte<br />

mehr.<br />

Penkala reagierte instinktiv. Er drehte sich zur Seite, streckte<br />

die Arme aus, umschloss beide Knöchel Dike’s und zog fest<br />

daran. Mit einem überraschten Aufschrei fiel Dike um und<br />

landete auf dem Boden. Penkala griff nach seinem Arm und<br />

zog ihn unter den Wagen. In dem Moment setzte der Sturzre-<br />

46


gen erst so richtig ein. Wäre Dike da drin gewesen, hätte es<br />

seinen Tod bedeutet. Dann zerriss ein fürchterlicher Schrei die<br />

Luft.<br />

Shannyn lag mit dem Gesicht im Sand, unter einer der Rettungskapseln.<br />

Einen anderen Zufluchtsort hatte es auf die<br />

Schnelle nicht gegeben. Die Luke war auf der anderen Seite<br />

gewesen – und jede Sekunde hatte gezählt. Sie versuchte auf<br />

alle Viere zu kommen, doch dafür war der Platz fast nicht ausreichend.<br />

Mit dem Rücken stieß sie bereits an die Kapselunterseite<br />

- die Kapseln standen auf den drei Bremsraketen und<br />

die waren gerade mal knapp fünfzig Zentimeter hoch. Jetzt<br />

starrte sie den Säureregen an, der auf die Erde niedersank, ihre<br />

Ausrüstung und die Blätter und Farnwiesen Millimeter um<br />

Millimeter auflöste. Pfützen bildeten sich auf dem trockenen<br />

Boden. Die Säure konnte nicht einfach absickern, dafür war<br />

das Gestein zu trocken. Und die Kapsel stand dummerweise<br />

auf einem kleinen Gefälle, die Säure begann auf sie zuzurinnen.<br />

Ein verdammtes Gefälle!<br />

Shannyn kroch mit Judy ein Stück zurück. Als nächstes hörte<br />

sie den Aufschrei. Irgendjemand war da draußen. Sie drehte<br />

sich im Sand und schaute vorn unter der Kapsel hervor. Und<br />

dann sah sie eine Vulkanierin, die noch versucht hatte sich in<br />

Sicherheit zu bringen, dabei aber viel zu langsam war. Judy<br />

drückte sich an sie und Shannyn legte ihr einen Arm um. Die<br />

Vulkanierin kam kreischend ins Straucheln und stürzte zu Boden.<br />

Die Säure hatte bereits große Teile ihrer Kopfhaut geschädigt.<br />

Nun fraß sie sich durch die Kleidung. Die Schmerzen<br />

mussten unerträglich sein. Und das waren sie offenbar<br />

auch, denn die so schmerzresistente Vulkanierin brach zusammen.<br />

Sie versuchte sich noch einmal verzweifelt aufzubäumen,<br />

stürzte und rührte sich nicht mehr.<br />

47


Der Regen wurde stärker. Ein kleiner Bach rann unter die<br />

Kapsel. Shannyn hob Kopf und Bauch, sodass die Säure unter<br />

ihr hindurchfließen konnte.<br />

Judy neben ihr zitterte. Shannyn war dagegen merkwürdig ruhig.<br />

Sie wusste, was zu tun war. Schnell drehte sie sich, ohne<br />

den kleinen Bach unter ihr zu berühren. Er wurde rasch breiter.<br />

In wenigen Sekunden hatten sie hier unten nicht mehr viele<br />

freie Flecken, wo sie bleiben konnten. Sie griff nach hinten,<br />

fand einen Hebel und riss daran, um die Notluke unter der<br />

Kapsel zu öffnen. Die Luke klappte nach innen auf. Shannyn<br />

kroch hin, spürte dabei, wie sie mit der Hose in die Säure geriet.<br />

Es zischte, während sich der Stoff langsam auflöste. Sie<br />

schob sich ein Stückchen vor, sah, dass die zweite, innere Luke<br />

von innen geöffnet wurde.<br />

Chief Crocker streckte Judy sofort die Hand entgegen.<br />

„Komm, Kindchen. Klettere hoch.“<br />

Das Mädchen machte ein paar Verrenkungen, um hinaufzukommen.<br />

Shannyn schob sie hinein, während Crocker ihr unter<br />

die Arme fasste und zog.<br />

Nun erreichte die Säure Shannyns Knie. Der Stoff löste sich<br />

auf, dann traf die Säure auf die Haut. Shannyn ignorierte den<br />

brennenden Schmerz, verzog nicht einmal das Gesicht. Sie<br />

schob Judy fester hoch, packte an die Ränder und hievte sich<br />

selber in die Kapsel hinein. Kaum hatte sie die Füße eingezogen,<br />

rann ein ganzer Bach unter der Kapsel hindurch.<br />

„Das war verteufelt Knapp!“, sagte Crocker. Er und sieben<br />

andere Leute standen im Innern der Kapsel, dicht gedrängt,<br />

und spähten nach draußen.<br />

Shannyn ignorierte ihn und kniete sich zu Judy. „Alles in Ordnung?“<br />

Sie nickte stumm und völlig bleich. Crocker hatte die Hauptluke<br />

offengelassen – ein paar Leuten war es gelungen, sich in<br />

letzter Sekunde hineinzuretten. Er ließ sie noch immer offen.<br />

Nun würde aber kaum noch jemand hineinkommen. Judy sah<br />

48


hinaus und erspähte ihren Vater in der anderen Rettungskapseln.<br />

Besorgt sah er zu ihr, versuchte auf die Entfernung herauszufinden,<br />

ob es ihr gut ging. Er rief etwas, aber Judy<br />

verstand ihn nicht. Der Regen war zu laut. Es trennten sie vielleicht<br />

nur zehn, zwölf Meter von ihrem Vater und dennoch<br />

war er unerreichbar. Sie kam sich verlassen vor, fürchterlich<br />

verlassen. Ihr Herz schlug feste.<br />

„Ich will nach Hause.“, sagte Judy.<br />

Shannyn seufzte und schlang ihre Arme von hinten um Judys<br />

Taille. „Ich weiß.“, sagte sie. „Das wollen wir alle.“<br />

Der Regen wurde stärker.<br />

Über die ganze Ebene ging ein sintflutartiger Wolkenbruch<br />

nieder. Die Säure trommelte auf das Dach des engen Notlazaretts<br />

neben dem Jeep. Rhonda Smith hob den Kopf und hoffte,<br />

dass das Dach halten würde. Sie hörte es überall zischen.<br />

Säure!<br />

An was für einem entsetzlichen Ort waren sie nur gelandet?<br />

Eine Windböe blies einen Schwall Säureregen in das Lazarett<br />

hinein. Rhonda sprang erschrocken zurück und stieß die Eingangsluke<br />

zu. Sie tastete nach dem Schließmechanismus, aber<br />

die Kontrolltafel blieb dunkel. Die Tasten reagierten nicht.<br />

Keine Energie.<br />

„Cooper, kann man diese Luke abschließen?“<br />

Sie hörte Coopers schläfrige Stimme aus einer Ecke. „Das Leben<br />

ist ein Kristall.“, sagte er.<br />

„Cooper. Versuch dich zu konzentrieren.“<br />

Dann war der soeben erwachte Roe neben ihr. Seine Hände<br />

bewegten sich an der Tür hinab. „Es ist hier unten.“, sagte er<br />

Augenblicke später. Rhonda hörte ein metallisches Klicken<br />

und trat einen Schritt zurück. Die Tür war zu. „Wie kann das<br />

nur sein?“<br />

49


Smith nahm den Tricorder aus dem Halfter und klappte ihn<br />

auf. Das Piepen des Gerätes erklang nur leise, die Energiezellen<br />

arbeiteten im Sparmodus. Bunte Zahlenreihen und Diagramme<br />

liefen über den kleinen Bildschirm. „Das ist saurer<br />

Regen, in einer Konzentration, wie ich sie noch nie gesehen<br />

habe. Fast über fünfzig Prozent Säuregehalt im Niederschlag –<br />

einfach unglaublich!“<br />

Roe sah durch das Fenster hinaus. Und riss die Augen auf.<br />

„Sehen Sie, dort drüben! Jemand hat es nicht geschafft.“<br />

„Wo? Ich kann nicht... Ja, jetzt sehe ich es.“<br />

Eine Gestalt lag auf dem Boden. Die Uniform war halb weggeätzt,<br />

große Teile der Haut fehlten ebenfalls und offenbarten<br />

rotes Fleisch. Der Regen wurde allmählich wieder schwächer.<br />

Rhonda ging zu Hawk, der noch immer auf dem Bett lag. Der<br />

Regen prasselte gegen das Fenster über seinem Kopf. Das<br />

Glas qualmte. Hawk sah der Säure seelenruhig zu. „Ziemlich<br />

laut, was?“<br />

Neben ihm stand geöffnet ein Erste-Hilfe-Koffer. Eine Spritze<br />

lag auf dem Kissen. Wahrscheinlich hatte er sich selbst eine<br />

weitere Dosis Morphium injiziert. Rhonda seufzte.<br />

Plötzlich und unvermittelt hörte der Regen fast vollständig<br />

auf. Nur noch vereinzelte Tropfen nieselten hauchdünn zur<br />

Erde.<br />

Smith schnappte sich den Erste Hilfe-Koffer. „Wir müssen<br />

jetzt schnell handeln.“, sagte sie zu Roe.<br />

„Ich habe keine Eile.“, sagte Hawk gelassen.<br />

„Holen Sie den medizinischen Tricorder und den Hautregenerator.<br />

Nein, dort drüben in der Kiste, der andere funktioniert<br />

nicht. Ja, genau der. Wie viel Energie ist noch drin?“<br />

Roe sah nach. „Drei Balken.“<br />

Drei Balken. Wenn dort draußen noch mehr dieser Säure ausgesetzt<br />

waren, würde das kaum reichen. „Nehmen Sie Morphium<br />

mit!“ Sie öffnete die Türverriegelung.<br />

50


„Du redest so schnell.“, sagte Hawk. „Weißt du, Rhonda, du<br />

solltest dich wirklich ein bisschen entspannen.“<br />

Als Roe Doktor Smith nach draußen folgte, hörte der Regen<br />

vollkommen auf. Die Säure hatte eine Spur der Verwüstung<br />

hinterlassen. Der Boden qualmte, die Kapseln qualmten, einfach<br />

alles qualmte. Und der Gestank! Ein furchtbarer Gestank<br />

lag in der Luft.<br />

Bei jedem Schritt auf der dampfenden Erde zischten Roes<br />

Stiefel. Die Säure fraß sich schnell durch den Boden, sickerte<br />

allmählich ab, löste zuvor aber noch einen Teil des Gummis<br />

seiner Sohlen auf.<br />

„Bleibt noch drin!“, rief er den Leuten zu, die in den Kapseln<br />

oder unter Felsen geschützt standen. Er suchte schnell die<br />

Umgebung ab. Etliche verdutzte und oder schockierte Augen<br />

folgten ihm aus Felshöhlen, oder Metallunterständen, auf seinem<br />

Weg durch das Basislager. Die Frau auf dem Boden<br />

schien die einzig ernsthaft Verletzte zu sein. Ein Glück, dass<br />

sie noch alle geschlafen hatten!<br />

Und alle unter Überhängen und Dächern. Smith lies sich neben<br />

der Frau auf den Boden fallen. Roe kniete sich auf die andere<br />

Seite. Der Stoff an seinen Knien zischte. Er klappte den<br />

Medizinkoffer auf und betrachtete die Frau – T’Mir. Sie sah<br />

furchtbar aus. Als hätte man ihr Haut und Fleisch vom Leib<br />

gerissen. Und ein Teil der Säure war noch immer damit beschäftigt,<br />

ihren Körper zu zerstören. Doch das Schlimmste<br />

war, dass sie noch lebte. Und sich bewegte. Ein fürchterliches<br />

Wimmern drang über ihre Lippen.<br />

„Wir müssen sie trocknen!“, sagte Smith und zog sich hastig<br />

die Jacke aus. Jetzt hatte sie keine Zeit für Sorgfalt und Geduld.<br />

Jede Sekunde zählte. Sie drückte den Stoff auf das blanke<br />

Fleisch der Frau. Die Vulkanierin zuckte zusammen und<br />

schrie auf.<br />

51


„Morphium!“, fauchte Smith. „Geben Sie ihr endlich Morphium!“<br />

Roe griff mit zitternden Händen nach der Spritze, stieß<br />

sie in den Oberarm – was davon übrig geblieben war. Das<br />

Morphium wirkte sofort. Der Schrei verklang.<br />

Alynna Nechayev stand vor einer Höhle und lauschte. Ein<br />

furchtbarer Schrei war in einiger Entfernung zu hören. Er verklang<br />

allmählich. Dann herrschte wieder Stillte.<br />

Alles war ruhig. Zu ruhig. Aber vielleicht war das auch nur<br />

der starke Kontrast zum lauten Prasseln des Regens vorhin.<br />

Nechayev stand noch eine Weile einfach da, blickte zu den<br />

Hügeln, hinter denen sich irgendwo das Basislager in der sichelförmigen<br />

Bergkette befand. Sie schätzte, dass sie sich etwa<br />

drei Kilometer entfernt hatten. Vielleicht weniger. Schließlich<br />

drehte sie sich zu Nottingham um. Der schwarzgekleidete<br />

Mann stand noch immer in der Höhle, in der sie sich jüngst<br />

vor dem Regen verborgen hatten und sah sie emotionslos an.<br />

„Hört sich an, als hätten sie Probleme.“<br />

„Sie kommen klar.“, sagte Nechayev, schien davon aber wenig<br />

überzeugt zu sein. Sie ging zurück zu Nottingham und nahm<br />

ihm den Scanner aus der Hand. Auf dem Monitor war eine<br />

Karte zu sehen und auf ihr ein blinkendes X, das eine bestimmte<br />

Position markierte.<br />

Ein kleines Fenster auf dem Bildschirm mit der Aufschrift<br />

„aktive Systeme“ zeigte die Batterieladung, die Leistung der<br />

Zellen und den Verbrauch der letzten Stunden. Die Balken<br />

leuchteten noch grün. Trotzdem arbeitete das Gerät nicht einwandfrei<br />

und hatte Aussetzer. Nechayev fürchtete, dass der<br />

Scanner beim Absturz was abbekommen hatte. Plötzlich kam<br />

von dem Gerät ein schrilles Piepen. Ein Gitter legte sich über<br />

die Karte, auf dem eine dreieckige Markierung mit der Beschriftung<br />

ERSTGRUP aufblinkte, unmittelbar danach aber<br />

wieder verschwand.<br />

52


„Das Signal ist schwach.“, sagte Nottingham.<br />

Nechayev schüttelte den Kopf. „Das Signal ist stark genug,<br />

um den Kenncode zu übermitteln. Das sind sie, Ian, keine Frage.<br />

Und die Tatsache, dass das Signal noch immer sendet, obwohl<br />

Omega im Orbit zerstört wurde, gibt mir Hoffnung. Sieht<br />

aus, als würde das Signal von der Hügelkette dort drüben<br />

kommen.“<br />

Sie war weit entfernt, tief in der Ebene. Ein ordentlicher Fußmarsch.<br />

Vielleicht würden sie es aber noch vor Anbruch der<br />

Nacht schaffen, wieder zurückzukehren.<br />

Plötzlich erklang erneut ein Schrei aus der Richtung des Lagers.<br />

Diesmal leiser, aber nicht minder Schmerzerfüllt und<br />

schrecklich. Auch diesmal erstarb er recht schnell wieder.<br />

Dann Stille.<br />

Nechayev drehte besorgt den Kopf.<br />

„Sollen wir umkehren?“, fragte Nottingham.<br />

Einige Sekunden lang überlegte Nechayev nur. Dann deaktivierte<br />

sie das Gerät und hielt es hoch. „Nein, Ian. Das hier ist<br />

wichtiger. Viel wichtiger als alles andere. Die kommen alleine<br />

klar.“<br />

„Gut.“, sagte Nottingham. „Gehen wir.“ Er trat aus der Höhle<br />

hinaus und marschierte los. Nechayev sah noch einmal zurück<br />

und folgte ihm dann.<br />

Die Leute trauten sich wieder aus ihren Verstecken. Die Befürchtung,<br />

dass der Regen wieder einsetzen konnte, trat nicht<br />

ein. Während Allan D’Agosta durch das Lager rannte, sah er,<br />

wie sich zwei Männer unter dem Jeep hervorschoben. Penkala<br />

und Dike. Es ging ihnen offenbar gut. Sie blickten sich entsetzt<br />

um und sorgten sich dann um den Wagen. Das Metall<br />

war stark angesengt, der Jeep sah aus, als wäre er unter einer<br />

besonders heißen Sonne einfach geschmolzen. D’Agosta<br />

53


kümmerte sich nicht weiter darum. Er sah Chief Crocker aus<br />

der Kapsel steigen.<br />

„Judy?“, fragte D’Agosta.<br />

„Wir sind hier drüben.“, antwortete Shannyn. Er entdeckte die<br />

Beiden in der Kapsel. Shannyn sah etwas lädiert aus. Die Haut<br />

im Gesicht war gerötet, die Uniform an vereinzelten Stellen<br />

ein wenig von der Säure zerfressen. Sonst ging es ihr gut. Judy<br />

schien überhaupt nichts zu fehlen.<br />

D’Agosta schloss seine Tochter feste in die Arme und sah zu<br />

Shannyn auf. „Ich muss mich wohl ein weiteres Mal bei ihnen<br />

bedanken.“<br />

„Lassen wir es nicht zur Gewohnheit werden.“<br />

„Wir brauchen Hilfe!“, rief plötzlich Roe, irgendwo hinter ihnen.<br />

T’Mir lag auf dem Boden, krümmte sich vor Schmerz<br />

und zuckte unkontrolliert. Sie erlitt einen Schock. Shannyn<br />

zögerte keine Sekunde und lief zu dem Sanitäter und der Ärztin<br />

rüber. „Was soll ich tun?“<br />

Smith reichte ihr abgerissene Tuchstreifen. „Drücken Sie das<br />

auf ihr Fleisch. Aber achten sie darauf, nicht mit der Haut in<br />

Berührung zu kommen. Schnell, schnell!“ Sie sah auf. „Wir<br />

brauchen Wasser. Haben wir Wasser?“<br />

Crocker war sofort neben ihr. „Leitungswasser der Notrationen?“<br />

„Nein, steriles Wasser.“, sagte Smith, nahm weitere Tuchstreifen<br />

entgegen, die man ihr reichte und presste sie auf T’Mirs<br />

Wunden. „Was ist mit dem Destilationsapparat?“<br />

„Hat über die Nacht kaum etwas hergegeben.“<br />

Smith schnaufte. Sie wusste, dass sie es nicht schaffen würden.<br />

Für Verätzungen diesen Grades bräuchten sie dringend<br />

fließendes Wasser, aber davon stand ihnen nichts zur Verfügung.<br />

Durch pures Abtrocknen und Abtupfen war T’Mir nicht<br />

geholfen, aber Smith würde nicht aufgeben. „Komm schon.<br />

Komm schon!“ Sie sah auf. „Roe, holen Sie das sterile<br />

54


Brandwundenverbandsmaterial aus dem Notfallkoffer. Alles,<br />

was wir haben.“<br />

Der Sanitäter lief los. Aber es war bereits zu spät, alles, was<br />

sie tun konnten – und taten -, genügte nicht. Bei weitem nicht.<br />

T’Mirs Körper zuckte noch einmal. Dann erschlaffte die Vulkanierin<br />

endgültig. Das wirklich grauenvolle daran war, dass<br />

sie durch ihre vulkanische Schmerzresistenz nicht das Bewusstsein<br />

verloren hatte und so gezwungen war, alles bis zum<br />

Schluss mitzukriegen. Niemand sprach. Sie standen alle um<br />

T’Mir herum und schwiegen. Smith erhob sich, bitter dreinschauend<br />

und trat ein paar Schritte zurück. „Sonst geht’s allen<br />

gut?“<br />

Nicken.<br />

„Wir hatten Glück.“, murmelte Crocker.<br />

„Glück?“ Fowler war kreideweiß. „Das Glück hat uns in dem<br />

Moment verlassen, als wir hier gestrandet sind, Chief. Ich<br />

meine, das war grade ein verdammter Säureregen. Wie kann<br />

das überhaupt sein?“<br />

„Ich bin nicht hundertprozentig sicher.“, sagte Smith. „Aber<br />

der Mond ist nur ein Randgänger der Klasse-M. Wenn bestimmte<br />

Gebiete des Mondes radioaktiv verseucht sind, was<br />

anzunehmen ist – vielleicht wegen der Untergrundstrahlung,<br />

die ich feststellte -, dann ist ein säurehaltiger Niederschlag<br />

nichts ungewöhnliches. Aber in dieser Form habe ich das noch<br />

nie erlebt.“ Smith drehte sich zu Athol. Der Amphion war sofort<br />

herbeigeeilt, um zu helfen. Nun starrte er mit einer Mischung<br />

aus Trauer und Entsetzen auf den Leichnam. „Passiert<br />

das häufiger?“<br />

„In dieser Region nur selten.“, schüttelte Athol eifrig den<br />

schweren Schädel. „Aber der brennende Regen ist jedes Mal<br />

sehr heftig, zerstört unsere Felder und kündigt die baldige<br />

Sturmzeit an. Der starke Wind bringt die Wolken aus den tödlichen<br />

Zonen zu uns. Wir leben in Steinen. Dort sind wir sicher.<br />

Die Steine schützen uns.“<br />

55


„Zerstört das nicht dauerhaft die ganze Flora?“, fragte Smith.<br />

„Die Pflanzen?“ Sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie<br />

nach einem solchen Niederschlag die Vegetation erblühen<br />

konnte, Tiere mussten automatisch weiterreisen, die betroffenen<br />

Gebiete würden sicher für lange Zeit zur entvölkerten und<br />

unbewohnbaren Dürre. Wenn dies eintraf, standen ihre Chancen<br />

bei dem gegenwärtigen Standort der Kapseln noch<br />

schlechter, als ohnehin schon, dann mussten sie zwangsläufig<br />

weiterziehen.<br />

„Nein, die Natur hier ist sehr wiederstandsfähig.“, antwortete<br />

Athol. „Die meisten Pflanzen wiederstehen dem brennenden<br />

Regen. Das Feuerkraut wächst schnell nach. Man kann fast<br />

dabei zusehen.“<br />

D’Agostas Herz hämmerte so stark in der Brust, dass er befürchtete,<br />

es könne explodieren. Sein Atem kam stoßweise<br />

und er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Da lag sie vor<br />

ihm – T’Mir.<br />

Eben noch quicklebendig und nun...-<br />

Er spürte Blicke auf sich ruhen. Blicke von Leuten die von<br />

ihm erwarteten, dass er kluge Befehle gab, ihnen gut zuredete,<br />

ihnen Mut machte. Aber er konnte es nicht. Sowohl das eine,<br />

als auch das andere. Er war einfach nicht der richtige Mann<br />

dafür. Allan brauchte dringend Hilfe.<br />

Hilfe in Form von-<br />

D’Agosta runzelte die Stirn. „Wo ist Admiral Nechayev? Hat<br />

jemand Admiral Nechayev gesehen?“<br />

Niemand sagte etwas.<br />

Inzwischen war Crocker eine Decke aus dem Vorratslager holen<br />

gegangen und deckte nun T’Mirs Leichnam zu. D’Agosta<br />

seufzte und fragte noch einmal: „Hat denn niemand Admiral<br />

Nechayev gesehen?“<br />

„Die ist heute Früh wieder losgezogen.“, wusste Garnere. „Mit<br />

ihrem Begleiter.“<br />

„Wohin?“<br />

56


Garnere deutete in eine unbestimmte Richtung. „Dort drüben.<br />

In Richtung dieser Felsformationen in der Ebene, denke ich.<br />

Keine Ahnung, was die da will.“<br />

„Die Sache stinkt zum Himmel.“, grunzte Fowler. „Nechayev<br />

ist laufend mit diesem Typen weg. Sie schert sich offenbar einen<br />

Dreck um uns.“<br />

Deutlich Unruhe ergriff D’Agosta. Er eilte zu Penkala. „Wie<br />

sieht’s aus?“<br />

Der Lieutenant untersuchte den Jeep und schnitt dabei kein<br />

allzu glückliches Gesicht. „Es hat das Gummi der Reifen erwischt.“,<br />

sagte er. „Das Hartgummi ist auf der Bodenseite ein<br />

wenig aufgelöst. Die Räder sehen aus, wie Eier. Eine Fahrt mit<br />

dem Jeep dürfte nun etwas holprig werden. Das heißt, wenn er<br />

überhaupt noch anspringt.“<br />

Dike, der hinter dem Steuer saß, betätigte in diesem Moment<br />

den Anlasser. Stotternd sprang der Motor an. Die Maschinen<br />

des Jeeps surrten.<br />

„Er springt an.“, sagte er.<br />

„Das Energielevel?“, fragte Penkala.<br />

„Ahm, sieht ganz gut aus. Was meinst du, ist es schlimm?“<br />

Penkala stellte sich auf das Trittbrett und sah sich die Solarzellen<br />

an. Bei einigen waren die dunkelblauen Scheiben vollständig<br />

weggeätzt. Andere waren durch Dikes Jacke gerade so geschützt<br />

worden. Sie hing nun nur noch in Fetzen auf dem<br />

Dach. „Könnte schlimmer sein.“, sagte Penkala nach einer<br />

Weile. „Ich schätze etwa die Hälfte der Solarzellen ist im Eimer.<br />

Jetzt müssen wir erst recht achtsam sein.“<br />

„Für eine Fahrt brauche ich Sie aber.“, sagte D’Agosta.<br />

„Ach so?“<br />

„Wären Sie so freundlich und würden nach Nechayev suchen?“<br />

Penkala starrte D’Agosta an. Er sagte nichts. Allan deutete zu<br />

den Hügeln in der Ebene. „Sie ist etwa in diese Richtung ge-<br />

57


gangen. Zu Fuß. Sie kann also noch nicht weit gekommen<br />

sein.“<br />

„D’Agosta, diese Frau hat uns auf dem Schiff zurückgelassen.<br />

Ich hoffe aufrichtig, der Teufel holt sie.“<br />

„Penkala, bitte. Ich brauche sie hier. Dringend!“<br />

„Wir sollten ohnehin eine Probefahrt machen.“, sagte Dike<br />

nach einer Weile.<br />

Ein knurren. „Okay, fein.“, lenkte Penkala ein. „Fahren wir.<br />

Ist ja ihre Entscheidung. Aber ich sag’s ihnen, D’Agosta; die<br />

Frau wird uns noch gewaltige Probleme bereiten. Ich weiß es<br />

einfach.“<br />

„Ich komme mit.“ Eugene Roe schnallte sich eine Arzttasche<br />

um und wollte einsteigen, wurde aber von Penkala aufgehalten.<br />

„Sie fahren nirgendwohin.“<br />

„Wenn Nechayev verletzt ist-“<br />

„Bringen wir ihre Leiche zurück. Sie sind unser einziger Mediziner,<br />

Roe. Ich lasse nicht zu, dass Sie auch noch draufgehen.“<br />

Roe blinzelte verwirrt. „Aber ich bin nicht der einzige-“<br />

Penkala vergewisserte sich, dass die Ärztin ihn nicht hörte, als<br />

er sagte: „Smith traue ich nicht so recht. Die steckt mit Nechayev<br />

unter einer Decke, oder was war das vorhin mit dem<br />

Scanner?“<br />

Roe sagte nichts.<br />

„Sehen Sie?“, fragte Penkala. Er stieg ein.<br />

„Hier.“, sagte D’Agosta und reichte ihm einen Tricorder. „Sie<br />

könnten ihn brauchen. Aber die Energie-“<br />

„Ist begrenzt, ja. Ist doch ständig dasselbe.“<br />

Dike umklammerte das Lenkrat. Vorsichtig fuhren sie los.<br />

58


Ramina<br />

Dike runzelte die Stirn. Es war einfach komisch ein Fahrzeug<br />

zu steuern, das so leise war. Das lauteste Geräusch war das<br />

Knirschen der Reifen auf dem sandigen Untergrund. Wenn sie<br />

langsam fuhren, war praktisch gar nichts zu hören.<br />

Der Jeep hüpfte ein wenig. Aber es war nicht so schlimm. Die<br />

Reifen waren nicht so stark beschädigt, wie zunächst angenommen.<br />

Penkala, der neben ihm saß, starrte auf den Tricorder.<br />

„Und?“<br />

„Ich bekomme nichts.“, sagte Penkala. „Funktioniert wohl<br />

nicht.“<br />

„Du musst etwas geduld haben. Liegt vielleicht auch an der<br />

Energie.“<br />

„Apropos.“, sagte Penkala und nickte zum Armaturenbrett.<br />

Dort blinkte ein Kontrolllämpchen auf. Das Fahrzeug hatte auf<br />

Batteriebetrieb umgeschaltet. Die Solarzellen waren leer, der<br />

Himmel noch Wolkenbedeckt. „Wie läuft’s?“, sah Penkala<br />

nun auf. „Funktionieren die Batterien?“<br />

„Alles bestens. Könnte schlimmer sein.“<br />

Penkala grunzte. „Kaum vorzustellen.“ Der Explorer raste an<br />

den Hügeln vorbei, auf die Ebene zu.<br />

Ein Summen lag in der Luft, wie von einer entfernten Biene.<br />

Ramina drang das Geräusch allmählich ins Bewusstsein, wäh-<br />

59


end sie langsam wieder aufwachte. Sie öffnete die Augen und<br />

sah die angesengte, grüne Haut ihres Unterarms.<br />

Das Summen wurde lauter. Ramina wusste nicht, wo sie war.<br />

Sie konnte sich auch nicht erinnern, wie sie hierher gekommen,<br />

was passiert war. Sie spürte einen Schmerz in den Schultern<br />

und in der Hüfte. Hinter ihrer Stirn pochte es. Sie<br />

versuchte sich zu erinnern, aber der Schmerz lenkte sie ab,<br />

ließ sie nicht klar denken. Das letzte, woran sie sich erinnerte,<br />

war der plötzliche Wolkenbruch, der ihren Arm angesenkt<br />

hatte. Das war das Letzte.<br />

Dann hatte Dorak gebrüllt und–<br />

Ramina drehte den Kopf und schrie auf, als sie ein plötzlicher,<br />

scharfer Schmerz den Rücken hoch bis in den Hals zuckte, so<br />

heftig, dass es ihr den Atem verschlug. Sie schloss die Augen<br />

und verzog das Gesicht. Dann öffnete sie sie wieder. Ramina<br />

befand sich in einer kleinen Höhle. Irgendwie musste es ihr<br />

gelungen sein, sich in Sicherheit zu begeben.<br />

In der Ferne hörte Ramina wieder das Summen, wie von einer<br />

riesigen Biene. Es war ein mechanisches Geräusch, das erkannte<br />

sie jetzt.<br />

Etwas mechanisches.<br />

Die Shenandoah, fiel ihr ein. Wie spät war es überhaupt? Es<br />

war hell. Die tief hängenden Wolken klarten sich langsam auf,<br />

entblößten einen orangeroten Himmel. Wieder hörte sie das<br />

Summen. Es kam näher. Mit Mühe stieß sich Ramina von der<br />

Wand ab, an der sie angelehnt war und beugte sich vor. Elektrisierender<br />

Schmerz schoss ihr Rückrat entlang, ließ aber<br />

schnell wieder nach. Sie atmete tief durch.<br />

Ich bin in Ordnung, dachte sie. Ich lasse mich nicht unterkriegen.<br />

Stöhnend richtete sie sich auf und sah sich um. Die Höhle war<br />

gar keine Höhle. Und sie war froh drüber. Die erste hatte ihr<br />

nämlich gereicht und genug Ärger verursacht. Nein, es war<br />

diesmal keine Höhle, in der sie sich befand. Mehr eine kleine<br />

60


Einbuchtung in einen Fels. Gerade hoch genug um aufrecht zu<br />

stehen und tief genug, um sich darin vor Säureregen in Deckung<br />

zu bringen. Hinter dem Höhleneingang ging es eine<br />

Hügelflanke hoch. Sie war mit Moos und roten Pflanzen bedeckt.<br />

Leider entdeckte Ramina auch hier weder Früchte, noch<br />

Beeren.<br />

Ihre Magen knurrte.<br />

Sie drehte sich weiter. Und dann sah sie ihn neben sich in der<br />

Höhle. Dorak lag auf dem Rücken, den Kopf zur Wand. Er<br />

rührte sich nicht. Dorak sah tot aus. Ramina stöhnte, als sie<br />

sich herabbückte um seinen Puls zu fühlen. Es war unnötig,<br />

denn sie sah, wie sich Doraks Brustkorb leicht hob und senkte.<br />

Er lebte also doch noch. Das Summen war plötzlich sehr laut,<br />

es kam schnell näher und als Ramina den Kopf hob, sah sie<br />

oben auf dem Hügel ein Jeep, der in weniger als zehn Metern<br />

Entfernung an ihr vorbeifuhr. Ein Jeep! Und zwar einer der<br />

Sternenflotte. Und dann war der Wagen auch schon wieder<br />

verschwunden.<br />

Dem Geräusch nach zu urteilen war es ganz eindeutig ein<br />

Sternenflottenfahrzeug. Sie wusste, dass die Shenandoah welche<br />

an Bord gehabt hatte. Ein großer Truck und mehrere kleine<br />

Geländefahrzeuge. Schnell, wendig und robust. Es musste<br />

also noch weitere Überlebende der Katastrophe geben. Ramina<br />

stellte erstaunt fest, dass sie die Vorstellung anderer Menschen<br />

auf dem Mond beruhigte. Obwohl sie sich selbst eher<br />

als Einzelgängerin betrachtete, schöpfte sie dadurch neuen<br />

Mut.<br />

„Dorak. Dorak.“ Ihre Zunge tat weh. Sie schmerze beim Sprechen.<br />

Dorak reagierte nicht. Er blieb liegen. Erst jetzt sah Ramina,<br />

dass sein Rücken und seine Kopfhaut nicht grade gut<br />

aussahen. Er musste länger als sie in der Säure gewesen sein.<br />

Sie band sich ihre Jacke um die schlanke Hüfte und streckte<br />

die Arme aus, umfasste Dorak und legte ihn ächzend über ihre<br />

Schulter.<br />

61


Der Cardassianer war schwer!<br />

Egal.<br />

Ramina ließ sich nicht aufhalten. Mit zusammengebissenen<br />

Zähnen trat sie aus der Höhle heraus. Es war heller, als sie<br />

dachte. Ein dunkles, orange-rotes hell, aber ein Hell. Ramina<br />

schaffte es trotz dem enormen Gewicht auf ihrer Schulter den<br />

Hügel hoch. Dort angekommen, sah sie sich um. Von dem<br />

Jeep fehlte jede Spur. Er musste hinter einer Anhöhe verschwunden<br />

sein. Aber wo war er hingefahren? Oder von wo<br />

war er gekommen? Jetzt erinnerte sich Ramina an die Kapseln,<br />

die sie Tags zuvor hatte runterkommen sehen. Wenn sie<br />

sich nicht täuschte, waren sie dort runtergekommen, von wo<br />

der Jeep gekommen war. Es musste ganz in der Nähe sein. In<br />

ein, oder zwei Kilometern Entfernung. Vielleicht in dem Tal,<br />

vor der Ebene. Das war ihr Ziel. Sie rückte Dorak zurecht und<br />

marschierte los.<br />

Im Haus war es vollkommen still. Draußen ging die Sonne unter.<br />

Der Rasensprenger war an, zischte und klickte.<br />

Sie lebten abgeschieden, außerhalb der Stadt. Der Abend war<br />

sehr friedlich. Fayar hatte eine Tasse Kaffee in der Hand und<br />

sank im Zimmer seiner Tochter auf einen Stuhl, den er erst<br />

von diversen Kleidungsstücken befreien musste. Fayar war erschöpft.<br />

Die siebzehnjährige Ramina hingegen verfügte offensichtlich<br />

über schier unerschöpfliche Energie. Sie warf sich<br />

unzufrieden dreinschauend auf das Bett und schüttelte heftig<br />

den Kopf. „Sie ist keine von uns, Dad.“, sagt sie. „Kommt einfach<br />

nicht mit uns klar. Mit der orionischen Art.“<br />

„Sie kommt nur mit dir nicht klar, Ramina, weil du ihr Steine<br />

in den Weg wirfst.“<br />

„Du weißt, dass sie nicht zu uns passt. Du willst es nur nicht<br />

zugeben.“<br />

„Ramina, sie ist deine Mutter!“, sagte Fayar. „Wir sind eine<br />

62


Familie, egal wer welche Hautfarbe hat, ist das klar?“<br />

Ramina schnaubte, verschränkte die Arme und starrte geradeaus.<br />

„Ich weiß nicht warum du dir das von ihr gefallen lässt,<br />

ich werde es jedenfalls nicht tun!“<br />

„Sie hat jedes Recht dir Hausarrest zu geben.“<br />

„Die Sache geht sie gar nichts an.“, beharrte Ramina.<br />

Allmählich verlor Fayar die Geduld. Knurrend stand er auf<br />

und deutete mit dem Finger auf Ramina. „Du hast eine Mitschülerin<br />

windelweichgeprügelt! Schon wieder! Was ist nur<br />

los mit dir?“<br />

Ramina richtete sich auf und durchdrang ihren Vater mit einem<br />

besonders wütenden Blick. „Sie hat mich aufgrund meiner<br />

Herkunft gehänselt und es gar nicht anders verdient.“<br />

„Musst du immer nur kämpfen?“<br />

„Müssen wir immer nur fliehen?“, hielt Ramina entgegen.<br />

Fayar seufzte. Er wirkte plötzlich sehr alt. „Früher haben wir<br />

uns nie gestritten.“<br />

Ramina sagte nichts.<br />

„In letzter Zeit sind wir alle ganz schön angespannt. Schon allein<br />

aufgrund der häufigen Umzüge, schätze ich. Wir müssen<br />

uns einfach wieder mehr Zeit füreinander nehmen.“<br />

„Dad, komm mir doch nicht mit so einem Scheiß.“<br />

„Ramina ...“<br />

„Tschul-di-gung. Aber du kannst ruhig vernünftig mit mir reden,<br />

statt sie die ganze Zeit in Schutz zu nehmen. Sie kommt<br />

mit unserem Temperament nicht mehr klar und verliert allmählich<br />

die Nerven. Ihretwegen mussten wir doch von Andoria<br />

fliehen – wo es wenigstens nicht ganz so schlimm war, wie<br />

hier -, oder wer hat sich dort zu auffällig benommen? Ich weiß<br />

genau, dass du denkst, sie verliert die Kontrolle.“<br />

„Das denke ich nicht.“<br />

„Sie ist einfach nicht grün genug für-“<br />

„Schluss jetzt!“, sagte Fayar entschieden. „Ich will kein Wort<br />

mehr darüber hören. Dafür bin ich wirklich nicht in der Stim-<br />

63


mung. Du wirst jetzt vernünftig mit ihr reden, ist das klar?“<br />

„Dad-“<br />

„Ist das klar?“ Bevor Ramina eine Antwort geben konnte, war<br />

er durch die Tür verschwunden. Ramina hörte sie im Flur reden,<br />

konnte aber nicht verstehen, was sie besprachen. Es dauerte<br />

nicht lange, bis sich die Tür erneut öffnete. Diesmal trat<br />

ihre Mutter ins Zimmer. Mutter, dachte Ramina verächtlich.<br />

„Hi, Schatz.“, sagte Melissa und kam zögerlich herein. Fayar<br />

folgte ihr, als eine Art strenger Aufseher, der darauf achtete,<br />

dass nichts aus dem Ruder lief. Ramina sagte nichts.<br />

Melissa kniete sich vor sie. „Warum hast du dich mit deiner<br />

Mitschülerin geprügelt?“<br />

Stille.<br />

Schweigen.<br />

Melissa seufzte. „Schatz, bitte. Rede mit mir.“<br />

Noch immer nichts.<br />

„Ach, Ramina. Du bist immer so verflucht stark.“<br />

„Dad-“<br />

„Du brauchst deinen Vater gar nicht so anzugucken. Wir wissen<br />

ja, dass er dir alles erlaubt. Jetzt rede aber ich mit dir.“<br />

„Eine Premiere.“, zickte Ramina.<br />

Diese Art der Interaktion zwischen ihr und ihrer Mutter war<br />

immer mehr zur Gewohnheit geworden. Vielleicht war das bei<br />

Kindern in Ramina’s Alter normal, erst recht, wenn man ihr<br />

gemischtes Genom bedachte und unter welchen Umständen<br />

sie aufwuchs, aber Fayar hielt es für besser, sich einzumischen.<br />

Melissa war müde und wenn sie müde war, wurde sie<br />

streng und allzu autoritär, um der rebellischen und trotzigen<br />

Art Ramina’s entgegenzuwirken. Um überhaupt eine Chance<br />

zu haben. Aber das führte nur dazu, dass sich beide noch mehr<br />

auseinander lebten. Er legte ihr einen Arm um die Schulter.<br />

„Es ist spät. Wir sollen morgen darüber diskutieren.“<br />

„Bitte, mich dich nicht ein.“, sagte Melissa. „Ramina, so kann<br />

es nicht weitergehen. Ich will doch nur dein Bestes.“ Bei die-<br />

64


sen Worten lachte Ramina humorlos. „Wir haben nur uns.“,<br />

fuhr Melissa fort. „Sonst nichts. Das darf nicht zerbrechen.<br />

Nicht auf diese Art. Aber du lässt mich seit einer ganzen Zeit<br />

schon gar nicht mehr an dich ran. Und ich fürchte, eines Tages<br />

wird dich deine Gefühlskälte in große Schwierigkeiten bringen.“<br />

„Ja, menschliche Gefühle.“<br />

„Hättest du mehr davon, würdest du deine Mitschüler nicht<br />

verprügeln.“, entgegnete Melissa verärgert. Nun sprang Ramina<br />

auf. Sie ballte die Fäuste. „Du hast gut reden, du bist völlig<br />

menschlich und stehst nicht zwischen den Stühlen, wie ich das<br />

tue. Ich bin grün, die einzige Orionerin in einer Menschenkolonie,<br />

die mein Volk nur als Sklavenmädchen kennen und<br />

mich gleichermaßen behandeln. Vielleicht habt ihr beide euch<br />

wirklich geliebt – müsst ihr schon, um die Schwierigkeiten in<br />

Kauf zu nehmen, in denen wir jetzt stecken. Aber bei meiner<br />

Zeugung habt ihr nicht einen Funken eures Verstandes eingesetzt.<br />

Was bin ich Mutter? Sag es mir! Mensch? Sicher nicht.<br />

Orion? Vielleicht. Aber wir sind nicht auf dem Orion, richtig?“<br />

Für eine Weile sahen sich beide nur an. Als Melissa antwortete,<br />

sprach sie sehr leise. „Ich bin sicher, dort willst du nicht<br />

hin, Ramina.“<br />

„Nein, du willst nicht dort hin!“, zischte Ramina wütend.<br />

„Weil du dort nicht willkommen wärst, genau wie ich es hier<br />

nicht bin. Mein Vater ist grün. Ich bin grün. Aber du ... du bist<br />

Mensch und wegen dir bin ich eine Außenseiterin und ein e-<br />

wiger Flüchtling.“ Sie sprang wütend auf. „Ich hasse dich!“<br />

Ramina lief ins Badezimmer und knallte die Tür zu.<br />

„Wenn ich’s ihnen doch sage, es ist alles okay.“, äußerte Fowler<br />

verärgert. Er schwitze in der erdrückenden Hitze des Tages.<br />

Fowler stand an eine der Kapseln gebeugt. „Sehen Sie?<br />

65


Die Haut ist unverletzt.“ Er streckte die Hand aus. Ein geröteter<br />

Halbkreis war zu erkennen, wo die Säure seine Haut berührt<br />

hatte. Das war alles.<br />

Roe, der neben ihm stand erwiderte: „Ja schon, aber ihr Ohr<br />

blutet ein wenig.“<br />

„Ich spüre nichts. Also kann es nicht so schlimm sein.“<br />

„Nein, schlimm ist es nicht.“, sagte Roe und öffnete den Erste-<br />

Hilfe-Koffer. „Aber wir sollten die Wunde besser säubern.“<br />

„He, Fowler!“, rief Garnere aus einiger Entfernung. „Ist ja ne<br />

tödlich erscheinende Wunde.“ Er lachte und ging weiter.<br />

Er lachte Fowler aus!<br />

„Schnauze, Garnere. Und besorg mir was zu essen. Doc, es<br />

wäre mir wirklich lieber, wenn Sie mich in Ruhe lassen würden.“<br />

„Hören Sie nicht auf den Spott ihres Kollegen.“<br />

Fowler schnaufte. „Quatsch. Garnere und ich sind gute Freunde,<br />

fast wie Brüder. Nein, ehrlich. Ich würde nur gerne wieder<br />

zu meinem Gewehr zurück. Hören Sie, ich weiß was ich tue.<br />

Ich habe AR558 überlebt. Ich habe Ajilon Prime überlebt. Ja,<br />

ich habe sogar die Zerstörung der Sutherland überlebt.“<br />

„Sie waren auf Ajilon Prime?“, fragte Roe.<br />

„War ich. Und in einem Dutzend anderer Bodenkämpfe, aber<br />

ich habe sie alle überlebt. Was ist der Grund, dass ich hier stehe,<br />

während sich viele andere gute Offiziere das Atmen abgewöhnten?<br />

Vielleicht liegt’s daran, dass ich besser bin. Oder<br />

ich habe einfach Glück. Auch diese Tarkon und der Riesenskorpion<br />

haben mich nicht umgebracht.“<br />

„Was Sie nicht sagen.“<br />

„Jedenfalls, die kleine Wunde am Ohr tut das auch nicht. Ich<br />

glaube deshalb-“<br />

„Es ist nur so.“, sagte Roe. „Dass Sie ein wenig Vogelscheiße<br />

am Ohr haben und die Haut dort an ein paar Stellen geritzt ist.<br />

Ich werde Sie nur schnell säubern.“ Er tränkte eine Gazekom-<br />

66


presse mit Desinfektionsmitteln. „Brennt vielleicht ein bisschen.“<br />

„Vogelscheiße? Verflucht, was ist das nur für ein – Autsch!“<br />

„Nicht bewegen.“, sagte Roe. „Dauert nur eine Sekunde.“<br />

„Ja, ja.“<br />

„Halten Sie still, ich hab’s gleich. So.“ Er nahm die Kompresse<br />

vom Ohr. Fowler sah braune Flecken und eine hellrote<br />

Schliere. Eine banale Wunde.<br />

Aber Vogelmist?<br />

Er spähte knurrend in den Himmel hinauf, während Roe den<br />

Erste Hilfe-Koffer wieder zusammenpackte. „Es wird furchtbar<br />

heiß hier, nicht wahr?“, sagte er seufzend.<br />

„Wird es. Hey, Doc, wie geht’s den anderen?“<br />

„Keine ernsten Wunden oder Verletzungen. Bis auf... – Na ja.<br />

Haben Sie T’Mir gekannt?“<br />

„Nur vom Sehen. Ich hatte kaum etwas mit ihr zu tun, weil sie<br />

in der Nachtschicht arbeitete. Die hat-“ Plötzlich runzelte er<br />

die Stirn und sah sich um. „Was war das?“<br />

„Was war was?“<br />

„Dieses Geräusch. Haben Sie es nicht gehört?“<br />

„Nein.“, sagte Roe.<br />

Fowler sprang auf und sah zu dem weit entfernten Hang an<br />

den Hügeln. Er horchte eine Weile. Roe zuckte mit den Schultern.<br />

„Ich höre nichts. Was glauben Sie denn, was es-“<br />

„Psst.“ Fowler streckte den Kopf und horchte angestrengt.<br />

Kurz darauf drehte er sich wieder um. „Ich hätte schwören<br />

können, dass ich einen Hilferuf gehört habe.“<br />

„Einen Hilferuf?“ Auch Roe war sofort auf den Beinen. Er sah<br />

sich um. Niemand im Lager sah aus, als würde er Hilfe<br />

gebrauchen. Und da draußen an dem Hügel konnte er nichts<br />

außergewöhnliches erkennen. Sie sahen die Hügelflanke mit<br />

ihren dichten, roten Büschen und Pflanzen, die den Säureregen<br />

erstaunlich gut überstanden hatten. Alles war vollkommen unbeweglich.<br />

Es war nicht das geringste Zeichen von Aktivität<br />

67


zu erkennen. Sie horchten noch einmal, hörten aber nichts.<br />

„Doch, da drüben.“, sagte Fowler plötzlich. „Schauen Sie genau<br />

hin.“<br />

Durch die Blätter sah Roe kurz schwarzen Stoff aufblitzen,<br />

dann noch einmal. Er erkannte, dass es eine Person war, die<br />

halb gehend, halb rutschend die steile Hügelflanke herunterkam.<br />

Eine kleine, kompakte Gestalt, dunkle, schulterlange<br />

Haare.<br />

„Ist das Nechayev?“, fragte Roe.<br />

„Seit wann ist Nechayev grün?“, fragte Fowler. „Nein, das ist<br />

Ramina.“<br />

Das Lazarett war gefüllt. D’Agosta schob sich im beengten<br />

Innenraum an den Patienten vorbei, bis er zu Doktor Smith gelangte.<br />

Die Ärztin kniete auf dem Boden und behandelte die Knie eines<br />

Fähnrichs aus der Frachtabteilung, der sich am Säureregen<br />

angeätzt hatte. D’Agosta nahm erleichtert zur Kenntnis, dass<br />

alle nur kleine, kaum gravierende Verletzungen davon getragen<br />

hatten. Die meisten davon zugezogen, als die Leute unvorsichtig<br />

das verätzte Material berührt hatten. Gerötete Haut,<br />

ein paar Verbrennungen ersten Grades, ansonsten hatten sie<br />

tatsächlich enormes Glück gehabt. Zumindest, wenn man die<br />

Umstände betrachtete.<br />

Endlich erreichte er Smith. Sie behandelte gerade eine verbrannte<br />

Hand. Isaac, der die Hand gehörte, lächelte D’Agosta<br />

schief an und zuckte mit den Schultern.<br />

„Wie sieht’s aus?“, fragte D’Agosta.<br />

„Wir haben soweit alles unter Kontrolle.“<br />

Smith tränkte einen kleinen Schwamm und rieb damit über die<br />

geröteten Stellen von Hallies Hand. Roe übernahm die anderen.<br />

Es sah tatsächlich so aus, als hätten die Ärzte momentan<br />

keine Schwierigkeiten.<br />

68


„Okay, gut. Das freut mich wirklich zu hören. Hm, ich bin a-<br />

ber noch aus einem anderen Grund gekommen. Und zwar, um<br />

nach Admiral Nechayev zu fragen.“<br />

Smith sah auf. „Nach Nechayev? Warum nach Nechayev?“<br />

„Seit wir auf dem Mond strandeten, ist der Admiral ständig<br />

außerhalb des Basislagers unterwegs. Da ist es nicht sicher.“<br />

„Sie hat Nottingham dabei.“, seufzte Smith und widmete sich<br />

wieder Isaac’s Wunden. „Ihr kann gar nichts geschehen, glauben<br />

Sie mir.“<br />

„Nun, schön, aber was macht sie dort draußen?“<br />

„Wie kommen Sie darauf, dass ausgerechnet ich darüber bescheid<br />

weiß, Allan?“<br />

„Weil Nechayev jedes Mal bei Ihnen war, wenn sie zurückkehrte.“,<br />

sagte D’Agosta. „Sie muss doch irgendwas gesagt<br />

haben.“<br />

„Nein, nichts. Hat sich nur nach dem Zustand der Leute erkundigt.“<br />

Smith klang ausweichend. D’Agosta seufzte. Er<br />

musste Nechayev also erneut zur Rede stellen, dieses mal richtig<br />

und konsequent.<br />

Leider kannte er sich selbst aber zu gut um zu wissen, dass er<br />

ihr kaum auf diese Art – standhaft und konsequent – begegnen<br />

würde. Immerhin war sie ein vorgesetzter Offizier, Geheimniskrämerei<br />

hin oder her. Vielleicht hatte sie ja sogar allen<br />

Grund dazu. Er schüttelte den Kopf. Ihm fehlte einfach diese<br />

Gradlinigkeit, wie sie Shannyn gezeigt hatte. D’Agosta wollte<br />

gerade aus dem Lazarett hinaustreten, entschied sich dann aber<br />

noch einmal dagegen und wandte sich erneut Smith zu. „Doktor,<br />

gab es in den vergangenen Stunden Meldungen über ...“,<br />

er suchte nach dem richtigen Wort. „... über Halluzinationen?<br />

Einbildungen?“<br />

Smith runzelte die Stirn. „Nein, keine. Wieso?“<br />

„Ich hatte heute Nacht einen merkwürdigen Traum.“<br />

„So?“<br />

69


„Er war wirklich sehr merkwürdig. Kam mir auch gar nicht<br />

vor, wie ein Traum. Ich dachte, es könnte sich vielleicht um<br />

eine Art Halluzination gehandelt haben.“<br />

„Sie sagten, Sie hätten im Camp der Amphion bei einem bestimmten<br />

Ritual mitgemacht. Haben Sie dort möglicherweise<br />

bewusstseinserweiternde Stoffe zu sich genommen?“<br />

„Drogen?“<br />

Smith zuckte mit den Schultern. „Bei vielen indianischen und<br />

afrikanischen Stämmen ist das Normal. Wir begegneten auch<br />

anderen Kulturen mit ähnlichen Ritualen.“<br />

„Hm, nein, nicht, dass ich wüsste.“<br />

„Sonst etwas außergewöhnliches gegessen, oder getrunken?“<br />

„Nichts außer den Notrationen.“<br />

Smith überlegte. „Was haben Sie denn geträumt?“<br />

„Nun, ich-“<br />

Plötzlich schwang die Luke auf und ein aufgeregter Fowler<br />

rief: „Wir haben jemanden gefunden.“<br />

„Na dann holen wir sie doch besser ab.“ Shannyn griff im Basislager<br />

neben der Ausrüstungskapsel nach einem Gewehr und<br />

drehte sich zu Athol. „Sind Skorpione unterwegs?“<br />

„Vielleicht.“, sagte der Amphion.<br />

Fowler seufzte. „Super. Noch mehr böse Viecher.“<br />

„Bewaffnen Sie sich.“, sagte Shannyn und drehte sich zu<br />

D’Agosta, der gerade aus dem Lazarett trat. „Allan, bleiben<br />

Sie hier bei der Gruppe. Kümmern Sie sich um die Leute. Wir<br />

holen diese Ramina ab.“<br />

Und damit marschierte sie los.<br />

Schwer atmend trat Ramina aus dem Blattwerk auf die Ebene.<br />

Wenigstens konnte sie jetzt erkennen, wo sie war. Zufrieden<br />

stellte Ramina fest, dass sie den Leuten in dem notdürftigen<br />

70


Sternenflottenlager nicht entging. Sie blieb stehen. Versuchte<br />

erneut um Hilfe zu rufen. Aber ihre Stimme blieb weg, die<br />

Kehle war zu trocken.<br />

Eine kleine Gruppe löste sich von den aufgeregten Leuten und<br />

kam auf sie zu. Sie waren noch weit entfernt. Schwer atmend<br />

sah Ramina zum dunkel behangenen Himmel hoch. Sie wusste<br />

nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber schließlich fühlte sie<br />

sich stark genug, um ihre Beine wieder zu bewegen, ohne umzukippen.<br />

Sie nahm all ihre Kraft zusammen und rückte Dorak<br />

auf ihrer Schulter zurecht. „Wir haben es gleich geschafft.“,<br />

keuchte sie, obgleich der Cardassianer noch immer Bewusstlos<br />

war und sie nicht hören konnte. Mühsam setzte Ramina ihren<br />

Weg fort, kam den Sternenflottenoffizieren entgegen. Ein<br />

Fuß nach dem anderen.<br />

Ein Fuß, nach dem anderen.<br />

Wie ein Roboter, schleppte sie sich einfach vor, ohne darüber<br />

nachzudenken, was sie eigentlich tat. Die Offiziere kamen näher.<br />

Ramina versuchte schneller zu gehen und gelangte ans Ende<br />

ihrer Kräfte. Ihre Beine wurden plötzlich zu Gummi und<br />

knickten ein. Ramina ging in die Knie. Der reglose Körper<br />

Dorak’s rutschte ihr wie ein nasser Sack von der Schulter und<br />

fiel in den Sand. Raminas Augen verengten sich, nun lag sie<br />

auf allen Vieren. Die Schritte der Offiziere wurden lauter, sie<br />

näherten sich schnell.<br />

„Hier drüben!“, rief irgendjemand. Ein Mann. Fowler. Sie<br />

kannte ihn irgendwoher. Wahrscheinlich aus einem früheren<br />

Leben.<br />

„Los, bringen wir sie in das Lazarett.“ Ein Schatten fiel über<br />

Ramina. Sie war zu schwach, um zu reagieren, um auch nur<br />

den Kopf zu heben. Das letzte was sie sah, waren staubige<br />

Stiefel, die auf sie zukamen. In diesem Moment überwältigte<br />

sie die Erschöpfung. Sie brach zusammen und fiel auf den<br />

71


Bauch. Ramina verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein.<br />

Ramina riss die Augen auf. Der Lärm schreckte sie aus dem<br />

Schlaf. Sie hörte ein Stimmgewirr. Hektik.<br />

Melissa stürmte in ihr Zimmer, zog hastig Schuhe und Jacke<br />

an und griff nach ihrer Hand, um Ramina hinaus aus dem Korridor<br />

zu ziehen. „Komm schon, Liebes.“ Sie sprach sehr leise<br />

und abgehakt.<br />

Ramina versuchte nicht zu stürzen, rieb sich müde die Augen.<br />

Es war mitten in der Nacht. Schlaftrunken fragte sie: „Was ist<br />

denn nur los?“<br />

Melissa antwortete nicht. Alles geschah sehr schnell. Ramina<br />

hörte jemanden durch den weitläufigen Garten in ihre Richtung<br />

laufen. Befehle wurden gerufen. Als sie an eines der<br />

Fenster vorbeikamen, glaubte Ramina in der Dunkelheit Männer<br />

mit schweren Rüstungen zu sehen. Sie kamen direkt auf<br />

das Haus zu.<br />

Fayar tauchte auf. Er trug ebenfalls seinen Schlafanzug, etwas<br />

musste ihre Eltern aus dem Schlaf gerissen haben. „Wir wurden<br />

aufgespürt.“, sagte er aufgebracht, sah immer wieder über<br />

die Schulter, als er die beiden Frauen vorwärts trieb. Melissa<br />

stöhnte. „Schon wieder? Wie oft sollen wir denn noch umziehen?<br />

Fayar, wie oft noch?“<br />

Er ging nicht auf sie ein. „Die haben uns den Fluchtweg abgeschnitten.<br />

Los, los, in den Bunker!“<br />

Ramina begriff überhaupt nicht, was geschah. Im Wohnzimmer<br />

wurden Fenster eingeschlagen, kurz darauf hörte Ramina<br />

ein Scheppern und Rumpeln. Jemand war im Vorbau. Fayar<br />

schob sie weiter, endlich erreichten sie durch einen kleinen<br />

Verbindungsgang den Bunker hinterm Haus. Das Innere war<br />

in zwei große Lagerräume unterteilt, die beide an allen vier<br />

Wänden Regale und in der Mitte freistehende Regale hatten.<br />

72


Betonwände, Betonboden. Im zweiten Raum gab es noch eine<br />

Tür, sie führte zum Wald hinter dem Haus. Mondlicht fiel<br />

durch die Fenster mit Holzrahmen. Die Klimaanlage dröhnte<br />

zwar laut, aber es war dennoch heiß. Fayar schloss die Tür<br />

hinter sich und sah sich um. In den Kisten der Regale lagen<br />

nur Einzelteile seines privaten Reparaturunternehmens und<br />

alltägliche Dinge: Putzmittel, Seifenstücke, Schachteln mit<br />

Frühstücksflocken. Die Waffen lagen im Haus. Er fluchte.<br />

Melissa drückte Ramina feste an sich. Das Mädchen wehrte<br />

sich dagegen, aber erfolglos. „Lasst uns zum Wald rennen!“<br />

„Melissa, die werden das Haus umzingelt haben.“<br />

„Was tun wir jetzt?“<br />

„Bleib ruhig, Melissa.“, sagte Fayar. Er fand einen Besenstil,<br />

umfasste den Griff so feste, dass die Knöchel hellgrün hervortraten<br />

und rannte zurück zur Tür, wo er, die Hand wie ein<br />

Schirm über den Augen haltend, durch das kleine Bullauge<br />

starrte. „Ich kann nichts sehen.“, sagte er. „Vielleicht schaffen<br />

wir es ja. Vielleicht denken sie, das falsche Haus erwischt zu<br />

haben – nein, doch nicht.“ Er kam wieder zurück, stolperte<br />

über eine Kiste, fiel hin, rappelte sich wieder auf und fluchte.<br />

Melissas ganzer Körper zitterte vor Anspannung. „Wo sind<br />

sie?“<br />

„Sie kommen.“, sagte er. „Sie kommen.“ Er wusste nicht, was<br />

er tun sollte.<br />

„Fayar.“, sagte Melissa leise. „Wie konnten sie uns nur finden?<br />

Nach all den Jahren?“<br />

„Ich weiß es nicht.“<br />

„Was tun wir jetzt? Es wird nie aufhören, nie!“ Sie schwitzte,<br />

am ganzen Körper verkrampft. Es war die nackte Panik. Ramina<br />

war erstaunlich ruhig. Sie riss sich von ihrer Mutter los<br />

und stand auf. Drinnen im Haus hörte sie das dumpfe Poltern<br />

umgeworfene Stühle und Tische. Entfernte Rufe drangen zu<br />

ihnen.<br />

„Wir schaffen es.“, sagte Fayar feste. „Wir haben es immer<br />

73


geschafft, heute kriegen sie uns auch nicht. Wir müssen nur<br />

zusammenhalten. Melissa.“, sagte er. „Schön tief durchatmen,<br />

okay?“ Er holte tief Luft, zeigte es ihr. „So ist gut. Na los ...<br />

tief durchatmen.“<br />

Melissa nickte, versuchte auf ihn zu hören. Sie atmete kurz<br />

durch. Dann fing sie wieder an zu keuchen. Tränen rannen ihr<br />

über die Wange.<br />

„So ist gut, Melissa, jetzt noch einmal ...“<br />

Noch ein Atemzug. Und ihre Atmung wurde langsamer. Sie<br />

hörte auf zu zittern.<br />

„Okay, Melissa, so ist gut.“<br />

Hinter ihm sagte Ramina: „Ich habe immer gewusst, dass sie<br />

schwach ist. Sieh dir das an, Vater, man muss mit ihr reden,<br />

wie mit einem kleinen Kind.“<br />

Fayar sah nach hinten, warf seiner Tochter einen bösen Blick<br />

zu. Sie zuckte bloß mit den Schultern. „Ich habe doch Recht.“<br />

Fayar sah wieder seine Frau an, sprach ruhig auf sie ein. „Sehr<br />

schön, Melissa. So ist gut, tief atmen. Bleib ganz ruhig.“<br />

„Sie werden euch holen, Fayar. Sie werden euch nach Orion<br />

bringen und mich töten.“<br />

Ramina wurde hellhörig.<br />

„Das werden sie nicht.“, sagte Fayar. „Sie können unsere Familie<br />

gar nicht trennen. Vertrau mir!“<br />

Ramina lief durch den Raum, zu dem Bullauge. Sie spähte<br />

hinaus. Im der Dunkelheit sah sie grüne Gestalten im Verbindungsgang.<br />

Weiter hinten, im Flur trat einer von ihnen die Tür<br />

zu ihrem Zimmer ein und stürmte bewaffnet in den Raum.<br />

„Sie kommen.“<br />

Fayar rief: „Nein, nein! Weg von den Fenstern!“<br />

„Aber-“<br />

„Weg von den Fenstern, Ramina.“<br />

Gut verstecken konnte man sich im Bunker nicht, weiß Gott<br />

nicht. Melissa kroch unter das Waschbecken und drängte sich<br />

an die Wand. Ramina schlüpfte in eine dunkle Ecke des Rau-<br />

74


mes, drückte sich in die Lücke zwischen zwei Regalen, die<br />

einander nicht ganz berührten. Sie war nur noch vom Westfenster<br />

aus zu sehen – und auch dann nicht so ohne weiteres.<br />

Kluges Mädchen, dachte Fayar stolz. Ramina wusste immer<br />

was zu tun war. Er selbst ließ sich im Hauptraum hinter einem<br />

Karton mit Vorräten auf die Knie fallen. Der Karton war nicht<br />

groß genug, um seiner eindrucksvollen, muskulösen Gestalt<br />

Deckung zu geben – seine Füße lugten hervor, aber ebenso<br />

wie Ramina war er nicht leicht zu sehen. Von draußen musste<br />

man schon einen bestimmten Winkel durch das Nordfenster<br />

schauen, um ihn zu entdecken. Jedenfalls besser als gar nichts.<br />

Von seiner Kauerposition aus konnte er Melissa unter dem<br />

Waschbecken gerade so sehen. Ramina gar nicht, dafür musste<br />

er den Kopf um die Ecke des Kartons schieben. Als er nach ihr<br />

sah, wirkte sie ruhig, gefasst. Fayar zog den Kopf zurück und<br />

wartete, stumm betend. Im Haus war es ruhig geworden. Kein<br />

Poltern mehr. Keine gerufenen Befehle. Gar nichts. Sie hörten<br />

nur das Summen der Klimaanlage. Zehn oder fünfzehn Sekunden<br />

verstrichen. Fayar konnte das Mondlicht durch das<br />

Nordfenster über dem Waschbecken fallen sehen. Es warf<br />

links von ihm ein weißes Rechteck auf den Boden.<br />

Er hörte Melissa sagen: „Was ist, wenn sie Scanner haben?“<br />

Fayar legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den<br />

Kopf. Er sah nach Ramina. Sie formte etwas mit den Lippen.<br />

Etwas wie: „Sie spinnt!“<br />

„Ramina?“, sagte Melissa. Sie konnte ihre Tochter von ihrer<br />

Position aus auch nicht sehen. „Egal wie das hier endet, ich<br />

möchte, dass du weißt ... dass es mir leid tut. Und das ich dich<br />

liebe.“<br />

Ihre Hoffnung auf eine Antwort blieb aus. Ramina schwieg.<br />

Sie warteten. Nichts geschah. Fayar war so konzentriert, dass<br />

er zunächst gar nicht merkte, dass das helle, weiße Rechteck<br />

auf dem Boden in der Mitte dunkler wurde, dann wieder heller<br />

und dunkler. Schatten huschten über den Boden. Sie waren<br />

75


draußen am Bunker, gingen am Fenster vorbei. Jemand blieb<br />

dort stehen. Melissa fing an zu stöhnen. Und dann verschwand<br />

die Gestalt vom Fenster, so rasch, wie sie gekommen war. Das<br />

Mondlicht strömte wieder herein. Niemand rührte sich. Sie<br />

warteten. Augenblicke später wurde das Fenster an der Westwand<br />

dunkel, auf die gleiche Art. Und dann verschwanden<br />

auch dort die Männer wieder.<br />

Stille.<br />

Sie kamen nicht herein. Fayar hielt es für möglich – zum ersten<br />

Mal für möglich -, dass sie es diesmal wirklich schaffen<br />

konnten. Dass die Suchmannschaften des Orion einfach weiterziehen<br />

und woanders nach ihnen suchen würden. Und dann<br />

brach von einer Sekunde zur anderen die Hölle los.<br />

Melissa rannte weg. Fayar wollte gerade zu Ramina krabbeln,<br />

als Melissa voller Panik losstürmte, die Tür zum Wald aufstieß<br />

und den orionischen Soldaten, die dahinter lauerten, direkt<br />

in die Arme lief. Sie schienen überrascht und gerade wieder<br />

abziehen zu wollen.<br />

Die Soldaten rissen die Augen auf, zerrten Melissa zurück in<br />

den Bunker und luden ihre Gewehre durch. Ramina wurde<br />

grob zur Seite, durch eine morsche Holztür nach draußen gestoßen.<br />

Hart schlug sie auf dem nassen Rasen auf. Sie keuchte,<br />

rappelte sich aber sofort auf. Weitere Soldaten stürmten in den<br />

Bunker hinein. Ramina kam auf die Beine, wollte zurück in<br />

den Bunker laufen, wurde aber sofort umzingelt und gepackt.<br />

Und als die Männer sie fort zogen, hörte sie ihren Vater einen<br />

Kampfschrei von sich geben. Kurz darauf erfolgten Schüsse,<br />

noch mehr Schreie – diesmal eindeutig von ihrer Mutter.<br />

Ein durcheinander aus Stimmen.<br />

Ein letzter Schuss.<br />

Dann war es plötzlich sehr still. Ramina konnte nicht sehen,<br />

was im Bunker geschah, aber das war auch gar nicht erforderlich,<br />

denn sie war sich völlig bewusst darüber, dass ihre Mutter<br />

nicht mehr lebte. Und mit nüchterner Distanz stellte Rami-<br />

76


na fest, dass sie diese Erkenntnis nicht schockte. Keine Bedauern,<br />

kein Schmerz. Gar nichts.<br />

Während sie die Hügelflanke hinaufgeschoben wurde, warf sie<br />

einen Blick zurück und sah, wie ihr Vater aus dem Bunker gezogen<br />

wurde. Er rührte sich nicht, schien aber am Leben zu<br />

sein, da sie glaubte zu sehen, wie sich sein Brustkorb hob und<br />

senkte.<br />

Man brachte ihn fort.<br />

Ramina wehrte sich nicht, als die orionischen Soldaten sie<br />

flankierten und zu einem wartenden Schiff außerhalb des<br />

Grundstücks brachten. Sie versuchte nicht einmal zu fliehen,<br />

aber darin sah sie auch keine Erforderlichkeit. Denn auch,<br />

wenn sie gerade möglicherweise ihre Familie verloren hatte;<br />

Ramina war nun nicht allein, ganz im Gegenteil. Sie war unter<br />

ihres Gleichen und dort würde sie es mit Sicherheit besser haben.<br />

Viel besser.<br />

Jemand stieß sie in das kleine Raumschiff hinein, die Soldaten<br />

kamen nach. Ramina kletterte auf einen der Sitze. Und als das<br />

Schiff abhob und ihr Heim – eines unter vielen in den vergangenen<br />

Jahren – immer kleiner wurde, musste Ramina lächeln.<br />

77


Ebene<br />

Dike fuhr. Er war unruhig. Inzwischen eierte der Jeep nicht<br />

mehr so heftig wie zuvor, die Reifen hatten sich einigermaßen<br />

glatt gefahren. Von der Stabilität des Jeeps war er beeindruckt<br />

– und trotzdem. Auch wenn es stimmte, dass dieses Fahrzeug<br />

technisch unkompliziert und robust war, war sich Dike doch<br />

bewusst, dass es immer ein Risiko war, ungetestetes Gerät in<br />

den Einsatz zu schicken.<br />

Vor allem, wenn dieses Gerät auf modernster Technik basierte.<br />

Und dieser moderne Jeep hier war noch nie im Bodeneinsatz<br />

gewesen. Vor allem zwei Dinge bereiteten ihm Sorgen.<br />

Zum einen, die schwarzen Solarplatten mit ihren Reihen aus<br />

achteckigen Siliziumscheiben auf dem Dach. Viele von ihnen<br />

hatten den Säureregen nicht überstanden und andere könnten<br />

in der nächsten Zeit noch ausfallen. Sie mussten äußerst sparsam<br />

vorgehen. Pausen machen. Sonst würden sie festhängen.<br />

Und wenn noch mehr der Platten zerstört würden, hatten sie<br />

keine Energie mehr für das Fahrzeug oder die anderen technischen<br />

Geräte. Alle Systeme würden zusammenbrechen.<br />

Seine andere Sorge galt den Batterien selbst. Die Techniker<br />

hatten sich beim Einbau für die neuen Trelitan-Batterien entschieden,<br />

die zwar ein hervorragendes Gewicht-Leistungs-<br />

Verhältnis hatten, sich aber noch im Experimentierstadium befanden,<br />

was für Dike nur eine höfliche Umschreibung für „unzuverlässig“<br />

war.<br />

Dike schüttelte den Kopf. Dieses Gerät war dazu gedacht, für<br />

kurze Zeit an Bodenoperationen teilzunehmen, zum Schiff zu-<br />

78


ückzukehren und dort mithilfe der Schiffsenergie wieder aufgeladen<br />

zu werden. Weder Batterien, noch Solarzellen sollten<br />

lange beansprucht werden. Aber wie es momentan aussah,<br />

würden sie es diesmal werden. Ihre Leben hingen sogar davon<br />

ab.<br />

Dike hatte sich sogar gewünscht, dieses Fahrzeug endlich mal<br />

testen zu können, aber hier? Auf diesem Mond und unter diesen<br />

Umständen? Nein, ganz sicher nicht. Er warf einen kurzen<br />

Blick in den Rückspiegel. Das Basislager sah er schon lange<br />

nicht mehr. Jetzt beschlich ihn das unbehagliche Gefühl der<br />

Isolation, des ausgesetztseins auf diesem gottverlassenen<br />

Mond, in dieser gottverlassenen Ebene. Etwa eine viertel<br />

Stunde lang führte der Weg durch orange-roten Wüstenboden<br />

abwärts. Es wurde unangenehm warm, je höher die Sonne<br />

stieg. Penkala neben ihm seufzte. „Belüftungssystem?“<br />

„Ich will die Batterien nicht überlasten.“<br />

Penkala lehnte sich zurück. Warmer Wind zerzauste sein volles<br />

Haar. „Nervös, Dike?“<br />

„Klar.“, brummte Dike. „Natürlich bin ich das.“ Er spürte, wie<br />

ihm der Schweiß die Brust hinunterlief. „Erst recht, wenn man<br />

bedenkt, was letzte Nacht geschah. Und dann sind wir auch<br />

noch mit ungetestetem Gerät unterwegs.“<br />

Schließlich wurde die Straße wieder flacher. Sie konnten etwas<br />

schneller fahren.<br />

„Das Auto ist in Ordnung.“, sagte Penkala. „Wie ist der Energiepegel?“<br />

„Normal.“, antwortete Dike. „Aber wir sind erst ein paar Meilen<br />

gefah-“<br />

Plötzlich verlangsamte er den Wagen. Schließlich blieben sie<br />

stehen. Dike runzelte die Stirn und lauschte angestrengt.<br />

„Was ist los?“, fragte Penkala.<br />

„Hörst du das auch?“<br />

Penkala runzelte ebenfalls die Stirn. Nun hörte er es. Ein grollen,<br />

von weiter Ferne. Zunächst hätte er ein weiteres Gewitter<br />

79


vermutet, aber so viele Wolken standen nicht mehr am Himmel.<br />

Und es war etwas anderes. Allmählich spürte Penkala,<br />

wie der Jeep wackelte. Vibrationen durchfuhren den Boden.<br />

Wurden zu einem Beben. Und dann brach etwas gewaltiges<br />

einige Kilometer vor ihnen durch den Boden, begleitet von einem<br />

unheimlichen, laut dröhnenden, Nebelhornartige Geräusch,<br />

dass durch Mark und Bein ging. Es war dasselbe, wie<br />

an ihrem ersten Abend auf dem Mond.<br />

Dieses Geräusch!<br />

Dieses markerschütternde Geräusch!<br />

Irgendetwas großes bohrte sich durch die Ebene nach oben<br />

und erstarb dann plötzlich, als hätte eine unterirdische Explosion<br />

stattgefunden, die einfach erstickte. Der aufgedunsene<br />

Boden, fiel schlagartig in sich zusammen. Eine Schockwelle<br />

raste unterirdisch durch die Ebene.<br />

Direkt auf sie zu!<br />

„O Scheiße!“, schrie Dike, schlug den Rückwärtsgang ein und<br />

trat das Gaspedal durch. Sie brausten achtern zurück, die<br />

Schockwelle verfolgte sie, holte sie ein und schüttelte den<br />

Wagen ordentlich durch. Für einen schrecklichen Moment<br />

glaubte Dike, der Jeep würde umgeworfen werden. Mit einem<br />

kurzen Schlenker, brachte er den Wagen aber in die Welle<br />

hinein. Erst wurden die Vorderräder hochgeworfen, unmittelbar<br />

darauf die Hinterräder. Penkala hatte sich nicht angeschnallt.<br />

Er knallte gegen einen Überrollbügel. Blut rann ihm<br />

über die Stirn.<br />

Dann war es vorbei, die Schockwelle zog weiter, bis sie<br />

schließlich zu schwach wurde und erstarb. Der Wagen stand<br />

still. Sekunden später war die ganze Ebene wieder leise. Kein<br />

Vogelgeschrei, kein Kreischen unterirdischer Schockwellen.<br />

Kein Nebelhorn-Geräusch. Dikes Herz hämmerte gegen die<br />

Brust. Ihm rann der Schweiß über die Stirn. Langsam, ganz<br />

langsam, drehte er den Kopf zu Penkala. Seine Nase blutete<br />

80


leicht. Er versuchte das Blut zurückzuhalten und dabei wurden<br />

seine Hände rot.<br />

„Alles in Ordnung?“<br />

Penkala nickte blass. „Wo sind wir hier nur gelandet?“<br />

Im Lager war zu hören, wie das unheimliche Geräusch langsam<br />

verklang, dann herrschte eine unheimliche Stille. Die<br />

Vibrationen im Boden hörten auf.<br />

Brenda Isaac sah zur Ebene und beobachtete, wie dreiköpfige<br />

Vögel aufgescheucht davon stoben. Genau wie beim ersten<br />

mal, dachte sie. Die Transportertechnikerin beschloss, sich<br />

doch nicht vom Lager zu entfernen und wandte sich wieder<br />

um. Sie balancierte auf ein paar Steinen zu den Kapseln zurück.<br />

Nach dem Hallie erwacht war und darauf bestanden hatte das<br />

Lazarett zu verlassen, hatte sich Roe alle Mühe gegeben ihr<br />

ein paar notdürftige Krücken zu bauen. Nun war Hallie durch<br />

das Lager spaziert und beobachtete Isaac dabei, wie sie zurückkam.<br />

„Was ist los?“, fragte sie besorgt.<br />

„Haben Sie das eben auch gehört?“<br />

Sie runzelte die Stirn. „Vögel?“<br />

Isaac schüttelte den Kopf. „Das waren keine Vögel.“<br />

Hallie entging nicht die Tatsache, dass Isaac die Knie zusammenkniff<br />

und dabei eine Grimasse schnitt. „Müssen Sie?“<br />

„Ja. Schon wieder.“ Sie nickte zur Ebene. „Aber ich geh da<br />

nicht raus. Wir sollten uns irgendwas einfallen lassen. Möglichst<br />

bald, sonst haben wir hier ein wahres Toilettenproblem.<br />

Es richt schon sehr streng. Ich würde ungern in einem Basislager<br />

hausen, in dem es nach Urin stinkt. Gestrandete zu sein,<br />

heißt noch lange nicht, dass es nötig ist, zu Barbaren zu werden,<br />

aber wie immer denkt niemand von denen darüber nach<br />

und die Männer verhalten sich natürlich, als müssten sie hier<br />

überall ihr Revier markieren und-“ Sie stoppte mitten im Satz,<br />

81


lies die Schultern hängen und seufzte schwer „Tut mir leid.<br />

Das sind wirklich keine Gesprächsthemen.“<br />

„Ist schon in Ordnung.“<br />

„Vielleicht habe ich einfach zu viel Zeit zum nachdenken,<br />

Hallie. Ich komme an der Kommunikationsbake kein Stück<br />

weiter und bin ansonsten als Transporterchief hier völlig überflüssig.“<br />

„Brenda, wir sind alle überflüssig. Die Piloten haben nichts<br />

zum Fliegen, uns Sicherheitsoffiziere fehlen die Waffen, den<br />

Technikern fehlt es an funktionierendem Gerät. Die einzigen,<br />

die momentan wirklich was zu tun haben, sind Roe und Smith<br />

und ich wette, die würden gerne mit uns tauschen.“<br />

Isaac sah zum Lazarett und beobachtete das aufgeregte Treiben<br />

dort. Vor ein paar Minuten hatten sie irgendjemanden gefunden.<br />

Weitere Überlebende.<br />

„Wer waren die Beiden?“, fragte sie schließlich.<br />

„Ramina und ein Cardassianer.“<br />

„Der cardassianische Führer und der einsame Wolf?”<br />

„Schaut so aus, ja.“<br />

„Ich hätte mir andere Leute gewünscht.“ Sie starrte in die Ferne,<br />

versuchte dort den Jeep auszumachen.<br />

„Ihre Wünsche vermanifestieren sich, Brenda.“<br />

Isaac runzelte die Stirn und begegnete Hallie’s Blick. Die Frau<br />

starrte auf die Hügelkette. Und dann hörte sie Hallie monoton<br />

sagen: „Wir haben Gesellschaft.“<br />

Penkala und Dike saßen im Jeep und starrten auf die Ebene<br />

hinaus. Sie sahen zu, wie die Pflanzen im warmen Wind wehten.<br />

Irgendetwas hatte die Erde der Ebene umgewälzt und vor<br />

ihnen ein kleines, kreisrundes Tal geschaffen. Umgestürzte<br />

Felsen bröckelten das Gefälle herunter.<br />

„Hast du dafür eine Erklärung?“, fragte Dike. „Unterirdische<br />

Monster vielleicht?“<br />

82


„Ganz und gar nicht.“, erwiderte Penkala. „Auch wenn es<br />

mich nicht überraschen würde. Ich bin kein Geologe, aber das<br />

könnte doch einfach ein instabiles Erdreich hier sein, oder<br />

nicht? Es gibt sicher eine vollkommen vernünftige Erklärung<br />

für das, was wir hier sehen.“<br />

„Ein Erdrutsch macht nicht solche Geräusche.“, sagte Dike.<br />

„Das war ein Riesenregenwurm, ich sag es dir.“<br />

Penkalas Augen verengten sich. „Ein Regenwurm?“<br />

„Hast du noch nie Dune gelesen? Oder die Holo-Vids gesehen?<br />

Diese riesigen Regenwürmer-“<br />

„Das waren ganz sicher keine Regenwürmer, Dike. Ich habe<br />

mal die Zündung einer Antimateriebombe in einem kilometertiefen,<br />

unterirdischen Stollen gesehen. Das hatte eine ähnliche<br />

Wirkung, wie das hier, aber dieses Geräusch...“ Er schüttelte<br />

den Kopf. „Ich bin sicher wir werden-“<br />

Vom Tricorder kam plötzlich ein schrilles Piepen. „Das ist<br />

sie!“, sagte Penkala.<br />

„Nechayev?“<br />

„Ja. Zwei Lebenszeichen. Menschlich. Das müssen sie sein.“<br />

„In welche Richtung?“<br />

Penkala drückte auf dem Gerät herum, bis er eine schematische<br />

Darstellung des Umlandes aufgerufen hatte. Ein rotes<br />

Kreuz zeigte ihre Position an. Ein gelbes, dass der beiden Lebenszeichen.<br />

Er deutete auf eine Hügelkette abseits der Ebene.<br />

„Dort entlang.“<br />

Dike startete den Motor. „Holen wir sie und verschwinden von<br />

hier!“ Er trat das Gaspedal durch.<br />

Allan stand mit Judy und Crocker vor dem Lazarett und versuchte<br />

durch die getönten Scheiben einen Blick hineinzuwerfen.<br />

Er glaubte die Umrisse Roe’s zu erkennen, war sich aber<br />

nicht sicher. Der Sanitäter und Smith kümmerten sich gerade<br />

um die beiden Neuankömmlinge.<br />

83


„Sind sie tot?“, fragte das Mädchen.<br />

D’Agosta legte einen Arm um Judys Schulter. „Nein, Spätzchen.<br />

Lediglich erschöpft.“<br />

Crocker verzog das Gesicht. Er sah unauffällig zu einem abgelegenen<br />

Bereich jenseits des Lagers. Sie hatten die Toten nach<br />

dem Absturz dorthin gelegt und mit einer Plane abgedeckt.<br />

Eigentlich hatten sie die Toten beerdigen wollen, aber in der<br />

Nacht sollten sie sicht ja nicht vom Lager entfernen und der<br />

Säureregen hatte nun nicht nur einen Toten mehr unter eine<br />

der Decken gebracht, nein er hatte die übrigen Leichen auch<br />

noch geschunden und halb zersetzt. Die Plane hing nur noch in<br />

Fetzen über den Körpern und flatterte im Wind. Die Verwesung<br />

hatte bereits eingesetzt. Ein schrecklicher Gestank ging<br />

von den toten Körpern aus. Crocker fragte sich, ob es nur ihm<br />

auffiel.<br />

Oder aber die anderen sagten einfach nichts. Der Gestank hatte<br />

noch weitere Nachteile: Er zog wilde Tiere an. Als er vorhin<br />

mit Garnere’s Hilfe T´Mir zu dem Platz getragen hatte, war<br />

ihm aufgefallen, dass sich bereits einige dieser dreiköpfigen<br />

Vögel an den Leichen zu schaffen gemacht hatten. Eine fehlte<br />

sogar gänzlich. Crocker vermutete, die chamäleonartigen<br />

Raubtiere hatten sie in der Nacht fortgeschleift. Er seufzte.<br />

„Jetzt wo ich dran denke ... da gibt es noch eine wichtige Sache<br />

zu tun.“<br />

D’Agosta gab das Unterfangen, in die Kapsel zu sehen, auf<br />

und drehte sich zu Crocker. „Was denn?“<br />

„Nun, was machen wir mit ... Sie wissen schon.“<br />

D’Agosta runzelte die Stirn und versuchte etwas aus Crockers<br />

Mine herauszulesen. Der Chief zog ein verdrossenes Gesicht.<br />

Sah zuerst ihn an, dann Judy, dann einen Bereich hinter dem<br />

Lager.<br />

„Nein, ich weiß nicht. Was meinen Sie denn?“<br />

„Allan...“<br />

„Hm?“<br />

84


„Nun ja, die ... die ...“<br />

„Dad.“, rollte Judy mit den Augen. „Er meint die Toten.“ Auf<br />

Crockers erstaunten Blick schüttelte sie genervt den Kopf.<br />

„Ich bin kein kleines Kind mehr.“<br />

Die verdammte Jugend, dachte Crocker! Sie nehmen nichts<br />

mehr ernst. „Aye, die Toten. Was sollen wir mit ihnen machen?“<br />

D’Agostas Augen weiteten sich. Nun sah auch er kurz in die<br />

Richtung in der die Leichen lagen. „Oh. Hat Nechayev irgendetwas<br />

darüber gesagt?“<br />

„Nein, hat sie nicht.“<br />

„Hm. Ich würde sagen, wir begraben sie, oder?“<br />

„Das könnte Tiere anlocken.“, sagte Crocker.<br />

„Verbrennen ebenfalls. Wir... wir vergraben sie.“<br />

„Okay.“<br />

„Kümmern Sie sich drum?“<br />

Crockers Schultern sanken etwas tiefer. „Aye.“<br />

Dann öffnete sich die Luke zum notdürftigen Lazarett. Eine<br />

erschöpfte Rhonda Smith trat zu ihnen hinaus und strich sich<br />

kurz durch das zerzauste Haar. Einzelne Strähnen hingen ihr<br />

ins Gesicht. D’Agosta trat ungeduldig von einem Bein auf das<br />

andere. „Wie geht es ihren Patienten, Doktor?“<br />

„Sie werden sich erholen.“, entgegnete Smith. „Der cardassianer<br />

hat starke Prellungen und Schürfwunden erlitten. Ich kann<br />

hier nicht viel für ihn tun, aber sein Zustand ist stabil.“<br />

„Und Ramina?“<br />

„Sie ist erschöpft, dehydriert und leidet unter erheblichen<br />

Kopfschmerzen. Vorhin hat sie sich übergeben. Ich will mich<br />

aber noch nicht festlegen, erst will ich von Roe eine zweite<br />

Meinung einholen.“ Smith erspähte die Feldflasche an Crockers<br />

Gürtel und deutete darauf. „Kann ich..?“<br />

„Klar.“ Crocker reichte ihr die Flasche. Smith schraubte den<br />

Deckel auf und trank etwas. Sie schloss die Augen, während<br />

die kühle Flüssigkeit ihre trockene Kehle hinunterrann. In den<br />

85


letzten Stunden hatte sie kaum Zeit gehabt zu schlafen, geschweige<br />

denn, etwas zu essen, oder zu trinken. Es war eine<br />

Wohltat.<br />

„Kann ich mit ihr sprechen?“, fragte D’Agosta.<br />

„Nein, vorerst nicht. Sie braucht Ruhe. Dringend. Geben sie<br />

ihr ein wenig Zeit sich zu erholen. Die orionische Physiologie<br />

ist sehr wiederstandskräftig, sie wird schon wieder. Aber bis<br />

dahin braucht sie Schlaf.“<br />

D’Agosta seufzte. „Ist sie zu sich gekommen, hat sie irgendetwas<br />

gesagt?“<br />

Smith schraubte den Deckel wieder zu und gab die Flasche an<br />

Crocker zurück, während sie einen kurzen Blick über die<br />

Schulter warf. Ramina lag auf dem Hauptbett. Der Cardassianer<br />

auf dem Bett neben Hawk.<br />

„Nein.“, sagte Smith nur. In Wahrheit wusste sie mehr. Es hatte<br />

so ausgesehen, als habe Ramina irgend wovor Angst, denn<br />

sie hatte sich eben erst im Schlaf herumgeworfen und immer<br />

wieder etwas von Phaserfeuer und Mistkerlen gemurmelt. Roe<br />

hatten das bei seiner Diagnose zunächst auf das Trauma zurückgeführt,<br />

dass sie zweifellos durch ihre Verletzungen erlitten<br />

hatte. Smith jedoch hatte den Eindruck, dass Ramina einen<br />

ganz realen Vorfall noch einmal durchlebte. „Nein, sie hat<br />

nichts gesagt.“<br />

D’Agosta seufzte. „Es muss mehr Überlebende geben!“<br />

Isaac kam angelaufen. „D’Agosta!“<br />

„Bitte informieren Sie mich, sobald ich mit ihr sprechen kann,<br />

Doktor.“<br />

„Natürlich.“<br />

„D’Agosta!“, rief die Frau und kam durch das Lager gerannt.<br />

„Was ist?“<br />

„Wir sind nicht länger allein.“<br />

86


Besuch<br />

Der Jeep blieb vor einer Anhöhe stehen. Direkt vor ihm ragten<br />

breite Felsen aus dem sandigen Untergrund. Etliche, feuerrote<br />

Blätter verwuchsen zu einer dichten Vegetation. Dort konnten<br />

sie nicht hineinfahren. Von Nechayev oder Nottingham fehlte<br />

jede Spur. Dike stieg aus und Penkala folgte seinem Beispiel.<br />

In der Entfernung drang das leise Kreischen irgendeines Tieres<br />

zu ihnen herüber.<br />

„Und?“, fragte Dike.<br />

Penkala klappte den Tricorder zu und warf ihn auf seinen Sitz.<br />

„Energiezellen sind leer. Aber sie müssen hier irgendwo sein.“<br />

Als er sich in der Umgebung des Jeeps umsah, entdeckte er<br />

auf dem Boden Fußspuren. Asolo-Profil - Sternenflottenstiefel.<br />

Die von Frauen- und von Männerstiefeln. Und sie führten<br />

den Hügel hinauf, in diesen Blätterdschungel.<br />

Alex Penkala fluchte. Er hatte absolut keine Lust, in diesen<br />

Dschungel zu gehen.<br />

Bei der Vorstellung lief es ihm kalt den Rücken herunter. Aber<br />

hatte er eine andere Wahl? Er sollte Nechayev zurückholen.<br />

Für einen Moment überlegte er, ob sie einfach umkehren und<br />

D’Agosta sagen sollten, sie hätten niemanden gefunden, wusste<br />

aber sogleich, dass er es nicht tun würde. Nechayev! Diese<br />

Frau war ein echtes Problem. Was zum Teufel tat sie hier<br />

draußen?<br />

Penkala tastete nach seiner Stirnwunde. Sie schmerzte. Aber<br />

die Blutung hatte aufgehört. Er drehte sich zu Dike. „Bleib im<br />

Jeep. Ich sehe mich um.“<br />

„Sei vorsichtig.“, sagte Dike nur.<br />

87


Penkala grunzte und trat ins Halbdunkel des Blätterwaldes.<br />

Mit vor Aufregung klopfendem Herzen schob Nechayev die<br />

letzte der großen roten Blätter beiseite. Und lächelte. Direkt<br />

vor ihr auf einer Lichtung auf dem Hügel, umringt von knorrigen<br />

Felsen stand ein Schiff. Ein Shuttle der Sternenflotte.<br />

Kleiner als ein Runabout, aber auch wieder größer, als die<br />

normalen Typ-5-Shuttles. Das Schiff war beschädigt und<br />

machte einen heruntergekommenen Eindruck. Die Außenhülle<br />

war zerkratzt, Blätter lagen auf dem Dach verstreut und in der<br />

linken Antriebsgondel klaffte ein kleiner Einschlagskrater. Es<br />

lag schon eine ganze Weile auf dem Planeten. Mindestens fünf<br />

Monate.<br />

Unter dem rechten Flügel erstreckte sich ein großes Spinnennetz.<br />

Eine Libelle hatte sich darin verfangen und zitterte kontinuierlich<br />

mit den Flügeln, ohne frei zu kommen. Obwohl<br />

kein Zweifel mehr bestand, sah Nechayev trotzdem noch einmal<br />

auf ihr Scannergerät. Das Signal ging eindeutig von dem<br />

Schiff aus. Es verfügte noch immer über Energie. „Wir haben<br />

es gefunden.“, sagte sie begeistert.<br />

Nottingham kniete sich neben sie. „Meinen Sie es fliegt<br />

noch?“<br />

Die Beschädigungen waren offenbar stark. Es sah aus, als sei<br />

etwas großes gegen das Schiff gestoßen und hätte die Außenhülle<br />

an Steuerbord eingedrückt. Nechayev war nicht bereit,<br />

Wetten auf dieses Schiff abzugeben.<br />

„Viel wichtiger ist, was seine Sensoren entdeckten. Wieso es<br />

immer noch das Signal sendet.“, sagte sie. „Endlich Ian. Wir<br />

können es schaffen – so schlecht unsere Situation aus aussehen<br />

mag.“<br />

„Nach der Destabilisierung Omegas im Orbit, könnte die Sternenflotte<br />

die Mission abbrechen wollen.“<br />

88


„Und wenn schon. Ich brauche die Erlaubnis der Sternenflotte<br />

nicht, um für sie Entscheidungen zu treffen.“<br />

„Was ist mit der ersten Gruppe?“<br />

„Keine Ahnung.“, sagte Nechayev. „Ist auch völlig egal.<br />

Wichtig ist nur, was sie gefunden haben. Was sich im Datenspeicher<br />

dieses Schiffes befindet.“ Sie wollte aufstehen, über<br />

die Lichtung zum Schiff gehen, als sie Nottinghams Hand auf<br />

ihrer Schulter spürte. Er zog sie sanft wieder zurück. Fragend<br />

sah sie ihn an. Nottingham hielt einen Finger vor dem Mund<br />

und lauschte aufmerksam. Nechayev wollte etwas sagen, aber<br />

Nottingham hob die Hand und bedeutete ihr zu schweigen.<br />

Alles war ruhig.<br />

„Jemand ist hier.“, flüsterte er kaum hörbar.<br />

„Ein Tier?“<br />

Nottingham lauschte angestrengt. Das Geräusch kam von der<br />

Hügelseite hinter ihnen<br />

Dann hörte auch sie es endlich – ein leises Surren, wie von einer<br />

Biene.<br />

„Nein.“, sagte Nottingham. „Ein Jeep.“<br />

„Sie sind uns gefolgt?“<br />

„Penkala.“, vermutete Nottingham.<br />

Nechayevs Blick wechselte zwischen dem Schiff vor ihnen<br />

und dem Blätterwald. Dann nickte sie Nottingham düster zu.<br />

„Finden Sie ihn. Kümmern Sie sich drum.“<br />

Und lautlos wie eine Katze schlich Nottingham in den<br />

Dschungel zurück, während Nechayev zum Schiff ging.<br />

Penkala lauschte. Dann ging er weiter, rote Blätter vor sich<br />

wegschlagend, tiefer in diesen Mini-Wald hinein. Das Gefühl<br />

der Isolation, des Eintauchens in eine urtümliche Welt war<br />

nun zum Greifen nahe. Sein Herz klopfte heftig, während er<br />

den nicht steilen, aber weiten Hang hinaufkletterte. Penkala<br />

lief leicht gebeugt, wie ein schleichendes Tier. Er hatte keine<br />

89


Ahnung, was er machen sollte, falls noch einmal ein wildes<br />

Raubtier wie diese Chamäleons auftauchte. Waffen hatte er<br />

keine bei sich und solche Monster ließen sich kaum mit Fäusten<br />

beeindrucken. Auf einem Zwischengrat klaffte eine Lücke<br />

im Laubwerk und Penkala spürte eine warme Brise. Von dort<br />

aus konnte er über die gesamte Ebene blicken. Den Jeep unten<br />

sah er allerdings von hier aus nicht. Dennoch, die Aussicht<br />

war großartig. Öde. Aber großartig.<br />

„Nett.“, murmelte er. „Wirklich nett.“<br />

„Nicht wahr?“<br />

Penkala wirbelte herum. Hinter ihm war wie aus dem Nichts<br />

Nottingham aufgetaucht. Er hatte absolut keine Geräusche<br />

gemacht. Der Mann in der schwarzen Kluft verschmolz fast<br />

vollständig mit dem schattigen Hintergrund. Er hatte den Kopf<br />

gesengt, starrte Penkala diabolisch an und öffnete und schloss<br />

die Hände zu Fäusten.<br />

„Mein Gott, Nottingham!“, stieß Penkala wütend aus. Adrenalin<br />

wurde durch seinen Körper gepumpt. Nottingham sagte<br />

nichts. Er stand einfach nur da. <strong>Star</strong>rte Penkala an.<br />

„Wir dachten schon, sie wären in dem Regen umgekommen.“<br />

„Uns geht’s gut.“<br />

„Wo ist Admiral Nechayev?“<br />

„In der Nähe.“<br />

Penkala trat einen Schritt vor Nottingham zurück. Ein Ast zerbrach<br />

und knackte unter ihm, was Penkala einen leichten<br />

Schreck einjagte. Nottingham stand ruhig da. Lauernd.<br />

Penkala deutete über die Schulter. „Steigen Sie in den Jeep.“<br />

Für einen kurzen Moment blitzten Nottinghams Augen. „Sie<br />

sind mit dem Fahrzeug hier?“<br />

„Um sie abzuholen, ja. Bitte-“<br />

„Er hat Solarzellen, nicht wahr?“<br />

„Warum fragen Sie?“<br />

„Und somit hat er auch Energie.“ Nottingham trat näher.<br />

90


Penkala sah sich nach irgendwas zum Schlagen um. Ein Stein.<br />

Ein Ast. Ein zufällig anwesender Baseballschläger. Irgendwas.<br />

Aber ihm fiel nichts auf. „Wir sollen sie nur abholen und zurück<br />

zum Lager bringen.“<br />

Nottingham blieb stehen. „Wir?“<br />

„Wir.“, nickte Penkala. „Steigen Sie endlich ein. Wir verschwinden<br />

von hier.“<br />

„Ihr Kollege, Mr. Dike, nicht wahr?“ Nottingham hatte irgendetwas<br />

im Ton. Etwas sehr beunruhigendes. Seine Handschuhe<br />

knarzten, während er die Hände spannte und entspannte.<br />

„Dike, Fowler und Ramirez.“, log Penkala.<br />

„Das sind viele.“<br />

„D’Agostas Sicherheitsvorkehrungen, um die problemlose<br />

Rückkehr des Admirals zu gewährleisten.“<br />

Nottingham starrte ihn mit einem durchdringendem Blick an.<br />

Penkala versuchte ihm standzuhalten. Nach einer Weile lächelte<br />

Nottingham. „Fahren Sie zurück. Sagen Sie D’Agosta,<br />

es geht dem Admiral sehr gut.“<br />

Penkala nickte nur. „Na schön.“ Er trat in den Blätterwald zurück,<br />

drehte Nottingham aber nicht den Rücken zu. „Ach und<br />

Mr. Penkala.“, sagte Nottingham. „Fahren Sie vorsichtig. Ich<br />

möchte nicht, dass ihnen etwas geschieht.“<br />

Dike hob den Kopf, als Alex Penkala stolpernd aus dem<br />

Dschungel sprang. Er ging ungewöhnlich schnell zum Jeep zurück<br />

und warf ständig einen Blick über die Schulter. Er machte<br />

den Eindruck, gerade dem Tod von der Schippe gesprungen<br />

zu sein, war sich aber scheinbar nicht sicher, ob es ihn nicht<br />

doch noch erwischen würde. Dike runzelte die Stirn, während<br />

Penkala auf den Beifahrersitz stieg. „Hast du sie gefunden?“<br />

„Ja.“<br />

„Und...?“<br />

91


„Es geht ihnen gut.“<br />

„Es geht ihnen gut?“<br />

„Sie wollen nicht mit. Fahr zurück.“<br />

„Aber-“<br />

Penkala warf ihm einen bösen Blick zu und schlug die Tür zu.<br />

„Fahr!“<br />

Etwa ein halbes Dutzend, zwei Meter großer Gestalten, lauerten<br />

auf der Hügelkette verteilt und starrten auf das Lager mit<br />

den Fluchtkapseln hinunter. Die Sonne stand hinter ihnen, sodass<br />

man außer groben Umrissen nicht viel erkennen konnte,<br />

aber die Wesen waren stämmig, hatten sehr kurze Arme und<br />

Beine und einen gewaltigen Buckel – der schwere Schädel lag<br />

beinahe direkt über der Brust. Er erinnerte D’Agosta entfernt<br />

an den eines Nashorns – länglich und mit einem massiven, etwa<br />

dreißig Zentimeter langen Horn auf der Nase. Ihre Haut<br />

war schuppig und dunkelblau.<br />

Sie rührten sich absolut nicht, standen einfach da. Und blickten<br />

die verwirrten Offiziere unten im Lager an. Inzwischen<br />

war niemandem mehr entgangen, dass sie von der sichelförmigen<br />

Hügelkette beobachtet wurden. Die Offiziere drängten<br />

sich zusammen und wusste nicht, was sie von den reglos dastehenden<br />

Neuankömmlingen halten sollten.<br />

Judy fröstelte plötzlich, obwohl es sehr warm war. Sie zog den<br />

Reißverschluss ihrer Jacke hoch und trat zwischen Athol und<br />

ihrem Vater.<br />

„Was sind das für welche?“, fragte Allan.<br />

„Gredor.“, kam die rasche Antwort.<br />

Judy stieß den Amphion mit dem Ellenbogen an. „Athol, ein<br />

bisschen ausführlicher bitte.“ Athol lies sich von ihr nicht lange<br />

bitten. „Die Tarkon nennen sie Gredor. Dieser Ausdruck ist<br />

in ihrer Sprache eine Beleidigung. Wir nennen sie Bao-Dur –<br />

92


das verwunschene Volk. Sie sind die Einheimischen dieses<br />

Mondes.“<br />

„Noch vor euch und den Tarkon hier gewesen?“, fragte<br />

D’Agosta.<br />

Athol verschränkte die Arme hinter dem Rücken und nickte.<br />

Er sprach nun leiser. „Sie wurden nahezu vollständig ausgerottet<br />

und führen seither ein Schattendasein als Nomaden. Als<br />

Aussätzige. Und Gejagte.“ Er seufzte schwer. „Als die Tarkon<br />

den Mond eroberten und mit dem Abbau der Bodenschätze<br />

begannen, verschrieen sie die Gredor als niedere Wesen. Als<br />

Tiere.“<br />

D’Agosta runzelte die Stirn. Und dann hörte er Roe sagen:<br />

„Sie sind verstrahlt.“<br />

Er drehte sich zu dem jungen Mediziner um. Roe starrte auf<br />

die Anzeigen eines der wenigen funktionierenden Tricorders<br />

und tippte auf den Tasten herum. Nach einer Weile klappte er<br />

piepende das Gerät zu und sah D’Agosta an. „Die Scanner der<br />

Tricorder arbeiten hier aufgrund der starken Boronit-<br />

Vorkommen im Boden nicht zuverlässig, aber soweit ich das<br />

beurteilen kann, sind ihre Körper von der Untergrundstrahlung,<br />

deformiert. Athol, diese Hautfärbungen auf euren Körpern,<br />

hatte die euer Volk bereits, bevor ihr auf diesen Mond<br />

gebracht wurdet?“<br />

„Nein.“, schüttelte Athol sanftmütig den Kopf.<br />

Roe nickte. „Dachte ich mir.“ Er drehte sich zu D’Agosta.<br />

„Die Strahlung zeigt Auswirkungen erst nach längerer Zeit auf<br />

der Oberfläche. Ich kann’s nicht genau bestimmen. Monate ...<br />

Jahre. Ich weiß nicht. Uns droht vorerst keine Gefahr, bis die<br />

ersten Symptome einer Strahlenkrankheit eintreten, sind wir<br />

längst wieder weg. Aber die Amphion befinden sich schon<br />

sehr lange auf diesem Mond. Die da oben aber offenkundig<br />

noch länger. Sie zeigen bedeutende genetische Mutationen<br />

auf. Genau wie die Skorpione. Ich nehme an, alle Lebewesen<br />

auf der Oberfläche mutieren graduell.“<br />

93


„Wie die Skorpione?“, wiederholte Fowler, der hinter ihnen<br />

stand. Er hielt sein Gewehr fest umschlungen.<br />

„Genaugenommen sind die Wesen dort oben mit ihnen verwand.“,<br />

erklärte Roe.<br />

Judy zog eine Grimasse. „Die sehen aber gar nicht aus, wie<br />

Skorpione.“<br />

„Nein, natürlich nicht.“, sagte Roe. „Verwandtschaftsgrade<br />

bestimmt man nicht anhand des Aussehens, sondern durch die<br />

Anzahl gleichartiger Aminosäuren. So gesehen sind Menschen<br />

auch mehr mit dem nordafrikanischen Wolfshund verwand,<br />

als mit Affen.“<br />

„Was bedeutet das?“, fragte Athol, der dieser komplexen<br />

Thematik offenbar nicht folgen konnte.<br />

Judy sagte: „Du bist verstrahlt und ich mit einem Hund verwandt.<br />

Das bedeutet es.“ Sie blickte wieder zu den Fremden<br />

hinauf. „Warum stehen die da oben rum wie Psychos? Athol,<br />

sind die Typen gefährlich?“<br />

„Im Grunde sind sie friedlich.“<br />

„Du scheinst nicht sehr überzeugt zu sein.“, stellte Judy fest.<br />

„Sie wagen sich für gewöhnlich nicht in die Ebene. In die Nähe<br />

der Tarkon. Wir haben sie nur selten hier gesichtet. Zumeist<br />

bleiben sie in den Bergen.“<br />

„Wir scheinen ihr Interesse geweckt zu haben.“, lächelte<br />

D’Agosta. „Kann man mit ihnen Kommunizieren?“<br />

Athol schüttelte nur den Kopf. „Es ist nie jemandem gelungen<br />

und sie selbst starten keinen Kommunikationsversuch. Nur einer<br />

hat es je getan und sich in die Nähe von Beliar’s Siedlung<br />

getraut. Wir wissen nicht, was er dort wollte, aber er wurde<br />

noch außerhalb des Schutzwalls erschossen. Daraufhin kamen<br />

alle anderen Gredor nach und nach dorthin gewandert und umstellten<br />

die Festung – aber sie griffen nicht an. Die Tarkon sahen<br />

in ihrem Verhalten dennoch eine Bedrohung und schlachteten<br />

sie alle ab, machten später sogar jagt auf Unbeteiligte.<br />

Nun gibt es nur noch sehr wenige Gredor.“<br />

94


Das fand D’Agosta sehr merkwürdig. „Warum sind die Gredor<br />

denn nicht einfach geflohen?“<br />

„Es sind sehr treue Wesen.“, erwiderte Athol sanft. „Sie halten<br />

eine Totenwache. Die Gredor würden niemals vorzeitig einen<br />

Gefährten verlassen, ob verwundet, oder tot. Auch wenn die<br />

Tarkon in ihnen nur Tiere sehen, so spüren sie doch offenbar,<br />

was der Tod bedeutet. Jedenfalls zeigen sie uns etwas durch<br />

dieses Verhalten, das nur als tiefe Trauer gedeutet werden<br />

kann.“<br />

„Wie Elefanten.“, sagte Roe nachdenklich, erntete dafür aber<br />

nur fragende Blicke. „Sie sind wie Elefanten, oder Gorillas die<br />

ihren Nachwuchs schützen und kämen nie in den Sinn einen<br />

Artgenossen im Stich zu lassen. Dafür sind sie auch bereit sich<br />

in Todesgefahr zu begeben. Das machten sich Wilderer früher<br />

zunutze. Ganze Herden wurden auf der Erde auf diese Weise<br />

ausgerottet. Sie schossen ein Tier nach dem anderen und keines<br />

kam auf den Gedanken zu fliehen.“<br />

Athol nickte traurig. „Sehr treue Wesen.“, wiederholte er.<br />

„Was immer sie von den Tarkon wollten, es wurde zu ihrem<br />

Verhängnis. Aber ich weiß auch nicht, ob sie unsere Sprache<br />

überhaupt verstehen.“<br />

Fowler hob das Gewehr. „Eine Sprache versteht jede Lebensform.“<br />

D’Agosta wirbelte herum. „Fowler, nicht!“<br />

Aber Fowler drückte bereits den Abzug. Das Gewehr ruckte.<br />

Ein Energiebolzen raste durch die Luft, in die Richtung der<br />

Gredor, aber weit, weit über ihre Köpfe hinweg. D’Agosta erkannte,<br />

dass Fowler bewusst daneben geschossen hatte. Er<br />

wollte sie lediglich ängstigen. Und damit hatte er Erfolg. Die<br />

Gredor zeigten plötzlich Aktivität, wandten sich vom Lager ab<br />

und verschwanden schnell hinter der Hügelkette, wie sie aufgetaucht<br />

waren. Dabei machten sie aber nicht den Eindruck<br />

einer panischen Flucht.<br />

D’Agosta war aufgebracht. „Fowler, was sollte denn das?“<br />

95


„Besser die fürchten uns.“<br />

„Das habe ich nicht befohlen!“<br />

„Allan, regen Sie sich ab-“<br />

„Wir sind nicht hier, um diese Wesen einzuschüchtern. Auf<br />

diesem Mond sind wir die Fremden. Nicht die.“<br />

„Einschüchtern? Die verängstigen doch uns!“<br />

„Es sind doch nur Tiere. Die wollen nichts bösartiges.“<br />

„Ach, jetzt machen sie aus einer Mücke keinen Elefanten. Ich<br />

hab ihnen ja nichts getan.“<br />

„Aber ich habe es nicht befohlen!“, wiederholte D’Agosta.<br />

„Wenn ich nicht die ausdrückliche Anweisung gebe, dann<br />

sollten-“<br />

Plötzlich wurden die beiden Männer unterbrochen. Smith rief<br />

nach D’Agosta. „Lieutenant, Commander?“<br />

„Ja?“<br />

„Unsere Patientin ist aufgewacht.“<br />

96


Ramina<br />

Smith war im Lazarett zu Ramina vorgebeugt, hielt mit der einen<br />

Hand ihr rechtes Auge auf und in der anderen eine kleine<br />

Taschenlampe. Sie erkannte eine Pupillendifferenz, die linke<br />

ihrer Patientin Pupille war geweiteter, als die rechte. Außerdem<br />

klagte die Orionerin über starke Kopfschmerzen,<br />

Schwindel und Gleichgewichtsstörungen.<br />

„Commotio Ceribri.“ Smith deaktivierte die kleine Lampe,<br />

richtete sich auf und seufzte. „Sie haben ein Schädel-Hirn-<br />

Trauma erlitten.“<br />

Ramina stöhnte. „Eine Gehirnerschütterung?“<br />

„Ersten Grades, ja.“, nickte Smith. „Vermeiden Sie schnelle<br />

Bewegungen.“ Sie griff hinter sich und öffnete eine Schublade<br />

aus einem Wandschrank.<br />

„Ich werde ihnen ein leichtes Schmerzmittel geben. Mehr haben<br />

wir leider nicht und Sie müssen mit Übelkeit und Erbrechen<br />

rechnen.“<br />

Ramina nickte nur. Sie sah sich um. Hinter dem geschlossenen<br />

Vorhang schlief eine Person und sie glaubte den Piloten zu erkennen.<br />

Auf dem anderen Bett ruhte der bewusstlose Dorak.<br />

Seine Haut war angesengt, die Kleidung zerrissen und<br />

schmutzig. Ramina vermutete, dass sie auch kein besseres<br />

Bild abgab.<br />

„Was ist mit Dorak?“<br />

„Er ist auf dem Weg der Besserung.“, sagte Smith. Dann nickte<br />

sie D’Agosta zu, der geduldig hinter ihr gewartet hatte.<br />

97


„Schonen Sie meine Patientin.“ Anschließend wandte sie sich<br />

Hawk zu.<br />

D’Agosta wartete bis Smith bei dem Piloten war, ehe er sich<br />

Ramina zuwandte. Ramina war nicht besonders groß, ihr Gesicht<br />

annähernd rund und die Haut grün schimmernd, wie bei<br />

jedem Mitglied ihrer Spezies. Außerdem war sie noch recht<br />

jung.<br />

„Was ist passiert?“, fragte er.<br />

„Wir hatten Glück, schätze ich.“<br />

Allan seufzte schwer. „Denkt Crocker auch, aber so würde ich<br />

das nicht gerade nennen.“<br />

Ramina ging nicht auf den Kommentar ein. „Ich war mit Dorak<br />

auf dem Hangardeck und wollte ihn zu den Arrestzellen<br />

bringen, als das Evakuierungssignal erfolgte.“<br />

„Sie wollten ihn Arrestieren?“<br />

„Eine Vorsichtsmaßnahme. Ich dachte er hätte uns in eine Falle<br />

gelockt. Kurz bevor der Angriff der Breen erfolgte, war er<br />

von Technikern im Hangar entdeckt worden. Er versuchte dort<br />

gerade ein Runabout zu stehlen. Aber dessen Andockklemmen<br />

ließen sich glücklicherweise nicht lösen. Es hat wohl einen<br />

Defekt mit den Maschinen gegeben, oder so etwas. Ich weiß<br />

es nicht genau.“<br />

„Schätze dafür ist meine Tochter verantwortlich.“<br />

Leiser fragte Ramina: „Hat sie es geschafft?“ Es klang beinahe,<br />

als würde sie aufrichtige Anteilnahme zeigen. Aber<br />

D’Agosta war sich nicht sicher. „Judy? Ja, sie ist bei mir und<br />

wohlauf.“<br />

Ramina nickte. „Nun, wie auch immer. Dorak kam aus dem<br />

funktionsuntüchtigen Schiff wieder raus, ich schnappte ihn<br />

und kurz darauf ging der Angriff los.“<br />

D’Agosta schaute nachdenklich zu Dorak herüber. Der cardassianische<br />

Reiseführer schlief feste. „Denken Sie, er hat uns<br />

wirklich in eine Falle gelockt?“<br />

98


„Ich weiß nicht. Als der Angriff erfolgte, schien er mindestens<br />

genauso überrascht zu sein, wie wir. Und er hat sicher nicht<br />

beabsichtigt, das Schiff abstürzen zu lassen. Vermutlich war<br />

alles nur ein dummer Zufall.“<br />

„Vertrauen Sie ihm?“<br />

Ein Schatten huschte über Raminas Gesicht. „Ich vertraue<br />

niemandem.“<br />

D’Agosta seufzte. „Was geschah dann?“<br />

„Wir sind rechtzeitig in eine der Kapseln – nur wir beide - und<br />

abgestürzt. Ich kann mich kaum dran erinnern, alles ging so<br />

schnell, aber die Systeme litten unter erheblichen Energieausfällen.<br />

Irgendwie haben wir es dennoch heil nach unten geschafft.<br />

Wir sahen noch, wie die Shenandoah hinter den Bergen<br />

verschwand und aufschlug. Danach nahmen wir den Weg<br />

dorthin auf, wo wir weitere Fluchtkapseln vermuteten.“<br />

„Haben andere überlebt?“<br />

„Nein.“<br />

„Sind Sie irgendwem begegnet?“<br />

„Nein.“, sagte Ramina sofort. „O, Sie meinen anderen Überlebende?<br />

Nein, niemandem. Tut mir leid.“<br />

Erneut das Seufzen. D’Agosta überlegte eine Weile, eine Pause<br />

entstand. Dann deutete er auf ihren Unterarm. „Was ist<br />

das?“<br />

„Was ist wa-“ Erst jetzt bemerkte Ramina, dass der ganze Arm<br />

blutig war. Verkrustetes, altes, blaues Blut. „Muss mich verletzt<br />

haben.“, sagte sie zögernd.<br />

„Dann wäre das Blut doch grün, oder? Von Dorak, kann es<br />

auch nicht sein.“<br />

„Ich ... wir sind angegriffen worden.“<br />

„Angegriffen?“, fragte D’Agosta. „Von was?“<br />

„Ich weiß es nicht. Es ging alles sehr schnell. Ich wurde zu<br />

Boden geworfen und was danach passiert ist, weiß ich nicht<br />

mehr.“<br />

99


D’Agosta starrte sie lange an. „Die Gehirnerschütterung,<br />

stimmt’s?“<br />

„Ja, ich denke deswegen kann ich mich nicht mehr erinnern.“<br />

Sie zuckte mit den Schultern. „Eine anterograde Amnesie. Ist<br />

doch nichts ungewöhnliches, bei einem Schädeltrauma, oder?<br />

Außerdem sind wir auch ziemlich lange in der Hitze gelaufen.<br />

Wie lange waren wir überhaupt unterwegs?“<br />

D’Agosta blickte flüchtig nach draußen. Die Nachmittagssonne<br />

stand hoch am Himmel. „Der Absturz ist jetzt fast zwei Tage<br />

her.“<br />

Ramina sah ebenfalls durch die Fenster, zum Lager hinaus. Sie<br />

sah Rettungskapseln. Vielleicht fünf. Oder auch sechs. „Wie<br />

viele haben es geschafft?“<br />

D’Agosta kniff die Augen zu und rieb sich den Nasenrücken.<br />

Er wirkte plötzlich sehr niedergeschlagen. „Über vierzig. Wir<br />

hatten noch kurzzeitig Kontakt zu einer weiteren Gruppe, aber<br />

die Verbindung ist abgebrochen. Ramina, ich könnte ihre Hilfe<br />

gebrauchen.“<br />

„Ach?“<br />

„Sobald Sie sich besser fühlen, würde ich ihnen gerne die Leitung<br />

der Sicherheitsabteilung übertragen. Das, was davon übrig<br />

ist. Es sind ohnehin nur eine handvoll Leute, aber wir haben<br />

aktuell ein paar Probleme mit den Bewohnern des Planeten.<br />

Und mit Tieren.“<br />

„Tieren?“<br />

„Ja, große dunkelblaue, Gestalten. Mit einem Buckel und einem<br />

Horn.“<br />

Ramina horchte auf, was D’Agosta nicht entging. „Sagt ihnen<br />

das was?“, fragte er.<br />

„Nein.“, meinte Ramina.<br />

„Wie dem auch sei, ich habe weniger Probleme mit denen, als<br />

mit den übriggebliebenen Sicherheitsleuten. Garnere und die<br />

anderen, die es geschafft haben, erweisen sich als wenig kooperative<br />

Draufgänger und sind nicht gerade gut im Befolgen<br />

100


von Befehlen.“ Er seufzte. „Jedenfalls nicht, wenn ich diese<br />

Befehle gebe.“<br />

Ramina nahm die Information, dass es Garnere geschafft hatte<br />

pragmatisch auf. Sie konnte ihn nicht sonderlich gut leiden.<br />

Kaum jemand konnte das. Aber sie war ohnehin nicht an<br />

Freundschaften interessiert.<br />

D’Agosta zuckte mit den Schultern. „Wäre nicht schlecht,<br />

wenn ich jemanden in der Position habe, auf den ich mich verlassen<br />

kann, denn bisher fehlt der Gruppe völlig eine Kommandostruktur<br />

und ich würde gerne versuchen eine zu etablieren.<br />

Nur, damit das ohnehin schon herrschende Chaos nicht<br />

noch schlimmer wird.“<br />

„Ich werde die Aufgabe gerne vorrübergehend-“<br />

„Nicht vorrübergehend, fürchte ich.“ D’Agosta verzog das<br />

Gesicht. „Wir haben hier wirklich ein paar Probleme – gelinde<br />

gesagt. Der Aufenthalt auf dem Mond könnte länger dauern<br />

als zunächst angenommen und...“ D’Agosta seufzte erneut.<br />

„Wie soll ich es ihnen nur sagen?“<br />

„Was sagen?“<br />

„Lieutenant Spiers ... er ist tot.“<br />

„Spiers ... ist ... tot?“, wiederholte Ramina langsam.<br />

D’Agosta nickte ernst. „Er war bei Captain O’Conner, als es<br />

passierte. Wir haben seine Leiche ein paar Kilometer entfernt<br />

von hier gefunden. Offenbar haben die Tarkon ihn erschossen.<br />

Es ist schnell gegangen.“<br />

Raminas Gesichtshälften zuckten und D’Agosta glaubte beobachten<br />

zu können, wie sich ihre Haut zu einem dunkleren<br />

Grün färbte, aber er war sich nicht sicher, ob er diesen Effekt<br />

wirklich sah, oder sich nur einbildete.<br />

Ramina fragte mechanisch: „Tarkon?“<br />

„Eine Art Kriegerspezies, die auf diesem Planeten angesiedelt<br />

ist und durch zwei verschiedene Clans vertreten wird. Lieutenant<br />

Spiers wurde von ihnen aus nächster Nähe erschossen.<br />

Seine Leiche hat man zurückgelassen. Von Captain O’Conner<br />

101


und den anderen, die bei ihm waren, fehlt bislang jede Spur.<br />

Wir vermuten, dass sie gefangengenommen wurden. Ramina<br />

... ich weiß aus eigener Erfahrung, wie hart Sie diese Neuigkeit<br />

treffen muss. Meine Worte werden ihren Schmerz wahrscheinlich<br />

nicht lindern, aber-“<br />

„Ist schon okay.“, behauptete Ramina unwillkürlich. Sie<br />

sprang auf die Beine und straffte ihre Gestalt. „Es geht mir<br />

gut.“<br />

„Sind Sie sicher? Ich-“<br />

„Absolut sicher.“<br />

Aber D’Agosta kannte diesen Blick, kannte die hastigen Bewegungen<br />

und wusste, was nun in ihr vorging. Und dass sie<br />

besser allein sein wollte. Er nickte, überlegte ein paar Sekunden,<br />

ob er ihr tröstend die Hand auf die Schulter legen sollte,<br />

entschied sich dann aber dagegen, stand auf und trat aus der<br />

Kapsel heraus. Ramina starrte zum Fenster hinaus. Es schnürte<br />

ihr die Kehle zu und in der Bauchregion bildete sich ein<br />

merkwürdiger Knoten.<br />

Ronald Spiers war tot. Und diese Tarkon waren schuld. Sie<br />

wollte jeden einzelnen dieser verdammten Mistkerle töten. Sie<br />

wollte sie alle töten!<br />

Ramina erwachte auf einer Liege, in einem sterilen Untersuchungsraum.<br />

Die Lüftung dröhnte so laut, dass es sich in dem<br />

Zimmer wie in einem Raumhafen anhörte. Sie wusste nicht,<br />

wo sie war, oder wie sie an diesen Ort gelangt war. Man musste<br />

sie gleich nach ihrer Ergreifung unter Drogen gesetzt haben,<br />

entsprechend schwerfällig wollten ihre Glieder reagieren und<br />

ihr Geist arbeiten.<br />

Mit trüben Augen kam Ramina auf die Beine und wankte zur<br />

Tür. Sie war abgeschlossen. Sie klopfte eine Weile, aber niemand<br />

machte auf, auch nicht, als sie laut rief. An der gegenüberliegenden<br />

Wand befand sich ein breites Fenster, vor dem<br />

102


eine Sichtblende heruntergefahren war. Sie ging zu dem Kontrollfeld<br />

daneben und schaltete es ein. Ein Menü erschien. Die<br />

Symbole waren orionisch.<br />

Ramina suchte nach irgendeiner Kommunikationsfunktion, einem<br />

Türöffner, oder sonst was, aber sie fand nichts, obwohl<br />

sie eine ganze Weile in dem Interface herumstöberte. Sobald<br />

sie an ein System geriet, wurde ihr sofort der Zugang verweigert.<br />

Irgendetwas hatte sie aber wohl aktiviert, denn die Sichtblende<br />

öffnete sich plötzlich und entblößte den Sternenhimmel.<br />

Sie war im Weltraum.<br />

„Du meine Güte!“ Ramina stand mit klopfendem Herzen am<br />

Fenster der Raumstation, deren Ausläufer sie unter sich erkannte.<br />

Draußen, direkt vor ihr, drehte sich ein großer Planet<br />

mit weißen, weiten Polkappen und einer gewaltig grünen<br />

Landmasse, die von zahlreichen Flüssen und Seen durchzogen<br />

war. Ramina kannte den Planeten sofort wieder, auch wenn sie<br />

ihn nie zuvor mit eigenen Augen gesehen, geschweige denn<br />

besucht hatte. Es war ihr Planet.<br />

Ihre Heimat.<br />

Orion.<br />

Orion.<br />

„Beeindruckend, nicht wahr?“<br />

Ramina wirbelte herum. Eine Orionerin stand in der Tür. Sie<br />

war ihr unbekannt.<br />

„Hallo Ramina.“, sagte sie lächelnd. „Du bist wach, sehr<br />

schön. Wie geht es dir?“<br />

Es dauerte eine Weile, ehe Ramina antwortete. „Es ging schon<br />

mal besser.“ Sie wich zurück zur Wand, mit geballten Fäusten<br />

und unsicher, was sie als nächstes unternehmen sollte. Die<br />

Frau musterte sie abschätzend. In ihrem Gesicht zeigte sich<br />

eine Mischung aus Neugierde und Belustigung. Aber da war<br />

noch etwas anderes, was Ramina nicht einschätzen konnte. Sie<br />

betrat zwar den Raum, näherte sich der unsicher dreinschauenden<br />

Ramina aber nicht. Sie gab nicht einmal irgendwelche<br />

103


Erklärungsversuche von sich, sondern schien abzuwarten, was<br />

Ramina tun würde.<br />

Ramina zögerte nicht lange und fragte: „Wer sind sie? Warum<br />

ist es so laut hier drin?“<br />

„Das ist Teil des Reinigungsprozesses. Wenn wir die Ergebnisse<br />

der medizinischen Untersuchung haben, wird die Lüftungsanlage<br />

auf einen normalen Pegel gestellt.“<br />

„Und wer sind Sie?“<br />

„Aedra.“, antwortete die Frau. „Ich arbeite für das MDI, das –<br />

Ministerium für Deserteur-Identifikation-, das deine Familie<br />

vor fünf Tagen aufgespürt und dich hierher gebracht hat. Aber<br />

das weißt du alles längst.“<br />

Aedra war eine Klischee-Orionerin; grüne Haut, schwarzes<br />

Haar, perfekt gebaut, exotisch und verführerisch zugleich. Ihre<br />

dünne Kleidung zeigte mehr, als sie verbarg. Unter der enganliegenden<br />

Hose zeichneten sich die kräftige Beinmuskulatur<br />

deutlich ab und das kurze Top spannte sich über ihre großen<br />

Brüste.<br />

„Wo ist mein Vater?“, fragte Ramina grollend.<br />

„Deine Eltern wurden beide getötet.“, erklärte Aedra knapp.<br />

„Deine Mutter sofort bei eurer Ergreifung und dein Vater ist<br />

vor wenigen Stunden nach der Urteilsfällung des Rates hingerichtet<br />

worden.“<br />

Ramina keuchte. Fayar war tot? Das traf sie wie ein Hammerschlag,<br />

der ihr die Luft aus den Lungen presste. Sie konnte<br />

nicht fassen, wie kalt und nebensächlich Aedra von seinem<br />

Tod sprach. Ihre Lippen bebten, die Nasenflügel zuckten vor<br />

Wut. „Sie haben ihm das angetan!“<br />

„Nein. Nein, nein, nein.“, schüttelte Aedra den Kopf, als hätte<br />

man ihr gerade etwas absolut unglaubliches unterstellt. „Das<br />

hat er sich alles selbst angetan und du weißt das ganz genau,<br />

Ramina. Meine Organisation wollte niemandem etwas tun.<br />

Melissa nicht, Fayar nicht, niemandem. Aber Fayar hat es<br />

nicht anders gewollt.“<br />

104


„Das hätte nicht sein müssen!“<br />

„Natürlich hätte es nicht sein müssen.“, nickte Aedra. „Wir<br />

wollten ihm wirklich nichts tun, aber er lies uns keine andere<br />

Option. Vor allem dir will ich nichts tun.“<br />

Ramina schnaufte. „Und das soll ich ihnen glauben?“<br />

„Ramina. Bitte. Warum kannst du die neue Situation nicht akzeptieren?<br />

Lassen wir die Gefühle mal einen Moment aus dem<br />

Spiel und seien wir logisch. Dein Vater war ein Deserteur. Er<br />

hat uns verraten, das orionische Volk. Jedes Kind weiß, dass<br />

sich die Männer nicht mit Außerspeziesmitgliedern vermehren<br />

dürfen. Es würde unser System, unsere gesamte Kultur verwässern,<br />

möglicherweise sogar zerstören.“<br />

„Und wer hat diese Regel aufgestellt?“, fragte Ramina düster.<br />

„Die orionischen Frauen, die im ganzen Quadranten als Sklaven<br />

für bestimmte Dienste verkauft werden?“<br />

„Ich bin nicht hier, um mit dir über Sinn und Unsinn unserer<br />

Gesetze zu diskutieren.“, antwortete Aedra. „Zugegeben, das<br />

System ist komplex, aber es funktioniert. Wir Frauen haben<br />

die Kontrolle über Orion und wir können keine Kinder von<br />

Außenweltlern bekommen, als ob die Natur es so wollte. Die<br />

Männer können. Aber sie dürfen nicht. Wer sich an dieses einfache<br />

Gesetzt nicht halten kann, den erwartet der Tod.“<br />

„Warum?“<br />

Aedra sah ihr tief in die Augen. „Die Geburten könnten<br />

Mischlinge hervorbringen. Orionische Missgeburten, die nicht<br />

in der Lage sind, das System aufrechtzuerhalten.“ Sie winkte<br />

ab. „Du hast Glück, dass genug orionisches Blut in deinen<br />

Adern zu fließen scheint, dass wir dich in unsere Kultur integrieren<br />

wollen.“<br />

Ramina runzelte erstaunt die Stirn. „Integrieren?“<br />

Aedras Mine erhellte sich, sie lächelte. Es war ein ehrliches<br />

Lächeln. „Wir geben dir eine zweite Chance, Ramina. Ein<br />

neues Leben. Wir wissen, dass du in deinem alten sehr unglücklich<br />

warst. Es muss schwer für dich gewesen sein, unter<br />

105


all den Nichtgrünen.“<br />

„Das ... war es.“<br />

„Um so etwas zu verhindern – um Mitgliedern unseres Volkes<br />

ein solch schweres Leben zu ersparen, wurde meine Organisation<br />

ins Leben gerufen. Wir sind hier, um für dich alles zum<br />

Besseren zu wenden.“ Sie deutete mit einer fließenden Bewegung<br />

zum Fenster, hinter dem sich Orion drehte. „Schließlich,<br />

bist du doch ein integraler Bestandteil von all dem hier. Das<br />

ist dein Geburtsrecht, was dir deine Eltern gewaltsam weggenommen<br />

haben. Findest du nicht auch, dass du selber darüber<br />

entscheiden solltest, wo du leben möchtest? Was denkst du?“<br />

Ramina zögerte.<br />

„Sei nicht so stur, Ramina. Bedenke, was wir dir anbieten.“<br />

„Ich ... bin nie ... gefragt worden, wo ich ... leben möchte.“<br />

„Genau, Ramina, du wurdest nie gefragt.“, nickte Aedra. Sie<br />

lächelte noch immer. „Schlimmer noch, man hat es dir sogar<br />

vorgeschrieben. Du hattest gar keinen Wahl. Wäre es nicht<br />

schön, dort zu sein, wo du akzeptiert wirst? Wo du hingehörst?“<br />

„Ich wusste noch nie, wo ich hingehöre.“<br />

Aedra streckte Ramina die Hand entgegen. Ramina ergriff sie,<br />

zögerlich, und Aedra zog sie zu sich. Sie war stark. Stärker,<br />

als Ramina gedacht hätte. Die orionerin legte ihr einen Arm<br />

um die Taille und drehte sie sanft zum Fenster. Und als sie<br />

stolz nach draußen deutete, sagte sie: „Willkommen zurück in<br />

der Gesellschaft von Orion. Da, wo du willkommen bist. Da,<br />

wo du hingehörst, um deinen Beitrag für dein Volk zu leisten.<br />

Da, wo du großes vollbringen und alles tun und werden<br />

kannst, was du nur willst.“<br />

Ramina wusste nicht, was sie sagen, was sie denken sollte. Alles<br />

kam so plötzlich, ging so schnell. Diese Leute hatten ihren<br />

Vater getötet. Das war nicht Teil der Abmachung. Ihre Mutter<br />

hatten sie auch getötet. Aber war das für sie wirklich ein Verlust,<br />

in anbetracht dessen, wo sie war und was für Möglichkei-<br />

106


ten sich ihr nun boten?<br />

Aedra umarmte sie. Ramina wehrte sich nicht. Sie wollte etwas<br />

sagen, fand aber hin und hergerissen, zwischen Wut und<br />

Aufregung noch immer keine Worte. Bevor sie etwas sagen<br />

konnte, öffnete sich erneut die Tür. An der Kleidung des<br />

Mannes, der darin erschien, erkannte Ramina, dass es sich um<br />

einen Arzt handelte. Er hielt einen Datenblock hoch.<br />

„Die Untersuchungsergebnisse.“, sagte er. Seine Mine sprach<br />

Bände. Er hatte keine guten Nachrichten.<br />

Sie hörte sie reden. Aedra und der Arzt standen, ins Gespräch<br />

vertieft, hinter einer Glaswand in einem Nebenraum. Ramina<br />

versuchte herauszufinden, was sie sagten, konnte aber nichts<br />

verstehen. Ihre Stimmen wurden von dem Fenster zu sehr gedämpft.<br />

Zwei Dinge wusste sie aber. Sie sprachen über Ramina<br />

und was auch immer der Inhalt des Gespräches war, es bedeutete<br />

nichts gutes.<br />

Der Arzt wirkte aufgeregt, gestikulierte heftig. Aedra hörte zu<br />

und schüttelte ab und an den Kopf. Nach einigen Augenblicken<br />

nickte sie ernst und erwiderte etwas. Dann ließ sie den<br />

Arzt stehen und kam zu ihr herein.<br />

„Was ist los?“, fragte Ramina. „Was ist passiert?“<br />

Aedra seufzte. Sie schien alles andere als glücklich und suchte<br />

nun nach den richtigen Worten. „Wir dachten das orionische<br />

Genom sei bei dir stärker hervorgetreten, als das menschliche.<br />

Ich will direkt zum Punkt kommen; die Drüsen, die das Pheromon<br />

produzieren, was jede orionische Frau auszeichnet, sind<br />

bei dir verkümmert. Sie können es nicht produzieren.“<br />

Ramina begann zu zittern. Sie trat mehrere Schritte von der<br />

Frau zurück, sah sich nach dem Ausgang um. Dort standen<br />

Wachen. Jede einzelne Phaser ihrer Selbst, spürte Gefahr.<br />

„Was ... was bedeutet das?“<br />

„Beruhige dich.“, sagte Aedra. „Hab keine Angst.“<br />

107


„Kann der Defekt behoben werden? Können sie mich operieren?“<br />

„Nein, das wird gar nicht nötig sein. Komm her.“ Sie lächelte<br />

und streckte ihr die Hand entgegen. Ramina zögerte, griff aber<br />

danach.<br />

„Es wird alles gut, versprochen. Du gehörst hier her. Zu uns.<br />

Und trotz deiner ... Unzulänglichkeit, wirst du deinen Beitrag<br />

für unsere Kultur leisten.“ Und sie lächelte erneut. Aber diesmal<br />

war es ein tückisches Lächeln.<br />

108


Judy<br />

Judy D’Agosta saß auf einem Stein und sah zu, wie die A-<br />

bendsonne langsam zum Horizont herunterwanderte, bis sie<br />

grell auf der Metalloberfläche der Kapseln funkelte und ihre<br />

Strahlen in das Farndickicht hinter dem Lager schienen, wo<br />

Judy ihren rechten Stiefel auszog. Sie kippte ihn um und beobachtete,<br />

wie eine ganze menge Sand hinausrieselte. Sie schüttelte<br />

den Schuh so lange, bis nichts mehr kam und wiederholte<br />

die Prozedur dann mit dem anderen. Anschließend zog sie die<br />

Treter wieder an und ging probeweise ein paar Schritte. Erleichtert<br />

seufzte Judy auf.<br />

Schon viel besser!<br />

Das Mädchen schickte sich an, wieder zum Lager zurückzukehren.<br />

Nach allem, was in den vergangenen Stunden passiert<br />

war, wollte sie nicht mehr unbedingt hier draußen herumlaufen,<br />

sondern fühlte sich im Mittelpunkt der Gruppe doch um<br />

einiges wohler.<br />

Auf halbem Weg zurück erspähte sie allerdings Shannyn. Die<br />

Frau hielt offenbar nicht sehr viel von Gesellschaft, denn sie<br />

saß meistens weit abseits der übrigen Leute auf einem kleinen<br />

Fels, wo sie alles beobachten, gleichzeitig aber ihre Ruhe haben<br />

konnte – so auch jetzt. Nun war sie damit beschäftigt, ihr<br />

Schwert zu polieren.<br />

Judy fragte sich kurz, ob sie wirklich zu ihr gehen sollte, entschied<br />

sich dann aber dafür. Was hatte sie schon zu verlieren?<br />

109


Sie näherte sich von hinten und als erstes Stach ihr Shannyns<br />

Rucksack ins Auge, den sie nachlässig auf einen Fels geworfen<br />

hatte. Ein praktisches Ding.<br />

Shannyns Rucksack!<br />

Judy konnte sich nicht beherrschen. Sie musste ihn einfach berühren.<br />

Dabei fiel ihr auf, wie abgenutzt und verschlissen er<br />

war. Ein Reißverschluss ging gar nicht mehr auf, an vielen<br />

Stellen klafften feine Löcher im Stoff. Auch die beiden von<br />

der Blutkatze verursachten waren darunter – der Rucksack<br />

hatte Judy das Leben gerettet. Und an dem Forderfach sah sie<br />

einige rötliche Stellen, die aussahen, wie alte Blutflecken. Sie<br />

strich noch einmal über den Stoff–<br />

„Judy?“<br />

Shannyn hatte sie bemerkt. Sie sah nicht von ihrem Schwert<br />

auf.<br />

„Ja?“, sagte Judy und ihre Stimme verriet ihre Nervosität.<br />

„Kannst du mir etwas aus dem vorderen Fach holen? Eine<br />

Feldflasche?“<br />

„Okay.“, sagte Judy und sah hastig nach. Sie suchte und fand<br />

allerhand Kram, den sie nicht recht zuordnen konnte. Eine<br />

normale Sternenflottenausrüstung war das jedenfalls nicht.<br />

„Wenn du keine findest, ist’s auch nicht schlimm.“, sagte<br />

Shannyn.<br />

Judy hielt inne. Sie sah die Feldflasche. „Nein ich habe sie.“<br />

Shannyn griff nach hinten und nahm die Flasche blind entgegen.<br />

„Komm, setz dich.“, sagte sie dann.<br />

„Okay ... Lieutenant.“<br />

„Shannyn.“<br />

„Okay, Shannyn.“<br />

Shannyn Bartez war ein ganz normaler Mensch. Sehr ungezwungen<br />

und normal. Wie verzaubert setzte sich Judy neben<br />

sie und kam sich zum ersten Mal seit langer Zeit in ihrem Leben<br />

irgendwie dumm vor. Irgendwie ... unsicher. Sie versuchte<br />

herauszufinden woran das lag und kam zu dem Schluss, dass<br />

110


sie zum ersten Mal seit langer Zeit darauf achtete, was ein<br />

fremder Mensch von ihr hielt.<br />

„Ich wollte mich bedanken. Für heute Morgen. Sie haben mir<br />

das Leben gerettet.“<br />

Nicht nur heute Morgen, wie Judy enttäuscht feststellte. Auch<br />

bei den Amphion, bei den Blutkatzen und auf dem Schiff.<br />

Yeah, sie war das kleine, dumme Mädchen, dass dauernd gerettet<br />

werden musste. Judy seufzte.<br />

Shannyn hatte bisher noch nicht aufgesehen. Sie öffnete die<br />

Flasche, drückte einen Lappen darauf und kippte beides um,<br />

bis der Lappen sich mit Flüssigkeit vollgesogen hatte. Dann<br />

stellte sie die Flasche wieder ab und begann die scharfe Klinge<br />

zu polieren. Getrocknetes Blut klebte darauf. Judy glaubte zu<br />

wissen, dass es von dem Skorpion stammte, dem Shannyn den<br />

Schwanz abgeschlagen hatte.<br />

Judy deutete auf die Blutflecken. „So was machen Sie öfters,<br />

wie?“ Und kaum waren die Worte ausgesprochen, bereute sie<br />

das Gesagte auch schon. Aber Shannyn lächelte Judy nur an.<br />

„Hin und wieder. Wie alt bist du, Judy?"<br />

„Vierzehn.“<br />

„Was für eine Klasse ist das? Die neunte?“<br />

„Achte“<br />

„Achte Klasse.“, sagte Shannyn nachdenklich. Sie tränkte den<br />

Lappen erneut mit Flüssigkeit. „Was willst du werden, wenn<br />

du erwachsen bist?“, fragte sie.<br />

„Ich weiß noch nicht.“, sagte Judy ehrlich.<br />

„Das ist eine sehr gute Antwort.“<br />

„Wirklich?“ Sie war sich nicht sicher gewesen, ob das nicht zu<br />

lasch und langweilig klingt.<br />

„Ja.“, sagte Shannyn. „Kein intelligenter Mensch weiß in deinem<br />

Alter schon, was er tun will, wenn er Zwanzig oder Dreißig<br />

ist.“<br />

„Oh.“<br />

„Hast du denn etwas, das du gerne machen würdest?“<br />

111


„Ich hoffe, es hat auf jeden Fall mit Musik zu tun.“, sagte sie<br />

mit einem leichten Anflug von Schuldbewusstsein. Shannyn<br />

entging das nicht. „Was ist so schlimm daran?“<br />

„Na ja, ich spiele auf der Erde in einer kleinen Band. Sie heißt<br />

Warpdrive.“ Ein Schatten fuhr über Shannyns Gesicht. Warpdrive,<br />

also. Judy fuhr fort: „Und normalerweise wird man da<br />

mit vierzehn leicht in eine Schublade geschoben. Sie wissen<br />

schon.“<br />

„Nein, das weiß ich nicht.“ Shannyns Stimme klang Ausdruckslos.<br />

Judy spürte Panik in sich aufsteigen. „Nun, Jungstar, verrückte<br />

Jugendträume, kein anständiges Hobby, so was eben. Das wird<br />

schnell abgetan.“<br />

„Von wem beispielsweise?“<br />

„Von meinen Lehrern, meinem Dad. Ich meine, Dad sagt<br />

nichts dagegen, aber ... Es ist nicht so leicht, wenn man von<br />

Raumfahrern umgeben ist, wie ich das bin. Jeder ist verrückt<br />

auf die Sternenflotte und träumt von einer Karriere auf einem<br />

Raumschiff. Alle wollen sie zu den Sternen. Es ist verrückt.<br />

Früher auf der Erde, wurde man von allen gemieden, wen man<br />

so eine Streberin war. Und nun, im vierundzwanzigsten Jahrhundert,<br />

ist man der Außenseiter, wenn man sich nicht für die<br />

Sternenflotte begeistert, sondern sich eher für alltägliche Dinge<br />

interessiert. Wie für Musik. Sie meiden einen. Ach, ich<br />

weiß auch nicht.“ Judy war einfach so damit herausgeplatzt.<br />

Sie konnte nicht glauben, dass sie das alles zu Shannyn sagte,<br />

die sie vor zwei Tagen noch gar nicht gekannt hatte und trotzdem<br />

erzählte sie ihr all diese persönlichen Dinge. All die Dinge,<br />

die sie aufregten.<br />

Shannyn lächelte. „Dann musst du gut sein mit deiner Band?“<br />

„Ja, ich denke schon. Aber die meisten wollen mir eben einreden,<br />

das wäre nichts für ein Mädchen in meinem Alter. Ich<br />

solle lieber mit Puppen spielen, oder so was. Sternenkarten<br />

auswendig lernen.“ Sie zuckte mit den Schultern.<br />

112


Shannyn hatte die Politur beendet und legte den Lappen weg.<br />

„Also Judy, so jung du auch bist, eins kannst du ruhig schon<br />

lernen. Dein ganzes Leben lang werden Leute versuchen dir<br />

etwas einzureden. Und fast alles davon, ungefähr Neunzig<br />

Prozent, ist falsch.“<br />

Judy runzelte die Stirn.<br />

„Das ist eine Tatsache des Lebens.“, sagte Shannyn. „Menschen<br />

werden vollgestopft mit Fehlinformationen. Deshalb ist<br />

es so schwer herauszufinden, wem man glauben kann. Benutze<br />

einfach deinen Verstand. Ich weiß, wie es dir geht.“<br />

„Wirklich?“<br />

„Wirklich. Als ich in deinem Alter war, habe ich ein paar Sachen<br />

gemacht, von denen mir ebenfalls die meisten abgeraten<br />

haben. Sie wollten mir erzählen, ich sei zu jung dafür. Solle<br />

ebenfalls lieber mit Puppen spielen.“ Sie zwinkerte. „Anstatt<br />

mit Schwertern.“<br />

„War ihr Dad auch dagegen?“<br />

„Nein, nicht wirklich, auch wenn er nicht sonderlich davon<br />

begeistert waren. Aber die Entwicklung lies sich scheinbar<br />

kaum verhindern, bei den Vorlagen, die er mir in die Wiege<br />

gelegt hatte. Aber nein, meine Eltern haben mich nie wirklich<br />

eingeschränkt. Sie bläuten mir nur ständig ein, meinen Kopf<br />

zu gebrauchen. Ansonsten hatte ich alle Freiheiten. Das<br />

Schwert hier ist sogar von meinem Vater.“<br />

„Electric!“<br />

„Willst du es mal halten?“<br />

„Ist es schwer?“<br />

Shannyn lächelte. „Du wirst es schaffen. Sei vorsichtig, die<br />

Klinge ist sehr scharf.“<br />

Judy umschloss fest den Griff. Als Shannyn los lies und ihr<br />

das Schwert ganz überließ, wunderte sich Judy, wie leicht es<br />

war. Diese Waffe hatte kaum Gewicht. Sie fühlte sich fast an,<br />

wie ein Badmintonschläger.<br />

113


„Halte das Schwert vor dich, von deinem Körper weg. Ja, genau<br />

so. Hast du es feste?“<br />

Judy nickte.<br />

„Okay.“, sagte Shannyn. Lauter: „Schweren!”<br />

Unvermittelt wog das Schwert eine Tonne! Die Gravitation<br />

riss es zu Boden und Judy musste loslassen. Scheppernd knallte<br />

das Schwert auf den harten Sandboden. Judy sprang erschrocken<br />

zurück. Sie hatte das Schwert kaputt gemacht! „Es<br />

tut mir-“<br />

Aber Shannyn lächelte nur. „Normalmodus.“, sagte sie laut<br />

und streckte eine Hand nach dem Griff aus. Sie hob die Waffe<br />

problemlos hoch. „Das Schwert ist auf meine Stimme programmiert.“<br />

„Das ist aber nicht normal, oder?“<br />

„Ein alter Freund meines Vaters – ein sehr begabter Ingenieur<br />

-, hat mir ein paar Extras eingebaut. Auf verbale Befehle hin<br />

kann ich das Schwert in verschiedene Modi versetzen. Zum<br />

Beispiel, dass es sehr schwer ist. So kann die Waffe niemals<br />

gegen mich verwendet werden.“<br />

„Electric!“<br />

Shannyn wischte mit dem Lappen den Staub von der Klinge.<br />

Judy musterte Shannyn dabei mit leuchtenden Augen. „So<br />

sieht also eine Heldin aus.“, sagte sie.<br />

Aber Shannyn schüttelte mit dem Kopf. „Nein.“ Sie hielt das<br />

Schwert so, dass Judy direkt in die Spiegelung der blanken<br />

Klinge sah. Auf ihr eigenes Gesicht. „So sieht eine Heldin<br />

aus.“, sagte Shannyn ernst. „Jemand wie ich, der vom Schicksal<br />

begünstigt wird und verrückt genug ist, keine Angst zu haben,<br />

ist kein Held.“ Sie lächelte Judy aufmunternd zu und<br />

steckte das Schwert zurück in die Scheide an ihren Gürtel.<br />

„Ein junges Mädchen jedoch, gerade alt genug, um sich für<br />

Jungs zu interessieren, das sich trotz seiner Angst mit schwerbewaffneten<br />

Tarkon anlegt, das ist ein Held.“<br />

114


„Aber so wie Sie zu kämpfen, mit Schwerter und Waffen und<br />

das alles, das könnte ich nie.“<br />

„So?“, hob Shannyn die Brauen. „Du hast den Jeep der Tarkon<br />

außer Gefecht gesetzt, obwohl du noch nie in deinem Leben<br />

mit einem Gewehr umgegangen bist. Diese Amphion verdankt<br />

dir ihr Leben.“<br />

„Ach was.“, erwiderte Judy achselzuckend.<br />

Shannyn warf ihr einen Seitenblick zu. „Dein ganzes Leben<br />

lang werden Leute versuchen dir deine Erfolge und Leistungen<br />

wegzunehmen. Nimm sie dir nicht selbst weg.“ Sie legte<br />

dem Mädchen eine Hand auf die Schulter. „Du kannst alles<br />

schaffen, wenn du es nur willst.“<br />

Judy war beeindruckt. Einfach beeindruckt. „Woher-“<br />

Vom Lager drang D’Agostas aufgebrachte Stimme zu ihnen<br />

herüber: „Das war die richtige Entscheidung!“ Ihm folgte einig<br />

Gruppe aufgebrachter Sicherheitsleute auf dem Fuße, quer<br />

durchs Lager.<br />

„Dein Vater hat Probleme.“, sagte Shannyn und ging zum Lager.<br />

Judy sprang auf und lief ihr nach.<br />

115


Ramina<br />

„D’Agosta, was zur Hölle soll das?“ Allan blieb in der Mitte<br />

des Lagers stehen und drehte sich zu den aufgebrachten Sicherheitsleuten,<br />

Garnere, Fowler, Markson, Kendrick, Ramirez<br />

und Vam’Pelt um. Sie bildeten einen Halbkreis um ihn<br />

herum, bedachten D’Agosta mit geringschätzigen Blicken, o-<br />

der schüttelten den Kopf. Insbesondere Antonio Garnere war<br />

sehr verärgert. „Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?“,<br />

fragte er. „Wie konnten Sie nur Ramina die Leitung<br />

über die Sicherheit geben? Ausgerechnet diesem grünhäutigem<br />

Miststück?“<br />

„Bitte beruhigen sie sich.“, sagte D’Agosta. Inzwischen waren<br />

auch andere Personen auf den Tumult aufmerksam geworden,<br />

ließen alles stehen und liegen und kamen zu ihnen, um die Sache<br />

zu verfolgen, herauszufinden, was geschah. Und - wie er<br />

vermutete -, um life dabei zu sein, wenn die Sicherheitsabteilung<br />

D’Agosta in Stücke riss. „Ich halte sie für eine sehr gute<br />

Wahl und die Sache für die richtige Entscheidung.“<br />

Fowler schnaubte. „Ist es aber nicht. Ramina ist merkwürdig.“<br />

„Natürlich ist sie das. Ramina hat gerade Lieutenant Spiers<br />

verloren. Ich finde, sie hat allen Grund merkwürdig zu sein.“<br />

„Sie war auch schon vorher merkwürdig, Lieutenant Commander!“,<br />

maulte Fowler.<br />

D’Agosta schüttelte den Kopf, versuchte die Leute zu beschwichtigen.<br />

Die Ansammlung wurde unterdessen immer größer<br />

„Lieutenant Spiers hielt immer große Stücke auf sie.“<br />

116


Garnere winkte ab. „Spiers? D’Agosta, soll ich ihnen sagen,<br />

was Ramina war? Ramina war Spiers’ Bettgespielin! So<br />

sieht’s nämlich aus. Sie war seine ganz persönliche Nutte und<br />

hat sich nach oben geschlafen.“<br />

„Ich denke ihre Loyalitäten-“<br />

„...liegen einzig und allein bei sich selbst.“, beendete Fowler<br />

den Satz. Fowler wollte sie einfach nicht als leitende Kraft der<br />

Sicherheitsabteilung haben. Nicht in anbetracht der Tatsache,<br />

dass sie für längere Zeit auf diesem Mond festsitzen würden.<br />

Er hätte das beinahe als Argument vorgebracht, hätte fast zuviel<br />

ausgeplaudert, aber D’Agosta’s warnender und flehender<br />

Blick zugleich, hielten ihn davon ab.<br />

„D’Agosta, kennen Sie ihre Vergangenheit?“, fragte Garnere,<br />

wartete aber gar nicht auf eine Antwort. „Sie hat mit allem<br />

und jedem geschlafen, was nötig war, um sich weiterzubringen.<br />

Sie denkt immer nur an sich selbst, an ihr eigenes Wohlergehen.<br />

Ramina hat Spiers doch lediglich benutzt und jetzt<br />

fallen Sie ebenso auf ihre orionischen Pheromone herein, mein<br />

lieber.“<br />

„Sie kann keine Pheromone versprühen.“, entgegnete Allan.<br />

„Soweit ich weiß sind ihre Drüsen ineffektiv, Ramina kann<br />

das orionische Hormon nicht ausstoßen, welches-“<br />

„D’Agosta, verstehen Sie mich nicht?“, sagte Garnere laut.<br />

„Sie ist eine verdammte Nutte und das ist sie gerne! Ramina<br />

hat Spiers nur benutzt.“<br />

Eine Tür schlug zu.<br />

Alle drehten den Kopf. Ramina stand außerhalb des Lazaretts.<br />

Sie hatte alles gehört.<br />

Im Zimmer war es still.<br />

Ramina ging zur Tür, schlug mehrmals heftig mit der Faust<br />

auf die alten, rostigen Kontrolltasten, doch die Türhälften<br />

blieben verschlossen. Aus den Zimmern hinter dem Flur hörte<br />

117


sie gedämpftes, abgehaktes Stöhnen. Ab und zu auch einen<br />

Schrei, oder einen mit zittriger Stimme gerufener Name.<br />

Das kann nicht wahr sein, dachte sie. Das kann doch alles<br />

nicht wahr sein!<br />

Man hatte sie aus dem Untersuchungsraum der Raumstation<br />

im Orbit direkt hierher, in ein altes Hotel in der Hauptstadt O-<br />

rions gebracht. Aedra hatte dabei die ganze Zeit geschwiegen<br />

und nicht auf Raminas Fragen, was nun mit ihr geschehen<br />

würden, geantwortet.<br />

„Du wirst deinen Beitrag leisten.“, hatte sie nur gesagt.<br />

Ramina sah sich um. Der Raum war schmucklos und nicht<br />

sehr ausschweifend ausgestattet. Es gab Ablagen für Kleidung.<br />

Zwei Stühle standen an der Wand auf einem fleckigen Teppich<br />

und machten einen brüchigen Eindruck.<br />

Das robuste Bett war das einzig hochwertige Einrichtungselement.<br />

Es war wahrscheinlich auch das einzige, was die Besucher<br />

dieses Raumes benötigten. Schwache Leuchtstreifen an<br />

den Wänden tauchten das Zimmer in schummrig rötliches<br />

Licht. Fenster gab es keine.<br />

Ramina ging in den Waschraum nebenan. Bei jedem ihrer<br />

Schritte fiepte das Metallband an ihrem rechten Fußknöchel,<br />

dass dafür gedacht war, ihren Körper sofort mit lähmenden<br />

Schmerzimpulsen zu fluten, sollte sie je den Versuch starten,<br />

über die Türschwelle zu treten. Vermutlich würde es sie dabei<br />

auf der Stelle töten.<br />

Vorhin hatte Ramina den törichten Versuch gestartet, das<br />

Band zu lösen. Ihr war sofort ein Schlag versetzt worden, so<br />

heftig, dass sie jäh durch das halbe Zimmer, quer über das Bett<br />

geschleudert worden war. Weder der Schmerzimpuls, noch der<br />

Aufprall hatte ihr erstaunlicherweise das Bewusstsein geraubt,<br />

aber sie war fast eine Stunde lang nicht in der Lage gewesen<br />

auch nur eines ihrer höllisch schmerzenden Gliedmaßen zu<br />

bewegen und vom Boden wieder aufzustehen. Die Taubheit in<br />

den Muskeln spürte sie noch immer, weshalb sie den Wasch-<br />

118


aum nur mit schwerfälligen Schritten erreichte. Auch er war<br />

schmucklos und ähnlich spartanisch, wie das andere Zimmer.<br />

Die Wände waren kahl, der Boden hätte eine Putzkolonne<br />

dringend nötig gehabt. Der Spiegel über dem Waschbecken<br />

war gesplittert.<br />

Ramina drehte den Kran auf. Immerhin, das Wasser war sauber.<br />

Sie spritzte sich etwas ins Gesicht, um wieder wach und<br />

klar zu werden. Dann betrachtete sie ihr junges Gesicht in dem<br />

gesplitterten Spiegel.<br />

Was habe ich getan?<br />

Sie musste den Blick abwenden. Sie drehte sich um, ging in<br />

das andere Zimmer zurück und als sie aufblickte, bemerkte<br />

sie, dass die Tür zu ihrem Zimmer offen stand. Ein Schatten<br />

fiel über den Boden und ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen<br />

hatte, stand im Türrahmen. Sein schwarzes Haar war<br />

zerzaust, seine Kleidung zerschlissen und verschwitzt. Er erweckte<br />

den Eindruck eines miesen Gauners, wie sie meistens<br />

in den dunkelsten aller dunklen Gassen vorzufinden waren.<br />

Das lange Messer, dass er in seinen Gürtel gesteckt hatte,<br />

sprach Bände. An der Klinge entdeckte Ramina altes, getrocknetes<br />

Blut.<br />

Er betrachtete Ramina lange und grinste wild. Seine Zunge<br />

leckte seine Lippen. „Man sagte mir, ich sei dein erster Kunde?“<br />

Ramina wusste nicht, was sie tun sollte. Er war viel größer<br />

und kräftiger als sie. Panik stieg in ihr auf und schnürte ihr<br />

beinahe die Kehle zu. „Nein!“, sagte sie entschieden. „Nein,<br />

das ... nein, ich kann nicht!“<br />

Der Mann schloss die Tür hinter sich und nickte. Dabei wuchs<br />

sein Grinsen in die Breite. In seinen Augen funkelte es. „Oh<br />

doch, du kannst. Du hast gar keine andere Wahl.“ Er öffnete<br />

sein Hemd.<br />

Ramina fletschte die Zähne und unternahm einen verzweifelten<br />

Versuch ihn anzugreifen, aber das schien er zu erwarten,<br />

119


es schien ihm sogar zu gefallen. Bevor sie ihm auch nur annähernd<br />

gefährlich werden konnte, versetzte er ihr einen Handkantenschlag,<br />

der Raminas Kopf herumwarf und sie auf das<br />

Bett schleuderte. Für einen Moment sah sie Sterne. Und dann<br />

war er über ihr. Er umschloss ihre Handgelenke und drückte<br />

ihre Arme auf das Kissen. Sie wand ihren Körper, kam aber<br />

nicht frei. Ramina spürte seinen heißen, stinkenden Atem auf<br />

ihrer Wange, als er sein Gesicht nahe an ihres brachte und der<br />

blanke Horror schoss durch ihren Körper und Geist, als sie realisierte,<br />

was geschah.<br />

Und eine Träne rann die Wange der sonst so starken Ramina<br />

herab.<br />

„Bitte nicht!“, flehte sie. „Bitte!“<br />

Dann griff er zu seinem Gürtel, zog das Messer hervor und<br />

hielt ihr die Klinge an die Kehle. „Sei jetzt still.“, sagte er und<br />

begann ihren Hals zu küssen und schneller zu atmen.<br />

Ramina ertrug es.<br />

Sie schloss die Augen und ertrug alles still, um zu überleben.<br />

Dieser Überlebenswille vermaniferstierte sich in ihr, so feste,<br />

dass sie ihn niemals in Frage stellen sollte. In der nächsten<br />

halben Stunde erstarb etwas in Ramina. Und sie wusste, ihre<br />

Mutter hatte Recht gehabt. Ramina war die größte Bedrohung<br />

für die orionische Kultur, weil sie die Machtposition der Frauen<br />

gefährden konnte. Weibliche Mischlinge, deren verwässerte<br />

Gene das Pheromon, mit denen die Frauen die Männer beherrschten<br />

und beeinflussten, nicht hervorbringen konnten, gefährdeten<br />

das System. Mit ihnen drohten die Frauen die<br />

Machtposition auf Orion zu verlieren. Also tötete man sie, o-<br />

der setzte sie für die schmutzige Arbeit ein, um ebenso<br />

schmutziges Geld zu verdienen, wo sie niemandem schaden<br />

konnten.<br />

Ramina begriff, dass sie nirgends hingehörte. Dass sie niemanden<br />

mehr hatte. Ramina war ganz allein.<br />

120


Im anbrechenden Abend trat Ramina bedrohlich auf Garnere<br />

zu, der sie noch vor wenigen Sekunden als Nutte tituliert hatte,<br />

unwissentlich, dass sie ihn hören konnte. Sie ignorierte alle<br />

anderen Anwesenden – alle Schaulustigen - und blieb so dicht<br />

vor dem Sicherheitsoffizier stehen, dass sich fast ihre Nasenspitzen<br />

berührten. „Haben Sie irgendein Problem mit mir?“,<br />

fragte sie mit eisiger Stimme.<br />

Garnere schürzte die Lippen. „Sie haben meine Worte gehört.“<br />

Ramina nickte. „Wenn ich Sie noch einmal höre, werd ich ihnen<br />

die Kehle aufschlitzen, Garnere.“<br />

„Im Schlaf?“, fragte der Sicherheitsoffizier.<br />

Urplötzlich war es totenstill. Die Temperatur schien um mehrere<br />

tausend Grad gefallen zu sein. Von Ramina ging eine solche<br />

Kälte aus, dass D’Agosta glaubte, allein ihr Blick würde<br />

genügen, um ihn zu Eis erstarren zu lassen. Zum Glück sah<br />

Ramina ihn nicht an, als sie eine Frage an ihn richtete, sondern<br />

starrte weiterhin Garnere in die Augen. Der Sicherheitsoffizier<br />

versuchte dem Blick standzuhalten.<br />

„Lieutenant Commander D’Agosta, bleiben Sie bei der Entscheidung,<br />

dass ich die Leitung des hiesigen Sicherheitsteams<br />

übernehmen soll? Vorrübergehend und so lange, bis Hilfe eintrifft?“<br />

D’Agosta schluckte. Er spürte zum etwa hundertsten Mal an<br />

diesem Tag die Blicke der anderen auf sich ruhen. Sollte er<br />

diese Entscheidung wirklich treffen? Tat er Ramina und sich<br />

selbst damit einen Gefallen? Unter anderen Umständen hätte<br />

er sich kaum Sorgen gemacht, da ihr Zustand nur von kurzer<br />

Dauer gewesen wäre, aber er wusste mehr als die Übrigen. Ihr<br />

Aufenthalt auf dem Mond würde sehr viel länger dauern. Die<br />

Sache war doch die: Garnere konnte Ramina nicht leiden und<br />

er war ein bekannter Unruhestifter, der bislang nur durch Ronald<br />

Spiers’ problemlos im Zaum gehalten werden konnte.<br />

D’Agosta vermutete, dass er sich in der aktuellen Situation le-<br />

121


diglich übergangen fühlte und die Leitung über das restliche<br />

Sicherheitsteam vielleicht sogar selbst haben wollte. Vielleicht<br />

sogar der ganzen Gruppe, wie er seine Autorität untergrub.<br />

Oder aber es gab persönliche Differenzen, die D’Agosta nicht<br />

kannte. Aber das spielte keine Rolle, auf Garnere konnte er<br />

sich nicht verlassen. Das konnte er aber auch nicht, wenn er<br />

Ramina die Leitung übergab, denn dann würde Garnere<br />

sicherlich Ärger machen und andere, wie Fowler, gegen die<br />

Orionerin und ihn selbst aufhetzen. Andererseits, wenn er jetzt<br />

einen Rückzieher machte, dann würde wahrscheinlich er derjenige<br />

sein, der von Ramina die Kehle aufgeschnitten bekam<br />

und-<br />

Unfug!<br />

Solche Gedanken durften seine Entscheidungen nicht beeinflussen.<br />

Er musste endlich einmal handeln. „Chief Petty Officer<br />

Ramina hat als Lieutenant Spiers’ Rechte Hand und<br />

Stellvertreterin die besten Ambitionen, dafür.“, nickte er. „Also<br />

ja, ich bleibe bei meiner Entscheidung.“<br />

Ramina sagte, noch immer Garnere fixierend: „Wenn das so<br />

ist, Antonio, befolgen Sie ab sofort meine Befehle. Und wenn<br />

Sie das nicht tun, oder ungefragt den Mund aufmachen, kriege<br />

ich Sie wegen Insubordination dran. Ist das klar?“<br />

Schweigen.<br />

Der Sicherheitsoffizier hielt ihrem Blick nicht mehr länger<br />

stand und starrte an Ramina vorbei, irgendwo auf einen unsichtbaren<br />

Punkt hinter ihr.<br />

„Ist das klar?“, fragte Ramina erneut und mit mehr Schärfe.<br />

Garnere straffte seine Gestalt. „Ja.“<br />

„Ja ... und weiter?“<br />

Garnere blickte starr geradeaus.<br />

„Lieutenant, wir zollen dem Rang und dem Posten Respekt,<br />

nicht der Person.“<br />

Er grunzte. „Ja, Sir.“<br />

122


„Fein. Jetzt gehen Sie mir aus den Augen, bevor ich ihnen das<br />

Genick breche.“<br />

Garnere salutierte spöttisch, wandte sich ab und warf<br />

D’Agosta einen vernichtenden Blick von der Seite zu, bevor er<br />

mit Fowler davon stapfte. Auch die Anderen verteilten sich<br />

leise murmelnd, oder den Kopf schüttelnd. Innerhalb von Sekunden<br />

löste sich die Ansammlung auf. Ramina sah D’Agosta<br />

ausdruckslos entgegen, dann wandte sie sich an Isaac. „Erzählen<br />

Sie mir genau, was hier seit dem Absturz passiert ist.“<br />

Die Frauen gingen in die entgegengesetzte Richtung davon.<br />

Als alle abgerückt waren, oder peinlich berührt fortschauten,<br />

wenn D’Agosta in ihre Richtung sah, setzte er sich auf einen<br />

Stein und vergrub das Gesicht in die Hände. So saß er eine<br />

Weile da und schüttelte immer wieder den Kopf, bis jemand<br />

eine Hand auf seine Schulter legte. Erschrocken sah er auf. Es<br />

war Shannyn. Sie fragte: „Wollen wir spazieren gehen?“<br />

D’Agosta und Shannyn wanderten ein wenig, im matten Licht<br />

der untergehenden Sonne um das Basislager herum, während<br />

Crocker und ein paar Helfer damit begannen, die Scheiterhaufen<br />

zu entzünden, damit die Unsichtbaren, wie Athol sie nannte,<br />

nicht ins Lager eindrangen.<br />

Inzwischen war klar, dass es sich bei diesen Wesen um Chamäleons<br />

handelte - Raubtiere. D’Agosta schauderte innerlich.<br />

Sie waren erst seit kurzem auf dem Mond und hatten seine<br />

Oberfläche bereits nach kurzer Zeit als absolut feindliche Umgebung<br />

kennen gelernt. Riesige Skorpione, fressende Felsen,<br />

jagende Chamäleons.<br />

Der Mond selbst erwies sich als aggressiv und so machte er<br />

seine Bewohner zu seinem Gleichnis. Dennoch kam ihm die<br />

erhöhte Raubtierpopulation merkwürdig vor. So viele Raubtiere,<br />

so wenig Beutetiere? Er vermutete, dass dies alles an der<br />

radioaktiven Strahlen des Bodens und dem daraus resultieren-<br />

123


den Säureregen lag, hatte aber noch keine endgültige und zufriedenstellende<br />

Erklärung gefunden. D’Agosta hoffte nur,<br />

dass sie nicht lange genug bleiben würden, um sich ebenfalls<br />

an diese Umgebung anzupassen.<br />

Aber vielleicht war es auch schon zu spät. Die Sicherheitsabteilung<br />

fiel ohne Spiers’ Kontrolle ja jetzt schon übereinander<br />

her. Sie waren alle ein wilder Haufen, die meisten von ihnen<br />

hatten den Dominion-Krieg auf der Shenandoah erlebt, dort<br />

Freunde und Familie verloren. Das Schiff war häufig als Träger<br />

und Transportmittel für die Bodentruppen eingesetzt worden,<br />

wodurch auch die Sicherheitsleute an entsprechenden<br />

Operationen und Belagerungen teilgenommen hatten. An niemandem<br />

in der Sicherheitsabteilung war der Krieg spurlos<br />

vorbeigezogen. Entsprechend wild und aufmüpfig verhielten<br />

sie sich nun, jeder versuchte die Grausamkeiten der Schlachten<br />

auf andere Art zu verarbeiten. Manche wurden hart, andere<br />

Schweigsam. Und wieder andere Vorlaut.<br />

Vielleicht war das der Grund, warum sie D’Agosta mit Argwohn<br />

begegneten. Er hatte nicht im Krieg an ihrer Seite gekämpft,<br />

war nach dem Tod seiner Frau auf der Erde geblieben,<br />

weit weg von den Frontlinien.<br />

Für Leute wie Garnere musste er wie ein Verräter erscheinen.<br />

Allan seufzte und sah zur Ebene hinaus. Penkala und Dike waren<br />

noch immer nicht zurückgekehrt. Er hoffte, mit ihnen war<br />

alles in Ordnung. Er hoffte, mit Nechayev war alles in Ordnung<br />

– trotz allem. Sie sollte das Kommando über die Gruppe<br />

übernehmen. Gerade jetzt, in dieser Situation, hätte er sie gut<br />

brauchen können.<br />

Dann blickte er zu den Bergen. Irgendwo dahinter lag die Festung<br />

der Tarkon in der sich wahrscheinlich Captain O’Conner<br />

befand. D’Agosta konnte nur beten, dass es ihm gelang mit<br />

den Tarkon zu verhandeln und dass er so schnell wie möglich<br />

zurückkehrte, um den Befehl über die Gruppe zu übernehmen<br />

124


und Allan abzulösen. Wenn er überhaupt noch lebte. D’Agosta<br />

wollte feste daran glauben.<br />

„Was hat es mit dieser Ramina auf sich?“, fragte Shannyn neben<br />

ihm.<br />

„Was wollen Sie denn wissen?“<br />

„Alles.“, sagte Shannyn mit einem Lächeln. „Ich habe noch<br />

nie von ihr gehört.“<br />

D’Agosta runzelte die Stirn. „Sie sind wirklich noch nicht lange<br />

auf dem Schiff, nicht wahr?“<br />

„Nein.“<br />

„Ramina ist schon länger bei uns. Es gibt keine Beschwerden<br />

über ihre Pflichterfüllung. Im Gegenteil, soweit ich weiß, ist<br />

sie immer sehr zuverlässig. Aber damit habe ich zugegebenermaßen<br />

auch nicht so viel zu tun.“<br />

„Warum wird Sie dann gemieden?“<br />

„Woher wollen Sie wissen, dass Ramina gemieden wird?“,<br />

fragte D’Agosta verwundert.<br />

„Sagen wir einfach, ich kenne jemanden, der ähnlich verschwiegen<br />

ist.“, zuckte Shannyn mit den Schultern. Sie bogen<br />

um eine Kapsel und kehrten in das Lager zurück. Inzwischen<br />

brannten alle Scheiterhaufen. Schatten von flackerndem Licht<br />

tanzten über Shannyn’s Mine.<br />

D’Agosta sagte: „Es gibt diverse ... Gerüchte über ihre Vergangenheit.“<br />

„Ach so?“<br />

„Man sagt sie sei eine Diebin gewesen. Und schlimmeres.“<br />

„Wie hat Sie es dann in die Sternenflotte geschafft? Immerhin<br />

ist Sie Chief Petty Officer.“<br />

„Sicherheitschef Spiers sieht sich dafür verantwortlich. Die<br />

beiden kennen sich schon länger und er hat ihr erheblich unter<br />

die Arme gegriffen. Die beiden hatten eine besondere Beziehung.<br />

Sie hatten-“<br />

„Sex.“, sagte Shannyn.<br />

125


D’Agosta errötete leicht. „Genau. Aber ich denke es steckt<br />

sehr viel mehr dahinter. Es muss schon Liebe gewesen sein.“<br />

„Warum sind Sie sich da so sicher?“<br />

„Ramina verfügt meines Wissens nach nicht mehr über die<br />

Fähigkeit der orionerinnen, Männer durch das Ausstoßen bestimmter<br />

Hormone zu verführen. Ich glaube diese Organe sind<br />

verkümmert, oder etwas derartiges. Vielleicht auch durch einen<br />

Unfall zerstört, es gibt verschiedene Gerüchte darüber.<br />

Eines davon besagt, dass Sie sich zusätzliche Drüsen implantieren<br />

ließ, um mehr Macht zu erlangen. Solange, bis ihr Körpersystem<br />

schließlich kollabierte. Aber das sind nur Gerüchte.<br />

Selbst aus den Personalakten kann man nicht viele Informationen<br />

über ihre Zeit vor der Sternenflotte entnehmen. Schätze<br />

auch hier hatte Ron seine Finger im Spiel.“<br />

„Verstehe.“<br />

„Wie dem auch sei, sie war immer zuverlässig. Ich vertraue<br />

ihr.“<br />

Shannyn lächelte. „Hormonell bedingt?“<br />

Nun schmunzelte auch D’Agosta. „Nicht unbedingt. Nein, aus<br />

einem anderen Grund.“ Er blieb stehen und sah Shannyn<br />

plötzlich sehr ernst in die Augen. „Ich muss nicht unbedingt<br />

die Vergangenheit einer Person kennen. Was jemand vorher<br />

getan hat und wo jemand herkommt. Es zählt, was Sie im Hier<br />

und Jetzt tut. Darauf richtet sich mein Vertrauen.“<br />

Shannyn stemmte die Hände in die Hüften und neigte den<br />

Kopf ein wenig. Lächelnd fragte sie: „Warum habe ich das<br />

Gefühl, dass Sie jetzt nicht mehr über Ramina sprechen?“<br />

Er zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht.“<br />

Plötzlich verhärteten sich Shannyns Züge. Sie sah nicht mehr<br />

ihn an, sondern über seiner Schulter hinweg, zu der sichelförmigen<br />

Hügelkette, die das Lager im Osten umgab. „Sie sind<br />

wieder da.“<br />

126


Leuchtfeuer<br />

Manilow Crocker hob das Fernglas an die Augen und betrachtete<br />

die Gredor, wie sie starr auf der Hügelkette standen und<br />

zu ihnen herabblickten.<br />

„Sind es dieselben?“, fragte D’Agosta neben ihm. Inzwischen<br />

hatten alle die dunklen Gestalten entdeckt, deren grobe Umrisse<br />

sich vom dunklen Hintergrund abhoben. Jeder einzelne von<br />

ihnen trug eine Fackel. Sie bewegten sich nicht. Sie standen<br />

einfach nur da. Wie zuvor. Es war unheimlich, einfach unheimlich.<br />

Die Gestrandeten tuschelten nervös.<br />

„Bin mir nicht sicher.“, sagte Crocker und schaltete auf Nachtsicht<br />

um. Er war zufrieden mit sich, weil es das einzige Nachtsichtgerät<br />

war, das sie hatten und es hatte sich in der Kiste befunden,<br />

die während dem Absturz unter seinem Sitz geruht<br />

hatte. Durch das Gerät sah er die Welt in fahlen Grünschattierungen.<br />

Deutlich erkannte er die merkwürdigen Wesen hoch<br />

auf dem Berg.<br />

„Ich denke es sind gleich viele.“, sagte er und reichte das<br />

Fernglas an D’Agosta weiter. Der hielt Judy fest und reichte<br />

das Ferngerät sofort an Ramina weiter. Er selbst begnügte sich<br />

damit, die Augen zuzukneifen und zu starren. „Und? Haben<br />

die Sie angegriffen?“, fragte er.<br />

Ramina klang Ausdruckslos. „Nein.“<br />

„Wir sollten vielleicht rein gehen.“, sagte Judy. „In die Kapseln.<br />

Und sie verschließen.“<br />

127


„Die Kapseln können uns nicht mehr alle aufnehmen.“, erwiderte<br />

Allan. Drei hatten sie auseinandergenommen. Der Rest<br />

bot ohnehin kaum noch Schutz.<br />

„Ich meine ja nur.“, sagte Judy. „Dass wir in den Kapseln sicherer<br />

sind.“<br />

„Dir ist unwohl, nicht wahr?“, fragte Fowler. Judy nickte.<br />

„Das Mädchen hat in einem Punkt recht: da stimmt was nicht.<br />

Die könnten jeden Moment angreifen.“<br />

„Oder Sie warten, was wir als nächstes tun.“<br />

„D’Agosta, die stehen mitten in der Nacht auf einer Hügelkette<br />

und beobachten uns. Was glauben Sie wollen die? Uns auf<br />

ein Kaffeekränzchen einladen? Wir müssen entsprechend handeln.“<br />

Er tippte auf sein Gewehr.<br />

„Nein.“, sagte D’Agosta. „Das kommt nicht in Frage.“<br />

„Aber ich stimme Fowler zu.“, sagte Ramina und senkte endlich<br />

das Nachtsichtgerät.<br />

D’Agosta sah sie überrascht an. „Ach ja?“<br />

„Die wollen etwas von uns.“<br />

„Dann sag mal an, was die von uns wollen, Greenhorn.“, sagte<br />

Fowler. „Die sind schließlich erst aufgetaucht, nachdem du<br />

und dein cardassianischer Freund hier aufgetaucht bist.“<br />

„Ich habe sie nie zuvor gesehen.“<br />

Fowler grunzte.<br />

„Vielleicht haben Sie die Gredor unwissend zum Lager geführt.“,<br />

warf Shannyn ein. „Athol, sagtest du nicht, die Gredor<br />

seien Aussätzige?“<br />

Der Amphion nickte.<br />

„Sind es Plünderer?“<br />

„Sie suchen fremde Sachen, ja. Kein Tauschhandel. Sie nehmen<br />

sich, was sie wollen.“<br />

„Da haben wir es.“, schnaufte Fowler. „Die halten unser Lager<br />

für einen hübschen Basar. All you can stole. D’Agosta, wir<br />

sollten noch einmal dasselbe machen, wie heute Nachmittag.<br />

Sie verscheuchen.“<br />

128


„Und was hindert sie daran, zurückzukehren?“, fragte Crocker<br />

höhnisch. „Wie heute Mittag?“<br />

„Haben Sie ne bessere Idee?<br />

„Ja, die habe ich.“<br />

Crocker zog eine Sternenflotten-Decke weg und zum Vorschein<br />

kam ein kleines Gebilde, dass aussah, wie eine Art umfunktionierter,<br />

altertümlicher Mörser. Crocker hatte sie zu der<br />

Kapsel geführt, in der sie ihre verbliebene Ausrüstung bewahrten.<br />

Voller Stolz richtete er nun die Beine des Gerätes aus,<br />

stellte es auf dem sandigen Boden ab, trat zurück und rieb sich<br />

die Hände.<br />

„Was ist das?“, fragte Fowler Crocker.<br />

„Das ist ein Leuchtfeuer. Wir haben es aus verschiedenen<br />

Komponenten gebaut, war gar nicht so einfach. Ursprünglich<br />

um ein großes Signalfeuer in der Nacht zu entfachen, damit es<br />

andere Überlebende sehen und wir ihnen so den Weg zu uns<br />

weisen können. Jetzt gelingt es uns vielleicht zwei Fliegen mit<br />

einer Klappe zu schlagen. Wenn die Gredor dieses Feuerwerk<br />

erleben, werden sie die Beine in die Hand nehmen.“<br />

D’Agosta betrachtete die Konstruktion missmutig. „Und Sie<br />

denken, das klappt?“<br />

„Aye. Bei den verschollenen Schiffen des Beta-Dreiecks, das<br />

Ding wird funktionieren.“<br />

„Dadurch könnten wir die Tarkon auf unsere Position aufmerksam<br />

machen.“, warnte Shannyn.<br />

„Wird das wirklich so heftig werden?“, wandte sich D’Agosta<br />

an Crocker.<br />

„Aye. Im Umkreis von dreißig Kilometern wird man es auf jeden<br />

Fall sehen.“<br />

„Kann es den Gredor schaden?“<br />

„Keinesfalls. Ist wie ein Feuerwerk. Hell und laut. Das dürfte<br />

sie einfach erschrecken.“<br />

129


D’Agosta überlegte lange. Er sah zu der Hügelkette. Die Gredor<br />

standen weiterhin unbeeindruckt dort. Harrend. Inzwischen<br />

war ihm die Sache nicht mehr geheuer, denn in der<br />

Nacht wirkten sie noch eine ganze Ecke bedrohlicher, als am<br />

Tag. Wenn sie wenigstens etwas unternehmen würden. Irgendwas.<br />

Aber sie standen einfach nur da! Diese Ungewissheit,<br />

war einfach furchtbar.<br />

Allan wollte den Tieren nichts antun und sie auch nicht erschrecken,<br />

aber Athol war sich sicher, dass man nicht mit ihnen<br />

Kommunikzieren könnte und Allan sah keinen anderen<br />

Ausweg. Oder doch? Er überlegte einen Moment, ob er nicht<br />

vielleicht zu ihnen hoch wandern und es doch mit einer Verständigung<br />

versuchen sollte. Vielleicht würde der Universalübersetzer<br />

etwas bringen. Andererseits – warum kamen sie<br />

nicht einfach zu ihnen? D’Agosta entschied sich dann doch<br />

lieber dazu, auf Nummer Sicher zu gehen. Er suchte seine<br />

Tochter in der Menge. Sie war tapfer und still, wartete einfach<br />

ab, was als nächstes geschehen würde. Dennoch konnte er ihr<br />

ansehen, dass sie ein mulmiges Gefühl hatte. Das Risiko war<br />

D’Agosta einfach zu groß. „Die Tarkon werden unsere Position<br />

früher oder später auf jeden Fall ausmachen.“, sagte er.<br />

„Ich vertraue auf das Verhandlungsgeschick von Captain<br />

O’Conner. Wenn wir weitere Überlebende dadurch zu uns<br />

führen können, dann wird es sich lohnen. Okay, Chief. Bitte<br />

versuchen Sie es.“<br />

Crocker klatschte in die Hände. „Alle zurücktreten!“<br />

Es klapperte, als er die Aluminiumbeine des Launchers ausklappte.<br />

Noch sah das Ding, so wie es jetzt im sandigen Boden<br />

lag, aus wie ein wirrer Haufen dünner Streben – wie etwas zu<br />

klein geratene Feldstangen.<br />

„Jetzt werden wir sehen.“, sagte Crocker zu Garnere, der ihm<br />

half, das Ding aufzubauen. Die so entstehenden Beine wirkten<br />

klapprig und Schwach, aber Crocker wusste, dass die Querstreben<br />

ihm erstaunliche Standfestigkeit geben würden. Die<br />

130


Struktur wuchs, bis sie etwa ein Meter groß war. „Fertig.“,<br />

sagte Crocker. „Sollen wir?“<br />

D’Agosta nickte.<br />

„Haltet euch die Ohren zu.“ Er richtete das Rohr aus betätigte<br />

einen Schalter. Der Launcher schleuderte einen rotglühenden<br />

Ball – eine Leuchtrakete in den nächtlichen Himmel. Sie hinterließ<br />

einen rosaroten Schweif, der im Wind schnell verwehte.<br />

„Das ist alles?“, fragte D’Agosta. Kaum waren die Worte<br />

über seine Lippen gekommen, entfachte sich aus dem Ball ein<br />

wahres Feuerwerk.<br />

D’Agosta drückte Judy an sich, als eine käseglockenartige<br />

Feuerwand über die Entfernung einiger Kilometer, sich über<br />

die Ebene legte. Das Gemisch zündete immer heller nach,<br />

immer intensiver. Und immer lauter!<br />

„Es funktioniert!“, rief Isaac begeistert und deutete zu den<br />

Hügeln. Die Gredor ergriffen die Flucht. Diesmal schnell und<br />

panisch. Manche ließen ihre Fackeln fallen und rannten überstürzt<br />

fort, wild mit den kurzen Ärmchen wedelnd. Andere<br />

stolperten, oder stießen Artgenossen um.<br />

Die Sternenflottenoffiziere jubelten. Das Feuerwerk wurde in<br />

einem gewaltigen Nachglühen noch heller.<br />

„Findet euren Weg zu uns.“, murmelte Allan und hoffte, dass<br />

Ashley und Floyd das Feuerwerk sahen.<br />

Im schummrigen Licht der hereinbrechenden Nacht des Mondes,<br />

trat Beliar neben seinem Schreibtisch an das geöffnete<br />

Fenster im höchsten Turm der Tarkon-Festung und starrte hinaus.<br />

Trotz der späten Stunde war es noch warm. Zu warm für<br />

seinen Geschmack. Nicht einmal der Wind brachte ihm eine<br />

herbeigesehnte kühle Brise. Darüber sah er aber bereitwillig<br />

hinweg, bei dem Bild, dass sich ihm am Himmel jenseits der<br />

131


Hügel darbot. Dort entfaltete sich ein grün-schimmerndes,<br />

gewaltiges Feuerwerk. Beliar kniff die Augen zusammen und<br />

murmelte kaum hörbar: „Dummköpfe!“<br />

Er drehte den Kopf zu Theia, die stocksteif hinter ihm stand<br />

und über seine Schulter hinweg nach draußen zu dem Spektakel<br />

starrte. Sie schien erfreut. „Nun haben sie ihre Position<br />

verraten. Sollen wir die Artilleriegeschütze auf diese Koordinaten<br />

ausrichten?“, fragte sie.<br />

Beliar kratzte sich nachdenklich am Bart. „Nein, noch nicht.<br />

Erst will ich den Föderierten eine Nachricht - ein Geschenk -<br />

zukommen lassen. Sie sollen über den unbändigen Zorn der<br />

Kinjal informiert sein. Machen Sie ihren Jäger klar, Theia.“<br />

Theia schlug die Hacken zusammen, nickte knapp und wandte<br />

sich sofort zum Gehen. Als die Schritte ihrer schweren Stiefel<br />

verhallt waren, drehte sich Beliar wieder zu dem Feuerwerk<br />

um. Und fletschte die Zähne.<br />

Das Leuchtfeuer verklang allmählich. Es hatte ganze Zehn<br />

Minuten hell gebrannt und war sicher nicht unentdeckt geblieben.<br />

Die Gredor hatte das Lichtspektakel jedenfalls hinreichend<br />

eingeschüchtert und schließlich vertrieben.<br />

„Wunderschön, nicht?“, fragte D’Agosta, der dem schwachen<br />

Nachleuchten zuschaute. „Ich hoffe nur, es war die richtige<br />

Entscheidung.“<br />

Shannyn hinter ihm zog die Schultern ein paar Zentimeter<br />

nach oben. „Immerhin war es eine Entscheidung.“<br />

„Der Captain wird schon Erfolg bei den Tarkon haben.“, sagte<br />

Crocker. „Ich kenne niemanden, mit einen besseren Verhandlungsgeschickt.“<br />

D’Agosta nickte. „Und mit etwas Glück führt das Leuchtfeuer<br />

andere Überlebende zu uns.“<br />

Crockers Mine erhellte sich. „Aye. Mit noch mehr Glück bringen<br />

die auch etwas zu Essen mit.“<br />

132


Allan wandte sich zu ihm um. „Stimmt etwas mit den Nahrungsvorräten<br />

nicht?“<br />

„Wir haben ein paar ... Probleme.“<br />

„Definieren sie Probleme.“<br />

„O Gott, o Gott, wir werden alle sterben?“<br />

D’Agosta starrte ihn für einige Sekunden einfach nur an. Dann<br />

lächelte Crocker. „Sollte ein Scherz sein. So schlimm ist es<br />

nicht. Aber uns gehen die Vorräte langsam zur Neige. Wenn<br />

sich die Sternenflotte verspätet und wir etwas länger auf diesem<br />

Mond festsitzen, müssen wir uns nach Alternativen umsehen.<br />

Dringend. Die Leute fangen schon an sich selbst nach<br />

was essbarem umzusehen. Und ich weiß nicht, ob es hier giftige<br />

Pflanzen oder etwas derartiges gibt. Denkbar wär’s. Bin<br />

kein Koch. Ohne einwandfrei funktionierende Tricorder ist<br />

das schwer festzustellen.“<br />

D’Agosta ging zu Judy und kniete sich vor das Mädchen.<br />

„Hast du das gehört?“<br />

Judy schnitt eine Grimasse. „Wie soll man ein O Gott o Gott,<br />

wir werden alle sterben, nicht überhören?“<br />

„Denk dir nichts.“<br />

Judy rollte die Augen und ersparte sich einen Kommentar.<br />

D’Agosta schloss väterlich ihre Jacke und neigte den Kopf.<br />

„Hör mal, was hälst du davon, wenn du mein neuer Exekutivoffizier<br />

bist?“<br />

„Dein ... Exekutivoffizier?“<br />

„Ja. Du bist unser Verbindungsmann - vielmehr unsere Verbindungsfrau<br />

– zu den Amphion. Eine Botschafterin. Das<br />

warst du schon von Anfang an, die hören alle auf dich. Kannst<br />

du Athol um Hilfe fragen? Er weiß, wie man in dieser Umgebung<br />

überlebt und wo es etwas zu Essen und zu Trinken gibt.“<br />

Sein Magen rebellierte zwar bei der Vorstellung, an das Essen,<br />

was sie in Athols Lager zu sich genommen hatten, aber es war<br />

besser, als zu hungern. „Würde das mein Exekutivoffizier für<br />

mich machen?“<br />

133


„Klar, Dad. Aber lass mich bitte einfach nur deine Tochter<br />

sein, okay? Einfach nur deine Tochter.“ Sie steckte die Hände<br />

in die Jackentaschen und schlenderte zu Athol. D’Agosta sah<br />

ihr einen Moment lang nach und drehte sich dann zu Crocker.<br />

„Athol wird uns helfen. Bis es Alternativen gibt, sollen sich<br />

alle ausschließlich von den Notrationen ernähren, verstanden?“<br />

„Aye.“ Der Chief nickte und machte sich sogleich an die Arbeit.<br />

D’Agosta stand allein mit Shannyn im Zentrum des Lagers.<br />

Er sah, wie seine Tochter Athol erreichte und mit ihm<br />

sprach.<br />

„Wollten Sie mit Vierzehn in die Sternenflotte?“, fragte Shannyn<br />

leise.<br />

„Nein.“, sagte Allan nach einer Weile. „Ich denke ich hatte<br />

andere Dinge im Kopf.“<br />

Shannyn nickte nur. „Sehen Sie?“<br />

„Kein Kaffee?“, fragte Alex Penkala. „Was soll das heißen, es<br />

gibt keinen Kaffee?“<br />

Es war mitten in der Nacht. Schon wieder. Der schnelle Tag-<br />

Nacht-Zyklus des Mondes machte ihn ganz verrückt. Penkala<br />

hatte die letzten Stunden auf dem unbequemen Sitz eines eiernden<br />

Jeeps verbracht. Er und Dike waren erst vor ein paar<br />

Minuten von ihrer Fahrt raus auf die Ebene zurückgekehrt –<br />

natürlich ohne Nechayev. Nun war Penkala erschöpft und<br />

fühlte sich schmutzig. Er brauchte eine Dusche – die er aber<br />

kaum bekam – und einen Kaffee. Stattdessen sah Crocker ihn<br />

verständnislos an, während sie vor der Vorratskapsel in diesem<br />

erbärmlichen Basislager standen. Sie hatten im Jeep das<br />

Leuchtfeuer gesehen. Nun war der Himmel nur noch schwarz,<br />

die Wolken hingen tief.<br />

„Tut mir leid.“, sagte Crocker. „Nur Notrationen.“<br />

134


„Aber ich sehe die Kaffeekisten doch da hinten in der Kapsel<br />

liegen.“<br />

„Die sind für den Notfall.“<br />

„Aber-“<br />

„Nur Notrationen. Befehl von D’Agosta.“<br />

Penkala breitete die Arme aus. „Ich bin der leitende Ausrüstungsoffizier.<br />

Als solcher gestatte – nein, ich befehle – ihnen,<br />

mir auf der Stelle diesen Kaffee auszuhändigen.“<br />

Crocker brummte. „Auf dem Schiff waren Sie Ausrüstungsoffizier,<br />

Penkala. Jetzt nicht mehr.“<br />

„Seit wann das?“, fragte Penkala.<br />

Crocker stemmte die Hände in die Hüften. „Seit Sie lieber mit<br />

dem Jeep durch die Gegend tuckern, anstatt sich um die Ausrüstung<br />

zu kümmern.“<br />

„Hey, das war D’Agostas Befehl.“<br />

„Genau wie diese Sache hier. Tut mir leid, Lieutenant.“<br />

Penkala neigte eingeschnappt den Kopf. „Tut es nicht.“<br />

Crocker zog die Schultern hoch, packte die nun unbrauchbare<br />

Leuchtfeuermaschine unter die Arme und verschwand hinter<br />

der Kapsel.<br />

„Hey.“, wisperte Garnere, der in der Kapsel gesessen und die<br />

Unterhaltung verfolgt hatte. Er warf Penkala ein kleines Päckchen<br />

zu. Der Lieutenant fing es geschickt auf. Es war Kaffee.<br />

„Das ist gegen D’Agostas Anordnung.“<br />

Garnere zog die Schultern hoch. „D’Agosta ist nicht unser<br />

Kommandant. Er hat keine Ahnung. Niemand hört auf ihn.<br />

Die Sternenflotte wird ohnehin jeden Moment hier eintreffen,<br />

was soll’s also? So ein bisschen Kaffee wird niemanden töten,<br />

nehmen Sie es ruhig.“<br />

„Danke.“, sagte Penkala. Er fühlte sich etwas unsicher. „Ich<br />

weiß nur nicht, ob wir ihm so in den Rücken fallen sollten.“<br />

Garnere grunzte. „Er fällt doch uns in den Rücken. Ich bitte<br />

Sie, Rationen sind noch genug da. Außerdem ist der Mond<br />

zwar nicht gerade Risa, aber es gibt hier Pflanzen. Jeder kann<br />

135


sich selbst versorgen. Wozu sollten wir hungern? Wie gesagt,<br />

die Sternenflotte wird ja eh sehr bald eintreffen.“<br />

„Nun – Danke.“<br />

„Keine Ursache.“, sagte Garnere und deutete auf Penkalas<br />

Kopf. „Übrigens, die Wunde dort sollten Sie behandeln lassen.“<br />

Und das tat er schließlich auch. Mit kaltem, aber wohlschmeckendem<br />

Kaffee im Bauch marschierte Penkala durch das Lager.<br />

Er sah, wie die Leute sich schlafen legten. Fast jeder<br />

spähte vorher unsicher zum Himmel hoch, um sich zu vergewissern,<br />

dass nicht wieder ein Platzregen aus Säure auf sie<br />

herabstürzen würde. Aber der Himmel war Wolkenlos. Alex<br />

trank schnell seinen Becher aus und betrat das Lazarett. Es<br />

war dunkel im Innern, das Licht war gedämmt. Nur wenige<br />

Leuchtstoffröhren glühten matt.<br />

Sanitäter Roe lag quer über drei Stühle gestreckt und hatte die<br />

Augen geschlossen. Trotz der zweifelsfrei unbequemen Lage<br />

schlummerte er tief und fest. Smith saß hinter einem kleinen<br />

Arbeitstisch und sah auf, als Penkala das Lazarett betrat.<br />

„Entschuldigen Sie, wenn ich störe.“, sagte er höflich. „Aber<br />

ich hatte eine unliebsame Begegnung mit einem Stahlrohr.<br />

Vielleicht könnten Sie sich das mal ansehen?“<br />

Smith stand sofort auf und deutete auf den Stuhl neben dem<br />

kleinen Arbeitstisch. „Setzen Sie sich, bitte.“ Sie betrachtete<br />

die Wunde genau. „Eine kleine Platzwunde. Ist nicht so<br />

schlimm.“<br />

„Tut aber höllisch weh, wenn ich dran komme.“<br />

„Wie haben Sie das angestellt?“<br />

„Ach, die verdammte Nechayev.“<br />

Smith runzelte die Stirn, versuchte es nebensächlich klingen<br />

zu lassen, als sie fragte: „Nechayev?“<br />

136


„Wir sollten Sie mit dem Jeep suchen, weil sie ständig in der<br />

Ebene herumspaziert und D’Agosta sich unverständlicherweise<br />

Sorgen um sie macht. Da kam es zu demselben Phänomen,<br />

wie wir es schon mal sahen und irgendeine unterirdische<br />

Schockwelle erfolgte. Na ja, ich war nicht angeschnallt und<br />

bin gegen eine Querstrebe des Jeeps geknallt.“<br />

„So? Haben Sie Nechayev gefunden?“, fragte Smith und<br />

tränkte ein Tuch mit einer Wundsalbe. Penkala zischte, als sie<br />

damit begann, es zu verreiben. „Ja. Mitten in der Ebene.“, sagte<br />

er.<br />

„Was hat sie dort gemacht?“<br />

„Keine Ahnung. Ich will’s auch gar nicht wissen. Ihr Gorilla<br />

Nottingham hat mich abgefangen ehe ich sie zur Rede stellen<br />

konnte und ich bin lieber fortgegangen, als mich mit dem Kerl<br />

länger zu unterhalten. Sonst könnten Sie jetzt vermutlich mehr<br />

von mir flicken. Nein, nein. Meine erste Begegnung mit Nottingham<br />

hat mir gereicht. Warum fragen Sie überhaupt, Doktor?“<br />

„Nur so.“, sagte Smith schnell, versuchte desinteressiert zu<br />

klingen. „In der Wüste sagten Sie, ja?“<br />

„Richtig.“<br />

„Weit entfernt?“<br />

„An die fünfzehn Kilometer werden es wohl gewesen sein, ja.<br />

Ein ordentlicher Marsch für so eine alte Frau, was?“<br />

„Nechayev ist körperlich noch sehr fit.“ Smith befeuchtete einen<br />

Lappen und drückte ihn gegen Penkalas Wunde. Ein stechender<br />

Schmerz durchzog seinen Schädel und er zuckte zusammen.<br />

„Autsch!“<br />

„Ich muss die Wunde erst reinigen.“<br />

„Muss das so schmerzhaft sein?“<br />

„Ist gleich vorbei.“<br />

„Was ist mit meiner Stirn? Können Sie alles heilen, oder werden<br />

fortan Narben mein hübsches Gesicht verschandeln?“<br />

137


Smith griff in eine Schublade und hob einen Dermalregenerator<br />

hoch. „Ist aber nicht mehr viel drin. Können Sie ihn nachher<br />

aufladen?“<br />

„Sicher.“<br />

„Wenn das so ist, dann wird ihr Gesicht so hübsch, wie eh und<br />

je. Halten Sie jetzt still.“ Bei den Dermalregeneratoren handelte<br />

es sich um kleine Geräte, mit denen geringfügige Hautirritationen,<br />

Verbrennungen und kleine Schnittwunden behandelt<br />

werden konnten. Für größere Verletzungen reichten die Kapazitäten<br />

kaum aus, dennoch hatte Smith die vergangenen Stunden<br />

damit verbracht, mit dem kleinen Gerät Hawks Wunden<br />

minutiös zu behandeln – mit sichtlichem Erfolg. Leider stand<br />

nicht mehr in ihrer Macht, bis auf das geradezu mittelalterliche<br />

Morphium, was sich wirklich nur für den äußersten Notfall<br />

in den Kapseln befand. Jener Notfall war eingetreten. Andere<br />

Schmerzmitteln standen ihnen im Augenblick nicht zur<br />

Verfügung.<br />

Smith justierte das Gerät, beugte sich vor und ging mit äußerster<br />

Präzision über die Wunde. Der Dermalregenerator summte<br />

leise und der Regenerationsstrahl heilte das beschädigte Gewebe<br />

durch neues. Nach einer Weile erhob sie sich. „Das<br />

war’s.“<br />

„Halb so wild, wie gedacht.“, sagte Penkala und fasste sich an<br />

die Stelle, wo zuvor noch eine tiefe Wunde geklafft hatte. Nun<br />

spürte er dort nichts mehr. „Danke.“<br />

Er stand auf. Dabei fiel ihm die Plane auf, hinter der Pilot<br />

Hawk schlummerte. Sein Oberkörper war entblößt. Von den<br />

Wunden vom ersten Tag war kaum noch etwas zu sehen. Penkala<br />

senkte die Stimme. „Er ist schuld an unserem Dilemma,<br />

nicht wahr?“<br />

Smith starrte ihn an. „Was sagen Sie da?“<br />

„Ich meine ja nur. Draußen reden einige darüber. Sie sagen, er<br />

hätte den Warptransit nicht rechtzeitig ausgeführt. War weg-<br />

138


getreten, oder so. Er trägt doch die Schuld an unserem Unglück,<br />

oder?“<br />

Smith deutete zur Luke. Ihre Stimme war plötzlich eisig. „Gehen<br />

Sie jetzt.“<br />

„Ich wollte nicht-“<br />

„Raus!“<br />

„Tschuldigung.“, murmelte Penkala und verließ das Lazarett.<br />

Er schloss die Tür hinter sich. Smith ballte die Hände zu Fäusten.<br />

Roe schlummerte unterdessen friedlich weiter. Er war<br />

durch den Lärm glücklicherweise nicht wach geworden. Smith<br />

zog die Plane zurück und stellte erschrocken fest, dass Hawk<br />

die unbrauchbaren Augen geöffnet hatte und zur Decke starrte.<br />

Er musste Penkala auf jeden Fall gehört haben.<br />

„Cooper.“, sagte sie.<br />

Hawk seufzte und schüttelte den Kopf. „Ursache und Wirkung,<br />

Rhonda. Ursache und Wirkung.<br />

„Cooper-“<br />

„Lass mich.“, sagte er leise und drehte sich von ihr weg. Und<br />

schloss die Augen.<br />

139


Athol<br />

Tief gebückt kauerte Athol auf der Erde, die Nase nur wenige<br />

Zentimeter vom Boden entfernt. Er hatte vor wenigen Sekunden<br />

mit einem Stein auf den sandigen Untergrund geklopft<br />

und lauschte nun. In dieser Nacht war es ungewöhnlich warm.<br />

Er schätzte beinahe Dreißig Grad. Athols Lungen brannten ein<br />

wenig, vom beißenden alkalischen Staub. Schweiß glänzte auf<br />

seiner Stirn und dem kahlen Schädel. Doch Athol beachtete<br />

das alles nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Loch<br />

inmitten eines kleinen Sandhaufens gerichtet. Mit dem Stein in<br />

der Hand klopfte er noch einmal rhythmisch auf den Boden.<br />

Fünf Mal hintereinander. Dann hielt er inne und lauschte wieder.<br />

Judy gähnte in der Dunkelheit der Nacht. Das Kinn auf die<br />

Hände gestützt, saß sie im Schneidersitz neben Athol und versuchte<br />

wach zu bleiben, während der Amphion darauf hoffte<br />

irgendwelche Tiere aus dem Boden zu locken, um sie kochen<br />

zu können. Spinnen und Käfer oder so was, Judy wusste es<br />

nicht genau. Genaugenommen wollte sie das aber auch gar<br />

nicht. Allein bei der Vorstellung lief es ihr kalt den Rücken<br />

herunter. „Athol, was immer du da machst, es funktioniert<br />

nicht.“<br />

Der Amphion sah nicht auf, als er antwortete. „Geduld, Judy<br />

D’Agosta. Hab Geduld und vertraue darauf, dass Gott uns ein<br />

wenig hilft.”<br />

Judy runzelte argwöhnisch die Stirn. „Ihr Amphion glaubt tatsächlich<br />

an einen Gott?“<br />

140


Athol nickte eifrig. „An den Erschaffer der Welt. Meiner<br />

Welt, eurer Welt ... er gibt uns Nahrung, gibt uns Sonne. Er<br />

hat keinen Namen und kein Antlitz, aber er ist allgegenwärtig.“<br />

„Primitivo!“<br />

Der Amphion neigte den schweren Schädel zur Seite. „Glaubst<br />

du denn nicht an einen ... Gott?“<br />

Judy schnaufte. „Ich glaube nicht nur nicht an einen Gott, ich<br />

bin sogar ziemlich überzeugt davon, dass es keinen gibt.“ Leiser<br />

fügte sie hinzu: „Und falls es ihn gibt, kann er mir gestohlen<br />

bleiben.“<br />

„Aber du kannst dir doch nicht sicher sein.“<br />

„Und ob ich das kann. Ob es mir passt, oder nicht, aber ich bin<br />

ein Sternenflottenbalg, umgeben von Sternenflottenleuten. Die<br />

haben sich allesamt der Wissenschaft verschrieben, ein Glaubenssystem<br />

passt nicht in ihre Welt. Und weißt du was? Sie<br />

haben recht. Eines der ersten Dinge, die mir mein Lehrer<br />

Floyd einbläute, war der Fehler mit der Gottesidee – auch<br />

wenn ich ohnehin nie an einen geglaubt habe. Pass auf, es ist<br />

ganz einfach.“ Auch Athol setzte sich nun interessiert in den<br />

Schneidersitz.<br />

Judy deutete auf den Stein in seiner Hand. „Da, ein Werkzeug.<br />

Es ist ein simpler Stein, aber du benutzt ihn als Werkzeug.<br />

Früher oder später benutzt jede intelligente Lebensform diverse<br />

Hilfsmittel. Werkzeuge haben uns – uns Menschen, euch<br />

Amphion und sogar die Tarkon - dazu befähigt, zweckbestimmt<br />

zu denken, Dinge herzustellen und Dinge zu tun, um<br />

eine Welt zu gestalten, die besser zu uns passt. Stell dir mal<br />

einen Frühzeitmenschen vor Zwanzigtausend Jahren vor. Oder<br />

eben einen Uramphion vor... ich weiß nicht, wann ihr entstanden<br />

seit. Jedenfalls stell dir vor, wie dein oder mein früher<br />

Vorfahre sich nach einem langen Arbeitstag umsieht. Er sieht<br />

eine Welt, die ihm ganz gut gefällt. Und ich rede nicht von<br />

diesem Mond, sondern dem Ort, wo ihr entstanden seid. Pf,<br />

141


diesen Mond kann sicher niemandem gut gefallen. Jedenfalls,<br />

dein Vorfahre sieht also Berge mit Höhlen. Was kann man da<br />

machen?“<br />

„Sich verstecken.“, sagte Athol. „Unterschlupf vor Regen und<br />

Wetter finden.“<br />

„Genau.“, nickte Judy. „Und man rennt keinen Skorpionen<br />

über den Weg. Also, er sieht die Berge mit Höhlen, dann gibt<br />

es da Beeren und Nüsse und ein Bach der frisches Trinkwasser<br />

bringt und es gibt eine Menge Tiere, die man jagen und erlegen<br />

kann.“<br />

„Um sie zu essen, richtig?“<br />

„Ja, richtig.“<br />

„Und um aus ihren Knochen Waffen herzustellen, um andere<br />

Tiere zu fangen. Oder um ihre Felle zu tragen.“<br />

„Hm.“, machte Judy und musterte Athol. Er trug selber Tierfelle<br />

als Kleidung. „Vielleicht müssen wir gar nicht zu euren<br />

Vorfahren springen, ich glaube ihr seid eure Vorfahren.“<br />

„Wie meinst du das?“<br />

„Spielt keine Rolle.“, winkte Judy ab. „Dein Vorfahre hat also<br />

einen Augenblick Zeit nachzudenken und weißt du was er sich<br />

denkt? Er denkt sich, dass die Welt in der er lebt ganz gut zu<br />

ihm passt. Und dann stellt er sich eine tückische Frage, die er<br />

sich aufgrund des Wesens seiner Persönlichkeit stellt, der Persönlichkeit,<br />

zu der er sich entwickelt hat und die erfolgreich<br />

ist, weil er so denkt. Der Amphion als Macher betrachtet seine<br />

Welt und fragt sich, wer das alles gemacht hat. Kommst du<br />

mit?“<br />

„Die Frage stelle ich mir selber.“, nickte Athol.<br />

„Das tun alle irgendwann.“, sagte Judy. „Die Frage an sich ist<br />

auch völlig okay, aber dann kommen die meisten Spezies zu<br />

einem trügerischen Schluss. Zu welchem kommst du, wenn du<br />

dir die Frage stellst, wer das alles gemacht hat?“ Sie deutete<br />

mit einer wagen Bewegung zur Ebene.<br />

142


Athol schob nachdenklich das Kinn vor. „Egal wer das gemacht<br />

hat, er ist viel größer und viel mächtiger als ich.“<br />

„Und Unsichtbar?“<br />

„Ich glaube schon.“<br />

Judy lächelte. „Floyd hatte so recht! Du bist das perfekte Beispiel.<br />

Weil du nur humanoide kennst, die Dinge herstellen,<br />

gehst du davon aus, dass der Macher der Planeten so ist wie<br />

du. Nur mächtiger und natürlich unsichtbar; einer wie du und<br />

weil du als Mann der <strong>Star</strong>ke bist, der alles macht, ist dieser<br />

Gott wahrscheinlich auch ein Mann, richtig?“<br />

Athol dachte angestrengt nach und versuchte ihr aufrichtig zu<br />

folgen. „Ich denke schon, ja.“<br />

„Eindeutig. So seid ihr zur Gottesidee gelangt, genau wie viele<br />

andere auch. Und weil ihr Dinge wie Waffen, oder Werkzeuge,<br />

nur herstellt, weil ihr auch vorhabt, etwas mit ihnen anzufangen,<br />

fragst du dich doch unweigerlich, wozu dieser Gott<br />

das alles gemacht hat, wenn er es gemacht hat, richtig?“<br />

„Er hat das für uns gemacht.“<br />

Judy klatschte. „Bingo. Du bist drauf reingefallen, die Falle ist<br />

zugeschnappt.“<br />

„Ich kann dir nicht ganz folgen.“, gestand Athol.<br />

„Du denkst, dass alles ganz gut zu uns passt, richtig? Es gibt<br />

all diese Dinge, die dich ernähren und auf dich aufpassen und<br />

das das Universum – vielleicht sogar dieser Mond – wie für<br />

dich geschaffen ist was? Und du kommst dadurch zur Schlussfolgerung,<br />

dass, wer auch immer das alles gemacht hat, es für<br />

dich geschaffen hat.“<br />

„Ja, aber-“<br />

„Athol, das ist absoluter Blödsinn! Das ist etwa so, als wache<br />

eines Morgens eine Pfütze auf und denkt: „Wow - das ist eine<br />

krasse Welt, in der ich mich befinde – ein krasses Loch, in<br />

dem ich liege – passt doch ganz prima zu mir, oder? Ja, es<br />

passt so gut zu mir, dass es eigens für mich geschaffen worden<br />

sein muss.“ Und dann ist die Pfütze von der Idee so begeistert,<br />

143


dass sie sich daran klammert, während die Sonne immer höher<br />

steigt, die Luft erhitzt und die Pfütze immer kleiner wird und<br />

sich noch immer verzweifelt an die Vorstellung klammert,<br />

dass ihr doch bestimmt derjenige, der das alles für sie gemacht<br />

hat, ihr helfen wird. Es dürfte dann für sie ziemlich überraschend<br />

kommen, wenn sie einfach verschwindet.“ Judy seufzte<br />

und sagte ungewöhnlich leise und ernst: „Da ist niemand,<br />

der uns beschützt, Athol. Da ist niemand, der die Welt für uns<br />

gemacht hat. Das ist einfach durch die Natur entstanden, o-<br />

kay? Und wir sind nur eine Spezies von ganz, ganz vielen anderen<br />

und neben uns gibt es noch ganz, ganz viele Tiere.<br />

Glaub mir, ich weiß, wie Planeten entstehen. Das ist ziemlich<br />

trockener Stoff und weitweniger spektakulär, als man vielleicht<br />

denkt. Es dauert nur fürchterlich lange.“<br />

Eine Zeitlang schwiegen beide. Athol dachte sehr lange nach,<br />

während er in die Nacht hinausblickte. Nach einer Weile sagte<br />

er: „Du bist sehr klug, Judy D’Agosta. Uns hälst du bestimmt<br />

für dumm.“<br />

Judy erinnerte sich daran, wie sie vor einiger Zeit für die<br />

Schule von Mark Twain gelesen hatte. Er ging davon aus, dass<br />

alle Menschen in der Vergangenheit – und somit war quasi<br />

Athol gemeint -, ein Haufen unglaublich unbedarfter, abergläubischer<br />

Trottel waren. Aber das stimmte nicht und jetzt,<br />

wo Judy in Athols intelligente Augen blickte, wurde ihr das<br />

auch klar. Sie waren genauso intelligent und einfallsreich und<br />

nachdenklich und mutig und neugierig wie die Menschen heute<br />

und sie bemühten sich genauso, ihre Welt zu begreifen. Judy<br />

schüttelte den Kopf. „Ne. Du hast doch verstanden, was ich<br />

sagte, oder? Worauf ich hinaus will. Und du kannst es doch<br />

nachvollziehen, ja?“<br />

Athol nickte.<br />

„Siehst du? Dann seid ihr nicht dumm. Ihr denkt nur nicht<br />

richtig nach. Hast du dir je eigenständig Gedanken darüber<br />

gemacht? Über die Gottesidee, meine ich.“<br />

144


„Nun, ich habe die Überlieferungen gelesen.“, sagte Athol.<br />

„Und in den Überlieferungen-“<br />

„In den Überlieferungen, ach so. Also etwas, was jemand anderes<br />

geschrieben hat? Das hast du gelesen und ihm geglaubt?“<br />

Athol nickte.<br />

Und Judy grinste. „Weißt du Athol, dein ganzes Leben werden<br />

andere versuchen, dir etwas einzureden. Und das meiste davon,<br />

ungefähr neunundneunzig Prozent, ist falsch.“ Sie zuckte<br />

mit den Schultern. „Ist eine Tatsache des Lebens. Du wirst<br />

von allen Seiten mit Fehlinformationen vollgestopft und weil<br />

es so viele sind, ist es schwer herauszufinden, wem du glauben<br />

kannst.“ Judy lächelte tückisch, als sie hinzufügte: „Glaube<br />

am besten einfach mir. Und benutze ansonsten den da.“ Sie<br />

deutete auf seinen breiten Schädel.<br />

Athol war sichtlich beeindruckt und für einen Moment fuhr<br />

Judy der Gedanke durch den Kopf, dass sie nun, wo sie die<br />

Rollen umgekehrt hatte, auf Shannyn einen ähnlichen Eindruck<br />

erwecken konnte, wie Athol das gerade auf sie tat. Ein<br />

Primitiver. Die Vorstellung gefiel ihr gar nicht. Sie seufzte<br />

schwer, als sie sagte: „Fakt ist aber, dass niemand eine Welt<br />

für uns gemacht hat. Wir wurden einfach in sie hineingeboren<br />

und haben uns ihr dann angepasst. Und Gott... – da ist kein<br />

Gott. Der hat nicht uns erfunden, sondern wir haben ihn erfunden.“<br />

Athol deutete auf seine rechte Brust. Judy schätzte, dass die<br />

Amphion dort auch ihr Herz hatten. Oder ein entsprechendes<br />

Gegenstück. „Dann ist er hier drin.“, sagte Athol und schien<br />

mit seiner Entgegnung sehr zufrieden zu sein. Er nahm den<br />

Stein wieder in die Hand und begann erneut in bestimmten<br />

Abständen auf den Boden oberhalb des Loches zu klopfen.<br />

„Will ich dir auch gar nicht absprechen.“, sagte Judy. „Aber<br />

da nützt er einem nichts, denn das macht ihn nicht real und e-<br />

xistent. Wenn er nur in deiner Vorstellung existiert, dann kann<br />

145


er dir auch nicht helfen.“ Sie seufzte erneut und klang sehr<br />

traurig. „Da ist absolut niemand der auf uns aufpasst, Ahtol.<br />

Jedenfalls keine höhere Macht. Na, vielleicht die Q und die alle,<br />

aber das ist wieder was anderes. Die mischen sich auch<br />

nicht ein. Wir sind also auf uns allein gestellt. Es gibt keinen<br />

Gott. Da war absolut niemand, der meine Mom beschützte.<br />

Und da war auch niemand, der die weibliche Amphion beschützte,<br />

richtig?“<br />

Und dann sagte Athol in einem merkwürdigen Tonfall: „Du<br />

warst da.“<br />

Judy runzelte die Stirn und begegnete Athols Blick, der ihr<br />

zum ersten Mal auf einer befremdende Art und Weise unheimlich<br />

vorkam. Es war fast, als ob-<br />

„Ah!“, machte Athol, als seine Bemühungen endlich von Erfolg<br />

gekrönt waren. Das rhythmische Klopfen hatte etliche<br />

kleine Käfer aus ihrem Unterbau gelockt und nun krabbelten<br />

sie alle nach draußen. Ihre absurd dünnen Beinchen klackerten<br />

bei jeder Bewegung. Athol griff beherzt in die tummelnde<br />

Masse Insekten hinein und versuchte, möglichst alle Käfer zu<br />

erwischen und sie in einen großen Lederbeutel hineinzustopfen.<br />

„Eine gute Ausbeute.“, sagte er. „Das wird ein Festessen.“<br />

„Ja.“, entgegnete Judy langsam. „Ein Festessen.“<br />

Athol bemerkte, dass sie ihn nachdenklich ansah. „Stimmt etwas<br />

nicht?“<br />

Judy blinzelte und setzt ein Lächeln auf. „Lass ... lass uns einfach<br />

hier weitermachen, okay?“, sagte sie schnell.<br />

„Gut.“ Dann machten sich beide daran die Tiere in den Beutel<br />

zu stopfen, auch wenn es Judy einige Überwindung kostete die<br />

Käfer anzufassen. Aber sie konnte alles schaffen, wenn sie es<br />

nur wollte. Für den Rest der Nacht schwiegen beide.<br />

146


Penkala<br />

Dike saß im Jeep, starrte zu den Nachtfaltern und Fliegen, die<br />

zu tausenden von dem Licht der Scheinwerfer magisch angezogen<br />

wurden, und wandte den Kopf wieder zum Horizont,<br />

wo das sporadische Wetterleuchten hin und wieder die Nacht<br />

erhellte. Er staunte über die ständige und bedrohliche Ruhe,<br />

die über der Ebene lag und den Mond auszuzeichnen schien.<br />

In dieser Stille schien das Knurren seines Magens noch lauter,<br />

als sowieso schon. Als jemand die Fahrertür aufzog drehte er<br />

den Kopf. Alex Penkala kletterte auf den Sitz. „Hey, ich-“<br />

„Warte.“, sagte Dike. Er trank noch einen Schluck Wasser und<br />

schraubte dann die Flasche zu. „Verdammte Fliegen.“<br />

Sie warteten und beobachteten.<br />

Penkala trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. „Worauf<br />

warten wir eigentlich?“<br />

Dike antwortete nicht sofort. „Auf die Sternenflotte?“<br />

„Die lässt sich Zeit.“, brummte Penkala. „Warum soll sie sich<br />

auch beeilen? Wir konnten ja nicht mal einen Notruf senden.<br />

Nein, die Sternenflotte wird noch ein paar Tage brauchen, bis<br />

die mal auf den Trichter kommt, uns zu suchen und bis dahin<br />

werden wir Notrationen futtern. Es sei denn-“<br />

„Sie wird kommen.“<br />

Penkala seufzte. „Aber im Augenblick kann ich keine Rettungsmannschaften<br />

entdecken. Dafür habe ich was ganz anderes,<br />

interessantes bemerkt.“ Er öffnete das Ausrüstungsfach<br />

zwischen den Sitzen und zog einen Phaser heraus. „Wie<br />

sieht’s aus, bist du bereit, mal ein bisschen riskant zu leben?“<br />

„Nie und nimmer.“, antwortete Dike.<br />

„Und für ein paar Früchte?“<br />

147


Dike sagte nichts, aber sein Magen knurrte laut genug.<br />

„Komm, ich zeig dir was. Keine Angst, es ist innerhalb des<br />

Lagers.“<br />

Sie stiegen aus und gingen vom Jeep weg, durch die schlafenden<br />

Reihen der Sternenflottenoffiziere, zum östlichen Rand<br />

des kleinen Lagers. Dike fuchtelte mit dem Händen vor seinem<br />

Gesicht, als er durch eine Fliegenwolke trat. Sie blieben<br />

in einer kleinen Farnwiese stehen. „Was willst du mir denn so<br />

besonderes zeigen?“, fragte Dike verärgert.<br />

„Das da.“<br />

„Der Fels dort drüben?“ Dike konnte an ihm nichts besonderes<br />

ausmachen. Er war vielleicht etwas löchriger als die übrigen<br />

Felsen, aber das war auch schon die einzige Abnormität, die<br />

ihm auffiel.<br />

„Ganz genau.“, nickte Penkala. „Das ist laut Athol ein Fressender<br />

Felsen.“<br />

Dike war sichtlich ungeduldig. „Fein. Fressender Felsen, hab<br />

verstanden. Können wir jetzt wieder zum Jeep gehen?“<br />

„Sieh genau hin, Dike!“<br />

„Aber ich kann nichts ungewöhnliches-“<br />

„Genau hinsehen!“<br />

Dike zuckte mit den Schultern. Er wollte sich gerade abwenden,<br />

als er die kleinen Früchte, die überall an dem Felsen hingen,<br />

doch noch erspähte. „Sieht aus, als wäre das was zu essen,<br />

nicht?“<br />

„Ist es.“, nickte Penkala. „Kleine leckere Früchte. Die einzigen,<br />

die ich bisher auf dem ganzen Mond entdecken konnte.“<br />

„Na dann holen wir doch welche.“<br />

Dike schickte sich gerade an, auf den Felsen zuzugehen, als<br />

Penkala ihn festhielt und mit dem Kopf schüttelte. Er hob einen<br />

kleinen Stein vom Boden auf und warf ihn zielsicher in<br />

Richtung des Felsens. Dike blinzelte überrascht. Noch bevor<br />

der kleine Stein dagegen prallen konnte, zuckte aus einem der<br />

zahlreichen Löcher blitzschnell eine graugrüne Tentakel her-<br />

148


vor und schnappte nach dem Stein, nur um sich unmittelbar<br />

darauf wieder zurückzuziehen. Und es geschah schnell! So<br />

unglaublich schnell.<br />

„Deswegen wird er fressender Fels genannt.“, erklärte Penkala.<br />

„Als ich vorhin aus dem Lazarett kam, habe ich zufällig<br />

beobachtet, wie einer der dreiköpfigen Vögel auf dem Fels<br />

landete und nach einer Frucht picken wollte. Ich schätze sie<br />

setzen einen Duftstoff frei, oder so was. Wie bei einer fleischfressenden<br />

Pflanze. Und dann – Pow -, schlägt das Ding zu.<br />

Eine der Tentakeln hat den Vogel regelrecht zusammengeklappt<br />

und binnen weniger Sekunden ins Innere gezogen. Das<br />

ging so schnell, dass ich gar nicht richtig gucken konnte. Unglaublich,<br />

was?“<br />

Dike begann fast sofort zu schwitzen. Seine Stirn glänzte.<br />

„Nein.“, sagte er düster. „Hier überrascht mich gar nichts<br />

mehr.“ Er spürte, wie sein Magen knurrte, nach Essen verlangte.<br />

„Wie eine Kokosnuss.“, murmelte er.<br />

„Bitte?“<br />

„Wie eine Kokosnuss, sagte ich. Die Dinger dort. Kokosnüsse<br />

sind toll und geradezu perfekt konstruiert. Zuerst bohrt man<br />

sie an und trinkt die Milch, dann schlägt man die Nuss auf und<br />

schneidet ein Stück Schale ab, das als Werkzeug zum Herausschneiden<br />

des Kokosnussfleisches dient. Und dann hängt die<br />

Natur etwas, zum menschlichen Gebrauch dermaßen perfekt<br />

geeignetes, in sieben Metern Höhe an einen astlosen Baum.“<br />

„So?“, fragte Penkala. „Also ich für meinen Teil sehe da gar<br />

kein Problem, schließlich sind wir nicht in der Steinzeit.“ Er<br />

wedelte kurz mit dem Phaser und legte dann an. „Jetzt pass<br />

gut auf.“ Penkala zielte sehr sorgfältig, hielt den Atem an und<br />

betätigte den Auslöser. Ein orangeroter Strahl fauchte durch<br />

die Nacht und die Frucht flog im hohen Bogen seitlich von<br />

dem Felsen weg.<br />

„Exzellenter Schuss!“, lobte Dike erstaunt.<br />

149


Penkala grinste und lief zur Frucht, darauf bedacht, dem Felsen<br />

nicht zu nahe zu kommen.<br />

„Und was hast du jetzt vor?“<br />

„Sie essen natürlich. Was soll die Frage, Dike?“<br />

„Vielleicht ist sie... giftig?“<br />

Penkala seufzte, nahm den Tricorder von seinem Gürtel und<br />

klappte ihn auf. Nach einer Weile schürzte er die Lippen und<br />

schüttelte den Kopf. „Kann nichts ungewöhnliches feststellen.“<br />

„Du bist auch keine Mediziner. Lass Roe das Teil überprüfen.“<br />

„Ich bin Ausrüstungsoffizier, schon vergessen? Als solcher<br />

wurde ich darauf trainiert verderbliche oder schlechte Nahrung<br />

mit bloßem Auge zu erkennen.“ Er hielt die Frucht vor sein<br />

Gesicht und drehte sie mit den Fingern. „Und die hier erscheint<br />

mir sehr ungefährlich. Ungefährlich und schmackhaft.<br />

Willst du auch was?“<br />

„D’Agosta hat gesagt wir sollen nur die Notrationen zu uns<br />

nehmen.“<br />

Penkala überlegte einen Moment, erinnerte sich dann aber an<br />

Garneres Worte. Er machte eine abfällige Handbewegung.<br />

„Ach, was weiß der denn schon?“<br />

„Du solltest dennoch lieber-“ Bevor Dike den Satz zuende<br />

sprechen konnte, hatte Penkala bereits in die Frucht gebissen.<br />

Er kaute genüsslich.<br />

„Dike, alter Freund. Ich hab einen Absturz in einem Jeep ü-<br />

berstanden! Ich hab einen Säureregen und den Hinterhalt von<br />

zwei unsichtbaren Monstern überstanden. Die Frucht hier wird<br />

mich auch nicht töten. Wäre doch lächerlich, oder?“<br />

„Ich hoffe du bereust das nicht.“<br />

„Bestimmt nicht.“, sagte Penkala. Plötzlich verzog er das Gesicht.<br />

Er keuchte, stieß heftig auf und hielt sich den Bauch.<br />

Sein Atem kam stoßweise, als er sich vor Schmerz krümmte.<br />

Ein Anfall!<br />

150


Dike riss die Augen auf und wurde kreidebleich. „Oh Nein!<br />

Nein, nein, nein!“, sagte er immer wieder.<br />

Er wirbelte herum und wollte gerade nach den Ärzten rufen,<br />

als er das boshaft schelmische Lachen hörte.<br />

Langsam drehte er sich um.<br />

Penkala lachte fröhlich und laut. „Du bist so leicht reinzulegen.“<br />

„Du ... du blöder idiot!“<br />

Dike verschränkte die Arme vor der Brust und ging beleidigt<br />

zum Jeep zurück.<br />

„Ach komm schon, war doch nur Spaß.“<br />

„Ich rede nie wieder mit dir. Nie wieder!“<br />

Penkala, noch immer lachend, folgte Dike und klopfte ihm auf<br />

die Schulter. „Alter, dein Gesichtsausdruck – unbezahlbar.“<br />

Und genüsslich biss er ein weiteres Mal in die Frucht.<br />

151


Dorak<br />

Dorak knöpfte seine grau-schwarze Jacke zu und wandte sich<br />

wieder zum Lager um. Fünf Kapseln standen nah beieinander<br />

geschoben, zwischen den kreisförmig angebrachten Scheiterhaufen,<br />

die nun hell loderten. Die Äste knackten im Feuer.<br />

Rauch stieg in den dunklen Himmel auf und wurde ab und zu<br />

durch den warmen Wind in das Lager geweht. Es war Nacht.<br />

Dorak bemerkte, wie sich einige Sternenflottenoffiziere in die<br />

Kapseln zum Schlafen zurückzogen.<br />

Darunter waren nur die Frauen. Die Männer begnügten sich<br />

damit, unter schweren Sternenflottendecken in den Schutzbietenden,<br />

stellenweise hohlen Felsen zu schlummern. Allen<br />

schien daran gelegen zu sein, möglichst nicht im Freien zu liegen.<br />

Erst recht nicht nach dem Niedersturz eines Säureregens,<br />

den auch Dorak erlebt hatte. Nur wenige waren noch auf den<br />

Beinen. Er hörte beiläufig zu, wie an der Vorratskapsel ein Sicherheitsoffizier<br />

über einen gewissen D’Agosta – den gegenwärtigen<br />

Anführer der Gruppe – lästerte. Offenbar war sein<br />

Respekt für diesen Mann nicht unbedingt sonderlich groß. Dorak<br />

lies seinen Blick weiter durch das Lager schweifen und<br />

bemerkte ein Kind.<br />

Es waren Kinder unter diesen Leuten!<br />

Diese Erkenntnis schockte ihn ein wenig. Aber nur ein wenig.<br />

Er hätte nicht gedacht, dass Kinder an Bord der Shenandoah<br />

waren. Als er auf Cardassia Auskunft über dieses Schiff eingenommen<br />

hatte, war ihm standhaft versichert worden, dass<br />

sich keine Kinder an Bord aufhielten. Ein großer Irrtum, wie<br />

152


sich nun herausstellte. Das machte die Sache im Nachhinein<br />

komplizierter. Unschöner.<br />

Aber nun konnte er auch nichts mehr daran ändern. Ein Stück<br />

abseits der Leute, gerade noch im Einfluss der Feuerstellen,<br />

erspähte Dorak eine Frau. Eine mit blond-rotem Haar, Stiefeln<br />

und einem blankpolierten Schwert, das sie an ihrer Seite trug.<br />

Und er erkannte sie sogleich wieder. Sie saß auf einem Felsen,<br />

und las in einem Datenblock.<br />

Als er sich ihr näherte und sie ihn bemerkte, blickte die Frau<br />

auf und steckte den Datenblock ohne übertriebene Eile, aber<br />

umgehend in den Rucksack. Sie schloss den Reißverschluss<br />

und schob ihn unauffällig hinter ihre Beine. Dorak erkannte<br />

gleich, dass sie auf diese Weise verhindern wollte, dass jemand<br />

unbefugtes sich daran zu schaffen machte. Er tat so, als<br />

hätte er nichts bemerkt. Als er sie endlich erreichte, blieb Dorak<br />

einfach stehen und wartete ab, was passieren würde. Die<br />

Frau betrachtete ihn ein paar Sekunden prüfend und brach<br />

dann die Stille: „Hallo.“<br />

Dorak war etwa mittleren Alters. Seine Augen groß, aufmerksam<br />

und geheimnisvoll, das Lächeln tückisch, aber nicht ohne<br />

Charme. Und selbst für einen cardassianer war er erstaunlich<br />

groß.<br />

„Was macht der Kopf?“, fragte Shannyn.<br />

„Befindet sich entgegen meiner ersten Annahme noch auf den<br />

Schultern.“, erwiderte Dorak bedächtig und ohne eine Mine zu<br />

verziehen. „Sie sitzen hier ganz alleine?“<br />

„Machen Sie sich etwa Sorgen um mich?“<br />

„Nun, dies ist eine unsichere Region. Voll mit gefährlichen<br />

Tieren und Wesen. Die Gredor könnten zum Beispiel zurückkehren.<br />

Oder diese Gestaltwandler, von denen ich vorhin hörte.“<br />

„Das Gefährlichste an diesem Ort hier bin ich.“, sagte Shannyn.<br />

153


„Verstehe...“, sagte Dorak langsam. Er starrte sie weiterhin<br />

reglos mit seinen durchdringenden Augen an, fast so, als ob er<br />

sie einer visuellen Sicherheitsüberprüfung unterzog. „Sie klingen<br />

von sich selbst sehr überzeugt.“<br />

„Ich weiß mich zu verteidigen.“<br />

Dorak machte eine wage Geste zu dem Schwert, das an ihrer<br />

Hüfte hing. „Glaube ich ihnen gern.“<br />

Eine Pause entstand. Dorak rührte sich weiterhin nicht, stand<br />

einfach da. Vor Shannyn und sah abwägend auf sie herab.<br />

Shannyn lehnte sich ein wenig vor, hielt dem Blick problemlos<br />

stand und lächelte dünn. „Sie erwähnten die Gredor. Aber<br />

Ramina meinte, sie wären ihnen nie begegnet. Sie wissen nicht<br />

zufällig mehr über diese Wesen, oder?“<br />

Dorak blieb gelassen und lächelte nun seinerseits. „Ich war<br />

besinnungslos und habe absolut gar nichts mitbekommen.“<br />

„Verstehe...“, sagte Shannyn in demselben Tonfall, wie Dorak<br />

vorhin.<br />

Der Cardassianer sog die Luft ein und hob einen Finger. „Was<br />

mir aber keinesfalls entgangen ist, war diese bizarre Lichterscheinung,<br />

die ich kurz vor dem Absturz in einem Seitenkorridor<br />

beobachtet habe. Bei ihnen.“<br />

„Haben Sie?“<br />

„Habe ich. Sie wissen nicht zufällig mehr darüber, oder?“<br />

Shannyn spitzte die Lippen, als würde sie nachdenken und<br />

schüttelte dann den Kopf. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“<br />

Ihm fiel auf, dass sie sehr unbestimmt blieb. „Da war ein<br />

durchdringendes Licht.“, sagte er. „Eine Art Portal, denke ich,<br />

nur wenige Sekunden existent. Und plötzlich, als dieses Phänomen<br />

verschwand, standen Sie in dem Korridor.“<br />

„Einfach so?“<br />

„Einfach so.“, nickte Dorak.<br />

Shannyn sah an ihm vorbei zur Ebene, als sie antwortete: „Das<br />

müssen Sie sich eingebildet haben.“<br />

154


Dorak lächelte gefällig. „Denkbar. Wahrscheinlich spielte mir<br />

mein Verstand einen dummen Streich, nicht wahr? Darf ich<br />

dennoch fragen, wie lange Sie schon auf der Shenandoah<br />

Dienst tun?“<br />

„Ich bin erst vor kurzem angekommen.“<br />

„Interessant.“, sagte Dorak und kratzte sich am Kinn. „Warum<br />

waren Sie an Bord? Nur für diese eine Mission?“<br />

„So könnte man es nennen.“<br />

„Ganz allein?“<br />

„Ich arbeite meistens allein, ja.“<br />

„Kann ich verstehen.“, erwiderte Dorak, noch immer freundlich<br />

lächelnd. „Meine Arbeit ist auch nicht sehr glamourös.<br />

Touristen durch cardassianisches Territorium führen, hier und<br />

dort den Reisebegleiter spielen... Alleine arbeiten ist immer<br />

etwas ... einsam. Für ihren Gatten muss das doch schwierig<br />

sein.“<br />

„Ich bin nicht verheiratet.“, sagte Shannyn achselzuckend. Ihr<br />

Blick begegnete Dorak’s. Er lächelte andeutungsvoll. Shannyn<br />

wusste genau, dass Dorak ein Spiel mit ihr trieb. Und sie spielte<br />

mit, denn noch erschien es ihr harmlos.<br />

„Das überrascht mich.“, entgegnete er. „Ich meine, eine so<br />

hübsche junge Frau wie Sie-“<br />

„Ich habe nie die Zeit dafür gefunden.“, sagte sie schnell. Um<br />

das Thema zu wechseln, fragte sie: „Was ist mit ihnen?“ Es<br />

klang, als würde Sie seine Antwort auf ihre Frage gar nicht<br />

wissen wollen. Oder aber längst wissen.<br />

„Auch nicht.“<br />

„Dachte ich mir.“, sagte Shannyn und musterte ihn.<br />

„Sie sehen mich an, als würden sie mich kennen, nicht wahr?<br />

Als käme ich ihnen irgendwoher bekannt vor.“, stellte Dorak<br />

feste.<br />

„Sie sehen tatsächlich jemandem, den ich einst kannte, sehr<br />

ähnlich.“<br />

„So? Und wer war das, wenn ich fragen darf?“<br />

155


Shannyn schmunzelte. „Ich glaube sein Name war Garak.“<br />

Dorak schmatzte. „Ah. Tatsächlich? Nun, das höre ich häufig.<br />

Dabei finde ich im Grunde, dass er mir ähnlich sieht.“ Eine<br />

weitere Pause. Beide lächelten andeutungsweise, aber dabei<br />

handelte es sich nur um eine Fassade, denn eine bedrohliche<br />

Atmosphäre lag unterschwellig in der Luft. „Was wollen Sie<br />

wirklich von mir, Dorak?“<br />

„Ich versuche herauszufinden, wer Sie sind, meine Liebe.“<br />

„Shannyn Bartez.“<br />

„Nein, nein, nein. Ich meinte, wer Sie wirklich sind. Und was<br />

Sie zu verbergen haben.“<br />

Ein Schatten huschte über ihre Züge. „Haben wir nicht alle<br />

etwas zu verbergen?“<br />

Doraks Lächeln wuchs in die Breite. „Ich stimme zu. Wollen<br />

Sie wissen, was ich denke? Ich denke, Sie kommen von ganz<br />

woanders her.“<br />

„Bloß, weil Sie glauben in dem Korridor etwas gesehen zu haben?<br />

Sie übertreiben maß-“<br />

„Vielleicht von einer anderen Zeit.“<br />

„Epius-“<br />

„Ah.“ Der cardassianer grinste über beide Ohren und verbeugte<br />

sich leicht. „Soll ich ihnen sagen, warum ich mir nun sicher<br />

bin, dass Sie nicht ganz diejenige sind, für die Sie sich ausgeben?“<br />

„Warum?“<br />

Er lächelte. „Weil ich meinen Vornamen nie zu irgendeiner<br />

Gelegenheit preisgegeben habe. Sie können gar nicht über diese<br />

Information verfügen.“ Shannyn schloss einen Moment die<br />

Augen. Dorak sagte: „Für’s Erste habe ich erfahren, was ich<br />

wissen wollte.“ Damit verbeugte er sich noch einmal leicht<br />

und lies sie allein.<br />

Shannyn sah ihm nach, wie er zum Lager zurückging. Sie<br />

schüttelte den Kopf und lächelte.<br />

156


Dorak wollte zur Ausrüstungskapsel gehen, überlegte es sich<br />

aber anders, als er eine zusammengekauerte Person auf der<br />

anderen Seite des Lagers entdeckte, ähnlich weit abseits sitzend,<br />

wie die geheimnisvolle Shannyn Bartez.<br />

Es war Ramina. Sie hatte die arme um die Beine geschlungen<br />

und saß an einen Felsen gelehnt in der stillen Nacht. Ihr Blick<br />

war zwar auf die nahen Hügel gerichtet, aber sie starrte auf einen<br />

Punkt der überall war, nur nicht in diesem Raumzeitkontinuum.<br />

Sie blickte nicht auf, als sich Dorak näherte und schließlich<br />

neben ihr stehen blieb. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn ü-<br />

berhaupt bemerkt hatte, was ihm aber sehr unwahrscheinlich<br />

vorkam. Ramina war so aufmerksam, ja fast schon paranoid,<br />

dass ihr einfach nichts entging. Andererseits hatte er sie auch<br />

nie so gedankenverloren erlebt. Er verschränkte die Hände<br />

hinter dem Rücken, sah ebenfalls zu den Hügeln und wartete<br />

eine Weile.<br />

Ramina schenkte ihm noch immer keine Beachtung, also fragte<br />

er: „Wie fühlen Sie sich?“<br />

Nun drehte sie den Kopf und warf ihm einen teilweise gequälten,<br />

teilweise wütenden Gesichtsausdruck zu.<br />

„Verstehe.“, sagte Dorak.<br />

Eine Pause entstand.<br />

Dorak folgte ihrem Blick zu den Bergen. Er glaubte zu sehen,<br />

wie Schatten zwischen den Felsen dort huschten. Aber möglicherweise<br />

spielte ihm ein Verstand auch nur einen Streich.<br />

„Sie sind noch immer dort, nicht? Verstecken sich.“<br />

Ramina nickte, blieb aber weiterhin stumm.<br />

Wieder eine Pause.<br />

„Ich wurde von den anderen gebeten, unsere Position zu lokalisieren.“,<br />

sagte Dorak. „Sie scheinen mir vertrauenswürdig.<br />

Vielleicht sollten wir ihnen einfach erklären, was in der Höhle<br />

passiert ist.“<br />

157


Es dauerte eine Weile ehe Ramina etwas sagte. Sie sprach sehr<br />

leise und düster. „Teilen Sie diesen Leuten alles mit? Oder<br />

mir?“<br />

Dorak schürzte die Lippen. „Nein.“<br />

„Sehen Sie? Es ist auch nicht nötig, denn sie werden es nie erfahren.“<br />

„Nun, ganz wie Sie meinen. Es ist Ihre Entscheidung.“ Und<br />

damit drehte sich Dorak herum und kehrte zum Lager zurück.<br />

Ramina sah ihm nur kurz nach und blickte dann zur Ebene.<br />

Die Nacht war völlig Still. Und friedlich.<br />

Ramina rührte sich nicht. Sie war über das vollgelaufene Becken<br />

im Waschraum zusammengesunken und hielt den Kopf<br />

unter Wasser. Die Augen starrten vor sich hin, ohne zu blinzeln.<br />

Das Haar lag still, wie eine Wasserpflanze.<br />

Für einen Unbeteiligten musste es so aussehen, als wäre sie<br />

tot.<br />

Das war sie nicht. Nicht körperlich. Ramina starrte auf den<br />

Grund des Waschbeckens. Der Rost setzte dort bereits an. Ein<br />

kleines Luftbläschen löste sich von dem Lappen, mit dem sie<br />

den Abguss verstopft hatte. Ramina sah ihm nach, ohne sich<br />

zu bewegen und schaute danach wieder zum Grund.<br />

Sie wusste, dass sie fast fünf Minuten lang die Luft anhalten<br />

konnte. Wie viel Zeit war vergangen? Sechs Minuten? Sechs<br />

Stunden? Sie wusste es nicht. Es war ihr egal. Es war ihr alles<br />

egal.<br />

Sie würde ohnehin auftauchen, sobald ihr die Luft ernstlich<br />

ausging, denn sie wollte überleben. Und sie würde auch überleben.<br />

Sie würde es irgendwie schaffen. Irgendwie.<br />

Sie musste nur ihre Gefühle ignorieren, sie irgendwie wegschließen<br />

und den Horror ertragen, der sie erwartete, sobald<br />

sie den Kopf aus dem Wasser hob. Es würde sich ihr schon eine<br />

passende Gelegenheit bieten. Sie klammerte sich feste an<br />

158


diesen Gedanken. Der letzte „Kunde“ war vor zwei Stunden<br />

gegangen und der nächste würde sicher bald kommen. Der<br />

wievielte war das nun? Auch das wusste Ramina nicht mehr.<br />

Auch das war ihr egal.<br />

Ein bisschen Zeit hatte sie noch und bis der nächste Händler<br />

eintraf, dem man zum allgemeinen Warenangebot auch noch<br />

die Sklavinnen spottbillig zur Verfügung stellte, wollte sie die<br />

Stille unter Wasser so lange wie möglich genießen. Es war<br />

schön.<br />

So still.<br />

So friedlich.<br />

Sie spürte, wie ihre Lungen zu brennen begannen und nach<br />

Sauerstoff verlangten, aber Ramina tauchte nicht auf. Sie<br />

konnte den Atem sehr lange anhalten. Ihre Eltern hatten ihr<br />

das beigebracht.<br />

Ihre Eltern.<br />

Sie erinnerte sich, wie sie Ramina auf einer Randwelt im Taurik-System<br />

das Schwimmen und Tauchen beigebracht hatten.<br />

Fayar war mit dem lachenden Mädchen im Wasser herumgetollt,<br />

hatte sie immer wieder ins warme Nass geworfen, während<br />

Ramina immer mehr gelacht hatte.<br />

Und Melissa war dabei besorgt gewesen, so besorgt, und hatte<br />

Fayar ständig aufgefordert, vorsichtiger mit ihr zu sein, bis sie<br />

auch in den See gekommen war und gemeinsam mit Ramina<br />

vereint, hatten sie Fayar unter Wasser getaucht. Sie hatten so<br />

viel Spaß gehabt.<br />

Nun war dort niemand mehr, der sich um sie sorgte. Niemand,<br />

der ihr half.<br />

Und niemand der wusste, dass sie an dem Tag, nach dem heftigen<br />

Streit mit ihrer Mutter, eine Nachricht an den nächsten<br />

bekannten Außenposten der Orioner geschickt und darum gebeten<br />

hatte, dass man sie und ihren Vater nach Orion zurückbringen<br />

solle.<br />

Wodurch sie ihre Position und die Orioner direkt zu ihren El-<br />

159


tern geführt hatte.<br />

Ihr Kopf zuckte unter Wasser. Ihr Körper erzitterte. Lippen<br />

und Kinn bebten. Sie schloss die Augen.<br />

Was hatte sie nur angerichtet? Wie unglaublich dumm war sie<br />

gewesen? Nun sollte sie für ihre Taten bitter büßen.<br />

Ramina gluckste. Und dann stieß sie einen fürchterlichen, vom<br />

Wasser erstickten Schrei aus, den sonst niemand hörte.<br />

Am Rande des Lagers fuhr eine sanfte Briese durch Raminas<br />

langes, schwarzes Haar. Sie legte das Kinn auf die angezogenen<br />

Knie, schloss die Augen und schwieg.<br />

160


Exitus<br />

Eine Stunde später hatten sich Allan und Judy D’Agosta gerade<br />

in die Rettungskapsel zurückgezogen, um etwas zu essen<br />

und danach zu schlafen, als Isaac plötzlich die Zugangsluke<br />

aufriss und immer wieder brüllte: „Er ist zusammengebrochen,<br />

er ist zusammengebrochen!“<br />

Allan wischte sich gerade die letzten Krümel vom Mund. Er<br />

legte die Gabel hin. „Wer ist zusammengebrochen?“<br />

„Penkala!“<br />

D’Agosta sprang auf, bedeutete Judy in der Kapsel zu bleiben<br />

und stürzte mit Isaac nach draußen in die Nacht. Im gleichen<br />

Moment sprangen Smith und Roe aus dem Lazarett heraus.<br />

D’Agosta sah Crocker erleichtert aufatmen. Ein Tumult hatte<br />

sich im Lager gebildet. Er hörte hektische Rufe. Die Männer<br />

riefen nach einem Arzt. In ihrer Mitte lag ein zuckender Körper.<br />

Dike sagte immer wieder „Und er hat eben noch Witze<br />

drüber gemacht, er hat noch Witze drüber gemacht!“<br />

Smith stieß die Leute beiseite. „Was ist passiert?“<br />

„W-weiß nicht genau.“, rief Dike. Er war panisch. „Er hat sich<br />

übergeben, einen Anfall bekommen und ist zusammengebrochen.<br />

Ich dachte es sei wieder einer seiner Scherze-“<br />

Penkala war blass und sein Körper zuckte unkontrolliert.<br />

Smith beugte sich über ihn, aktivierte ihre Handlampe und<br />

richtete den Lichtkegel auf Penkala. Sie riss die Augen auf.<br />

„Mein Gott!“<br />

Er war nicht nur blass, er war kreideweiß, als hätte er überhaupt<br />

kein Blut mehr in den Gefäßen. Aus seinem Mund lief<br />

schmieriger, schleimiger Schaum. Das war definitiv kein<br />

161


Scherz! Smith erkannte sofort, dass es nicht gut aussah. Ganz<br />

und gar nicht gut.<br />

Roe tippte wild auf dem Tricorder herum. „Sein vaskuläres<br />

System spielt verrückt.“<br />

Was konnte das ausgelöst haben? Smith sah zu Dike. „Hat er<br />

etwas gegessen, oder getrunken?“<br />

Dike zögerte.<br />

„Hat er etwas gegessen, oder getrunken?“<br />

„Er hat eine der Früchte dort gegessen. Vom fressenden Felsen.“<br />

Roe begegnete Smith’ Blick. „Die sind giftig.“, sagte er leise.<br />

„Athol hat uns davor gewarnt.“<br />

„Verdammt!“ Smith sprang auf die Beine. „Los, bringt ihn<br />

rein. Schnell, schnell!“<br />

„Was tun Sie?“, fragte Dike nervös.<br />

„Versuchen sein Leben zu retten.“<br />

Roe und ein paar der anderen wuchteten den zuckenden Körper<br />

hoch und rannten los. Dabei gab Penkala merkwürdige<br />

Geräusche von sich. Crocker trat zu Dike und brummte. „Ich<br />

bin sicher, dass sie alles tun werden, was in ihrer Macht steht.“<br />

D’Agosta sah zu, wie sie Penkala ins Lazarett brachten und<br />

die Luke schlossen. Er sah durch die Fenster, wie drinnen das<br />

Licht flackernd ansprang und dann die Silhouetten von Roe<br />

und Smith, wie sie hastig Befehle gaben und gestikulierten.<br />

Die Leute wurden unruhig, tuschelten nervös und umschlangen<br />

sich selbst, als sei ihnen kalt.<br />

D’Agosta dachte an den Schaum, der ihm aus dem Mund gelaufen<br />

war und drehte sich zu Dike. „Er hat von den Früchten<br />

gegessen, sagten Sie?“<br />

Dike nickte langsam. „Es gelang ihm eine davon abzuschießen<br />

und er wollte sie probieren.“<br />

„Sie hätten das gar nicht tun dürfen!“<br />

„Aber warum-“<br />

162


„Sie hätten es nicht tun dürfen, weil ich befohlen habe, sich<br />

von dem fressenden Felsen fernzuhalten, deshalb!“, schimpfte<br />

D’Agosta. Er war sehr aufgeregt. „Diese Anordnung hat jeder<br />

erhalten. Sie hatten an dem Fels überhaupt nichts zu suchen,<br />

verstanden?“<br />

„Sie hätten auch genauso gut eine bessere Nahrungsquelle finden<br />

können.“, wandte Garnere ein. D’Agostas Zorn lies ihn<br />

kalt. „Etwas anderes, als die fürchterlichen Notrationen. Das<br />

habe ich auch vorhin zu Penkala gesagt.“<br />

D’Agosta blinzelte. „Sie? Wenn Sie ihn dazu ermutigten, haben<br />

Sie unnötig das Leben zweier Kameraden aufs Spiel gesetzt!“<br />

„Hey, ich habe niemanden zu irgendetwas ermutigt.“, verteidigte<br />

sich Garnere. „Ich konnte nicht ahnen, dass sie giftige<br />

Früchte essen. Ich äußerte lediglich meinen Unmut über die<br />

Notrationen.“<br />

„Wir sind auf diese Rationen angewiesen!“<br />

„Es war ein Unfall, Allan.“, sagte Isaac. Die anderen nickten<br />

traurig.<br />

D’Agosta konnte es nicht fassen. „Das glaub ich nicht!“, sagte<br />

er. „Das glaub ich einfach nicht! Habt ihr überhaupt den Ernst<br />

der Lage begriffen, in dem wir uns befinden?“ Er stöhnte und<br />

schloss die Augen. Natürlich konnten sie den Ernst der Lage<br />

nicht begreifen. Sie wussten einfach zu wenig.<br />

Er hörte Garnere sagen: „Tut mir leid, D’Agosta. Sie sind ja<br />

ein ganz netter Kerl, aber ein lausiger Anführer.“<br />

D’Agosta öffnete die Augen und hob den Kopf. Er begegnete<br />

durch die Reihen hindurch dem Shannyns Blick, die abseits,<br />

aber bereit zu helfen stand. Er erkannte, dass sie wusste, was<br />

er zu tun beabsichtigte. Aber er konnte in ihrem Blick weder<br />

Ablehnung, noch Bestätigung für sein Vorhaben erkennen. Sie<br />

wartete einfach ab.<br />

163


„Okay, das reicht.“, sagte D’Agosta. Er wirbelte herum und<br />

sprang in der Mitte des Lagers auf einen Felsen. „Kommt alle<br />

her und hört mir zu. Na los, hört mir zu!“<br />

Er wartete, bis sich alle um ihn herum einfanden, darauf gespannt<br />

zu hören, was er zu sagen hatte. Sie sahen zu ihm hoch.<br />

„Okay, was ich jetzt sage, wird euch sicher schocken, aber<br />

nach diesem Vorfall glaube ich, dass ich euch die Wahrheit<br />

mitteilen muss. Es ist absolut wichtig, dass ihr den Ernst unserer<br />

Lage begreift! Im Orbit ist mehr passiert, als-“<br />

„Allan.“, sagte Isaac.<br />

„Warten Sie, Brenda, ich will ihnen gerade etwas wichtiges-“<br />

„Allan! Hören Sie!“<br />

Er runzelte die Stirn und begriff jetzt erst, dass alle an ihm<br />

vorbei zum Himmel hinter ihm starrten. Er drehte sich um. Alles<br />

war dunkel. Die Hügel zeichneten sich matt in der Nacht<br />

ab. Und dann hörte er es, ein Geräusch, das er noch nie zuvor<br />

gehört hatte, ein dumpfes Knattern und Dröhnen, das immer<br />

mehr anschwoll, bis man es klar erkennen konnte: das Antriebsgeräusch<br />

einer Jagdmaschine. Im nächsten Moment donnerte<br />

ein großes Flugzeug über den Hügelkamm und raste direkt<br />

auf ihre Position zu.<br />

Die Leute stoben kreischend auseinander, aber ihnen blieb<br />

kaum Zeit. D’Agosta hatte nicht einmal die Zeit den Schock<br />

zu überwinden und seinen Beinen den Befehl zum Sprung zu<br />

erteilen, als der Jäger mit einer unglaublichen Geschwindigkeit<br />

auch schon über sie hinwegraste und er sah, wie er dabei<br />

etwas abwarf, direkt über dem Lager.<br />

Etwa zwei Meter lang, schwarz und-<br />

Eine Bombe!<br />

Nun sprang Allan endlich von dem Fels, warf sich auf den<br />

Boden und schlang die Arme über seinen Kopf. Er presste<br />

Augen und Mund zusammen und war sich sicher, dass nun alles<br />

aus war. Dass er jetzt in einer herannahenden Wand aus<br />

Feuer und Hitze sterben würde. Jeden Moment würden ihm<br />

164


Haut und Fleisch von den Knochen gebrannt. Er wartete auf<br />

die Hitze. Nach einer Weile stellte er benommen fest, dass er<br />

schon eine ganze Weile auf die Hitze wartete. Aber sie kam<br />

nicht.<br />

Allan öffnete blinzelnd die Augen und hob den Kopf. Er war<br />

nicht tot. Die anderen auch nicht. Das Lager war nicht zerstört.<br />

Er hielt am Himmel Ausschau, aber der Jäger war wieder verschwunden.<br />

Erst jetzt viel ihm auf, wie er sich offenbar entfernte,<br />

denn das dröhnende Geräusch wurde schnell leiser, bis<br />

es völlig verklang. Als nächstes hörte Allan das Getuschel und<br />

geschockte Ausrufe. Er drehte den Kopf und-<br />

Er sah, wie die Leute in der Mitte des Lagers einen Kreis bildeten.<br />

Alle waren bestürzt. Manche konnten nicht fassen was<br />

sie sahen und wandten sich ab, andere nahmen die Hand vor<br />

den Mund und rissen die Augen auf.<br />

Der Jäger hatte tatsächlich etwas abgeworfen, aber es handelte<br />

sich nicht um eine Bombe.<br />

Es war eine Nachricht. Die Tarkon ließen die Gestrandeten<br />

wissen, dass sie die Position ihres Lagers kannten. Und sie<br />

teilten D’Agosta mit, dass ihm nun niemand mehr helfen, ihm<br />

niemand mehr von der Verantwortung über die Gruppe befreien<br />

konnte.<br />

Allan D’Agosta rappelte sich wie in Trance auf und trat, unfähig<br />

klar denken zu können, auf die abgeworfene Leiche von<br />

Captain O’Conner zu.<br />

165


Fortsetzung folgt...<br />

166


Danksagung und Schlusswort<br />

Für alle, die dieses Projekt trotz <strong>Star</strong>tschwierigkeiten weiterhin<br />

unterstützten.<br />

In die Miniserie Cast Away fließen natürlich hin und wieder<br />

wissenschaftliche Forschungsbereiche und Themen mit ein,<br />

die ich als sehr interessant erachte, unter anderem die Evolutionsbiologie.<br />

All jenen, die ein wenig mehr über unsere Existenz<br />

erfahren möchten, lege ich „Das egoistische Gen“ von<br />

Richard Dawkins nahe.<br />

Es ist, als stoße man in einem dunklen und stickigen Raum die<br />

Türen und Fenster auf. Es wird einem klar, mit was für einem<br />

Chaos halbverdauter Ideen wir gewöhnlich leben, vor allem<br />

die Geisteswissenschaftler unter uns. Wir verstehen die Evolution<br />

„irgendwie“, obwohl wir insgeheim glauben, dass es mit<br />

dem Leben möglicherweise mehr auf sich hat als nur das. Einige<br />

von uns glauben sogar, dass es „irgendwie so was wie“<br />

Gott gibt, der sich um alles kümmert, was ein bisschen unwahrscheinlich<br />

klingt. Dawkins sorgt für jede Menge Licht<br />

und frische Luft und zeigt, dass der Aufbau der Evolution eigentlich<br />

sehr klar ist und sehr spannend, wenn man sie plötzlich<br />

begreift. Und wenn man sie nicht begreift, dann haben wir<br />

nicht den geringsten Schimmer davon, wer wir sind und woher<br />

wir kommen. Dennoch ist diese Miniserie natürlich reine Fiktion<br />

und dient hauptsächlich der Unterhaltung. Die darin ausgedrückten<br />

Ansichten sind meine eigenen, genau wie eventuell<br />

vorhandene sachliche Fehler.<br />

Rechtschreibfehler dürft ihr aber gerne behalten...<br />

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