PFD-Version Download - Star Trek NX
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STAR TREK<br />
CAST AWAY<br />
RENE BARZ<br />
TABULA RASA<br />
Roman<br />
<strong>Star</strong> <strong>Trek</strong>©<br />
Cast Away<br />
Band 2<br />
Deutsche Erstausgabe<br />
Ω<br />
MAYEN, 2006<br />
STARFURY PRODUCTIONS<br />
Band 02<br />
Deutsche Erstausgabe<br />
2
Nichts auf der Welt ist so gewiss wie der Tod.<br />
JEAN FROISSART<br />
4
In der Zukunft ist die Menschheit überheblich geworden.<br />
1. Die Föderation beurteilt technischen Fortschritt viel zu<br />
optimistisch. Was fehlt, ist die warnende Stimme. Irgendwann<br />
werden die Forscher die Kontrolle über ihre<br />
Entdeckungen verlieren: was technisch möglich ist, wird<br />
auch gemacht - Ohne, dass die Entdecker und Erfinder<br />
dafür Verantwortung übernehmen. Seit Entdeckung des<br />
Omega-Partikels ist jedoch zu beobachten, dass die Föderation<br />
die Notwendigkeit erkannt hat, über die Konsequenzen<br />
ihrer Forschung nachzudenken. Deshalb verweigern<br />
sich einzelne Individuen heiklen Themen. Nicht<br />
jede Entdeckung sollte gemacht, nicht jede technische<br />
Möglichkeit ausgenutzt werden.<br />
2. Die Föderation glaubt allem gewachsen zu sein. Außenteams<br />
werden auf fremde Welten gebeamt, nur mit einem<br />
dünnen Zweiteiler bekleidet, einem Handphaser und Tricorder<br />
bestückt. Bei Routineeinsätzen mag das gut gehen.<br />
Wenn aber ein Notfall eintritt, kann niemand auf die<br />
Konsequenzen vorbereitet sein. Wer unerwartet, von einem<br />
Augenblick zum anderen, seiner gewohnten Umgebung<br />
entrissen und beispielsweise in den Urwald transportiert<br />
wird, findet sich in einer völlig anderen Natur<br />
wieder. Gefährliche Wetterbedingungen, giftige Pflanzen,<br />
wilde Tiere. Und wie jedes in sich geschlossene Ö-<br />
kosystem, duldet diese fremde Welt keine Touristen,<br />
sondern fordert Eindringlinge mit Gefahren und Überraschungen<br />
heraus und nur die stärksten und anpassungsfähigsten<br />
Individuen überleben.<br />
Darum geht es in dieser Miniserie.<br />
5
Einleitung<br />
Im Jahr 2385 startete ein Föderationsraumschiff der Akira-<br />
Klasse unter dem Befehl von Admiral Alynna Nechayev zu<br />
einer diplomatischen Mission tief in den unerforschten, cardassianischen<br />
Raum.<br />
Die Crew bestand aus einer knapp vierhundert Mann starken<br />
Besatzung, die sich nach einem katastrophalen Zwischenfall<br />
plötzlich inmitten eines Krieges, gestrandet auf einem weit<br />
entfernten Mond wiederfand.<br />
Sie kämpften gegen die Tücken eines fremden Ökosystems,<br />
gegen einen unbarmherzigen, brutalen Gegner und Verrat aus<br />
den eigenen Reihen.<br />
Diese Besatzung erlitt die höchste Opferzahl, seit dem Ende<br />
des Dominion-Krieges.<br />
Dies waren die Männer und Frauen der USS Shenandoah,<br />
NCC 74101<br />
Das ist ihre Geschichte.<br />
6
Lazarett<br />
„Schmerzen hat sie jetzt keine mehr.“, sagte Doktor Smith und<br />
zog die improvisierte Plastikplane zu, um der schlafenden Hallie<br />
ein wenig Privatsphäre zu gönnen.<br />
Die Techniker hatten ganze Arbeit geleistet und binnen weniger<br />
Stunden drei Rettungskapseln vollständig auseinandergenommen,<br />
umgebaut und an anderer Stelle, mitten im Basislager,<br />
wieder zusammengeschweißt, um für die Gestrandeten eine<br />
kleine Krankenstation mit Laborbereich zu erstellen. Zwar<br />
war alles mehr als improvisatorisch, nur mit viel Tesa und einem<br />
Häufchen Glück zusammengehalten, aber immerhin verfügten<br />
sie über zwei zweckentfremdete Luken als Betten, drei<br />
Stühle und einigen Arbeitsablagen. Jedenfalls war den Patienten<br />
dadurch ein wenig Schutz vor Wind und Witterung gegönnt.<br />
Sanitäter Roe stand neben Smith im Halbdunkel. Die Leuchtstoffröhren<br />
glühten nur matt, um kostbare Energie der Batteriezellen<br />
zu sparen. Obwohl sein Gesicht nur undeutlich zu<br />
sehen war, erkannte Smith in seinen Zügen äußerste Konzentration,<br />
aber auch Sorge. Roe schien ein recht fähiger Arzt zu<br />
sein. Er drückte komplexe medizinische Vorgänge in einfachen<br />
Worten aus, was zum einen vom Umstand herrührte, dass<br />
er nur selten und wenig redete und zum anderen von seiner<br />
Heimatwelt.<br />
Smith sah in seinen Augen, dass er schon hinreichend Krisensituationen<br />
durchgemacht, genug Tote und Verletzte gesehen<br />
hatte. Trotz seines jungen Alters, waren seine Augen nämlich<br />
7
alt. Aber er strahlte Kompetenz aus. Trotzdem war Smith nervös.<br />
Schließlich lag ihr Freund Cooper Hawk auf dem anderen<br />
Bett. Sein Zustand war nicht mehr so kritisch wie noch vor ein<br />
paar Stunden, aber sie befanden sich weit weg von zu Hause.<br />
Und hier draußen, ohne medizinische Versorgung, ohne dringend<br />
benötigte Wirkstoffe und ohne ausreichend Energie für<br />
die wenigen Gerätschaften, die ihnen zur Verfügung standen,<br />
mochte schon ein einfacher, giftiger Insektenstich tödlich enden.<br />
Hawk hatte die Augen geschlossen. Er konnte noch immer<br />
nichts sehen und allmählich machte sich Smith ernsthafte Sorgen.<br />
Der Pilot drehte den Kopf und seufzte. Hawk befand sich<br />
aufgrund der starken Morphium-Narkose irgendwo zwischen<br />
einem Wach- und Schlafzustand. Sein Oberkörper war entblößt,<br />
die Haut noch immer stark verbrannt und aufgedunsen.<br />
Außerdem begannen die Wunden bereits zu eitern.<br />
„Wird er wieder gesund?“, fragte Roe und starrte auf Hawks<br />
geschundenen Körper.<br />
„Glaube schon.“, sagte Smith. „Ich habe ihm noch einmal eine<br />
Dosis Steroide zusätzlich zu dem Morphium gegeben, er atmet<br />
jetzt schon viel leichter. Außerdem können Sie sehen, dass die<br />
Schwellungen am Brustkorb allmählich wieder zurückgehen.“<br />
Erhebliche Sorgen bereiteten ihr dagegen sein Augenlicht. Seit<br />
der Detonation von Joe Toyes Kapsel, sah Hawk überhaupt<br />
nichts mehr und Smith wusste genau, dass seine Netzhaut<br />
durchgebrannt war. Ein solcher Schaden war irreparabel. Zumindest<br />
hier draußen auf diesem verdammten Mond, auf dem<br />
sie abgestürzt waren. Und wenn Hawk nicht möglichst bald in<br />
Behandlung kam – und Smith wusste genau, dass dies höchst<br />
unwahrscheinlich war -, könnten Folgeschäden sein Sehvermögen<br />
für immer einschränken.<br />
Selbst die Sternenflottenmedizin vermochte dann nicht mehr<br />
viel auszurichten.<br />
8
Smith wusch sich mit den Handrücken Schweiß von der Stirn.<br />
Dabei kam sie an die Bandage, die sie noch immer am Kopf<br />
trug. Das Blut daran war getrocknet. Sie betrachtete sich kurz<br />
im Spiegelbild eines deaktivierten Schaltkastens und erspähte<br />
dort eine schmutzige Frau. Das Haar zerzaust und staubig. Roe<br />
sah auch nicht besser aus. Erst jetzt hatten die beiden Mediziner<br />
eine kleine Verschnaufpause bekommen. Vor wenigen<br />
Minuten war der letzte Patient – ein dünner Riss an der Schulter<br />
– gegangen.<br />
Smith seufzte erschöpft und sah durch eines der kleinen Fenster<br />
nach draußen. Es war noch immer Nacht. Hin und wieder<br />
wurde die Dunkelheit durch Wetterleuchten am Himmel erhellt.<br />
Auf einem nahen Hügel, jenseits des Lagers, glaubte<br />
Smith die Silhouette von Admiral Alynna Nechayev und ihrem<br />
Leibwächter Nottingham erkennen zu können. Smith<br />
drehte sich von der Luke weg und reichte Roe ein Gerät. Ein<br />
kleiner, schuhkartongroßer Kasten mit einem Pistolengriff und<br />
mehreren futuristisch aussehenden Reglern. „Wir brauchen<br />
Energie für diesen Scanner.“<br />
Roe runzelte die Stirn. „Hat Admiral Nechayev das Ding nicht<br />
vorhin reingebracht?“<br />
„Stimmt genau.“<br />
„Ist kein medizinisches Gerät, oder?“<br />
„Nein, aber die Sache ist wirklich wichtig.“, entgegnete Smith.<br />
„Wir sollten warten, bis die Sonne aufgeht, der Jeep muss erst<br />
seine Solarzellen auf-“<br />
„Der Jeep hat noch ein paar Reserven.“, schnitt Smith ihm<br />
sanft das Wort ab. „Für den Notfall. Wir brauchen das Gerät,<br />
Roe.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Bitte, sehen<br />
Sie, was Sie tun können. Und dann versuchen Sie ein wenig zu<br />
schlafen, ich komme jetzt hier drin alleine klar.“<br />
Roe warf abwechselnd ihr, dann dem Kasten einen Blick zu.<br />
Anschließend nickte er knapp und kletterte durch die enge Luke<br />
nach draußen.<br />
9
„Rhonda...“<br />
Smith drehte sich um. Hawk seufzte und hatte den Kopf in ihre<br />
Richtung gedreht, auch wenn er sie nicht sehen konnte.<br />
„Cooper. Ich dachte du schläfst.“<br />
Hawk schmatzte. „Wir schlafen alle, Rhonda.“<br />
Sie begriff nicht, was er ihr sagen wollte und führte es auf das<br />
Morphium zurück. Er redete Unsinn.<br />
„Wie soll ich bei dem Lärm schlafen? Du hast mir zu wenig<br />
Morphium gegeben.“ Er hob schwach seinen Arm und wollte<br />
in ihr entgegenstrecken. Sachte drückte Smith ihn wieder zurück.<br />
„Nein, Cooper. Ich habe dir genug Morphium gegeben.“<br />
„Nur noch eine Injektion-“<br />
„Cooper. Du musst schlafen.“<br />
Hawk schloss die Augen. Als Smith glaubte, dass er das Bewusstsein<br />
verloren hatte, griff er plötzlich nach ihrem Arm<br />
und drückte ungewöhnlich feste zu. Er zog sie näher zu sich<br />
heran. Seine Stimme kam flüsternd. „Rhonda, lass dich unter<br />
keinen Umständen von Nechayev manipulieren.“<br />
„Cooper-“<br />
„Sie ist gefährlich!“ Er versuchte sich aufzurichten, brachte<br />
den Brustkorb aber nur wenige Zentimeter hoch, ehe er wieder<br />
zurücksank.<br />
„Du darfst dich nicht bewegen.“<br />
„Rhonda, Sie ist sehr gefährlich!“<br />
Smith schluckte. „Cooper, du hast viel Morphium bekommen.<br />
Ich schätze du weißt nicht was du überhaupt sagst.“<br />
Hawk schüttelte den Kopf. Es kostete ihn viel Anstrengung.<br />
„Nicht manipulieren lassen, hörst du?“, sagte er leise. „Egal,<br />
was du ihr schuldest.“<br />
Er schloss die Augen. Sein Körper erschlaffte ein wenig. „Egal,<br />
was du ihr schuldest.“ Dann schlief er ein.<br />
10
Basislager<br />
Blitze zuckten. Nun grollte vereinzelt sogar weit entfernter<br />
Donner. D’Agosta, Shannyn, Judy und Fowler saßen niedergeschlagen<br />
und entrüstet an einem knisternden Feuer, abseits<br />
des Lagers und achteten darauf, dass sich niemand sonst in ihrer<br />
Nähe befand, oder sie belauschen konnte. Sie waren erst<br />
vor kurzem nach einer langen Wanderung über die Berge wieder<br />
zurückgekehrt.<br />
Inzwischen war es mitten in der Nacht. Die Ebene war dunkel<br />
und still. Um die Kapseln lagen überall, einem Wall gleich,<br />
Heuhaufen verteilt, die nun in der Nacht loderten und gruslige<br />
Schatten warfen. Die Gestrandeten hatten sie mit der Hilfe der<br />
ortsansässigen Amphion zusammengesucht. Auf Athols Anraten<br />
und D’Agostas Befehl hin, waren sie angezündet worden,<br />
um „die Unsichtbaren“ fernzuhalten. D’Agosta wusste noch<br />
immer nicht genau, was er davon halten solle, bisher hatten sie<br />
keine Probleme mit Unsichtbaren gehabt und auch keine gesehen,<br />
was aber auch an der Natur ihres Namens liegen konnte.<br />
Aber er beschloss dennoch Athol zu vertrauen. Die Amphion<br />
mochte primitiv und sogar sehr abergläubig sein, wie er<br />
festgestellt hatte, aber sie kannten im Gegensatz zu der gestrandeten<br />
Sternenflottencrew das Terrain und die darin enthaltenen<br />
Gefahren. Sie waren auf die Amphion angewiesen.<br />
Im Moment bereitete D’Agosta aber etwas ganz anderes große<br />
Sorgen.<br />
„Vielleicht war die Intensität dieses Moleküls nicht so stark,<br />
wie wir jetzt annehmen.“, sagte Fowler unsicher. „Könnte<br />
11
doch sein, dass uns nur ein paar Tage vom Föderationsraum<br />
trennen. Das ist doch möglich, oder?“<br />
Seine Frage war an Shannyn gerichtet, die einzige Person außer<br />
Nechayev, die über das ominöse Omega-Molekül genauestens<br />
bescheid zu wissen schien. Sie war gerade damit beschäftigt<br />
ihren Rucksack notdürftig zu flicken. Die Begegnung<br />
mit den Blutkatzen hatte ihr zwei zusätzliche Löcher in dem<br />
alten Stoff beschert. Shannyn sah auf. Ihr Blick wanderte für<br />
einen Moment zu Judy. Sie beschloss das Mädchen nicht zu<br />
belügen. „Es werden mehr als nur ein paar Tage sein.“, sagte<br />
sie. „Man stellte aber fest, dass einzelne Omega-Moleküle unterschiedlich<br />
stark geladen sind. Die Auswirkungen einer Destabilisierung<br />
hängt außerdem maßgeblich von der Anzahl der<br />
Moleküle ab. Je weniger dort oben waren, desto besser für<br />
uns. Ich denke nicht, dass es viele waren. Dennoch könnten<br />
uns Wochen, vielleicht sogar ein paar Monate vom Föderationsraum<br />
trennen.“ Sie sah wieder zu Judy herüber. „Nur ein<br />
paar Monate. Allerhöchstens.“<br />
Das Mädchen schwieg.<br />
„Woher wissen Sie das alles, überhaupt?“, fragte Fowler.<br />
„Wenn Omega tatsächlich so selten und unter einer derart<br />
strengen Geheimhaltung steht, wie Sie behaupten, dann<br />
schnappt man Infos über so etwas doch nicht ein einem x-<br />
beliebigen Raumhafen auf.“<br />
„Ich habe meine Quellen.“, entgegnete Shannyn lediglich.<br />
Fowler grunzte nur.<br />
Eine Pause entstand.<br />
Dann stieß er D’Agosta neben sich an. „Chef, sagen Sie auch<br />
mal etwas, dazu.“<br />
D’Agosta nahm einen Stein in die Hand und legte ihn auf den<br />
sandigen Boden vor sich. Dann ergriff er einen zweiten und<br />
legte ihn in etwa dreißig Zentimetern Abstand daneben. Er<br />
deutete auf den ersten Stein. „Das ist unser Bestimmungsort,<br />
Portas IV.“ Und zum zweiten Stein: „Das sind wir.“<br />
12
„Nette Karte.“, sagte Fowler sarkastisch.<br />
„Wir sind vor zwei Tagen von Deep Space Nine gestartet. Unsere<br />
Reisegeschwindigkeit betrug konstant Warp Fünf. Korrekt?“<br />
Fowler zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung, ich war nicht<br />
auf der Brücke.“<br />
„Wir flogen mit Warp Fünf.“, bestätigte D’Agosta seine eigene<br />
Aussage. „Zwei Tage lang. Wir müssten also vier Tage von<br />
unserem Bestimmungsort entfernt sein. Genau hier.“ Er deutete<br />
wiederholt auf den zweiten Stein. „Das sind in etwa zwei<br />
Lichtjahre. Zwei Lichtjahre mit Impuls. Also wirklich nur ein<br />
paar Monate. Und wenn die Sternenflotte unseren Kurs ganz<br />
exakt verfolgt, dann wird uns die Suchmannschaft finden, ohne<br />
zusätzlichen Zeitverlust.“<br />
„Sagte Nechayev nicht, wir hätten eine Kurskorrektur vorgenommen?“,<br />
fragte Shannyn.<br />
„Das kann nur eine Minimale gewesen sein.“, sagte D’Agosta.<br />
„Andernfalls hätten Commander Bowman, oder Captain<br />
O’Conner doch etwas verdächtiges gemeldet. Wie auch immer,<br />
wenn die Sternenflotte nach einen geraden Kurs verfolgt,<br />
finden sie uns sehr einfach. Das heißt, wenn sie erst einmal in<br />
unsere Reichweite kommen.“<br />
„Das heißt, wenn sie uns überhaupt suchen.“, sagte Fowler<br />
und schüttelte den Kopf. „Nichts gegen eure Wissenschaftsund<br />
Navigationsvorlesung hier. Nein, ehrlich, ich genieße das<br />
richtig. Aber wir sind hier mitten im Nirgendwo, tief im unerforschten<br />
cardassianischen Territorium. Die Sternenflotte wird<br />
eine große Explosion registriert haben, sich erstaunt am Kopf<br />
kratzen und anschließend die cardassianische Regierung konsultieren.<br />
Diese wiederum verbietet typisch paranoid die Einreise,<br />
denn sie hält die Explosion sicherlich für einen weiteren<br />
Versuch der Föderation den cardassianischen Raum zu besetzten<br />
– davon bin ich überzeugt. Die Sternenflotte erklärt eine<br />
13
Rettungsaktion für nicht unternehmenswert und schreibt uns<br />
ab.“<br />
„Die Sternenflotte lässt niemanden-“<br />
„Dann wird es eben dauern.“, fiel Fowler D’Agosta ins Wort.<br />
„Da wir nicht im Föderationsraum gestrandet sind, ist das jetzt<br />
eine Sache der Politiker.“, sagte er. „Und bei denen ist es immer<br />
dasselbe. Viel reden, wenig unternehmen. Ein Papierkrieg<br />
nach dem anderen entsteht und es wird erst mal wochenlang<br />
mit Regierungen über Einreisegenehmigungen und Notfallmaßnahmen<br />
debattiert.“ Er stand kopfschüttelnd auf. „Wir sitzen<br />
hier fest, Leute! Alle Mann! Das wird tatsächlich kein<br />
Aufenthalt von wenigen Tagen, sondern von Monaten! Scheiße,<br />
wir sind erst ein paar Stunden hier und ich wurde bislang<br />
bereits verprügelt und beinahe von einem verdammten Riesenskorpion<br />
aufgespießt.“<br />
„Ich habe Sie doch gerettet, oder?“, fragte Shannyn.<br />
„Ja, ganz toll, Wonderwoman. Aber ihre Superkräfte halten sicher<br />
nicht ewig.“, erwiderte Fowler. Er wurde wütend und<br />
hysterisch. „Unser Schiff ist zerstört. Wir können nirgendwo<br />
hin. Wir können nichts mehr tun. Ich sag’s ihnen, wir werden<br />
alle st-“<br />
„Sagen Sie es nicht!“, entgegnete Shannyn. Sie packte Fowler<br />
am Arm und zog ihn rabiat zu sich. Shannyn sprach so leise,<br />
dass nur er sie verstehen konnte: „Verängstigen Sie Judy<br />
nicht.“<br />
Fowler warf dem Mädchen einen kurzen Blick zu. Sie schien<br />
recht gefasst zu sein. „Was macht denn das noch aus?“, fragte<br />
er. „Früher oder später wird sie es- Autsch! Was soll denn<br />
das?“<br />
Shannyn hielt seinen Arm fest umklammert. Ihr Gesicht war<br />
knapp vor Fowlers und ihre Hand ruhte auf dem Schwertknauf<br />
an ihrem Gürtel. „Hören Sie auf sich aufzuführen, wie ein<br />
Arschloch.“, sagte sie leise. „Sie reißen sich jetzt zusammen,<br />
Fowler. Haben Sie mich verstanden?“<br />
14
Fowler nickte. „Das ändert aber nur sehr wenig an unserer Situation.“<br />
Shannyn starrte ihn ein paar Sekunden einfach nur an, dann<br />
sagte sie laut und ohne den Blick von ihm abzuwenden: „Wir<br />
werden es schaffen. Die Intensität der Omega-Detonation war<br />
nicht immens, da bin ich sicher. Hätten sich viele Partikel in<br />
diesem Sternensystem befunden, wären sie schon vorher von<br />
Schiffen entdeckt geworden. Die Sternenflotte hat diesen<br />
Raumbereich auch früher, während des Krieges durchflogen.<br />
Größere Omega-Vorkommnisse wären ihnen nicht entgangen.“<br />
Dann sah sie Judy tröstend an. „Mach dir keine Sorgen.<br />
Unsere Situation ist schlechter als zunächst gedacht, aber nicht<br />
aussichtslos. Vertrau mir.“<br />
Judy nickte kaum merklich. Am Himmel grollte wieder Donner,<br />
diesmal näher als zuvor. Es war Judy unheimlich. Sie hatte<br />
noch nie ein Gewitter erlebt. Wo auch? Auf der Erde verhinderte<br />
das Wetterkontrollsystem seit beinahe zweihundert<br />
Jahren Unwetter. Und auf vielen anderen Planeten hatte sie<br />
sich nicht aufgehalten. Das Wetterleuchten machte ihr Angst.<br />
Dazu noch diese unheimliche Stille-<br />
„Wie sollen wir das alles den anderen Leuten erklären?“, fragte<br />
Judy, um sich abzulenken.<br />
Fowler schnaufte. „Was sollen wir denen schon großartig erklären?“<br />
„Was wirklich passiert ist.“, sagte Judy. „Und das wir nicht<br />
gerettet werden. Nicht sofort.“<br />
Shannyn schüttelte den Kopf. „Niemand von uns sagt ihnen<br />
zum jetzigen Zeitpunkt etwas. Diese Leute haben gerade mit<br />
knapper Not ein katastrophales Schiffsunglück überstanden,<br />
was glaubt ihr, wie sie auf diese Neuigkeit hier reagieren werden?“<br />
„Nicht sehr gut, jedenfalls.“, begriff Fowler.<br />
„Ganz genau.“, sagte Shannyn. „Wenn wir ihnen erklären was<br />
geschehen ist, ohne es selbst gänzlich zu verstehen, ohne ge-<br />
15
nau zu wissen, wie schlimm die Omega-Explosion war, riskieren<br />
wir eine Panik.“<br />
„Aber warum haben Sie uns dann davon erzählt?“, fragte<br />
Fowler. Er wäre lieber nicht über die Situation aufgeklärt<br />
worden und erkannte in diesem Moment, dass Unwissenheit<br />
tatsächlich ein Segen sein konnte.<br />
„Weil der Verantwortliche für diese Gruppe die Fakten kennen<br />
muss, um richtige und erforderliche Entscheidungen zu<br />
treffen.“, sagte Shannyn. Sie sprach leiser, als sie den Kopf zu<br />
D’Agosta drehte. „Und ob Sie es wollen, oder nicht, Allan, Sie<br />
sind dieser Verantwortliche im Moment.“<br />
D’Agosta rieb sich stöhnend die Augen, als ob er so aus einem<br />
Alptraum erwachen könne. Dann knabberte er an seinen Nägeln<br />
und sah nachdenklich zum Basislager herüber. Irgendjemand<br />
lachte dort. Eine kleine Gruppe saß - ähnlich wie sie<br />
selbst -, gerade an einem Lagerfeuer und erzählte Witze. Chief<br />
Crocker tat mit Anekdoten und alten Raumfahrergeschichten<br />
sein übriges, um die Stimmung zu heben und die Moral aufrecht<br />
zu erhalten. Der Mann hätte einen Orden dafür verdient,<br />
dachte D’Agosta.<br />
Allan war nicht begeistert. Weder von der Vorstellung jetzt für<br />
diese Männer und Frauen verantwortlich zu sein, solange Nechayev<br />
die Umgebung erkundete – und das tat sie schließlich<br />
fortwährend – und auch nicht davon, sie alle anzulügen. Das<br />
wiederstrebte ihm völlig. Andererseits sah er ein, dass Shannyn<br />
recht hatte.<br />
„Eine Panik ist das Letzte, was wir brauchen.“, sagte er langsam,<br />
den Blick noch immer auf das Lager gerichtet. „Wenn<br />
wir ihnen mitteilen, was wir bisher wissen ... was wir bisher<br />
annehmen, dann rauben wir ihnen die Hoffnung. Und Hoffnung<br />
ist eine sehr gefährliche Sache, wenn man sie verliert.“<br />
Er wusste es aus eigener, leidiger Erfahrung. D’Agosta nickte<br />
und fasste eine Entscheidung: „Außerdem unterliegt diese<br />
Omega-Sache der Geheimhaltung. Wir sollten nicht zu viele<br />
16
Personen darin einweihen, sonst könnten wir wirklich Ärger<br />
bekommen.“<br />
„Den haben wir schon.“, brummte Fowler. D’Agosta ignorierte<br />
ihn. „Nein, wir können es ihnen nicht sagen. Noch nicht.<br />
Wir warten besser ab, bis sich die Lage stabilisiert und beruhigt<br />
hat. Bis wir einen Weg gefunden haben, zu ergründen,<br />
wie heftig das Partikel war und bis wir ein Lebenszeichen von<br />
Captain O’Conner erhalten. Er wird wissen, was zu tun ist.<br />
Dann sehen wir weiter.“<br />
„Es hat nie ein Omega-Partikel gegeben?“, fragte Fowler stirnrunzelnd.<br />
D’Agosta nickte. „Also lügen wir. Und hoffen, dass vorerst<br />
niemand zu neugierig wird.“ Aber wer sollte das schon?<br />
Sicherheitsoffizier Antonio Garnere warf einen flüchtigen<br />
Blick zum nachtschwarzen Himmel hoch. Es gab keine Sterne.<br />
Selbst der nahe Planet war hinter den hängenden Wolken<br />
kaum zu erkennen. Hin und wieder blitzte es.<br />
Wetterleuchten.<br />
Donner ertönte kaum, wenn, dann nur aus weiter Ferne. Alles<br />
war gespenstig still. Er schraubte den Verschluss einer Wasserflasche<br />
auf und trank gierig. Garnere war Anfang zwanzig,<br />
dunkelhaarig und kompakt gebaut. Er trug eine verschlissene<br />
Uniformjacke und eine Hose, die so staubig war, wie der Boden<br />
selbst. Aber einen besseren Anblick boten alle anderen<br />
auch nicht. Manche in der Sicherheitsabteilung konnten Garnere<br />
nicht leiden, hielten ihn für aufgeblasen und anmaßend.<br />
Andere, wie Fowler, mochten ihn gerade aufgrund seiner direkten<br />
Art.<br />
Garnere wollte die Flasche zu einem weiteren Schluck an seine<br />
Lippen bringen, als jemand danach grapschte und sie ihm<br />
grob aus den Händen riss.<br />
17
„He!“, brummte Crocker verärgert. „Du sollst mir helfen das<br />
Zeug zu sortieren, Söhnchen, nicht es zu vergeuden.” Der alte<br />
Chief stand halb gebückt in einer der Fluchtkapseln und untersuchte<br />
ihren Bestand an Vorräten. Garnere half Crocker die<br />
Kapseln und Umgebung nach nützlichen Dingen durchzusuchen.<br />
Nahrunge, Geräte - alles, was sozusagen Nützlich war. Und in<br />
den Augen des Chiefs war einfach alles Verwendbar. Sie hatten<br />
also einiges an Arbeit. Nicht nur die Kapseln, von denen<br />
inzwischen nur noch fünf Übrig geblieben waren und eng beieinander<br />
standen, galt es auszuschlachten. Nein, überall in einem<br />
weit verstreutem Gebiet waren Trümmer runtergekommen.<br />
Manche noch brauchbar, manche nicht. Die meisten Teile<br />
wurden als provisorische Dächer verwendet, damit die Gestrandeten<br />
Schutz vor Wind und Wetter besaßen, wenn sie<br />
schliefen,<br />
Garnere konnte kaum noch auftreten, so sehr schmerzen ihn<br />
seine Füße. Bis kurz vor Sonnenuntergang waren sie stundenlang<br />
durch die heiße Ebene gewandert und hatten dabei alles<br />
abgesucht. Dann war dieser Fremde – Athol – mit den anderen<br />
drei Einheimischen und D’Agostas Gruppe aufgetaucht und<br />
ihnen sogleich offenbart, sie dürften sich in der Nacht nicht<br />
vom Lichtkreis der Lagerfeuer entfernen. Warum auch immer.<br />
Es ging um Geister oder so einen Blödsinn. Er wusste es nicht<br />
genau, aber Garnere war es recht. So hatte er immerhin eine<br />
kleine Verschnaufpause.<br />
„Verdammt, Chief. Ich trockne noch aus!“<br />
„Du wirst es überleben, Junge.“, erwiderte Crocker ungerührt<br />
und schüttelte die Flasche um den Inhalt zu prüfen. Sie war<br />
nur noch zur Hälfte voll. „Es ist notwendig zu Rationieren,<br />
Garnere. Sowohl das Essen, als auch das Wasser. Wenn die<br />
Sternenflotte sich verspätet, schauen wir dumm aus der Wäsche.“<br />
18
„Chief.“, sagte Garnere klagend und breitete die Arme aus.<br />
„Sehen Sie nach oben. Es blitzt und donnert. Da bewegt sich<br />
ein ausgewachsenes Gewitter direkt auf unser Lager zu und<br />
wird jeden hier, noch vor Anbruch des Tages, zweifellos derart<br />
durchnässen, dass sich selbst ein Aquaner unwohl fühlen<br />
würde. Und Sie wollen mir dieses bisschen Wasser jetzt nicht<br />
gönnen?“<br />
„Wer garantiert mir, ob der Regen hier überhaupt trinkbar ist<br />
hm?“ Crocker gab ihm die Flasche wieder zurück und deutete<br />
auf die Kapsel, die wie ein Monument, ungefähr nur zehn Meter<br />
neben dem Lazarett ruhte und somit am nächsten an ihnen<br />
dran war. Sie hatten sie als Vorratskammer missbraucht und<br />
deponierten dort nun Nahrung, Wasser- und Kleidungsvorräte.<br />
„Schon gut.“, sagte Garnere. „Ich tue Sie weg.“ In Wahrheit<br />
wartete er, bis Crocker sich wieder umgedreht hatte und trank<br />
noch schnell einen Schluck. Anschließend beförderte er die<br />
Flasche mit einem geschickten Wurf durch die kleine Luke in<br />
die Vorratskapsel hinein. Sie landete Weich auf ein paar staubigen<br />
Uniformen.<br />
Garnere wusch sich den Mund ab. „Wollen Sie wissen, was<br />
ich gehört habe?“, fragte er. „Ich habe gehört, dass die Breen<br />
den Prototypen eines neuen Waffensystems entwickelt haben.<br />
Ein viel verheerenderes als die Dämpfungswaffe vom Krieg.<br />
Und sie bereiten sich darauf vor, die Föderation damit erneut<br />
anzugreifen. Der Geheimdienst hat davon Wind bekommen<br />
und Nechayev auf unser Schiff geschickt, weil die Shenandoah<br />
kampferprobt ist. Diese diplomatische Mission war nur ein<br />
Vorwand. Eine Täuschung. In Wahrheit sollten wir die Breen<br />
aufhalten. Tja, vergeigt, würde ich sagen. Wie auch immer –<br />
das habe ich gehört.“<br />
Crocker blickte ihn kurz an. „Und du glaubst das, Junge?“<br />
„Zuerst nicht.“, erwiderte Garnere. „Aber das sagen alle hier.<br />
Diese Gerüchte verstummen nicht. Sie waren doch auf der<br />
Brücke, oder?“<br />
19
„Aye, ich war auf der Brücke.“<br />
„Und? Waren es die Breen, die uns erwischten?“<br />
„Nicht die Breen.“<br />
„Nicht die Breen?“, fragte Garnere. Er sah Crocker eingehend<br />
an.<br />
„Nein.“<br />
„Dann ist es also nicht wahr?“<br />
Crocker seufzte. „Bist du schwer von Begriff, Junge? Es waren<br />
keine Breen. Ich weiß nicht was es war, aber es waren<br />
nicht die Breen. Jedenfalls keines ihrer Waffensysteme, das<br />
kann ich dir sagen.“ Er wandte sich ab und durchsuchte nun<br />
die Kisten. Er fand Rauchgranaten. Auch eine Art Betäubungsgranate<br />
war dabei. Crocker runzelte die Stirn und fragte<br />
sich, wozu sie dieses Zeug vorfanden, aber keine weiteren<br />
Nahrungsrationen.<br />
Garnere fragte: „Was macht Sie da so sicher?“<br />
„Ganz einfach: Was immer uns da oben zugesetzt hat, es erwischte<br />
auch die Breen.“<br />
„Deren Schiff ist ebenfalls abgestürzt?“, fragte Garnere verwundert.<br />
„Runtergekracht, wie wir, Aye. Ich hab’s mit eigenen Augen<br />
gesehen. Was immer du gehört hast, Sohn, es ist falsch. Völlig<br />
falsch. Ich glaube keiner von uns weiß, was da oben wirklich<br />
passiert ist. Hier, schau mal.“ Er hatte in den Trümmern etwas<br />
gefunden. Eine zylindrisches Objekt, von dreißig Zentimetern<br />
Länge. Schwarz, mit einer rauen Oberfläche. Wie der Lauf eines<br />
Mörsers.<br />
„Was ist das?“<br />
„Ein Stück Schrott natürlich. Aber in Kombination mit anderem<br />
Schrott, könnten wir hier draus ein Leuchtfeuer basteln.<br />
Wir haben doch das Kerosinkonzentrat gefunden, richtig?“<br />
Garnere schien verwirrt. „Ja, aber das wird doch nur in den<br />
Bremsraketen verwendet, um die Zündung bei einem Ausfall<br />
20
der Systeme manuell, durch eine Explosion, durchführen zu<br />
können. Wie sollte uns das weiterhelfen?“<br />
„Ganz einfach.“, sagte Crocker. „Da ist ne Rauchgranate. Die<br />
enthalten Toroaxyl, ein chemisches Konglomerat. Im Grunde<br />
harmlos, aber zusammen mit dem Kerosinonzentrat? Was<br />
meinst du?“<br />
Garnere überlegte und begutachtete das Teil genau. Es sah<br />
stabil genug aus und hatte auch die richtige Größe. „Könnte<br />
funktionieren.“<br />
Könnte uns aber auch um die Ohren fliegen, dachte er.<br />
„Dann sollten wir die restlichen Teile suchen.“, sagte Crocker<br />
und begann wieder in den Kisten zu wühlen. Garnere schwieg<br />
eine Zeitlang. Er sah durch die Reihen der Gestrandeten. Abseits<br />
des Basislagers erspähte er D’Agosta, wie er mit seiner<br />
Tochter und der blonden Frau am Lagerfeuer saß. Fowler war<br />
auch bei ihnen.<br />
D’Agosta hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Dann<br />
schaute er zu dem Mädchen und nahm sie ermutigend in den<br />
Arm. Er machte auf Garnere aber keinen optimistischen Eindruck.<br />
„So sieht doch kein Anführer aus.“, murmelte Garnere.<br />
„Was meinst du?“, fragte Crocker ohne aufzusehen.<br />
„D’Agosta.“, antwortete Garnere. „Der Kerl hat doch momentan<br />
das Sagen über uns.“<br />
„Bis der Captain zurück ist, Aye.“<br />
Garnere schnaufte. „Falls er jemals zurückkehrt. Falls er nicht<br />
schon längst Futter für die Maden ist. Nein, ich schätze wir<br />
müssen uns mit dem da anfreunden. Zum Teufel! Ein weichherziger<br />
Familienmensch.“<br />
„Du scheinst kein großes Vertrauen in Lieutenant Commmander<br />
D’Agosta zu haben.“, stellte Crocker fest.<br />
„Nehmen Sie es mir wirklich nicht übel, Chief.“, sagte Garnere.<br />
„D’Agosta ist bestimmt ein ganz netter Bursche, aber im<br />
Kommandobereich absolut falsch aufgehoben. Der kann sich<br />
21
doch nicht durchsetzen, macht immer das, was andere ihm sagen,<br />
oder vorschlagen. Ich meine, was ist seine Aufgabe? Ist<br />
er nicht Analytiker?“<br />
„Systemanalytiker, Aye.“<br />
„Was brauchen wir hier einen Analytiker, frage ich? Wir hatten<br />
eine außerordentlich schlecht verlaufene Evakuierung, fabrizierten<br />
einen Crashdown und stecken, bis die Sternenflotte<br />
endlich eintrifft, mächtig im Dreck. Analyse beendet.“ Er<br />
schüttelte den Kopf. „Schlimmer kann’s kaum sein.“<br />
Crocker seufzte und spähte aus der Luke hinaus. Erst Rechts,<br />
dann Links. Niemand da. Dann fixierte er Garnere und sagte<br />
leise: „Es kann schlimmer sein!“<br />
„Wüsste nicht wie.“<br />
Crocker deutete zu einem Hügel, ein paar Hundert Meter vom<br />
Lager entfernt. Garnere glaubte Admiral Nechayev in der<br />
Dunkelheit erkennen zu können.<br />
„Die ist uns schließlich auch keine große Hilfe.“, sagte Crocker<br />
Nechayev saß einfach da, mitten in der Nacht und starrte auf<br />
einen fernen Punkt jenseits der Ebene. Crocker verzog das Gesicht.<br />
„D’Agosta macht das nur für ein paar Tage, das dürfte<br />
für uns doch wohl kein Problem sein. Und jetzt helf mir endlich,<br />
anstatt ständig zu quatschen. Wir haben viel Arbeit vor<br />
uns.“<br />
22
Tarnung<br />
Alex Penkala wog das Gerät in den Händen und betrachtete es<br />
argwöhnisch. „Was ist das?“, fragte er Sanitäter Roe, der ihm<br />
das Instrument grade erst gegeben hatte.<br />
„Dasselbe habe ich auch gefragt.“, antwortete Roe. „Ein Scanner,<br />
denke ich.“<br />
„So einen habe ich noch nie gesehen.“, sagte Penkala.<br />
„Können Sie ihn denn aufladen?“, fragte Roe.<br />
Penkala warf einen Blick zu Joseph Dike, der neben ihm auf<br />
dem Beifahrersitz saß. Sie beide wollten die Nacht wieder im<br />
Jeep Explorer verbringen. Die Sitze waren ungemein bequemer<br />
als die Felsen, der harte Boden, oder die engen Kapseln.<br />
Da sie den Jeep überhaupt erst auf die Oberfläche gebracht<br />
hatten, beanspruchten sie gewissermaßen Besitzrecht. Keiner<br />
der anderen wandte dagegen etwas ein. Der Jeep gehörte nun<br />
offiziell den beiden.<br />
Dike rollte mit den Augen. „Roy, richtig?“<br />
„Ro-i. Es wird Ro-i gesprochen. Nicht Roy und auch nicht Rö.<br />
Ro-i.“<br />
„Tschuldigung.“, sagte Dike. „Warten Sie bis morgen früh,<br />
Roe. Die Batterien sind fast erschöpft, wir haben heute alles<br />
aufgebraucht, um ein paar Phaser und die Energiezellen für alle<br />
Leuchtröhren im Lazarett partiell aufzuladen. Im Jeep ist bis<br />
auf eine kleine Reserve nicht mehr viel drin und wir wollen<br />
ihn lieber für den Notfall bereit halten.“<br />
„Es ist wichtig. Admiral Nechayev will-“<br />
„Nechayev?”, fiel ihm Penkala ins Wort. „Von Nechayev ist<br />
dieses Ding?“<br />
23
Roe nickte. „Ich denke schon. Sie hat es Doktor Smith gegeben.“<br />
„Dann ist es verteufelt!“<br />
„Alex.“, sagte Dike leise. „Wenn es von Nechayev ist, sollten<br />
wir das Ding lieber laden. Die knüpft uns sonst auf.“<br />
„Schön, von mir aus.“, hob Penkala die Hände. „Tut, was ihr<br />
nicht lassen könnt.“ Er reichte das Gerät an Dike weiter, der<br />
bereits die Anschlüsse für die Energiezellen öffnete. „Aber du<br />
machst das.“ Umständlich kletterte Penkala aus dem Jeep. Er<br />
streckte sich und stöhnte. Dann marschierte er auf die dunkle<br />
Ebene zu.<br />
„He, wo willst du hin?“, rief Dike.<br />
„Ich muss mal für kleine Ausrüstungsoffiziere.“<br />
„Exzellente Idee! Verlasse in der Dunkelheit das Basislager.<br />
Warum malst du dir nicht noch eine Zielscheibe auf die Uniform?“<br />
Penkala drehte sich zu Dike um und hob die Arme. „Hast du<br />
Angst, die Steine fressen mich?“<br />
„Weniger die Steine, mehr die Unsichtbaren. Commander<br />
D’Agosta hat gesagt, wir sollen Nachts das Lager nicht verlassen.<br />
Außerdem weißt du, dass ich irgendwas da draußen gesehen<br />
habe.“<br />
„Was soll ich denn machen?“, fragte Penkala. „An eine der<br />
Kapseln pinkeln?“<br />
Eine Pause entstand. Die beiden Männer sahen sich an. Penkala<br />
schüttelte den Kopf. „Ich geh ja nicht weit. Unsichtbare -<br />
So ein Blödsinn.“<br />
„Nimm wenigstens eine Lampe mit!“, rief Dike hinterher.<br />
„Ne Lampe? Wozu denn eine Lampe? Ich muss ihn nicht suchen.<br />
Du etwa?“<br />
„Sicher ist sicher.“<br />
Penkala machte eine abfällige Geste und antwortete: „Damit<br />
mich auch ja alle beim Wasser lassen beobachten können,<br />
was? Du hast tolle Ideen, Dike. Tolle Ideen.“<br />
24
Er machte eine abfällige Geste und wandte sich dem nächtlichen<br />
Flachland hinter dem Lager zu.<br />
Stille lag über der Ebene. Penkala hörte nur das leise Zirpen<br />
einiger übergroßen Zikade in der Dunkelheit. Fast zu still hier,<br />
dachte er. Nein, das war Schwachsinn. Er lies sich doch von<br />
den Schauergeschichten eines primitiven Einheimischen nicht<br />
einschüchtern.<br />
Unsichtbare.<br />
So ein Quatsch!<br />
Trotzdem blieb Penkala unmittelbar hinter den Lagerfeuern<br />
stehen und starrte eine Weile auf die Lichtung hinaus. Er sah<br />
nichts. Das ganze Gelände lag still. Der benachbarte Planet<br />
stand voll am Himmel, von etlichen Regenwolken bedeckt.<br />
Wetterleuchten erhellten vereinzelt die Nacht. Aber kein Lüftchen<br />
regte sich. Gar nichts. Penkala schüttelte den Kopf und<br />
entfernte sich von dem Lager. Vielleicht zwanzig, dreißig Meter.<br />
Er entdeckte schließlich einen aufragenden Felsen, der ihm<br />
angenehm erschien und wählte ihn für sich aus. Er marschierte<br />
darauf zu. Und stolperte über einen Stein. Plötzlich kreischte<br />
vor ihm etwas auf. Penkala taumelte zurück und sah etwas<br />
schwarzes auf ihn zustürzen. Es drehte im letzten Moment ab<br />
und flog mit kräftig schlagenden Flügeln davon.<br />
Penkala fluchte. Einer dieser dämlichen, dreiköpfigen Vögel.<br />
Er hatte ihn aufgeschreckt. Penkala blieb stehen und lauschte.<br />
Der Vogel entfernte sich schnell, kreischte in der Ferne, bis<br />
die Geräusche ganz abstarben. Penkala wartete mit klopfendem<br />
Herzen und starrte den dunklen Felsen an. Schließlich gestand<br />
er sich ein, dass er sowieso keine Wahl hatte. Er war seit<br />
dem Absturz nicht mehr auf einer Toilette gewesen. Das waren<br />
jetzt ungefähr vierundzwanzig Stunden. Vierundzwanzig!<br />
Nun, vielleicht nicht ganz. Der Mond auf dem sie sich befan-<br />
25
den, hatte eine rasantere Rotationsgeschwindigkeit, als die Erde.<br />
Aber es war dennoch eine lange Zeit her.<br />
Der Druck in der Hose wurde einfach zu groß. Penkala setzte<br />
sich in Bewegung. Als er den Felsen erreicht hatte, hörte er<br />
sich noch einmal um und öffnete dann den Reißverschluss. Er<br />
seufzte noch einmal, während sich sein Körper entspannte. Ein<br />
kräftiger Strahl Urin rauschte gegen den Felsen. Kein Wunder!<br />
Was für eine Qual! Er hob den Kopf und sah in die dunkle<br />
Nacht hinaus. Und während er noch so dastand und pinkelte,<br />
hörte er das unmissverständliche Geräusch eines atmenden<br />
Lebewesens.<br />
Im Jeep sah Joseph Dike immer wieder über das Armaturenbrett<br />
und versuchte Penkala im Auge zu behalten. Er war nervös.<br />
Vermutlich nervöser als Penkala selbst.<br />
Was tat er nur? Wieso hatte er sich so weit vom Lager entfernt?<br />
Das war mehr als unvernünftig! Immer wieder sah Dike<br />
in die Richtung in der Penkala verschwunden war, direkt vor<br />
dem Jeep und wünschte sich, er würde endlich wieder auftauchen.<br />
Er war schon sehr lange weg. Mindestens ein oder zwei<br />
Minuten. Dike biss sich auf die Lippe und versuchte sich auf<br />
die Steckverbindungen in seiner Hand zu konzentrieren. Die<br />
Kabel hingen lose aus der Schalttafel des Beifahrers. Er probierte,<br />
sie mit der Energiezelle des Scannergeräts zu verbinden.<br />
„Das ist ein bisschen kompliziert in dem schummrigen<br />
Licht hier.“, erklärte er. „Ich sehe nicht richtig, welche Kabel<br />
ich in der Hand habe und könnte sonst was aktivieren. Wenn<br />
wir gleich einen Satz nach vorne machen, dann habe ich den<br />
Motorblock mit Energie versorgt anstelle ihres kleinen Kastens<br />
hier.“<br />
Sanitäter Roe hatte sich neben ihn auf den Fahrerplatz gesetzt.<br />
Er zog aufgrund Dikes Bemerkung lieber das Bein in die Fahrerkabine<br />
und schloss die Tür. Er bemerkte Dikes Nervosität.<br />
26
„Fürchten Sie die Skorpione, von denen D’Agosta erzählte,<br />
könnten angreifen?“<br />
„Nein.“, schüttelte Dike den Kopf. „Dieser Einheimische, A-<br />
thol, meinte die würden nur Tagsüber angreifen.“<br />
„Wieso?“<br />
Dike zuckte mit den Schultern und sah noch einmal auf. Keine<br />
Spur von Penkala. „Weiß nicht.“<br />
Warum jagten sie nur Tagsüber? Alle möglichen Erklärungen<br />
fielen ihm ein. Die Skorpione hatten vielleicht Angst vor den<br />
Sternenflottenleuten und dem Lager. Die Kapseln waren wie<br />
Meteoriten mit Getöse und Gepolter vom Himmel gekracht,<br />
vor so etwas mussten sich Tiere einfach ängstigen. Nachts<br />
wirkten die aufragenden Kapseln vielleicht nicht mehr so bedrohlich.<br />
Aber Dike befürchtete, dass die einfachste Erklärung<br />
auch die richtige war – dass das Gebiet in der Ebene das Territorium<br />
eines anderen Jägers wurde, sobald die Sonne unterging.<br />
Dass es Geruchsmarkiert und Verteidigt wurde. Aber<br />
wessen Territorium war es. Das dieser Unsichtbaren? Und wer<br />
waren die überhaupt?<br />
Roe rieb sich müde die Augen. „Was ist mit der Energie? Ich<br />
würde gerne schlafen gehen.“<br />
„Bin gleich soweit.“, sagte Dike.<br />
Penkala stand vor dem Felsen und machte keine Bewegung.<br />
Er hatte aufgehört zu urinieren und lauschte. Er hörte leise,<br />
schnaubende Atemgeräusche, wie die eines ruhigen Pferdes.<br />
Ein abwartendes Tier. Das Geräusch kam von links. Penkala<br />
drehte langsam den Kopf. Ganz langsam. Aber er konnte ü-<br />
berhaupt nichts entdecken. Der Planet schien matt auf die E-<br />
bene. Er sah links die Kapseln und den dunklen Umriss des<br />
Jeeps. Rechts nur eine offene Fläche und Gestrüpp.<br />
Sonst nichts.<br />
27
Er lauschte angestrengt und starrte. Das leise Schnauben dauerte<br />
an. Es war kaum lauter als eine schwache Brise. Dabei<br />
war es doch Windstill, die Büsche bewegten sich nicht. Oder<br />
vielleicht doch? Penkala hatte das Gefühl, dass irgend etwas<br />
nicht stimmte. Etwas direkt vor seinen Augen, etwas das er<br />
sah und doch nicht sah. Da er so angestrengt starrte, konnte es<br />
immerhin sein, dass seine Augen ihm einen Streich spielten.<br />
Da!<br />
Er glaubte von Rechts, bei einigen Farnwedeln eine Bewegung<br />
zu erkennen. Das Muster der Blätter schien sich im schwachen<br />
Planetenlicht zu verändern. Zu verändern und wieder zu stabilisieren.<br />
Penkala sah hoch, ohne den Kopf zu bewegen. Er<br />
drehte nur die Augen. Der Planet war durch eine Lücke in den<br />
Wolken gebrochen. Eine Lichtveränderung. Penkala konzentrierte<br />
sich wieder auf die Büsche. Er war sich nicht sicher, ob<br />
er wirklich etwas gesehen hatte. Er starrte angestrengt in diese<br />
Richtung. Und dabei merkte er, dass nicht die Büsche seine<br />
Aufmerksamkeit erregt hatten, sondern die Farnwedel. Sie besaßen<br />
ein spezielles Muster. Und irgendwas an diesem Muster<br />
war merkwürdig.<br />
Das Muster schien sich zu bewegen, schien schwache Wellen<br />
zu werfen. Penkala sah genau hin. Vielleicht bewegten sie sich<br />
ja wirklich, dachte er. Ein Tier, dass dagegen stieß, eine der<br />
Kellerasseln vielleicht. Aber das schien nicht zu stimmen, irgendwie.<br />
Es war etwas anderes.<br />
Plötzlich flammten die Scheinwerfer des Jeeps auf. Das Licht<br />
der Scheinwerfer fiel durch ein paar Büsche, die zwischen<br />
Penkala und dem Lager standen und warf ein unregelmäßiges<br />
Muster dunkler Schatten auf die Lichtung und die Büsche, die<br />
Penkala so verdächtig vorkamen. Und einen kurzen Augenblicklang<br />
– nur ganz kurz – sah Penkala, dass die Büsche eine<br />
merkwürdige Form hatten. Und dass es in Wahrheit zwei Tiere<br />
waren, beide aufrechtlaufend, über zwei Meter groß, die<br />
28
nebeneinander standen und ihn direkt anstarrten. Ihre Körper<br />
schienen sich wie Flickenmuster aus Hell und Dunkel überzogen<br />
zu haben, das sie vollständig an die Blätter hinter ihnen<br />
anpasste.<br />
Ihre Tarnung war perfekt – zu perfekt, bis das Licht aus den<br />
Scheinwerfern sie unvermittelt in Helligkeit tauchte. Mit angehaltenem<br />
Atem sah Penkala sich dieses Phänomen an. Und<br />
während er zusah, passten sich die Tiere an die neuen Lichtverhältnisse<br />
an. Sie verschwanden vor seinen Augen wieder.<br />
Und es ging schnell! So enorm schnell! Er musste sich sehr<br />
anstrengen, um die Umrisse ihrer Körper noch erkennen zu<br />
können. Es waren Chamäleons. Aber mit einer Verwandlungstechnik,<br />
wie Penkala sie noch nie bei einem Chamäleon gesehen<br />
hatte. Langsam wich er von ihnen zurück, trat hinter den<br />
Felsen. Sie folgten ihm. Und knurrten.<br />
Roe hatte nach Luft geschnappt, als der Motor aufgejault hatte<br />
und die Frontscheinwerfer aufgeglüht waren.<br />
„Tut mir leid.“, sagte, Dike. „Ich muss das falsche Kabel erwischt<br />
haben. In der Dunkelheit sieht man ja nichts.<br />
Roe antwortete nicht, was Dike dazu veranlasste, aufzublicken.<br />
Roe starrte dorthin, wo die Scheinwerfer hinleuchteten.<br />
„So etwas hat man in der ganzen Tierwelt doch noch nicht gesehen.“,<br />
murmelte er.<br />
„Was ist denn?“, fragte Dike. Er konnte nichts erkennen. „Ist<br />
es Penkala?“<br />
„Schauen Sie.“, sagte Roe. Sie starrten durch die Sichtscheibe<br />
hindurch.<br />
„Bei den Büschen? Was? Was gibt’s denn da zu-“<br />
„Schauen Sie!“, sagte Roe erneut.<br />
Sie starrten hinaus und Dike schüttelte den Kopf. „Tut mir<br />
leid.“<br />
29
„Fangen Sie unten bei den Büschen an.“, sagte Roe. „Und lassen<br />
Sie den Blick dann sehr langsam nach oben wandern.<br />
Schauen Sie genau hin. Dann sehen Sie den Umriss.“<br />
Er hörte Dike seufzen. „Wirklich nicht, nein.“<br />
„Schalten Sie das Licht aus und wieder an.“, sagte Roe. Etwas<br />
in seiner Stimme veranlasste Dike, keine weiteren Fragen zu<br />
stellen und seiner Aufforderung nachzukommen. Er löste das<br />
Kabel, der Motor erstarb, das Licht erlosch. Und einen Augenblick<br />
lang sah er deutlich die bleichen Körper. Beinahe sofort<br />
verschwand die Farbe, welche die Scheinwerfer auf sie<br />
geworfen hatten wieder.<br />
„Tatsächlich.“, sagte Dike. „Es sind zwei, nicht?“<br />
„Ja. Nebeneinander.“<br />
„Und die Farbveränderung verschwindet?“<br />
„Ja, sie verschwindet einfach.“ Sie sahen, wie die Tiere die<br />
Farben der Büsche hinter ihnen annahmen. Aber eine so komplexe<br />
Musterung legte nahe, dass der Aufbau ihrer Haut dem<br />
der Chromatophoren, wirbellosen Meerestieren ähnelte. Die<br />
Raffiniertheit der Schattierung, die Schnelligkeit des Wechsels<br />
deutete darauf hin.<br />
Dike atmete stoßweise. „Was sind das für Tiere?“, fragte er.<br />
„Chamäleons von unerreichter Verwandlungsfähigkeit.“, antwortete<br />
Roe. „Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es gerechtfertigt<br />
ist sie mit Chamäleons zu vergleichen, da die ja nur die<br />
Fähigkeit-“<br />
„Was sind sie?“, fragte Dike ungeduldig.<br />
„Ich weiß nicht. Beutejäger, denke ich.“<br />
Dike’s Augen weiteten sich. „Wo ist Penkala?“<br />
„Ist hinter den Felsen getreten. Was tun wir jetzt?“<br />
„Woher soll ich das wissen? Sehen Sie sich die Dinger an,<br />
diese Tiere wiegen sicher je fünfhundert Kilo. Und es sind<br />
zwei. Ich habe ihm gesagt, er soll nicht hinausgehen. Aber<br />
jetzt-“<br />
30
Roe runzelte die Stirn. Sie starrte zu den Tieren. Ihre leises<br />
knurren drang bis zum Jeep vor. Sie setzten sich langsam in<br />
Bewegung, hinter den Felsen, wo Penkala offenbar Schutz gesucht<br />
hatte. „Schalten Sie das Licht wieder an.“<br />
„Ich würde lieber-“<br />
„Licht an!“<br />
Dike hantierte nervös an den Kabeln herum. Er erwischte das<br />
Falsche, die Schalttafel vor ihm erwachte zum Leben. Er zog<br />
die Kabel wieder auseinander und verband andere. Das Licht<br />
ging an.<br />
„Aus!“<br />
Dike schaltete aus.<br />
„An!“<br />
Er schaltete wieder ein.<br />
„Sehen Sie.“, sagte Roe. „Das hat ihnen gar nicht gefallen. Es<br />
gibt eine Verzögerung bei ihrer Tarnung.“ Er stieg aus dem<br />
Wagen. „Haben wir Phaser?“<br />
„Nicht hier.“, sagte Dike.<br />
Roe sah zurück zum Lager, zu den anderen. Mindestens zehn<br />
Meter. Zu lange. „Haben wir Taschenlampen?“<br />
Dike öffnete eine Klappe zwischen den beiden sitzen und holte<br />
zwei Lampen heraus. „Was haben Sie vor?“, fragte Dike.<br />
„Wir.“, erwiderte Roe grimmig. „Wir.“<br />
Penkala stand mit dem Rücken an einer breiten Felswand und<br />
starrte nach vorn. Rechts von ihm hatte jemand das Licht des<br />
Jeeps an- und ausgeschaltet. Dann war es für eine Weile angeblieben.<br />
Nun war es wieder aus. Die Lichtung war jetzt<br />
wieder dunkel. Er hörte eine Bewegung, ein leises Rascheln.<br />
Und dieses Atmen. Und dann sah er die beiden Chamäleons,<br />
die ihm hinter den Felsen folgten. Das Muster ihrer Haut<br />
schien sich in der Bewegung zu verändern und es war schwierig<br />
sie nicht aus den Augen zu verlieren. Aber sie kamen di-<br />
31
ekt auf ihn zu. Jetzt senkten sie die Köpfe und spähten vorsichtig<br />
zur Felswand. Sie schnaubten und schnupperten. Die<br />
Schwänze bewegten sich langsam hin und her, wie bei einer<br />
Katze, die gleich angriff. Penkala hoffte, dass sie ihn vielleicht<br />
übersehne würden, wenn er sich nicht rührte. Doch dann bückte<br />
sich der eine und starrte ihn direkt an.<br />
Er kam auf ihn zu.<br />
Penkala hielt den Atem an und dachte nach, was er tun könnte.<br />
Waffen? Hatte er keine. Flucht? Die Biester waren vermutlich<br />
viel schneller als er und griffen bei der kleinsten Bewegung<br />
an.<br />
Plötzlich blitzten vor dem Basislager zwei helle Lichter auf.<br />
Die Lichtkegel bewegten sich, fielen auf die Körper der Chamäleons,<br />
wanderten unstet hin und her, wie Suchscheinwerfer.<br />
Die beiden Tiere waren plötzlich deutlich sichtbar und das gefiel<br />
ihnen ganz und gar nicht.<br />
Sie knurrten und versuchten den Lichtstrahlen auszuweichen,<br />
aber die Kegel bewegten sich ständig, sie folgten ihnen und<br />
huschten über ihre Körper. Wenn das Licht die Tiere traf,<br />
wurde die Haut bleich und reproduzierte die Bewegung der<br />
Strahlen, aber erst, nachdem das Licht schon weitergewandert<br />
war. Die Körper bekamen helle Streifen, wurden Dunkel und<br />
bekamen wieder helle Stellen. Die Tiere blinzelten, wurden<br />
immer erregter, wandten sich von Penkala ab und brüllten die<br />
Lichter an. Sie bewegten sich drohend ein Stück auf die Lichter<br />
zu. Aber das war nur ein halbherziger Versuch. Ganz offensichtlich<br />
behagten ihnen diese fielen sich bewegenden<br />
Lichter nicht. Nach einigen Augenblicken trotteten sie davon,<br />
die Lichter folgten ihnen und trieben sie vom Lager weg. Penkala<br />
setzte sich in Bewegung, ging schnell auf die Lichter zu<br />
und sah auf einmal Dike und Roe vor sich. Sie schwenkten<br />
Taschenlampen. Gemeinsam liefen sie in den schützenden<br />
Wall der Lagerfeuer zurück.<br />
32
Penkala schloss seine Hose und ließ sich gegen den Jeep<br />
plumpsen. „So viel Angst hatte ich in meinem ganzen Leben<br />
noch nicht.“, sagte er.<br />
Dike schüttelte den Kopf. „Und ich erst. Du hast sie doch<br />
nicht mehr alle!“<br />
„Joseph.“, mahnte Penkala mit kalter Stimme. „Reiß dich zusammen.“<br />
Er nahm eine Taschenlampe entgegen und legte sie<br />
wieder in das Fach in den Wagen.<br />
„Da rauszugehen war Wahnsinn.“, sagte Dike und wischte<br />
sich die Stirn. Er war schweißgebadet, die Uniform klebte an<br />
seinem Körper.<br />
„Nein, es war ein Volltreffer.“, erwiderte Roe und wandte sich<br />
an Penkala. „Wir konnten sehen, dass die Tiere bei der Hautreaktion<br />
eine gewisse Verzögerung zeigen. Sie reagieren zwar<br />
sehr schnell, verglichen zum Beispiel mit einer terranischen<br />
Krake, aber eine gewisse Verzögerung gibt es. Ich vermute,<br />
dass sich diese Tiere wie alle Tiere verhalten, die sich auf ihre<br />
Tarnung verlassen. Sie sind nicht besonders schnell oder aktiv.<br />
Sie stehen stundenlang bewegungslos in einer sich nicht verändernden<br />
Umgebung, verschmelzen mit dem Hintergrund<br />
und warten, bis ein argloses Beutetier vorbeikommt. Aber<br />
wenn sie sich dauernd an neue Lichtverhältnisse anpassen<br />
müssen, wissen sie, dass sie sich nicht mehr verstecken können.<br />
Sie bekommen angst und laufen weg. Genau das ist passiert.“<br />
Dike drehte sich zu Penkala und starrte ihn wütend an. „Das<br />
ist alles deine Schuld. Wenn du nicht einfach so mir nichts, dir<br />
nichts da rausgegangen wärst-“<br />
„Joseph!“ Penkala schnitt ihm das Wort ab. „Ich musste Wasser<br />
lassen! Bin auch nur ein Mensch, okay? Vierundzwanzigstes<br />
Jahrhundert und fortschrittliche Spezies hin oder her, aber<br />
Grundbedürfnisse hat mein Körper trotz allem noch. Woher<br />
33
soll ich denn wissen, dass da draußen menschenfressende<br />
Chamäleons rumlaufen?“<br />
Dike sagte nichts mehr. Er schmollte. Penkala drehte sich zu<br />
dem Sanitäter. „Danke Roe. Sie haben mir das Leben gerettet.“<br />
„Ist nichts persönliches, nur mein Job. Nun wissen wir<br />
wenigstens, worum es sich bei den Unsichtbaren handelt und<br />
können entsprechende Maßnahmen ergreifen. Ich werde<br />
D’Agosta gleich morgen früh unterrichten.“<br />
Penkala seufzte. „Riesenskorpione, Formwandler...“<br />
„Chamäleons.“, berichtigte Roe. „Formwandler sind wieder<br />
was anderes.<br />
„...Formwandler, Blutkatzen ... was kommt nur als nächstes?“<br />
Roe zuckte mit den Schultern und sah zur dunklen Ebene hinaus.<br />
„Wer weiß, was diese uns unbekannte Natur noch für Gefahren<br />
und Herausforderungen bereithält.“<br />
34
Nacht<br />
Athol deutete in eine bestimmte Richtung und sagte mit düsteren<br />
Unterton: „Gefährlich!“ Die Amphion hatten sich um die<br />
Pflege der Feuers um das Lager herum gekümmert. Athol war<br />
gerade damit beschäftigt gewesen weiteres Zündholz zu suchen,<br />
als D’Agosta vorbeigekommen war. Er hatte ihn angehalten.<br />
Nun folgte D’Agosta stirnrunzelnd seinem Blick.<br />
Athol zeigte auf einen Felsen hinter Rettungskapsel siebenundvierzig.<br />
Er sah genauso aus, wie alle anderen Felsen. Rot<br />
und Zerklüftet. Vielleicht ein bisschen größer und löchriger als<br />
die anderen.<br />
„Was... was ist daran gefährlich?“, fragte D’Agosta.<br />
„Das ist ein fressender Felsen.“, antwortete Athol nur. „Äußerst<br />
tückisch. Ihr müsst ihn meiden.“<br />
D’Agostas verwirrter Blick wechselte zwischen Athol und<br />
dem harmlosen Felsen. Nicht zum ersten Mal äußerte der<br />
Amphion düstere Warnungen, schien gleichzeitig aber nicht<br />
gewillt mehr zu verraten. Ob das aus Absicht geschah, oder ob<br />
er einfach erwartete, dass die Sternenflotte seinem Urteil folgte,<br />
konnte D’Agosta nicht sagen. Er seufzte, denn Allan war<br />
müde. Ihm gingen eine ganze menge Dinge durch den Kopf<br />
und er hatte momentan einfach keinen Nerv, um Athol alles<br />
aus der Nase zu ziehen. Also nickte er und sah sich nach einem<br />
anderen Sternenflottenoffizier um. Die meisten saßen zusammen<br />
in kleinen Gruppen. Manche hatten sich unter kleine,<br />
überhängende Felsen zurückgezogen und schliefen, mit den<br />
Decken aus den Notfallkisten bedeckt. D’Agosta erspähte<br />
schließlich Isaac.<br />
35
„Brenda!“, rief er. „Brenda.“<br />
Die bajoranerin schlug gerade ihre Decke aus, als sie ihn hörte.<br />
D’Agosta deutete auf den Felsen, den Athol ihm gezeigt<br />
hatte. „Die Leute sollen sich davon fernhalten.“<br />
„Was stimmt denn mit dem Gestein nicht?“<br />
„Sie sollen sich einfach fernhalten, ja? Leiten Sie das weiter?“<br />
„Sicher, mach ich.“<br />
„Danke sehr.“ Er berührte sie sanft an der Schulter und durchquerte<br />
dann das Lager bis er Crocker und Garnere an der Vorratskapsel<br />
antraf. Die beiden Offiziere hatten die übriggebliebene<br />
Ausrüstung zusammengetragen und sortiert. Garnere<br />
musterte D’Agosta geringschätzig. Allan wusste nicht wieso,<br />
aber offenbar hielt der Sicherheitsoffizier nicht sonderlich fiel<br />
von ihm und er machte auch keinen Hehl daraus. Crocker war<br />
so brummig wie immer. Allan fragte ihn: „Chief, haben Sie<br />
noch eine Decke für mich?“<br />
„Aye.“, sagte Crocker und begann kurz in den Sachen zu wühlen.<br />
Im gedimmten Licht der Leuchtstoffröhren, bemerkte<br />
D’Agosta, dass die Kapsel erstaunlich voll war. Es gab neun<br />
Kisten voller Wasserflaschen. Außerdem waren noch Notrationen<br />
vorhanden. Schokoriegel, Nusstüten und vakuumverpackte<br />
Nahrungsgerichte. Sie hatten keinen guten Ruf bei den<br />
Sternenflottencrews.<br />
D’Agosta überschlug im Kopf schnell die Zahlen. Bei siebenundvierzig<br />
Überlebende, die sie waren, würden die Vorräte<br />
nur wenige Tage ausreichen, dafür brauchte man kein Mathegenie<br />
zu sein. Daneben stapelten sich Waren des täglichen<br />
Bedarfs. Zahnpasta, Shampoo, Kämme und Bürsten, ein paar<br />
Kleidungsstücke wie Uniformjacken, rote und blaue Rollies<br />
und Winteroutfits, die ihnen hier draußen herzlich wenig nützten.<br />
D’Agosta entdeckte auch einen Erhitzer für die Notrationen,<br />
der auf die Wasserkisten gestellt worden war. Die Tür<br />
stand weit offen, Kabel hingen im Innern heraus. Das Fenster<br />
hatte Sprünge. Sonderlich viel war nicht übrig geblieben.<br />
36
„Beeindruckende Sammlung.“, sagte D’Agosta dennoch.<br />
Garnere schwieg.<br />
Crocker wühlte in den Kisten herum. „Ich sollte einen Deckenladen<br />
eröffnen und mich zur Ruhe setzen. Sind ziemlich<br />
gefragt die Dinger.“ Nach einer Weile wurde er fündig. Es war<br />
eine Sternenflottennotdecke, mit der Aufschrift „<strong>Star</strong>fleet USS<br />
Shenandoah“. Nicht besonders hübsch, aber wärmespendend.<br />
Die Oberfläche war überzogen mit kleinen, hitzespeichernden<br />
Noppen. Ideal für die kühlen Nächte.<br />
„Danke, Chief.“, sagte D’Agosta. „Gute Nacht.“<br />
„Nacht.“<br />
„Gute Nacht, Mr. Garnere.“<br />
Garnere zögerte. „Nacht.“<br />
Dann wanderte D’Agosta zu Rettungskapsel dreißig hinüber,<br />
in der sich Judy aufhielt. Es hatte keine Wiederworte gegeben,<br />
als Shannyn in der Gruppe vorgeschlagen hatte, dem Mädchen<br />
die Kapsel zur Übernachtung zur Verfügung zu stellen. Judy<br />
saß an die Wand gelehnt auf dem Boden, zwischen den Sitzen,<br />
und döste. Sie öffnete die Augen, als ihr Vater eintrat und die<br />
Luke hinter sich schloss. D’Agosta rollte das Laken im beengten<br />
Innenraum auf, setzte sich neben Judy und deckte sie beide<br />
zu. „Ist dir auch warm genug?“<br />
„Ja.“<br />
„Okay, gut.“<br />
Eine Pause entstand.<br />
„Brauchst du sonst noch was? Bist du hungrig?“<br />
„Nein.“<br />
„Durstig?“<br />
„Nein, Dad.“<br />
Eine weitere Pause.<br />
„Hör mal.“, sagte D’Agosta langsam. „Wegen dem, was Fowler<br />
vorhin sagte ... Mach dir keine Gedanken, ja? Es wird etwas<br />
länger dauern, aber wir kommen hier wieder weg.“<br />
„Ich weiß.“, sagte Judy nur.<br />
37
D’Agosta hob verwundert die Brauen. „So? Und warum bist<br />
du dir da so sicher?“<br />
Judy zuckte mit den Schultern. „Weil Shannyn das gesagt hat.<br />
Sie ist sich sicher, wir würden gerettet. Und ich glaube ihr.“<br />
D’Agosta legte die Stirn in Falten und musterte Judy. Er musste<br />
schmunzeln. Judy redete eindeutig mit ehrlichem Respekt<br />
von ihr, wenn sie ihren Namen aussprach. Und das war selten<br />
bei ihr, vor allem, wenn sie jemanden erst so kurze Zeit kannte.<br />
Eigentlich war Ashley Bowman die einzige Person, der Judy<br />
so viel Respekt entgegen brachte. Aber selbst da sprach sie<br />
nicht voller Ehrfurcht.<br />
„Shannyn, wie?“<br />
Judy nickte.<br />
„Verstehe.“ D’Agosta sagte nichts mehr. Er sah alle Anzeichen<br />
von Heldenverehrung. Und er war froh drüber. Ein Mädchen<br />
konnte schlimmeres tun, als eine Shannyn Bartez zu bewundern.<br />
Zumindest war sie keine Holovid-Darstellerin oder<br />
eine der vielen Rockstars, die auf zahlreichen Postern Judys<br />
Zimmer schmückten. Genaugenommen war es sogar erfrischend,<br />
dass Judy jemanden bewunderte, der keine Tattoos,<br />
keine Piercings und keine schwarzen Augenränder hatte, sondern<br />
jemanden, der taff und mutig war. Auch, wenn Shannyn<br />
für D’Agosta’s Geschmack zu mutig war.<br />
Nach einer Weile sagt Judy leise: „Dad?“<br />
„Ja?“<br />
„Tut mir leid, dass wir uns gestritten haben. Auf dem Schiff,<br />
meine ich. Ich wollte dir keinen Ärger bereiten.“<br />
Allan legte seinen Arm um Judy und drückte sie ein wenig an<br />
sich. „Ist schon gut. Du bist bisher die Einzige, die mir kein<br />
Kopfzerbrechen bereitet. Ich bin sehr stolz auf dich, Spätzchen.“<br />
„Und weswegen?“<br />
„Du schlägst dich ganz prima. Wie du mit den Amphion umgehst<br />
- das ist toll. Wirklich toll. Dank dir haben wir einen<br />
38
Verbündeten auf dem Mond gefunden. Weiß auch nicht so<br />
recht, aber wenn wir Erwachsenen etwas sagen, scheint Athol<br />
zu überzulegen, ob er uns überhaupt trauen kann. Aber wenn<br />
du etwas sagst, hören die Amphion zu. Für sie bist du unschuldig<br />
und Ehrlich.“ D’Agosta lächelte. „Du bist unser Verbindungsmann<br />
zwischen den Spezies.“<br />
Die Tatsache schien Judy zu gefallen.<br />
„Ich nehme an, wir werden die Amphion auch brauchen.“,<br />
seufzte D’Agosta. „Jedenfalls erhöht das unsere Chancen e-<br />
norm.“ Er lehnte seinen Kopf gegen die Wand. „Wir werden<br />
gerettet werden, Judy. Alles wird gut.“<br />
„Ich weiß.“ Sie schloss die Augen. Kurz darauf begann sie leise<br />
zu schnarchen. D’Agosta starrte noch eine Weile vor sich<br />
her, versuchte das Geschehene zu verarbeiten. Die Evakuierung,<br />
den Absturz. Und die Tatsache, dass ihnen der Rückweg<br />
abgeschnitten war und in der nächsten Zeit keine Rettung nahen<br />
würde. Nach einer Weile schloss er die Augen. Und<br />
schlief ein.<br />
Allan D’Agosta hatte in dieser Nacht einen sehr merkwürdigen<br />
Traum. Irgendwann drehte er den Kopf und sah, wie eine<br />
schemenhafte Gestalt in der Rettungskapsel stand. Eine Frau.<br />
Sie bewegte sich langsam, als wäre sie müde, oder ganz verträumt,<br />
während sie sich Ohrringe auszog. Sie stand von ihm<br />
abgewandt, aber D’Agosta konnte ihr Gesicht in der Spiegelung<br />
eines Schaltkastens sehen.<br />
Seine Frau.<br />
Deborah.<br />
Sie sah wunderschön aus, so wunderschön. Fast königlich. Ihre<br />
Gesichtszüge wirkten wie gemeißelt, stärker, als er sie in<br />
Erinnerung hatte, aber vielleicht lag es an der Dunkelheit. Und<br />
sie leuchtete. Eine Aura aus schwachem, blauen Licht schien<br />
sie zu umgeben.<br />
39
Allan lehnte noch immer an der Wand, mit Judy im Arm. Er<br />
hatte die Augen nur halb geöffnet, fühlte sich furchtbar<br />
schwach. Zu schwach um sich zu bewegen, zu schwach um zu<br />
begreifen, was geschah.<br />
Deborah lächelte, als sie sich umdrehte und kniete sich neben<br />
ihn. „Allan.“, sagte sie. Ihre Stimme klang fern und hatte einen<br />
merkwürdigen Nachhall. „Allan. Halte dich an die Tochter<br />
der Sterne.“ D’Agosta atmete schnell, kniff die Augen zu.<br />
„Deb ... Deborah?“<br />
„Die Tochter der Sterne, Allan.“ Sie wurde immer leiser, lachte<br />
und leuchtete noch immer. Die Deborah-Gestalt erhob sich<br />
sanft lächelnd und schwebte zum Eingang. D’Agosta wollte<br />
aufstehen und ihr folgen, aber er konnte seinen Körper nicht<br />
bewegen.<br />
Eine Schwere Müdigkeit hielt ihn fest, lähmte ihn förmlich. Er<br />
war so erschöpft, dass er kaum noch atmen konnte. Dieses<br />
bleierne Müdigkeitsgefühl nahm rasch zu und überwältigte<br />
sein waches Bewusstsein. Es war wie eine Ohnmacht.<br />
D’Agosta schloss die Augen und schlief ein.<br />
Draußen, vor der Kapsel der D’Agostas, stieß Antonio Garnere<br />
Fowler an. „He, alles in Ordnung?“, fragte er. Garnere hatte<br />
sich gerade zu einer der vorübergehenden Schlafstellen unter<br />
den Felsen begeben wollen, als er Fowler mit merkwürdigem<br />
Blick, inmitten des Lagers einfach dastehend und lauschend<br />
gesehen hatte.<br />
„Ich weiß nicht.“, antwortete Fowler. Er starrte angestrengt<br />
zur Ebene hinaus und schien dort irgendwas bestimmtes zu<br />
suchen. Aber nichts rührte sich. Alles war still. „Liegen hier in<br />
der Kapseln nicht D’Agosta und das Mädchen?“<br />
„Glaube schon. Warum fragst du?“<br />
„Mir war eben so, als hätte ich hinter der Kapsel etwas gesehen.<br />
Irgendein ... irgendein Licht. Eine ... eine flüchtige Er-<br />
40
scheinung, eine schemenhafte Bewegung. Als ich die Kapsel<br />
aber umrundete, war da nichts mehr und dann habe ich etwas<br />
aus den Augenwinkeln in der Ebene gesehen.“<br />
Garnere folgte seinem Blick. Nach einer Weile sagte er: „Also<br />
ich sehe nichts.“<br />
Fowler seufzte. „Ich glaube ich verliere allmählich den<br />
Verstand.“<br />
„Hast du längst.“ Aber Fowler lachte nicht über den Scherz.<br />
Ernsthafter fügte Garnere hinzu: „Du wirst dir was eingebildet<br />
haben. Das ist die Anstrengung, das ist die Hitze und das<br />
sind die Strapazen der letzten Tage. Wir spüren es alle.<br />
Komm, was du brauchst, sind ein paar Stunden Ruhe. Legen<br />
wir uns schlafen, T’Mir übernimmt die Nachtwache. Und<br />
morgen früh erklärst du mir dann, worüber D’Agosta, die<br />
Blondine und du dauernd tuscheln.“<br />
„Ja.“, sagte Fowler langsam. „Ja, ich glaube du hast recht.“ Er<br />
sah noch einmal zur Ebene und versuchte etwas zu entdecken,<br />
aber da war nichts. Gar nichts. Vielleicht habe ich es mir wirklich<br />
nur eingebildet, dachte er und wandte den Blick ab. Mit<br />
einem mulmigen Gefühl, begab er sich zu einer Gruppe von<br />
Sicherheitsoffizieren, die dicht gedrängt unter einem breiten,<br />
überhängenden Fels lagen.<br />
Fowler warf sich noch einige Male unruhig umher, ehe er einschlief.<br />
Im Lazarett rieb sich Doktor Smith die schmerzenden Augen<br />
und seufzte hinter der engen Arbeitsablage. Roe hatte ihr eben<br />
noch den aufgeladenen Handscanner vorbei gebracht, bevor er<br />
sich schlafen gelegt hatte.<br />
Bald würde Nechayev kommen und das Gerät abholen. Bis<br />
dahin hatte sie noch Ruhe. Schließlich deaktivierte Smith die<br />
kleine Lampe über der Arbeitsablage, erhob sich und sah nach<br />
41
ihren Patienten. Hallie hatte im Schlaf ihre Bettdecke weggetreten.<br />
Smith zog sie wieder hoch.<br />
Roe lag über den unebenen Sitzgelegenheiten ausgestreckt –<br />
eine zweifelsfrei unbequeme Unterlage. Dennoch war er beinahe<br />
sofort eingeschlafen und schnarchte nun leise vor sich<br />
hin.<br />
Hawk sah noch immer schlimm aus, aber er schlief tief und<br />
fest, sein Atem kam sanft und regelmäßig. Smith schob eine<br />
Kiste neben Hawk’s Bett, tastete nach seiner Hand und hielt<br />
sie feste. Und während sie sich setzte und an die Wand lehnte,<br />
begann sie seine Finger zu massieren.<br />
Sie seufzte.<br />
Draußen blitzte es.<br />
Smith wandte den Kopf zu den kleinen Fenstern und stellte<br />
sich vor, wie Nechayev dort draußen irgendwo auf sie wartete.<br />
Smith schüttelte den Kopf. Sie zwang sich, an etwas anderes<br />
zu denken, um endlich selbst ein wenig zu schlafen. Sie hatte<br />
es bitternötig. Dann spürte sie, wie Hawk den Druck auf ihre<br />
Hand im Schlaf erwiderte. Er fühlte sich warm an. Die Berührung<br />
tat erstaunlich gut. Schließlich und endlich fiel Smith in<br />
einen unruhigen Schlaf.<br />
42
Regen<br />
D’Agosta wachte auf, stützte sich auf den Ellenbogen und<br />
blinzelte in das helle Licht, dass durch die Kapselfenster hereinströmte.<br />
Er schaute hinaus und sah, dass der Himmel noch<br />
immer wolkenbehangen war. Diesmal sogar mehr, als in der<br />
Nacht.<br />
Es donnerte. Das herannahende Gewitter hatte ihn geweckt.<br />
D’Agosta schätzte, dass sie frühen Morgen hatten. Die meisten<br />
der anderen würden noch schlafen. Der Traum von letzter<br />
Nacht war ihm noch gut in Erinnerung. Er kam ihm ausgesprochen<br />
real vor, überhaupt nicht wie ein Traum. D’Agosta<br />
gähnte müde und sah dann neben sich. Judy befand sich nicht<br />
unter der Decke. Sie befand sich überhaupt nicht in der Kapsel.<br />
Die Luke war nicht ganz geschlossen, Judy musste bereits<br />
aufgestanden und nach draußen gegangen sein.<br />
Allein.<br />
Und plötzlich stieg Panik in D’Agosta auf. Sein Herz hämmerte.<br />
Er schlug die Decke zurück und öffnete die Luke, um nach<br />
draußen zu gehen. Obwohl der Tag wohl erst vor kurzem angebrochen<br />
war, war es bereits jetzt fürchterlich warm, im Gegensatz<br />
zur drastischen Kälte in der Nacht. Er glaubte sofort<br />
zu spüren, wie er schwitzte.<br />
D’Agosta sah sich um. Die meisten schliefen tatsächlich noch.<br />
Sie hatten sich in die restlichen Kapseln gezwängt, oder lagen<br />
in kleinen Einbuchtungen der großen Felsen und Steine.<br />
D’Agosta entdeckte Athol und die drei Amphion, wie sie innerhalb<br />
eines Felsens, dicht zusammengedrängt um eine<br />
43
Pflanze herum im Schneidersitz saßen und einen beruhigenden<br />
Gesang anstimmten.<br />
Alex Penkala und Joseph Dike lagen in dem Jeep Explorer,<br />
hatten die Füße auf das Armaturenbrett gelehnt und schlummerten<br />
vor sich hin.<br />
Dann entdeckte D’Agosta endlich Judy. Das Mädchen hatte<br />
sich nicht weit von ihrer Kapsel entfernt und stand nun auf einem<br />
kleinen Geröllhaufen, wo sie ihre Jacke ausschlug. Eine<br />
Staubwolke bildete sich um sie herum und verflog schnell in<br />
einer lauen Brise.<br />
Judy ging es gut. D’Agosta seufzte und lehnte sich erleichtert<br />
an die Kapsel. Es begann zu regnen. Hauchdünne Tropfen fielen<br />
zu Boden. Noch sehr schwach. Aber es konnte jeden Moment<br />
ein wahrer Wolkenbruch losbrechen, das spürte er.<br />
Ensign T’Mir war noch auf den Beinen. Sie hatte die Nachtwache<br />
übernommen, da sie wenig Schlaf benötigte und marschierte,<br />
nach Gefahren Ausschau haltend, durch das Lager.<br />
T’Mir war Vulkanierin, erst vor kurzem auf die Shenandoah<br />
versetzt worden aber schon jetzt legendär als diejenige, die<br />
Ronald Spiers regelmäßig mit ihrer stoischen Art vor den<br />
Kopf gestoßen hatte. D’Agosta kannte sie nur flüchtig von den<br />
Abteilungsbesprechungen und da hatte sie auf ihn immer einen<br />
sehr nüchternen, eben typisch vulkanischen Eindruck gemacht.<br />
Der Regen wurde stärker. D’Agosta trat einen Schritt von der<br />
Kapsel weg. „Judy-“<br />
Neben seinem Ohr zischte es. Er blieb stehen und sah auf seine<br />
Schulter. Etwas fraß sich durch den Stoff der Uniformjacke.<br />
Säure? D’Agosta runzelte die Stirn und sah nach oben, zu<br />
den drohenden Wolken. Er streckte die Hand aus. Ein Tropfen<br />
fiel darauf. Und fraß sich durch die Haut. Brennender Schmerz<br />
durchzuckte D’Agosta und er zog die Hand schnell weg,<br />
schüttelte sie aus.<br />
44
„O Nein!“, sagte er. Sein Herz begann zu hämmern. Und er<br />
schrie: „Säure! Alle Mann aus dem Regen, das ist Säure!“<br />
Judy drehte sich überrascht zu ihm um. In dem Moment erwischte<br />
sie einer der fadenartigen Tropfen im Nacken. Sie<br />
zuckte zusammen.<br />
Donner grollte, ein Platzregen begann. Allan wollte loslaufen,<br />
seine Tochter in Sicherheit bringen, als er plötzlich von jemandem<br />
an der Schulter gepackt und zurück in die Kapsel geschleudert<br />
wurde. Es war Shannyn, die noch in der gleichen<br />
Bewegung an ihm vorbeistürmte. Wie eine Marathonläuferin<br />
jagte sie mit unglaublicher Geschwindigkeit durch das Lager.<br />
Auf Judy zu.<br />
Dabei zog Shannyn schnell ihre Jacke aus. Die ersten Säuretropfen<br />
erwischten sie, zersengten ihr Haar und die Haut. Sie<br />
verzog keine Mine. Shannyn gab sich keine Mühe stehen zu<br />
bleiben, sondern packte Judy noch im Laufen, stülpte ihr die<br />
Jacke über und riss das Mädchen mit sich. Halb strauchelnd,<br />
halb laufend folgte Judy ihr. Das letzte Stück hob Shannyn sie<br />
hoch. Der Regen wurde stärker. Sie sprang und rollte mit Judy<br />
unter eine Fluchtkapsel. In dem Moment setzte der Wolkenbruch<br />
ein.<br />
Durch die offene Frontscheibe des Jeeps sah Penkala Shannyn<br />
mit dem Kind unter dem Arm durch das Lager rennen. Er<br />
blinzelte verschlafen und versuchte zu sich zu kommen. Der<br />
Regen wurde jetzt stärker, das Wasser tropfte von den Stangen<br />
des Jeeps.<br />
In der Entfernung donnerte es, ein Blitz zuckte grell zur Erde<br />
und erhellte davonfliegende, dreiköpfige Vögel. Penkala öffnete<br />
die Tür und wollte aussteigen, nachsehen, was denn los<br />
war. Unerwartet durchzuckte ein jäher Schmerz seinen Oberschenkel.<br />
Augenblicklich stank es nach verbranntem Fleisch.<br />
Was hatte D’Agosta eben gerufen?<br />
45
Säure?<br />
Säure!<br />
Ein oder zwei schreckliche Sekunden saß Penkala einfach da<br />
und betrachtete das entstandene Loch in seiner Hose. Es zischte.<br />
Dann begriff er das ganze Ausmaß der Katastrophe.<br />
„Dike!“, rief er. „Dike, verflucht, wach auf!“ Er stieß dem<br />
schlafenden Dike unsanft in die Rippen und sprang aus dem<br />
Wagen.<br />
Es regnete Säure!<br />
Es regnete verdammte Säure und sie saßen in einem Jeep ohne<br />
geschlossenes Dach!<br />
Dike krümmte sich zusammen und keuchte. „Was ist?“<br />
„Säure, das ist-“<br />
Der Säureregen erwischte Penkala. Seine Kopfhaut brannte,<br />
als stünden die Haare in Flammen. Penkala ließ sich geschockt<br />
fallen und kroch unter das Auto. Die Beifahrertür ging auf.<br />
Penkala drehte den Kopf und sah Dike’s Stiefel. Er stieg aus<br />
dem Auto aus.<br />
„Raus aus dem Regen!“, rief Penkala.<br />
„Die Solarzellen! Autsch! Wir müssen die Solarzellen schützen!“,<br />
erwiderte Dike, versuchte sich schnell und unter<br />
Schmerzen die Jacke auszuziehen und über die Zellen zu legen,<br />
die auf dem Dach montiert waren. Sie waren effektiver<br />
und weniger gebrechlich als die alten Fotovoltaikzellen. Sie<br />
waren sogar mit einer stoßabsorbierenden Vorrichtung versehen,<br />
für den Fall, dass der Jeep umstürzte. Aber Säure? Das<br />
würden sie nicht lange standhalten. Und dann hätten sie keine<br />
Energie für das Fahrzeug, oder die anderen elektrischen Geräte<br />
mehr.<br />
Penkala reagierte instinktiv. Er drehte sich zur Seite, streckte<br />
die Arme aus, umschloss beide Knöchel Dike’s und zog fest<br />
daran. Mit einem überraschten Aufschrei fiel Dike um und<br />
landete auf dem Boden. Penkala griff nach seinem Arm und<br />
zog ihn unter den Wagen. In dem Moment setzte der Sturzre-<br />
46
gen erst so richtig ein. Wäre Dike da drin gewesen, hätte es<br />
seinen Tod bedeutet. Dann zerriss ein fürchterlicher Schrei die<br />
Luft.<br />
Shannyn lag mit dem Gesicht im Sand, unter einer der Rettungskapseln.<br />
Einen anderen Zufluchtsort hatte es auf die<br />
Schnelle nicht gegeben. Die Luke war auf der anderen Seite<br />
gewesen – und jede Sekunde hatte gezählt. Sie versuchte auf<br />
alle Viere zu kommen, doch dafür war der Platz fast nicht ausreichend.<br />
Mit dem Rücken stieß sie bereits an die Kapselunterseite<br />
- die Kapseln standen auf den drei Bremsraketen und<br />
die waren gerade mal knapp fünfzig Zentimeter hoch. Jetzt<br />
starrte sie den Säureregen an, der auf die Erde niedersank, ihre<br />
Ausrüstung und die Blätter und Farnwiesen Millimeter um<br />
Millimeter auflöste. Pfützen bildeten sich auf dem trockenen<br />
Boden. Die Säure konnte nicht einfach absickern, dafür war<br />
das Gestein zu trocken. Und die Kapsel stand dummerweise<br />
auf einem kleinen Gefälle, die Säure begann auf sie zuzurinnen.<br />
Ein verdammtes Gefälle!<br />
Shannyn kroch mit Judy ein Stück zurück. Als nächstes hörte<br />
sie den Aufschrei. Irgendjemand war da draußen. Sie drehte<br />
sich im Sand und schaute vorn unter der Kapsel hervor. Und<br />
dann sah sie eine Vulkanierin, die noch versucht hatte sich in<br />
Sicherheit zu bringen, dabei aber viel zu langsam war. Judy<br />
drückte sich an sie und Shannyn legte ihr einen Arm um. Die<br />
Vulkanierin kam kreischend ins Straucheln und stürzte zu Boden.<br />
Die Säure hatte bereits große Teile ihrer Kopfhaut geschädigt.<br />
Nun fraß sie sich durch die Kleidung. Die Schmerzen<br />
mussten unerträglich sein. Und das waren sie offenbar<br />
auch, denn die so schmerzresistente Vulkanierin brach zusammen.<br />
Sie versuchte sich noch einmal verzweifelt aufzubäumen,<br />
stürzte und rührte sich nicht mehr.<br />
47
Der Regen wurde stärker. Ein kleiner Bach rann unter die<br />
Kapsel. Shannyn hob Kopf und Bauch, sodass die Säure unter<br />
ihr hindurchfließen konnte.<br />
Judy neben ihr zitterte. Shannyn war dagegen merkwürdig ruhig.<br />
Sie wusste, was zu tun war. Schnell drehte sie sich, ohne<br />
den kleinen Bach unter ihr zu berühren. Er wurde rasch breiter.<br />
In wenigen Sekunden hatten sie hier unten nicht mehr viele<br />
freie Flecken, wo sie bleiben konnten. Sie griff nach hinten,<br />
fand einen Hebel und riss daran, um die Notluke unter der<br />
Kapsel zu öffnen. Die Luke klappte nach innen auf. Shannyn<br />
kroch hin, spürte dabei, wie sie mit der Hose in die Säure geriet.<br />
Es zischte, während sich der Stoff langsam auflöste. Sie<br />
schob sich ein Stückchen vor, sah, dass die zweite, innere Luke<br />
von innen geöffnet wurde.<br />
Chief Crocker streckte Judy sofort die Hand entgegen.<br />
„Komm, Kindchen. Klettere hoch.“<br />
Das Mädchen machte ein paar Verrenkungen, um hinaufzukommen.<br />
Shannyn schob sie hinein, während Crocker ihr unter<br />
die Arme fasste und zog.<br />
Nun erreichte die Säure Shannyns Knie. Der Stoff löste sich<br />
auf, dann traf die Säure auf die Haut. Shannyn ignorierte den<br />
brennenden Schmerz, verzog nicht einmal das Gesicht. Sie<br />
schob Judy fester hoch, packte an die Ränder und hievte sich<br />
selber in die Kapsel hinein. Kaum hatte sie die Füße eingezogen,<br />
rann ein ganzer Bach unter der Kapsel hindurch.<br />
„Das war verteufelt Knapp!“, sagte Crocker. Er und sieben<br />
andere Leute standen im Innern der Kapsel, dicht gedrängt,<br />
und spähten nach draußen.<br />
Shannyn ignorierte ihn und kniete sich zu Judy. „Alles in Ordnung?“<br />
Sie nickte stumm und völlig bleich. Crocker hatte die Hauptluke<br />
offengelassen – ein paar Leuten war es gelungen, sich in<br />
letzter Sekunde hineinzuretten. Er ließ sie noch immer offen.<br />
Nun würde aber kaum noch jemand hineinkommen. Judy sah<br />
48
hinaus und erspähte ihren Vater in der anderen Rettungskapseln.<br />
Besorgt sah er zu ihr, versuchte auf die Entfernung herauszufinden,<br />
ob es ihr gut ging. Er rief etwas, aber Judy<br />
verstand ihn nicht. Der Regen war zu laut. Es trennten sie vielleicht<br />
nur zehn, zwölf Meter von ihrem Vater und dennoch<br />
war er unerreichbar. Sie kam sich verlassen vor, fürchterlich<br />
verlassen. Ihr Herz schlug feste.<br />
„Ich will nach Hause.“, sagte Judy.<br />
Shannyn seufzte und schlang ihre Arme von hinten um Judys<br />
Taille. „Ich weiß.“, sagte sie. „Das wollen wir alle.“<br />
Der Regen wurde stärker.<br />
Über die ganze Ebene ging ein sintflutartiger Wolkenbruch<br />
nieder. Die Säure trommelte auf das Dach des engen Notlazaretts<br />
neben dem Jeep. Rhonda Smith hob den Kopf und hoffte,<br />
dass das Dach halten würde. Sie hörte es überall zischen.<br />
Säure!<br />
An was für einem entsetzlichen Ort waren sie nur gelandet?<br />
Eine Windböe blies einen Schwall Säureregen in das Lazarett<br />
hinein. Rhonda sprang erschrocken zurück und stieß die Eingangsluke<br />
zu. Sie tastete nach dem Schließmechanismus, aber<br />
die Kontrolltafel blieb dunkel. Die Tasten reagierten nicht.<br />
Keine Energie.<br />
„Cooper, kann man diese Luke abschließen?“<br />
Sie hörte Coopers schläfrige Stimme aus einer Ecke. „Das Leben<br />
ist ein Kristall.“, sagte er.<br />
„Cooper. Versuch dich zu konzentrieren.“<br />
Dann war der soeben erwachte Roe neben ihr. Seine Hände<br />
bewegten sich an der Tür hinab. „Es ist hier unten.“, sagte er<br />
Augenblicke später. Rhonda hörte ein metallisches Klicken<br />
und trat einen Schritt zurück. Die Tür war zu. „Wie kann das<br />
nur sein?“<br />
49
Smith nahm den Tricorder aus dem Halfter und klappte ihn<br />
auf. Das Piepen des Gerätes erklang nur leise, die Energiezellen<br />
arbeiteten im Sparmodus. Bunte Zahlenreihen und Diagramme<br />
liefen über den kleinen Bildschirm. „Das ist saurer<br />
Regen, in einer Konzentration, wie ich sie noch nie gesehen<br />
habe. Fast über fünfzig Prozent Säuregehalt im Niederschlag –<br />
einfach unglaublich!“<br />
Roe sah durch das Fenster hinaus. Und riss die Augen auf.<br />
„Sehen Sie, dort drüben! Jemand hat es nicht geschafft.“<br />
„Wo? Ich kann nicht... Ja, jetzt sehe ich es.“<br />
Eine Gestalt lag auf dem Boden. Die Uniform war halb weggeätzt,<br />
große Teile der Haut fehlten ebenfalls und offenbarten<br />
rotes Fleisch. Der Regen wurde allmählich wieder schwächer.<br />
Rhonda ging zu Hawk, der noch immer auf dem Bett lag. Der<br />
Regen prasselte gegen das Fenster über seinem Kopf. Das<br />
Glas qualmte. Hawk sah der Säure seelenruhig zu. „Ziemlich<br />
laut, was?“<br />
Neben ihm stand geöffnet ein Erste-Hilfe-Koffer. Eine Spritze<br />
lag auf dem Kissen. Wahrscheinlich hatte er sich selbst eine<br />
weitere Dosis Morphium injiziert. Rhonda seufzte.<br />
Plötzlich und unvermittelt hörte der Regen fast vollständig<br />
auf. Nur noch vereinzelte Tropfen nieselten hauchdünn zur<br />
Erde.<br />
Smith schnappte sich den Erste Hilfe-Koffer. „Wir müssen<br />
jetzt schnell handeln.“, sagte sie zu Roe.<br />
„Ich habe keine Eile.“, sagte Hawk gelassen.<br />
„Holen Sie den medizinischen Tricorder und den Hautregenerator.<br />
Nein, dort drüben in der Kiste, der andere funktioniert<br />
nicht. Ja, genau der. Wie viel Energie ist noch drin?“<br />
Roe sah nach. „Drei Balken.“<br />
Drei Balken. Wenn dort draußen noch mehr dieser Säure ausgesetzt<br />
waren, würde das kaum reichen. „Nehmen Sie Morphium<br />
mit!“ Sie öffnete die Türverriegelung.<br />
50
„Du redest so schnell.“, sagte Hawk. „Weißt du, Rhonda, du<br />
solltest dich wirklich ein bisschen entspannen.“<br />
Als Roe Doktor Smith nach draußen folgte, hörte der Regen<br />
vollkommen auf. Die Säure hatte eine Spur der Verwüstung<br />
hinterlassen. Der Boden qualmte, die Kapseln qualmten, einfach<br />
alles qualmte. Und der Gestank! Ein furchtbarer Gestank<br />
lag in der Luft.<br />
Bei jedem Schritt auf der dampfenden Erde zischten Roes<br />
Stiefel. Die Säure fraß sich schnell durch den Boden, sickerte<br />
allmählich ab, löste zuvor aber noch einen Teil des Gummis<br />
seiner Sohlen auf.<br />
„Bleibt noch drin!“, rief er den Leuten zu, die in den Kapseln<br />
oder unter Felsen geschützt standen. Er suchte schnell die<br />
Umgebung ab. Etliche verdutzte und oder schockierte Augen<br />
folgten ihm aus Felshöhlen, oder Metallunterständen, auf seinem<br />
Weg durch das Basislager. Die Frau auf dem Boden<br />
schien die einzig ernsthaft Verletzte zu sein. Ein Glück, dass<br />
sie noch alle geschlafen hatten!<br />
Und alle unter Überhängen und Dächern. Smith lies sich neben<br />
der Frau auf den Boden fallen. Roe kniete sich auf die andere<br />
Seite. Der Stoff an seinen Knien zischte. Er klappte den<br />
Medizinkoffer auf und betrachtete die Frau – T’Mir. Sie sah<br />
furchtbar aus. Als hätte man ihr Haut und Fleisch vom Leib<br />
gerissen. Und ein Teil der Säure war noch immer damit beschäftigt,<br />
ihren Körper zu zerstören. Doch das Schlimmste<br />
war, dass sie noch lebte. Und sich bewegte. Ein fürchterliches<br />
Wimmern drang über ihre Lippen.<br />
„Wir müssen sie trocknen!“, sagte Smith und zog sich hastig<br />
die Jacke aus. Jetzt hatte sie keine Zeit für Sorgfalt und Geduld.<br />
Jede Sekunde zählte. Sie drückte den Stoff auf das blanke<br />
Fleisch der Frau. Die Vulkanierin zuckte zusammen und<br />
schrie auf.<br />
51
„Morphium!“, fauchte Smith. „Geben Sie ihr endlich Morphium!“<br />
Roe griff mit zitternden Händen nach der Spritze, stieß<br />
sie in den Oberarm – was davon übrig geblieben war. Das<br />
Morphium wirkte sofort. Der Schrei verklang.<br />
Alynna Nechayev stand vor einer Höhle und lauschte. Ein<br />
furchtbarer Schrei war in einiger Entfernung zu hören. Er verklang<br />
allmählich. Dann herrschte wieder Stillte.<br />
Alles war ruhig. Zu ruhig. Aber vielleicht war das auch nur<br />
der starke Kontrast zum lauten Prasseln des Regens vorhin.<br />
Nechayev stand noch eine Weile einfach da, blickte zu den<br />
Hügeln, hinter denen sich irgendwo das Basislager in der sichelförmigen<br />
Bergkette befand. Sie schätzte, dass sie sich etwa<br />
drei Kilometer entfernt hatten. Vielleicht weniger. Schließlich<br />
drehte sie sich zu Nottingham um. Der schwarzgekleidete<br />
Mann stand noch immer in der Höhle, in der sie sich jüngst<br />
vor dem Regen verborgen hatten und sah sie emotionslos an.<br />
„Hört sich an, als hätten sie Probleme.“<br />
„Sie kommen klar.“, sagte Nechayev, schien davon aber wenig<br />
überzeugt zu sein. Sie ging zurück zu Nottingham und nahm<br />
ihm den Scanner aus der Hand. Auf dem Monitor war eine<br />
Karte zu sehen und auf ihr ein blinkendes X, das eine bestimmte<br />
Position markierte.<br />
Ein kleines Fenster auf dem Bildschirm mit der Aufschrift<br />
„aktive Systeme“ zeigte die Batterieladung, die Leistung der<br />
Zellen und den Verbrauch der letzten Stunden. Die Balken<br />
leuchteten noch grün. Trotzdem arbeitete das Gerät nicht einwandfrei<br />
und hatte Aussetzer. Nechayev fürchtete, dass der<br />
Scanner beim Absturz was abbekommen hatte. Plötzlich kam<br />
von dem Gerät ein schrilles Piepen. Ein Gitter legte sich über<br />
die Karte, auf dem eine dreieckige Markierung mit der Beschriftung<br />
ERSTGRUP aufblinkte, unmittelbar danach aber<br />
wieder verschwand.<br />
52
„Das Signal ist schwach.“, sagte Nottingham.<br />
Nechayev schüttelte den Kopf. „Das Signal ist stark genug,<br />
um den Kenncode zu übermitteln. Das sind sie, Ian, keine Frage.<br />
Und die Tatsache, dass das Signal noch immer sendet, obwohl<br />
Omega im Orbit zerstört wurde, gibt mir Hoffnung. Sieht<br />
aus, als würde das Signal von der Hügelkette dort drüben<br />
kommen.“<br />
Sie war weit entfernt, tief in der Ebene. Ein ordentlicher Fußmarsch.<br />
Vielleicht würden sie es aber noch vor Anbruch der<br />
Nacht schaffen, wieder zurückzukehren.<br />
Plötzlich erklang erneut ein Schrei aus der Richtung des Lagers.<br />
Diesmal leiser, aber nicht minder Schmerzerfüllt und<br />
schrecklich. Auch diesmal erstarb er recht schnell wieder.<br />
Dann Stille.<br />
Nechayev drehte besorgt den Kopf.<br />
„Sollen wir umkehren?“, fragte Nottingham.<br />
Einige Sekunden lang überlegte Nechayev nur. Dann deaktivierte<br />
sie das Gerät und hielt es hoch. „Nein, Ian. Das hier ist<br />
wichtiger. Viel wichtiger als alles andere. Die kommen alleine<br />
klar.“<br />
„Gut.“, sagte Nottingham. „Gehen wir.“ Er trat aus der Höhle<br />
hinaus und marschierte los. Nechayev sah noch einmal zurück<br />
und folgte ihm dann.<br />
Die Leute trauten sich wieder aus ihren Verstecken. Die Befürchtung,<br />
dass der Regen wieder einsetzen konnte, trat nicht<br />
ein. Während Allan D’Agosta durch das Lager rannte, sah er,<br />
wie sich zwei Männer unter dem Jeep hervorschoben. Penkala<br />
und Dike. Es ging ihnen offenbar gut. Sie blickten sich entsetzt<br />
um und sorgten sich dann um den Wagen. Das Metall<br />
war stark angesengt, der Jeep sah aus, als wäre er unter einer<br />
besonders heißen Sonne einfach geschmolzen. D’Agosta<br />
53
kümmerte sich nicht weiter darum. Er sah Chief Crocker aus<br />
der Kapsel steigen.<br />
„Judy?“, fragte D’Agosta.<br />
„Wir sind hier drüben.“, antwortete Shannyn. Er entdeckte die<br />
Beiden in der Kapsel. Shannyn sah etwas lädiert aus. Die Haut<br />
im Gesicht war gerötet, die Uniform an vereinzelten Stellen<br />
ein wenig von der Säure zerfressen. Sonst ging es ihr gut. Judy<br />
schien überhaupt nichts zu fehlen.<br />
D’Agosta schloss seine Tochter feste in die Arme und sah zu<br />
Shannyn auf. „Ich muss mich wohl ein weiteres Mal bei ihnen<br />
bedanken.“<br />
„Lassen wir es nicht zur Gewohnheit werden.“<br />
„Wir brauchen Hilfe!“, rief plötzlich Roe, irgendwo hinter ihnen.<br />
T’Mir lag auf dem Boden, krümmte sich vor Schmerz<br />
und zuckte unkontrolliert. Sie erlitt einen Schock. Shannyn<br />
zögerte keine Sekunde und lief zu dem Sanitäter und der Ärztin<br />
rüber. „Was soll ich tun?“<br />
Smith reichte ihr abgerissene Tuchstreifen. „Drücken Sie das<br />
auf ihr Fleisch. Aber achten sie darauf, nicht mit der Haut in<br />
Berührung zu kommen. Schnell, schnell!“ Sie sah auf. „Wir<br />
brauchen Wasser. Haben wir Wasser?“<br />
Crocker war sofort neben ihr. „Leitungswasser der Notrationen?“<br />
„Nein, steriles Wasser.“, sagte Smith, nahm weitere Tuchstreifen<br />
entgegen, die man ihr reichte und presste sie auf T’Mirs<br />
Wunden. „Was ist mit dem Destilationsapparat?“<br />
„Hat über die Nacht kaum etwas hergegeben.“<br />
Smith schnaufte. Sie wusste, dass sie es nicht schaffen würden.<br />
Für Verätzungen diesen Grades bräuchten sie dringend<br />
fließendes Wasser, aber davon stand ihnen nichts zur Verfügung.<br />
Durch pures Abtrocknen und Abtupfen war T’Mir nicht<br />
geholfen, aber Smith würde nicht aufgeben. „Komm schon.<br />
Komm schon!“ Sie sah auf. „Roe, holen Sie das sterile<br />
54
Brandwundenverbandsmaterial aus dem Notfallkoffer. Alles,<br />
was wir haben.“<br />
Der Sanitäter lief los. Aber es war bereits zu spät, alles, was<br />
sie tun konnten – und taten -, genügte nicht. Bei weitem nicht.<br />
T’Mirs Körper zuckte noch einmal. Dann erschlaffte die Vulkanierin<br />
endgültig. Das wirklich grauenvolle daran war, dass<br />
sie durch ihre vulkanische Schmerzresistenz nicht das Bewusstsein<br />
verloren hatte und so gezwungen war, alles bis zum<br />
Schluss mitzukriegen. Niemand sprach. Sie standen alle um<br />
T’Mir herum und schwiegen. Smith erhob sich, bitter dreinschauend<br />
und trat ein paar Schritte zurück. „Sonst geht’s allen<br />
gut?“<br />
Nicken.<br />
„Wir hatten Glück.“, murmelte Crocker.<br />
„Glück?“ Fowler war kreideweiß. „Das Glück hat uns in dem<br />
Moment verlassen, als wir hier gestrandet sind, Chief. Ich<br />
meine, das war grade ein verdammter Säureregen. Wie kann<br />
das überhaupt sein?“<br />
„Ich bin nicht hundertprozentig sicher.“, sagte Smith. „Aber<br />
der Mond ist nur ein Randgänger der Klasse-M. Wenn bestimmte<br />
Gebiete des Mondes radioaktiv verseucht sind, was<br />
anzunehmen ist – vielleicht wegen der Untergrundstrahlung,<br />
die ich feststellte -, dann ist ein säurehaltiger Niederschlag<br />
nichts ungewöhnliches. Aber in dieser Form habe ich das noch<br />
nie erlebt.“ Smith drehte sich zu Athol. Der Amphion war sofort<br />
herbeigeeilt, um zu helfen. Nun starrte er mit einer Mischung<br />
aus Trauer und Entsetzen auf den Leichnam. „Passiert<br />
das häufiger?“<br />
„In dieser Region nur selten.“, schüttelte Athol eifrig den<br />
schweren Schädel. „Aber der brennende Regen ist jedes Mal<br />
sehr heftig, zerstört unsere Felder und kündigt die baldige<br />
Sturmzeit an. Der starke Wind bringt die Wolken aus den tödlichen<br />
Zonen zu uns. Wir leben in Steinen. Dort sind wir sicher.<br />
Die Steine schützen uns.“<br />
55
„Zerstört das nicht dauerhaft die ganze Flora?“, fragte Smith.<br />
„Die Pflanzen?“ Sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie<br />
nach einem solchen Niederschlag die Vegetation erblühen<br />
konnte, Tiere mussten automatisch weiterreisen, die betroffenen<br />
Gebiete würden sicher für lange Zeit zur entvölkerten und<br />
unbewohnbaren Dürre. Wenn dies eintraf, standen ihre Chancen<br />
bei dem gegenwärtigen Standort der Kapseln noch<br />
schlechter, als ohnehin schon, dann mussten sie zwangsläufig<br />
weiterziehen.<br />
„Nein, die Natur hier ist sehr wiederstandsfähig.“, antwortete<br />
Athol. „Die meisten Pflanzen wiederstehen dem brennenden<br />
Regen. Das Feuerkraut wächst schnell nach. Man kann fast<br />
dabei zusehen.“<br />
D’Agostas Herz hämmerte so stark in der Brust, dass er befürchtete,<br />
es könne explodieren. Sein Atem kam stoßweise<br />
und er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Da lag sie vor<br />
ihm – T’Mir.<br />
Eben noch quicklebendig und nun...-<br />
Er spürte Blicke auf sich ruhen. Blicke von Leuten die von<br />
ihm erwarteten, dass er kluge Befehle gab, ihnen gut zuredete,<br />
ihnen Mut machte. Aber er konnte es nicht. Sowohl das eine,<br />
als auch das andere. Er war einfach nicht der richtige Mann<br />
dafür. Allan brauchte dringend Hilfe.<br />
Hilfe in Form von-<br />
D’Agosta runzelte die Stirn. „Wo ist Admiral Nechayev? Hat<br />
jemand Admiral Nechayev gesehen?“<br />
Niemand sagte etwas.<br />
Inzwischen war Crocker eine Decke aus dem Vorratslager holen<br />
gegangen und deckte nun T’Mirs Leichnam zu. D’Agosta<br />
seufzte und fragte noch einmal: „Hat denn niemand Admiral<br />
Nechayev gesehen?“<br />
„Die ist heute Früh wieder losgezogen.“, wusste Garnere. „Mit<br />
ihrem Begleiter.“<br />
„Wohin?“<br />
56
Garnere deutete in eine unbestimmte Richtung. „Dort drüben.<br />
In Richtung dieser Felsformationen in der Ebene, denke ich.<br />
Keine Ahnung, was die da will.“<br />
„Die Sache stinkt zum Himmel.“, grunzte Fowler. „Nechayev<br />
ist laufend mit diesem Typen weg. Sie schert sich offenbar einen<br />
Dreck um uns.“<br />
Deutlich Unruhe ergriff D’Agosta. Er eilte zu Penkala. „Wie<br />
sieht’s aus?“<br />
Der Lieutenant untersuchte den Jeep und schnitt dabei kein<br />
allzu glückliches Gesicht. „Es hat das Gummi der Reifen erwischt.“,<br />
sagte er. „Das Hartgummi ist auf der Bodenseite ein<br />
wenig aufgelöst. Die Räder sehen aus, wie Eier. Eine Fahrt mit<br />
dem Jeep dürfte nun etwas holprig werden. Das heißt, wenn er<br />
überhaupt noch anspringt.“<br />
Dike, der hinter dem Steuer saß, betätigte in diesem Moment<br />
den Anlasser. Stotternd sprang der Motor an. Die Maschinen<br />
des Jeeps surrten.<br />
„Er springt an.“, sagte er.<br />
„Das Energielevel?“, fragte Penkala.<br />
„Ahm, sieht ganz gut aus. Was meinst du, ist es schlimm?“<br />
Penkala stellte sich auf das Trittbrett und sah sich die Solarzellen<br />
an. Bei einigen waren die dunkelblauen Scheiben vollständig<br />
weggeätzt. Andere waren durch Dikes Jacke gerade so geschützt<br />
worden. Sie hing nun nur noch in Fetzen auf dem<br />
Dach. „Könnte schlimmer sein.“, sagte Penkala nach einer<br />
Weile. „Ich schätze etwa die Hälfte der Solarzellen ist im Eimer.<br />
Jetzt müssen wir erst recht achtsam sein.“<br />
„Für eine Fahrt brauche ich Sie aber.“, sagte D’Agosta.<br />
„Ach so?“<br />
„Wären Sie so freundlich und würden nach Nechayev suchen?“<br />
Penkala starrte D’Agosta an. Er sagte nichts. Allan deutete zu<br />
den Hügeln in der Ebene. „Sie ist etwa in diese Richtung ge-<br />
57
gangen. Zu Fuß. Sie kann also noch nicht weit gekommen<br />
sein.“<br />
„D’Agosta, diese Frau hat uns auf dem Schiff zurückgelassen.<br />
Ich hoffe aufrichtig, der Teufel holt sie.“<br />
„Penkala, bitte. Ich brauche sie hier. Dringend!“<br />
„Wir sollten ohnehin eine Probefahrt machen.“, sagte Dike<br />
nach einer Weile.<br />
Ein knurren. „Okay, fein.“, lenkte Penkala ein. „Fahren wir.<br />
Ist ja ihre Entscheidung. Aber ich sag’s ihnen, D’Agosta; die<br />
Frau wird uns noch gewaltige Probleme bereiten. Ich weiß es<br />
einfach.“<br />
„Ich komme mit.“ Eugene Roe schnallte sich eine Arzttasche<br />
um und wollte einsteigen, wurde aber von Penkala aufgehalten.<br />
„Sie fahren nirgendwohin.“<br />
„Wenn Nechayev verletzt ist-“<br />
„Bringen wir ihre Leiche zurück. Sie sind unser einziger Mediziner,<br />
Roe. Ich lasse nicht zu, dass Sie auch noch draufgehen.“<br />
Roe blinzelte verwirrt. „Aber ich bin nicht der einzige-“<br />
Penkala vergewisserte sich, dass die Ärztin ihn nicht hörte, als<br />
er sagte: „Smith traue ich nicht so recht. Die steckt mit Nechayev<br />
unter einer Decke, oder was war das vorhin mit dem<br />
Scanner?“<br />
Roe sagte nichts.<br />
„Sehen Sie?“, fragte Penkala. Er stieg ein.<br />
„Hier.“, sagte D’Agosta und reichte ihm einen Tricorder. „Sie<br />
könnten ihn brauchen. Aber die Energie-“<br />
„Ist begrenzt, ja. Ist doch ständig dasselbe.“<br />
Dike umklammerte das Lenkrat. Vorsichtig fuhren sie los.<br />
58
Ramina<br />
Dike runzelte die Stirn. Es war einfach komisch ein Fahrzeug<br />
zu steuern, das so leise war. Das lauteste Geräusch war das<br />
Knirschen der Reifen auf dem sandigen Untergrund. Wenn sie<br />
langsam fuhren, war praktisch gar nichts zu hören.<br />
Der Jeep hüpfte ein wenig. Aber es war nicht so schlimm. Die<br />
Reifen waren nicht so stark beschädigt, wie zunächst angenommen.<br />
Penkala, der neben ihm saß, starrte auf den Tricorder.<br />
„Und?“<br />
„Ich bekomme nichts.“, sagte Penkala. „Funktioniert wohl<br />
nicht.“<br />
„Du musst etwas geduld haben. Liegt vielleicht auch an der<br />
Energie.“<br />
„Apropos.“, sagte Penkala und nickte zum Armaturenbrett.<br />
Dort blinkte ein Kontrolllämpchen auf. Das Fahrzeug hatte auf<br />
Batteriebetrieb umgeschaltet. Die Solarzellen waren leer, der<br />
Himmel noch Wolkenbedeckt. „Wie läuft’s?“, sah Penkala<br />
nun auf. „Funktionieren die Batterien?“<br />
„Alles bestens. Könnte schlimmer sein.“<br />
Penkala grunzte. „Kaum vorzustellen.“ Der Explorer raste an<br />
den Hügeln vorbei, auf die Ebene zu.<br />
Ein Summen lag in der Luft, wie von einer entfernten Biene.<br />
Ramina drang das Geräusch allmählich ins Bewusstsein, wäh-<br />
59
end sie langsam wieder aufwachte. Sie öffnete die Augen und<br />
sah die angesengte, grüne Haut ihres Unterarms.<br />
Das Summen wurde lauter. Ramina wusste nicht, wo sie war.<br />
Sie konnte sich auch nicht erinnern, wie sie hierher gekommen,<br />
was passiert war. Sie spürte einen Schmerz in den Schultern<br />
und in der Hüfte. Hinter ihrer Stirn pochte es. Sie<br />
versuchte sich zu erinnern, aber der Schmerz lenkte sie ab,<br />
ließ sie nicht klar denken. Das letzte, woran sie sich erinnerte,<br />
war der plötzliche Wolkenbruch, der ihren Arm angesenkt<br />
hatte. Das war das Letzte.<br />
Dann hatte Dorak gebrüllt und–<br />
Ramina drehte den Kopf und schrie auf, als sie ein plötzlicher,<br />
scharfer Schmerz den Rücken hoch bis in den Hals zuckte, so<br />
heftig, dass es ihr den Atem verschlug. Sie schloss die Augen<br />
und verzog das Gesicht. Dann öffnete sie sie wieder. Ramina<br />
befand sich in einer kleinen Höhle. Irgendwie musste es ihr<br />
gelungen sein, sich in Sicherheit zu begeben.<br />
In der Ferne hörte Ramina wieder das Summen, wie von einer<br />
riesigen Biene. Es war ein mechanisches Geräusch, das erkannte<br />
sie jetzt.<br />
Etwas mechanisches.<br />
Die Shenandoah, fiel ihr ein. Wie spät war es überhaupt? Es<br />
war hell. Die tief hängenden Wolken klarten sich langsam auf,<br />
entblößten einen orangeroten Himmel. Wieder hörte sie das<br />
Summen. Es kam näher. Mit Mühe stieß sich Ramina von der<br />
Wand ab, an der sie angelehnt war und beugte sich vor. Elektrisierender<br />
Schmerz schoss ihr Rückrat entlang, ließ aber<br />
schnell wieder nach. Sie atmete tief durch.<br />
Ich bin in Ordnung, dachte sie. Ich lasse mich nicht unterkriegen.<br />
Stöhnend richtete sie sich auf und sah sich um. Die Höhle war<br />
gar keine Höhle. Und sie war froh drüber. Die erste hatte ihr<br />
nämlich gereicht und genug Ärger verursacht. Nein, es war<br />
diesmal keine Höhle, in der sie sich befand. Mehr eine kleine<br />
60
Einbuchtung in einen Fels. Gerade hoch genug um aufrecht zu<br />
stehen und tief genug, um sich darin vor Säureregen in Deckung<br />
zu bringen. Hinter dem Höhleneingang ging es eine<br />
Hügelflanke hoch. Sie war mit Moos und roten Pflanzen bedeckt.<br />
Leider entdeckte Ramina auch hier weder Früchte, noch<br />
Beeren.<br />
Ihre Magen knurrte.<br />
Sie drehte sich weiter. Und dann sah sie ihn neben sich in der<br />
Höhle. Dorak lag auf dem Rücken, den Kopf zur Wand. Er<br />
rührte sich nicht. Dorak sah tot aus. Ramina stöhnte, als sie<br />
sich herabbückte um seinen Puls zu fühlen. Es war unnötig,<br />
denn sie sah, wie sich Doraks Brustkorb leicht hob und senkte.<br />
Er lebte also doch noch. Das Summen war plötzlich sehr laut,<br />
es kam schnell näher und als Ramina den Kopf hob, sah sie<br />
oben auf dem Hügel ein Jeep, der in weniger als zehn Metern<br />
Entfernung an ihr vorbeifuhr. Ein Jeep! Und zwar einer der<br />
Sternenflotte. Und dann war der Wagen auch schon wieder<br />
verschwunden.<br />
Dem Geräusch nach zu urteilen war es ganz eindeutig ein<br />
Sternenflottenfahrzeug. Sie wusste, dass die Shenandoah welche<br />
an Bord gehabt hatte. Ein großer Truck und mehrere kleine<br />
Geländefahrzeuge. Schnell, wendig und robust. Es musste<br />
also noch weitere Überlebende der Katastrophe geben. Ramina<br />
stellte erstaunt fest, dass sie die Vorstellung anderer Menschen<br />
auf dem Mond beruhigte. Obwohl sie sich selbst eher<br />
als Einzelgängerin betrachtete, schöpfte sie dadurch neuen<br />
Mut.<br />
„Dorak. Dorak.“ Ihre Zunge tat weh. Sie schmerze beim Sprechen.<br />
Dorak reagierte nicht. Er blieb liegen. Erst jetzt sah Ramina,<br />
dass sein Rücken und seine Kopfhaut nicht grade gut<br />
aussahen. Er musste länger als sie in der Säure gewesen sein.<br />
Sie band sich ihre Jacke um die schlanke Hüfte und streckte<br />
die Arme aus, umfasste Dorak und legte ihn ächzend über ihre<br />
Schulter.<br />
61
Der Cardassianer war schwer!<br />
Egal.<br />
Ramina ließ sich nicht aufhalten. Mit zusammengebissenen<br />
Zähnen trat sie aus der Höhle heraus. Es war heller, als sie<br />
dachte. Ein dunkles, orange-rotes hell, aber ein Hell. Ramina<br />
schaffte es trotz dem enormen Gewicht auf ihrer Schulter den<br />
Hügel hoch. Dort angekommen, sah sie sich um. Von dem<br />
Jeep fehlte jede Spur. Er musste hinter einer Anhöhe verschwunden<br />
sein. Aber wo war er hingefahren? Oder von wo<br />
war er gekommen? Jetzt erinnerte sich Ramina an die Kapseln,<br />
die sie Tags zuvor hatte runterkommen sehen. Wenn sie<br />
sich nicht täuschte, waren sie dort runtergekommen, von wo<br />
der Jeep gekommen war. Es musste ganz in der Nähe sein. In<br />
ein, oder zwei Kilometern Entfernung. Vielleicht in dem Tal,<br />
vor der Ebene. Das war ihr Ziel. Sie rückte Dorak zurecht und<br />
marschierte los.<br />
Im Haus war es vollkommen still. Draußen ging die Sonne unter.<br />
Der Rasensprenger war an, zischte und klickte.<br />
Sie lebten abgeschieden, außerhalb der Stadt. Der Abend war<br />
sehr friedlich. Fayar hatte eine Tasse Kaffee in der Hand und<br />
sank im Zimmer seiner Tochter auf einen Stuhl, den er erst<br />
von diversen Kleidungsstücken befreien musste. Fayar war erschöpft.<br />
Die siebzehnjährige Ramina hingegen verfügte offensichtlich<br />
über schier unerschöpfliche Energie. Sie warf sich<br />
unzufrieden dreinschauend auf das Bett und schüttelte heftig<br />
den Kopf. „Sie ist keine von uns, Dad.“, sagt sie. „Kommt einfach<br />
nicht mit uns klar. Mit der orionischen Art.“<br />
„Sie kommt nur mit dir nicht klar, Ramina, weil du ihr Steine<br />
in den Weg wirfst.“<br />
„Du weißt, dass sie nicht zu uns passt. Du willst es nur nicht<br />
zugeben.“<br />
„Ramina, sie ist deine Mutter!“, sagte Fayar. „Wir sind eine<br />
62
Familie, egal wer welche Hautfarbe hat, ist das klar?“<br />
Ramina schnaubte, verschränkte die Arme und starrte geradeaus.<br />
„Ich weiß nicht warum du dir das von ihr gefallen lässt,<br />
ich werde es jedenfalls nicht tun!“<br />
„Sie hat jedes Recht dir Hausarrest zu geben.“<br />
„Die Sache geht sie gar nichts an.“, beharrte Ramina.<br />
Allmählich verlor Fayar die Geduld. Knurrend stand er auf<br />
und deutete mit dem Finger auf Ramina. „Du hast eine Mitschülerin<br />
windelweichgeprügelt! Schon wieder! Was ist nur<br />
los mit dir?“<br />
Ramina richtete sich auf und durchdrang ihren Vater mit einem<br />
besonders wütenden Blick. „Sie hat mich aufgrund meiner<br />
Herkunft gehänselt und es gar nicht anders verdient.“<br />
„Musst du immer nur kämpfen?“<br />
„Müssen wir immer nur fliehen?“, hielt Ramina entgegen.<br />
Fayar seufzte. Er wirkte plötzlich sehr alt. „Früher haben wir<br />
uns nie gestritten.“<br />
Ramina sagte nichts.<br />
„In letzter Zeit sind wir alle ganz schön angespannt. Schon allein<br />
aufgrund der häufigen Umzüge, schätze ich. Wir müssen<br />
uns einfach wieder mehr Zeit füreinander nehmen.“<br />
„Dad, komm mir doch nicht mit so einem Scheiß.“<br />
„Ramina ...“<br />
„Tschul-di-gung. Aber du kannst ruhig vernünftig mit mir reden,<br />
statt sie die ganze Zeit in Schutz zu nehmen. Sie kommt<br />
mit unserem Temperament nicht mehr klar und verliert allmählich<br />
die Nerven. Ihretwegen mussten wir doch von Andoria<br />
fliehen – wo es wenigstens nicht ganz so schlimm war, wie<br />
hier -, oder wer hat sich dort zu auffällig benommen? Ich weiß<br />
genau, dass du denkst, sie verliert die Kontrolle.“<br />
„Das denke ich nicht.“<br />
„Sie ist einfach nicht grün genug für-“<br />
„Schluss jetzt!“, sagte Fayar entschieden. „Ich will kein Wort<br />
mehr darüber hören. Dafür bin ich wirklich nicht in der Stim-<br />
63
mung. Du wirst jetzt vernünftig mit ihr reden, ist das klar?“<br />
„Dad-“<br />
„Ist das klar?“ Bevor Ramina eine Antwort geben konnte, war<br />
er durch die Tür verschwunden. Ramina hörte sie im Flur reden,<br />
konnte aber nicht verstehen, was sie besprachen. Es dauerte<br />
nicht lange, bis sich die Tür erneut öffnete. Diesmal trat<br />
ihre Mutter ins Zimmer. Mutter, dachte Ramina verächtlich.<br />
„Hi, Schatz.“, sagte Melissa und kam zögerlich herein. Fayar<br />
folgte ihr, als eine Art strenger Aufseher, der darauf achtete,<br />
dass nichts aus dem Ruder lief. Ramina sagte nichts.<br />
Melissa kniete sich vor sie. „Warum hast du dich mit deiner<br />
Mitschülerin geprügelt?“<br />
Stille.<br />
Schweigen.<br />
Melissa seufzte. „Schatz, bitte. Rede mit mir.“<br />
Noch immer nichts.<br />
„Ach, Ramina. Du bist immer so verflucht stark.“<br />
„Dad-“<br />
„Du brauchst deinen Vater gar nicht so anzugucken. Wir wissen<br />
ja, dass er dir alles erlaubt. Jetzt rede aber ich mit dir.“<br />
„Eine Premiere.“, zickte Ramina.<br />
Diese Art der Interaktion zwischen ihr und ihrer Mutter war<br />
immer mehr zur Gewohnheit geworden. Vielleicht war das bei<br />
Kindern in Ramina’s Alter normal, erst recht, wenn man ihr<br />
gemischtes Genom bedachte und unter welchen Umständen<br />
sie aufwuchs, aber Fayar hielt es für besser, sich einzumischen.<br />
Melissa war müde und wenn sie müde war, wurde sie<br />
streng und allzu autoritär, um der rebellischen und trotzigen<br />
Art Ramina’s entgegenzuwirken. Um überhaupt eine Chance<br />
zu haben. Aber das führte nur dazu, dass sich beide noch mehr<br />
auseinander lebten. Er legte ihr einen Arm um die Schulter.<br />
„Es ist spät. Wir sollen morgen darüber diskutieren.“<br />
„Bitte, mich dich nicht ein.“, sagte Melissa. „Ramina, so kann<br />
es nicht weitergehen. Ich will doch nur dein Bestes.“ Bei die-<br />
64
sen Worten lachte Ramina humorlos. „Wir haben nur uns.“,<br />
fuhr Melissa fort. „Sonst nichts. Das darf nicht zerbrechen.<br />
Nicht auf diese Art. Aber du lässt mich seit einer ganzen Zeit<br />
schon gar nicht mehr an dich ran. Und ich fürchte, eines Tages<br />
wird dich deine Gefühlskälte in große Schwierigkeiten bringen.“<br />
„Ja, menschliche Gefühle.“<br />
„Hättest du mehr davon, würdest du deine Mitschüler nicht<br />
verprügeln.“, entgegnete Melissa verärgert. Nun sprang Ramina<br />
auf. Sie ballte die Fäuste. „Du hast gut reden, du bist völlig<br />
menschlich und stehst nicht zwischen den Stühlen, wie ich das<br />
tue. Ich bin grün, die einzige Orionerin in einer Menschenkolonie,<br />
die mein Volk nur als Sklavenmädchen kennen und<br />
mich gleichermaßen behandeln. Vielleicht habt ihr beide euch<br />
wirklich geliebt – müsst ihr schon, um die Schwierigkeiten in<br />
Kauf zu nehmen, in denen wir jetzt stecken. Aber bei meiner<br />
Zeugung habt ihr nicht einen Funken eures Verstandes eingesetzt.<br />
Was bin ich Mutter? Sag es mir! Mensch? Sicher nicht.<br />
Orion? Vielleicht. Aber wir sind nicht auf dem Orion, richtig?“<br />
Für eine Weile sahen sich beide nur an. Als Melissa antwortete,<br />
sprach sie sehr leise. „Ich bin sicher, dort willst du nicht<br />
hin, Ramina.“<br />
„Nein, du willst nicht dort hin!“, zischte Ramina wütend.<br />
„Weil du dort nicht willkommen wärst, genau wie ich es hier<br />
nicht bin. Mein Vater ist grün. Ich bin grün. Aber du ... du bist<br />
Mensch und wegen dir bin ich eine Außenseiterin und ein e-<br />
wiger Flüchtling.“ Sie sprang wütend auf. „Ich hasse dich!“<br />
Ramina lief ins Badezimmer und knallte die Tür zu.<br />
„Wenn ich’s ihnen doch sage, es ist alles okay.“, äußerte Fowler<br />
verärgert. Er schwitze in der erdrückenden Hitze des Tages.<br />
Fowler stand an eine der Kapseln gebeugt. „Sehen Sie?<br />
65
Die Haut ist unverletzt.“ Er streckte die Hand aus. Ein geröteter<br />
Halbkreis war zu erkennen, wo die Säure seine Haut berührt<br />
hatte. Das war alles.<br />
Roe, der neben ihm stand erwiderte: „Ja schon, aber ihr Ohr<br />
blutet ein wenig.“<br />
„Ich spüre nichts. Also kann es nicht so schlimm sein.“<br />
„Nein, schlimm ist es nicht.“, sagte Roe und öffnete den Erste-<br />
Hilfe-Koffer. „Aber wir sollten die Wunde besser säubern.“<br />
„He, Fowler!“, rief Garnere aus einiger Entfernung. „Ist ja ne<br />
tödlich erscheinende Wunde.“ Er lachte und ging weiter.<br />
Er lachte Fowler aus!<br />
„Schnauze, Garnere. Und besorg mir was zu essen. Doc, es<br />
wäre mir wirklich lieber, wenn Sie mich in Ruhe lassen würden.“<br />
„Hören Sie nicht auf den Spott ihres Kollegen.“<br />
Fowler schnaufte. „Quatsch. Garnere und ich sind gute Freunde,<br />
fast wie Brüder. Nein, ehrlich. Ich würde nur gerne wieder<br />
zu meinem Gewehr zurück. Hören Sie, ich weiß was ich tue.<br />
Ich habe AR558 überlebt. Ich habe Ajilon Prime überlebt. Ja,<br />
ich habe sogar die Zerstörung der Sutherland überlebt.“<br />
„Sie waren auf Ajilon Prime?“, fragte Roe.<br />
„War ich. Und in einem Dutzend anderer Bodenkämpfe, aber<br />
ich habe sie alle überlebt. Was ist der Grund, dass ich hier stehe,<br />
während sich viele andere gute Offiziere das Atmen abgewöhnten?<br />
Vielleicht liegt’s daran, dass ich besser bin. Oder<br />
ich habe einfach Glück. Auch diese Tarkon und der Riesenskorpion<br />
haben mich nicht umgebracht.“<br />
„Was Sie nicht sagen.“<br />
„Jedenfalls, die kleine Wunde am Ohr tut das auch nicht. Ich<br />
glaube deshalb-“<br />
„Es ist nur so.“, sagte Roe. „Dass Sie ein wenig Vogelscheiße<br />
am Ohr haben und die Haut dort an ein paar Stellen geritzt ist.<br />
Ich werde Sie nur schnell säubern.“ Er tränkte eine Gazekom-<br />
66
presse mit Desinfektionsmitteln. „Brennt vielleicht ein bisschen.“<br />
„Vogelscheiße? Verflucht, was ist das nur für ein – Autsch!“<br />
„Nicht bewegen.“, sagte Roe. „Dauert nur eine Sekunde.“<br />
„Ja, ja.“<br />
„Halten Sie still, ich hab’s gleich. So.“ Er nahm die Kompresse<br />
vom Ohr. Fowler sah braune Flecken und eine hellrote<br />
Schliere. Eine banale Wunde.<br />
Aber Vogelmist?<br />
Er spähte knurrend in den Himmel hinauf, während Roe den<br />
Erste Hilfe-Koffer wieder zusammenpackte. „Es wird furchtbar<br />
heiß hier, nicht wahr?“, sagte er seufzend.<br />
„Wird es. Hey, Doc, wie geht’s den anderen?“<br />
„Keine ernsten Wunden oder Verletzungen. Bis auf... – Na ja.<br />
Haben Sie T’Mir gekannt?“<br />
„Nur vom Sehen. Ich hatte kaum etwas mit ihr zu tun, weil sie<br />
in der Nachtschicht arbeitete. Die hat-“ Plötzlich runzelte er<br />
die Stirn und sah sich um. „Was war das?“<br />
„Was war was?“<br />
„Dieses Geräusch. Haben Sie es nicht gehört?“<br />
„Nein.“, sagte Roe.<br />
Fowler sprang auf und sah zu dem weit entfernten Hang an<br />
den Hügeln. Er horchte eine Weile. Roe zuckte mit den Schultern.<br />
„Ich höre nichts. Was glauben Sie denn, was es-“<br />
„Psst.“ Fowler streckte den Kopf und horchte angestrengt.<br />
Kurz darauf drehte er sich wieder um. „Ich hätte schwören<br />
können, dass ich einen Hilferuf gehört habe.“<br />
„Einen Hilferuf?“ Auch Roe war sofort auf den Beinen. Er sah<br />
sich um. Niemand im Lager sah aus, als würde er Hilfe<br />
gebrauchen. Und da draußen an dem Hügel konnte er nichts<br />
außergewöhnliches erkennen. Sie sahen die Hügelflanke mit<br />
ihren dichten, roten Büschen und Pflanzen, die den Säureregen<br />
erstaunlich gut überstanden hatten. Alles war vollkommen unbeweglich.<br />
Es war nicht das geringste Zeichen von Aktivität<br />
67
zu erkennen. Sie horchten noch einmal, hörten aber nichts.<br />
„Doch, da drüben.“, sagte Fowler plötzlich. „Schauen Sie genau<br />
hin.“<br />
Durch die Blätter sah Roe kurz schwarzen Stoff aufblitzen,<br />
dann noch einmal. Er erkannte, dass es eine Person war, die<br />
halb gehend, halb rutschend die steile Hügelflanke herunterkam.<br />
Eine kleine, kompakte Gestalt, dunkle, schulterlange<br />
Haare.<br />
„Ist das Nechayev?“, fragte Roe.<br />
„Seit wann ist Nechayev grün?“, fragte Fowler. „Nein, das ist<br />
Ramina.“<br />
Das Lazarett war gefüllt. D’Agosta schob sich im beengten<br />
Innenraum an den Patienten vorbei, bis er zu Doktor Smith gelangte.<br />
Die Ärztin kniete auf dem Boden und behandelte die Knie eines<br />
Fähnrichs aus der Frachtabteilung, der sich am Säureregen<br />
angeätzt hatte. D’Agosta nahm erleichtert zur Kenntnis, dass<br />
alle nur kleine, kaum gravierende Verletzungen davon getragen<br />
hatten. Die meisten davon zugezogen, als die Leute unvorsichtig<br />
das verätzte Material berührt hatten. Gerötete Haut,<br />
ein paar Verbrennungen ersten Grades, ansonsten hatten sie<br />
tatsächlich enormes Glück gehabt. Zumindest, wenn man die<br />
Umstände betrachtete.<br />
Endlich erreichte er Smith. Sie behandelte gerade eine verbrannte<br />
Hand. Isaac, der die Hand gehörte, lächelte D’Agosta<br />
schief an und zuckte mit den Schultern.<br />
„Wie sieht’s aus?“, fragte D’Agosta.<br />
„Wir haben soweit alles unter Kontrolle.“<br />
Smith tränkte einen kleinen Schwamm und rieb damit über die<br />
geröteten Stellen von Hallies Hand. Roe übernahm die anderen.<br />
Es sah tatsächlich so aus, als hätten die Ärzte momentan<br />
keine Schwierigkeiten.<br />
68
„Okay, gut. Das freut mich wirklich zu hören. Hm, ich bin a-<br />
ber noch aus einem anderen Grund gekommen. Und zwar, um<br />
nach Admiral Nechayev zu fragen.“<br />
Smith sah auf. „Nach Nechayev? Warum nach Nechayev?“<br />
„Seit wir auf dem Mond strandeten, ist der Admiral ständig<br />
außerhalb des Basislagers unterwegs. Da ist es nicht sicher.“<br />
„Sie hat Nottingham dabei.“, seufzte Smith und widmete sich<br />
wieder Isaac’s Wunden. „Ihr kann gar nichts geschehen, glauben<br />
Sie mir.“<br />
„Nun, schön, aber was macht sie dort draußen?“<br />
„Wie kommen Sie darauf, dass ausgerechnet ich darüber bescheid<br />
weiß, Allan?“<br />
„Weil Nechayev jedes Mal bei Ihnen war, wenn sie zurückkehrte.“,<br />
sagte D’Agosta. „Sie muss doch irgendwas gesagt<br />
haben.“<br />
„Nein, nichts. Hat sich nur nach dem Zustand der Leute erkundigt.“<br />
Smith klang ausweichend. D’Agosta seufzte. Er<br />
musste Nechayev also erneut zur Rede stellen, dieses mal richtig<br />
und konsequent.<br />
Leider kannte er sich selbst aber zu gut um zu wissen, dass er<br />
ihr kaum auf diese Art – standhaft und konsequent – begegnen<br />
würde. Immerhin war sie ein vorgesetzter Offizier, Geheimniskrämerei<br />
hin oder her. Vielleicht hatte sie ja sogar allen<br />
Grund dazu. Er schüttelte den Kopf. Ihm fehlte einfach diese<br />
Gradlinigkeit, wie sie Shannyn gezeigt hatte. D’Agosta wollte<br />
gerade aus dem Lazarett hinaustreten, entschied sich dann aber<br />
noch einmal dagegen und wandte sich erneut Smith zu. „Doktor,<br />
gab es in den vergangenen Stunden Meldungen über ...“,<br />
er suchte nach dem richtigen Wort. „... über Halluzinationen?<br />
Einbildungen?“<br />
Smith runzelte die Stirn. „Nein, keine. Wieso?“<br />
„Ich hatte heute Nacht einen merkwürdigen Traum.“<br />
„So?“<br />
69
„Er war wirklich sehr merkwürdig. Kam mir auch gar nicht<br />
vor, wie ein Traum. Ich dachte, es könnte sich vielleicht um<br />
eine Art Halluzination gehandelt haben.“<br />
„Sie sagten, Sie hätten im Camp der Amphion bei einem bestimmten<br />
Ritual mitgemacht. Haben Sie dort möglicherweise<br />
bewusstseinserweiternde Stoffe zu sich genommen?“<br />
„Drogen?“<br />
Smith zuckte mit den Schultern. „Bei vielen indianischen und<br />
afrikanischen Stämmen ist das Normal. Wir begegneten auch<br />
anderen Kulturen mit ähnlichen Ritualen.“<br />
„Hm, nein, nicht, dass ich wüsste.“<br />
„Sonst etwas außergewöhnliches gegessen, oder getrunken?“<br />
„Nichts außer den Notrationen.“<br />
Smith überlegte. „Was haben Sie denn geträumt?“<br />
„Nun, ich-“<br />
Plötzlich schwang die Luke auf und ein aufgeregter Fowler<br />
rief: „Wir haben jemanden gefunden.“<br />
„Na dann holen wir sie doch besser ab.“ Shannyn griff im Basislager<br />
neben der Ausrüstungskapsel nach einem Gewehr und<br />
drehte sich zu Athol. „Sind Skorpione unterwegs?“<br />
„Vielleicht.“, sagte der Amphion.<br />
Fowler seufzte. „Super. Noch mehr böse Viecher.“<br />
„Bewaffnen Sie sich.“, sagte Shannyn und drehte sich zu<br />
D’Agosta, der gerade aus dem Lazarett trat. „Allan, bleiben<br />
Sie hier bei der Gruppe. Kümmern Sie sich um die Leute. Wir<br />
holen diese Ramina ab.“<br />
Und damit marschierte sie los.<br />
Schwer atmend trat Ramina aus dem Blattwerk auf die Ebene.<br />
Wenigstens konnte sie jetzt erkennen, wo sie war. Zufrieden<br />
stellte Ramina fest, dass sie den Leuten in dem notdürftigen<br />
70
Sternenflottenlager nicht entging. Sie blieb stehen. Versuchte<br />
erneut um Hilfe zu rufen. Aber ihre Stimme blieb weg, die<br />
Kehle war zu trocken.<br />
Eine kleine Gruppe löste sich von den aufgeregten Leuten und<br />
kam auf sie zu. Sie waren noch weit entfernt. Schwer atmend<br />
sah Ramina zum dunkel behangenen Himmel hoch. Sie wusste<br />
nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber schließlich fühlte sie<br />
sich stark genug, um ihre Beine wieder zu bewegen, ohne umzukippen.<br />
Sie nahm all ihre Kraft zusammen und rückte Dorak<br />
auf ihrer Schulter zurecht. „Wir haben es gleich geschafft.“,<br />
keuchte sie, obgleich der Cardassianer noch immer Bewusstlos<br />
war und sie nicht hören konnte. Mühsam setzte Ramina ihren<br />
Weg fort, kam den Sternenflottenoffizieren entgegen. Ein<br />
Fuß nach dem anderen.<br />
Ein Fuß, nach dem anderen.<br />
Wie ein Roboter, schleppte sie sich einfach vor, ohne darüber<br />
nachzudenken, was sie eigentlich tat. Die Offiziere kamen näher.<br />
Ramina versuchte schneller zu gehen und gelangte ans Ende<br />
ihrer Kräfte. Ihre Beine wurden plötzlich zu Gummi und<br />
knickten ein. Ramina ging in die Knie. Der reglose Körper<br />
Dorak’s rutschte ihr wie ein nasser Sack von der Schulter und<br />
fiel in den Sand. Raminas Augen verengten sich, nun lag sie<br />
auf allen Vieren. Die Schritte der Offiziere wurden lauter, sie<br />
näherten sich schnell.<br />
„Hier drüben!“, rief irgendjemand. Ein Mann. Fowler. Sie<br />
kannte ihn irgendwoher. Wahrscheinlich aus einem früheren<br />
Leben.<br />
„Los, bringen wir sie in das Lazarett.“ Ein Schatten fiel über<br />
Ramina. Sie war zu schwach, um zu reagieren, um auch nur<br />
den Kopf zu heben. Das letzte was sie sah, waren staubige<br />
Stiefel, die auf sie zukamen. In diesem Moment überwältigte<br />
sie die Erschöpfung. Sie brach zusammen und fiel auf den<br />
71
Bauch. Ramina verdrehte die Augen und verlor das Bewusstsein.<br />
Ramina riss die Augen auf. Der Lärm schreckte sie aus dem<br />
Schlaf. Sie hörte ein Stimmgewirr. Hektik.<br />
Melissa stürmte in ihr Zimmer, zog hastig Schuhe und Jacke<br />
an und griff nach ihrer Hand, um Ramina hinaus aus dem Korridor<br />
zu ziehen. „Komm schon, Liebes.“ Sie sprach sehr leise<br />
und abgehakt.<br />
Ramina versuchte nicht zu stürzen, rieb sich müde die Augen.<br />
Es war mitten in der Nacht. Schlaftrunken fragte sie: „Was ist<br />
denn nur los?“<br />
Melissa antwortete nicht. Alles geschah sehr schnell. Ramina<br />
hörte jemanden durch den weitläufigen Garten in ihre Richtung<br />
laufen. Befehle wurden gerufen. Als sie an eines der<br />
Fenster vorbeikamen, glaubte Ramina in der Dunkelheit Männer<br />
mit schweren Rüstungen zu sehen. Sie kamen direkt auf<br />
das Haus zu.<br />
Fayar tauchte auf. Er trug ebenfalls seinen Schlafanzug, etwas<br />
musste ihre Eltern aus dem Schlaf gerissen haben. „Wir wurden<br />
aufgespürt.“, sagte er aufgebracht, sah immer wieder über<br />
die Schulter, als er die beiden Frauen vorwärts trieb. Melissa<br />
stöhnte. „Schon wieder? Wie oft sollen wir denn noch umziehen?<br />
Fayar, wie oft noch?“<br />
Er ging nicht auf sie ein. „Die haben uns den Fluchtweg abgeschnitten.<br />
Los, los, in den Bunker!“<br />
Ramina begriff überhaupt nicht, was geschah. Im Wohnzimmer<br />
wurden Fenster eingeschlagen, kurz darauf hörte Ramina<br />
ein Scheppern und Rumpeln. Jemand war im Vorbau. Fayar<br />
schob sie weiter, endlich erreichten sie durch einen kleinen<br />
Verbindungsgang den Bunker hinterm Haus. Das Innere war<br />
in zwei große Lagerräume unterteilt, die beide an allen vier<br />
Wänden Regale und in der Mitte freistehende Regale hatten.<br />
72
Betonwände, Betonboden. Im zweiten Raum gab es noch eine<br />
Tür, sie führte zum Wald hinter dem Haus. Mondlicht fiel<br />
durch die Fenster mit Holzrahmen. Die Klimaanlage dröhnte<br />
zwar laut, aber es war dennoch heiß. Fayar schloss die Tür<br />
hinter sich und sah sich um. In den Kisten der Regale lagen<br />
nur Einzelteile seines privaten Reparaturunternehmens und<br />
alltägliche Dinge: Putzmittel, Seifenstücke, Schachteln mit<br />
Frühstücksflocken. Die Waffen lagen im Haus. Er fluchte.<br />
Melissa drückte Ramina feste an sich. Das Mädchen wehrte<br />
sich dagegen, aber erfolglos. „Lasst uns zum Wald rennen!“<br />
„Melissa, die werden das Haus umzingelt haben.“<br />
„Was tun wir jetzt?“<br />
„Bleib ruhig, Melissa.“, sagte Fayar. Er fand einen Besenstil,<br />
umfasste den Griff so feste, dass die Knöchel hellgrün hervortraten<br />
und rannte zurück zur Tür, wo er, die Hand wie ein<br />
Schirm über den Augen haltend, durch das kleine Bullauge<br />
starrte. „Ich kann nichts sehen.“, sagte er. „Vielleicht schaffen<br />
wir es ja. Vielleicht denken sie, das falsche Haus erwischt zu<br />
haben – nein, doch nicht.“ Er kam wieder zurück, stolperte<br />
über eine Kiste, fiel hin, rappelte sich wieder auf und fluchte.<br />
Melissas ganzer Körper zitterte vor Anspannung. „Wo sind<br />
sie?“<br />
„Sie kommen.“, sagte er. „Sie kommen.“ Er wusste nicht, was<br />
er tun sollte.<br />
„Fayar.“, sagte Melissa leise. „Wie konnten sie uns nur finden?<br />
Nach all den Jahren?“<br />
„Ich weiß es nicht.“<br />
„Was tun wir jetzt? Es wird nie aufhören, nie!“ Sie schwitzte,<br />
am ganzen Körper verkrampft. Es war die nackte Panik. Ramina<br />
war erstaunlich ruhig. Sie riss sich von ihrer Mutter los<br />
und stand auf. Drinnen im Haus hörte sie das dumpfe Poltern<br />
umgeworfene Stühle und Tische. Entfernte Rufe drangen zu<br />
ihnen.<br />
„Wir schaffen es.“, sagte Fayar feste. „Wir haben es immer<br />
73
geschafft, heute kriegen sie uns auch nicht. Wir müssen nur<br />
zusammenhalten. Melissa.“, sagte er. „Schön tief durchatmen,<br />
okay?“ Er holte tief Luft, zeigte es ihr. „So ist gut. Na los ...<br />
tief durchatmen.“<br />
Melissa nickte, versuchte auf ihn zu hören. Sie atmete kurz<br />
durch. Dann fing sie wieder an zu keuchen. Tränen rannen ihr<br />
über die Wange.<br />
„So ist gut, Melissa, jetzt noch einmal ...“<br />
Noch ein Atemzug. Und ihre Atmung wurde langsamer. Sie<br />
hörte auf zu zittern.<br />
„Okay, Melissa, so ist gut.“<br />
Hinter ihm sagte Ramina: „Ich habe immer gewusst, dass sie<br />
schwach ist. Sieh dir das an, Vater, man muss mit ihr reden,<br />
wie mit einem kleinen Kind.“<br />
Fayar sah nach hinten, warf seiner Tochter einen bösen Blick<br />
zu. Sie zuckte bloß mit den Schultern. „Ich habe doch Recht.“<br />
Fayar sah wieder seine Frau an, sprach ruhig auf sie ein. „Sehr<br />
schön, Melissa. So ist gut, tief atmen. Bleib ganz ruhig.“<br />
„Sie werden euch holen, Fayar. Sie werden euch nach Orion<br />
bringen und mich töten.“<br />
Ramina wurde hellhörig.<br />
„Das werden sie nicht.“, sagte Fayar. „Sie können unsere Familie<br />
gar nicht trennen. Vertrau mir!“<br />
Ramina lief durch den Raum, zu dem Bullauge. Sie spähte<br />
hinaus. Im der Dunkelheit sah sie grüne Gestalten im Verbindungsgang.<br />
Weiter hinten, im Flur trat einer von ihnen die Tür<br />
zu ihrem Zimmer ein und stürmte bewaffnet in den Raum.<br />
„Sie kommen.“<br />
Fayar rief: „Nein, nein! Weg von den Fenstern!“<br />
„Aber-“<br />
„Weg von den Fenstern, Ramina.“<br />
Gut verstecken konnte man sich im Bunker nicht, weiß Gott<br />
nicht. Melissa kroch unter das Waschbecken und drängte sich<br />
an die Wand. Ramina schlüpfte in eine dunkle Ecke des Rau-<br />
74
mes, drückte sich in die Lücke zwischen zwei Regalen, die<br />
einander nicht ganz berührten. Sie war nur noch vom Westfenster<br />
aus zu sehen – und auch dann nicht so ohne weiteres.<br />
Kluges Mädchen, dachte Fayar stolz. Ramina wusste immer<br />
was zu tun war. Er selbst ließ sich im Hauptraum hinter einem<br />
Karton mit Vorräten auf die Knie fallen. Der Karton war nicht<br />
groß genug, um seiner eindrucksvollen, muskulösen Gestalt<br />
Deckung zu geben – seine Füße lugten hervor, aber ebenso<br />
wie Ramina war er nicht leicht zu sehen. Von draußen musste<br />
man schon einen bestimmten Winkel durch das Nordfenster<br />
schauen, um ihn zu entdecken. Jedenfalls besser als gar nichts.<br />
Von seiner Kauerposition aus konnte er Melissa unter dem<br />
Waschbecken gerade so sehen. Ramina gar nicht, dafür musste<br />
er den Kopf um die Ecke des Kartons schieben. Als er nach ihr<br />
sah, wirkte sie ruhig, gefasst. Fayar zog den Kopf zurück und<br />
wartete, stumm betend. Im Haus war es ruhig geworden. Kein<br />
Poltern mehr. Keine gerufenen Befehle. Gar nichts. Sie hörten<br />
nur das Summen der Klimaanlage. Zehn oder fünfzehn Sekunden<br />
verstrichen. Fayar konnte das Mondlicht durch das<br />
Nordfenster über dem Waschbecken fallen sehen. Es warf<br />
links von ihm ein weißes Rechteck auf den Boden.<br />
Er hörte Melissa sagen: „Was ist, wenn sie Scanner haben?“<br />
Fayar legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den<br />
Kopf. Er sah nach Ramina. Sie formte etwas mit den Lippen.<br />
Etwas wie: „Sie spinnt!“<br />
„Ramina?“, sagte Melissa. Sie konnte ihre Tochter von ihrer<br />
Position aus auch nicht sehen. „Egal wie das hier endet, ich<br />
möchte, dass du weißt ... dass es mir leid tut. Und das ich dich<br />
liebe.“<br />
Ihre Hoffnung auf eine Antwort blieb aus. Ramina schwieg.<br />
Sie warteten. Nichts geschah. Fayar war so konzentriert, dass<br />
er zunächst gar nicht merkte, dass das helle, weiße Rechteck<br />
auf dem Boden in der Mitte dunkler wurde, dann wieder heller<br />
und dunkler. Schatten huschten über den Boden. Sie waren<br />
75
draußen am Bunker, gingen am Fenster vorbei. Jemand blieb<br />
dort stehen. Melissa fing an zu stöhnen. Und dann verschwand<br />
die Gestalt vom Fenster, so rasch, wie sie gekommen war. Das<br />
Mondlicht strömte wieder herein. Niemand rührte sich. Sie<br />
warteten. Augenblicke später wurde das Fenster an der Westwand<br />
dunkel, auf die gleiche Art. Und dann verschwanden<br />
auch dort die Männer wieder.<br />
Stille.<br />
Sie kamen nicht herein. Fayar hielt es für möglich – zum ersten<br />
Mal für möglich -, dass sie es diesmal wirklich schaffen<br />
konnten. Dass die Suchmannschaften des Orion einfach weiterziehen<br />
und woanders nach ihnen suchen würden. Und dann<br />
brach von einer Sekunde zur anderen die Hölle los.<br />
Melissa rannte weg. Fayar wollte gerade zu Ramina krabbeln,<br />
als Melissa voller Panik losstürmte, die Tür zum Wald aufstieß<br />
und den orionischen Soldaten, die dahinter lauerten, direkt<br />
in die Arme lief. Sie schienen überrascht und gerade wieder<br />
abziehen zu wollen.<br />
Die Soldaten rissen die Augen auf, zerrten Melissa zurück in<br />
den Bunker und luden ihre Gewehre durch. Ramina wurde<br />
grob zur Seite, durch eine morsche Holztür nach draußen gestoßen.<br />
Hart schlug sie auf dem nassen Rasen auf. Sie keuchte,<br />
rappelte sich aber sofort auf. Weitere Soldaten stürmten in den<br />
Bunker hinein. Ramina kam auf die Beine, wollte zurück in<br />
den Bunker laufen, wurde aber sofort umzingelt und gepackt.<br />
Und als die Männer sie fort zogen, hörte sie ihren Vater einen<br />
Kampfschrei von sich geben. Kurz darauf erfolgten Schüsse,<br />
noch mehr Schreie – diesmal eindeutig von ihrer Mutter.<br />
Ein durcheinander aus Stimmen.<br />
Ein letzter Schuss.<br />
Dann war es plötzlich sehr still. Ramina konnte nicht sehen,<br />
was im Bunker geschah, aber das war auch gar nicht erforderlich,<br />
denn sie war sich völlig bewusst darüber, dass ihre Mutter<br />
nicht mehr lebte. Und mit nüchterner Distanz stellte Rami-<br />
76
na fest, dass sie diese Erkenntnis nicht schockte. Keine Bedauern,<br />
kein Schmerz. Gar nichts.<br />
Während sie die Hügelflanke hinaufgeschoben wurde, warf sie<br />
einen Blick zurück und sah, wie ihr Vater aus dem Bunker gezogen<br />
wurde. Er rührte sich nicht, schien aber am Leben zu<br />
sein, da sie glaubte zu sehen, wie sich sein Brustkorb hob und<br />
senkte.<br />
Man brachte ihn fort.<br />
Ramina wehrte sich nicht, als die orionischen Soldaten sie<br />
flankierten und zu einem wartenden Schiff außerhalb des<br />
Grundstücks brachten. Sie versuchte nicht einmal zu fliehen,<br />
aber darin sah sie auch keine Erforderlichkeit. Denn auch,<br />
wenn sie gerade möglicherweise ihre Familie verloren hatte;<br />
Ramina war nun nicht allein, ganz im Gegenteil. Sie war unter<br />
ihres Gleichen und dort würde sie es mit Sicherheit besser haben.<br />
Viel besser.<br />
Jemand stieß sie in das kleine Raumschiff hinein, die Soldaten<br />
kamen nach. Ramina kletterte auf einen der Sitze. Und als das<br />
Schiff abhob und ihr Heim – eines unter vielen in den vergangenen<br />
Jahren – immer kleiner wurde, musste Ramina lächeln.<br />
77
Ebene<br />
Dike fuhr. Er war unruhig. Inzwischen eierte der Jeep nicht<br />
mehr so heftig wie zuvor, die Reifen hatten sich einigermaßen<br />
glatt gefahren. Von der Stabilität des Jeeps war er beeindruckt<br />
– und trotzdem. Auch wenn es stimmte, dass dieses Fahrzeug<br />
technisch unkompliziert und robust war, war sich Dike doch<br />
bewusst, dass es immer ein Risiko war, ungetestetes Gerät in<br />
den Einsatz zu schicken.<br />
Vor allem, wenn dieses Gerät auf modernster Technik basierte.<br />
Und dieser moderne Jeep hier war noch nie im Bodeneinsatz<br />
gewesen. Vor allem zwei Dinge bereiteten ihm Sorgen.<br />
Zum einen, die schwarzen Solarplatten mit ihren Reihen aus<br />
achteckigen Siliziumscheiben auf dem Dach. Viele von ihnen<br />
hatten den Säureregen nicht überstanden und andere könnten<br />
in der nächsten Zeit noch ausfallen. Sie mussten äußerst sparsam<br />
vorgehen. Pausen machen. Sonst würden sie festhängen.<br />
Und wenn noch mehr der Platten zerstört würden, hatten sie<br />
keine Energie mehr für das Fahrzeug oder die anderen technischen<br />
Geräte. Alle Systeme würden zusammenbrechen.<br />
Seine andere Sorge galt den Batterien selbst. Die Techniker<br />
hatten sich beim Einbau für die neuen Trelitan-Batterien entschieden,<br />
die zwar ein hervorragendes Gewicht-Leistungs-<br />
Verhältnis hatten, sich aber noch im Experimentierstadium befanden,<br />
was für Dike nur eine höfliche Umschreibung für „unzuverlässig“<br />
war.<br />
Dike schüttelte den Kopf. Dieses Gerät war dazu gedacht, für<br />
kurze Zeit an Bodenoperationen teilzunehmen, zum Schiff zu-<br />
78
ückzukehren und dort mithilfe der Schiffsenergie wieder aufgeladen<br />
zu werden. Weder Batterien, noch Solarzellen sollten<br />
lange beansprucht werden. Aber wie es momentan aussah,<br />
würden sie es diesmal werden. Ihre Leben hingen sogar davon<br />
ab.<br />
Dike hatte sich sogar gewünscht, dieses Fahrzeug endlich mal<br />
testen zu können, aber hier? Auf diesem Mond und unter diesen<br />
Umständen? Nein, ganz sicher nicht. Er warf einen kurzen<br />
Blick in den Rückspiegel. Das Basislager sah er schon lange<br />
nicht mehr. Jetzt beschlich ihn das unbehagliche Gefühl der<br />
Isolation, des ausgesetztseins auf diesem gottverlassenen<br />
Mond, in dieser gottverlassenen Ebene. Etwa eine viertel<br />
Stunde lang führte der Weg durch orange-roten Wüstenboden<br />
abwärts. Es wurde unangenehm warm, je höher die Sonne<br />
stieg. Penkala neben ihm seufzte. „Belüftungssystem?“<br />
„Ich will die Batterien nicht überlasten.“<br />
Penkala lehnte sich zurück. Warmer Wind zerzauste sein volles<br />
Haar. „Nervös, Dike?“<br />
„Klar.“, brummte Dike. „Natürlich bin ich das.“ Er spürte, wie<br />
ihm der Schweiß die Brust hinunterlief. „Erst recht, wenn man<br />
bedenkt, was letzte Nacht geschah. Und dann sind wir auch<br />
noch mit ungetestetem Gerät unterwegs.“<br />
Schließlich wurde die Straße wieder flacher. Sie konnten etwas<br />
schneller fahren.<br />
„Das Auto ist in Ordnung.“, sagte Penkala. „Wie ist der Energiepegel?“<br />
„Normal.“, antwortete Dike. „Aber wir sind erst ein paar Meilen<br />
gefah-“<br />
Plötzlich verlangsamte er den Wagen. Schließlich blieben sie<br />
stehen. Dike runzelte die Stirn und lauschte angestrengt.<br />
„Was ist los?“, fragte Penkala.<br />
„Hörst du das auch?“<br />
Penkala runzelte ebenfalls die Stirn. Nun hörte er es. Ein grollen,<br />
von weiter Ferne. Zunächst hätte er ein weiteres Gewitter<br />
79
vermutet, aber so viele Wolken standen nicht mehr am Himmel.<br />
Und es war etwas anderes. Allmählich spürte Penkala,<br />
wie der Jeep wackelte. Vibrationen durchfuhren den Boden.<br />
Wurden zu einem Beben. Und dann brach etwas gewaltiges<br />
einige Kilometer vor ihnen durch den Boden, begleitet von einem<br />
unheimlichen, laut dröhnenden, Nebelhornartige Geräusch,<br />
dass durch Mark und Bein ging. Es war dasselbe, wie<br />
an ihrem ersten Abend auf dem Mond.<br />
Dieses Geräusch!<br />
Dieses markerschütternde Geräusch!<br />
Irgendetwas großes bohrte sich durch die Ebene nach oben<br />
und erstarb dann plötzlich, als hätte eine unterirdische Explosion<br />
stattgefunden, die einfach erstickte. Der aufgedunsene<br />
Boden, fiel schlagartig in sich zusammen. Eine Schockwelle<br />
raste unterirdisch durch die Ebene.<br />
Direkt auf sie zu!<br />
„O Scheiße!“, schrie Dike, schlug den Rückwärtsgang ein und<br />
trat das Gaspedal durch. Sie brausten achtern zurück, die<br />
Schockwelle verfolgte sie, holte sie ein und schüttelte den<br />
Wagen ordentlich durch. Für einen schrecklichen Moment<br />
glaubte Dike, der Jeep würde umgeworfen werden. Mit einem<br />
kurzen Schlenker, brachte er den Wagen aber in die Welle<br />
hinein. Erst wurden die Vorderräder hochgeworfen, unmittelbar<br />
darauf die Hinterräder. Penkala hatte sich nicht angeschnallt.<br />
Er knallte gegen einen Überrollbügel. Blut rann ihm<br />
über die Stirn.<br />
Dann war es vorbei, die Schockwelle zog weiter, bis sie<br />
schließlich zu schwach wurde und erstarb. Der Wagen stand<br />
still. Sekunden später war die ganze Ebene wieder leise. Kein<br />
Vogelgeschrei, kein Kreischen unterirdischer Schockwellen.<br />
Kein Nebelhorn-Geräusch. Dikes Herz hämmerte gegen die<br />
Brust. Ihm rann der Schweiß über die Stirn. Langsam, ganz<br />
langsam, drehte er den Kopf zu Penkala. Seine Nase blutete<br />
80
leicht. Er versuchte das Blut zurückzuhalten und dabei wurden<br />
seine Hände rot.<br />
„Alles in Ordnung?“<br />
Penkala nickte blass. „Wo sind wir hier nur gelandet?“<br />
Im Lager war zu hören, wie das unheimliche Geräusch langsam<br />
verklang, dann herrschte eine unheimliche Stille. Die<br />
Vibrationen im Boden hörten auf.<br />
Brenda Isaac sah zur Ebene und beobachtete, wie dreiköpfige<br />
Vögel aufgescheucht davon stoben. Genau wie beim ersten<br />
mal, dachte sie. Die Transportertechnikerin beschloss, sich<br />
doch nicht vom Lager zu entfernen und wandte sich wieder<br />
um. Sie balancierte auf ein paar Steinen zu den Kapseln zurück.<br />
Nach dem Hallie erwacht war und darauf bestanden hatte das<br />
Lazarett zu verlassen, hatte sich Roe alle Mühe gegeben ihr<br />
ein paar notdürftige Krücken zu bauen. Nun war Hallie durch<br />
das Lager spaziert und beobachtete Isaac dabei, wie sie zurückkam.<br />
„Was ist los?“, fragte sie besorgt.<br />
„Haben Sie das eben auch gehört?“<br />
Sie runzelte die Stirn. „Vögel?“<br />
Isaac schüttelte den Kopf. „Das waren keine Vögel.“<br />
Hallie entging nicht die Tatsache, dass Isaac die Knie zusammenkniff<br />
und dabei eine Grimasse schnitt. „Müssen Sie?“<br />
„Ja. Schon wieder.“ Sie nickte zur Ebene. „Aber ich geh da<br />
nicht raus. Wir sollten uns irgendwas einfallen lassen. Möglichst<br />
bald, sonst haben wir hier ein wahres Toilettenproblem.<br />
Es richt schon sehr streng. Ich würde ungern in einem Basislager<br />
hausen, in dem es nach Urin stinkt. Gestrandete zu sein,<br />
heißt noch lange nicht, dass es nötig ist, zu Barbaren zu werden,<br />
aber wie immer denkt niemand von denen darüber nach<br />
und die Männer verhalten sich natürlich, als müssten sie hier<br />
überall ihr Revier markieren und-“ Sie stoppte mitten im Satz,<br />
81
lies die Schultern hängen und seufzte schwer „Tut mir leid.<br />
Das sind wirklich keine Gesprächsthemen.“<br />
„Ist schon in Ordnung.“<br />
„Vielleicht habe ich einfach zu viel Zeit zum nachdenken,<br />
Hallie. Ich komme an der Kommunikationsbake kein Stück<br />
weiter und bin ansonsten als Transporterchief hier völlig überflüssig.“<br />
„Brenda, wir sind alle überflüssig. Die Piloten haben nichts<br />
zum Fliegen, uns Sicherheitsoffiziere fehlen die Waffen, den<br />
Technikern fehlt es an funktionierendem Gerät. Die einzigen,<br />
die momentan wirklich was zu tun haben, sind Roe und Smith<br />
und ich wette, die würden gerne mit uns tauschen.“<br />
Isaac sah zum Lazarett und beobachtete das aufgeregte Treiben<br />
dort. Vor ein paar Minuten hatten sie irgendjemanden gefunden.<br />
Weitere Überlebende.<br />
„Wer waren die Beiden?“, fragte sie schließlich.<br />
„Ramina und ein Cardassianer.“<br />
„Der cardassianische Führer und der einsame Wolf?”<br />
„Schaut so aus, ja.“<br />
„Ich hätte mir andere Leute gewünscht.“ Sie starrte in die Ferne,<br />
versuchte dort den Jeep auszumachen.<br />
„Ihre Wünsche vermanifestieren sich, Brenda.“<br />
Isaac runzelte die Stirn und begegnete Hallie’s Blick. Die Frau<br />
starrte auf die Hügelkette. Und dann hörte sie Hallie monoton<br />
sagen: „Wir haben Gesellschaft.“<br />
Penkala und Dike saßen im Jeep und starrten auf die Ebene<br />
hinaus. Sie sahen zu, wie die Pflanzen im warmen Wind wehten.<br />
Irgendetwas hatte die Erde der Ebene umgewälzt und vor<br />
ihnen ein kleines, kreisrundes Tal geschaffen. Umgestürzte<br />
Felsen bröckelten das Gefälle herunter.<br />
„Hast du dafür eine Erklärung?“, fragte Dike. „Unterirdische<br />
Monster vielleicht?“<br />
82
„Ganz und gar nicht.“, erwiderte Penkala. „Auch wenn es<br />
mich nicht überraschen würde. Ich bin kein Geologe, aber das<br />
könnte doch einfach ein instabiles Erdreich hier sein, oder<br />
nicht? Es gibt sicher eine vollkommen vernünftige Erklärung<br />
für das, was wir hier sehen.“<br />
„Ein Erdrutsch macht nicht solche Geräusche.“, sagte Dike.<br />
„Das war ein Riesenregenwurm, ich sag es dir.“<br />
Penkalas Augen verengten sich. „Ein Regenwurm?“<br />
„Hast du noch nie Dune gelesen? Oder die Holo-Vids gesehen?<br />
Diese riesigen Regenwürmer-“<br />
„Das waren ganz sicher keine Regenwürmer, Dike. Ich habe<br />
mal die Zündung einer Antimateriebombe in einem kilometertiefen,<br />
unterirdischen Stollen gesehen. Das hatte eine ähnliche<br />
Wirkung, wie das hier, aber dieses Geräusch...“ Er schüttelte<br />
den Kopf. „Ich bin sicher wir werden-“<br />
Vom Tricorder kam plötzlich ein schrilles Piepen. „Das ist<br />
sie!“, sagte Penkala.<br />
„Nechayev?“<br />
„Ja. Zwei Lebenszeichen. Menschlich. Das müssen sie sein.“<br />
„In welche Richtung?“<br />
Penkala drückte auf dem Gerät herum, bis er eine schematische<br />
Darstellung des Umlandes aufgerufen hatte. Ein rotes<br />
Kreuz zeigte ihre Position an. Ein gelbes, dass der beiden Lebenszeichen.<br />
Er deutete auf eine Hügelkette abseits der Ebene.<br />
„Dort entlang.“<br />
Dike startete den Motor. „Holen wir sie und verschwinden von<br />
hier!“ Er trat das Gaspedal durch.<br />
Allan stand mit Judy und Crocker vor dem Lazarett und versuchte<br />
durch die getönten Scheiben einen Blick hineinzuwerfen.<br />
Er glaubte die Umrisse Roe’s zu erkennen, war sich aber<br />
nicht sicher. Der Sanitäter und Smith kümmerten sich gerade<br />
um die beiden Neuankömmlinge.<br />
83
„Sind sie tot?“, fragte das Mädchen.<br />
D’Agosta legte einen Arm um Judys Schulter. „Nein, Spätzchen.<br />
Lediglich erschöpft.“<br />
Crocker verzog das Gesicht. Er sah unauffällig zu einem abgelegenen<br />
Bereich jenseits des Lagers. Sie hatten die Toten nach<br />
dem Absturz dorthin gelegt und mit einer Plane abgedeckt.<br />
Eigentlich hatten sie die Toten beerdigen wollen, aber in der<br />
Nacht sollten sie sicht ja nicht vom Lager entfernen und der<br />
Säureregen hatte nun nicht nur einen Toten mehr unter eine<br />
der Decken gebracht, nein er hatte die übrigen Leichen auch<br />
noch geschunden und halb zersetzt. Die Plane hing nur noch in<br />
Fetzen über den Körpern und flatterte im Wind. Die Verwesung<br />
hatte bereits eingesetzt. Ein schrecklicher Gestank ging<br />
von den toten Körpern aus. Crocker fragte sich, ob es nur ihm<br />
auffiel.<br />
Oder aber die anderen sagten einfach nichts. Der Gestank hatte<br />
noch weitere Nachteile: Er zog wilde Tiere an. Als er vorhin<br />
mit Garnere’s Hilfe T´Mir zu dem Platz getragen hatte, war<br />
ihm aufgefallen, dass sich bereits einige dieser dreiköpfigen<br />
Vögel an den Leichen zu schaffen gemacht hatten. Eine fehlte<br />
sogar gänzlich. Crocker vermutete, die chamäleonartigen<br />
Raubtiere hatten sie in der Nacht fortgeschleift. Er seufzte.<br />
„Jetzt wo ich dran denke ... da gibt es noch eine wichtige Sache<br />
zu tun.“<br />
D’Agosta gab das Unterfangen, in die Kapsel zu sehen, auf<br />
und drehte sich zu Crocker. „Was denn?“<br />
„Nun, was machen wir mit ... Sie wissen schon.“<br />
D’Agosta runzelte die Stirn und versuchte etwas aus Crockers<br />
Mine herauszulesen. Der Chief zog ein verdrossenes Gesicht.<br />
Sah zuerst ihn an, dann Judy, dann einen Bereich hinter dem<br />
Lager.<br />
„Nein, ich weiß nicht. Was meinen Sie denn?“<br />
„Allan...“<br />
„Hm?“<br />
84
„Nun ja, die ... die ...“<br />
„Dad.“, rollte Judy mit den Augen. „Er meint die Toten.“ Auf<br />
Crockers erstaunten Blick schüttelte sie genervt den Kopf.<br />
„Ich bin kein kleines Kind mehr.“<br />
Die verdammte Jugend, dachte Crocker! Sie nehmen nichts<br />
mehr ernst. „Aye, die Toten. Was sollen wir mit ihnen machen?“<br />
D’Agostas Augen weiteten sich. Nun sah auch er kurz in die<br />
Richtung in der die Leichen lagen. „Oh. Hat Nechayev irgendetwas<br />
darüber gesagt?“<br />
„Nein, hat sie nicht.“<br />
„Hm. Ich würde sagen, wir begraben sie, oder?“<br />
„Das könnte Tiere anlocken.“, sagte Crocker.<br />
„Verbrennen ebenfalls. Wir... wir vergraben sie.“<br />
„Okay.“<br />
„Kümmern Sie sich drum?“<br />
Crockers Schultern sanken etwas tiefer. „Aye.“<br />
Dann öffnete sich die Luke zum notdürftigen Lazarett. Eine<br />
erschöpfte Rhonda Smith trat zu ihnen hinaus und strich sich<br />
kurz durch das zerzauste Haar. Einzelne Strähnen hingen ihr<br />
ins Gesicht. D’Agosta trat ungeduldig von einem Bein auf das<br />
andere. „Wie geht es ihren Patienten, Doktor?“<br />
„Sie werden sich erholen.“, entgegnete Smith. „Der cardassianer<br />
hat starke Prellungen und Schürfwunden erlitten. Ich kann<br />
hier nicht viel für ihn tun, aber sein Zustand ist stabil.“<br />
„Und Ramina?“<br />
„Sie ist erschöpft, dehydriert und leidet unter erheblichen<br />
Kopfschmerzen. Vorhin hat sie sich übergeben. Ich will mich<br />
aber noch nicht festlegen, erst will ich von Roe eine zweite<br />
Meinung einholen.“ Smith erspähte die Feldflasche an Crockers<br />
Gürtel und deutete darauf. „Kann ich..?“<br />
„Klar.“ Crocker reichte ihr die Flasche. Smith schraubte den<br />
Deckel auf und trank etwas. Sie schloss die Augen, während<br />
die kühle Flüssigkeit ihre trockene Kehle hinunterrann. In den<br />
85
letzten Stunden hatte sie kaum Zeit gehabt zu schlafen, geschweige<br />
denn, etwas zu essen, oder zu trinken. Es war eine<br />
Wohltat.<br />
„Kann ich mit ihr sprechen?“, fragte D’Agosta.<br />
„Nein, vorerst nicht. Sie braucht Ruhe. Dringend. Geben sie<br />
ihr ein wenig Zeit sich zu erholen. Die orionische Physiologie<br />
ist sehr wiederstandskräftig, sie wird schon wieder. Aber bis<br />
dahin braucht sie Schlaf.“<br />
D’Agosta seufzte. „Ist sie zu sich gekommen, hat sie irgendetwas<br />
gesagt?“<br />
Smith schraubte den Deckel wieder zu und gab die Flasche an<br />
Crocker zurück, während sie einen kurzen Blick über die<br />
Schulter warf. Ramina lag auf dem Hauptbett. Der Cardassianer<br />
auf dem Bett neben Hawk.<br />
„Nein.“, sagte Smith nur. In Wahrheit wusste sie mehr. Es hatte<br />
so ausgesehen, als habe Ramina irgend wovor Angst, denn<br />
sie hatte sich eben erst im Schlaf herumgeworfen und immer<br />
wieder etwas von Phaserfeuer und Mistkerlen gemurmelt. Roe<br />
hatten das bei seiner Diagnose zunächst auf das Trauma zurückgeführt,<br />
dass sie zweifellos durch ihre Verletzungen erlitten<br />
hatte. Smith jedoch hatte den Eindruck, dass Ramina einen<br />
ganz realen Vorfall noch einmal durchlebte. „Nein, sie hat<br />
nichts gesagt.“<br />
D’Agosta seufzte. „Es muss mehr Überlebende geben!“<br />
Isaac kam angelaufen. „D’Agosta!“<br />
„Bitte informieren Sie mich, sobald ich mit ihr sprechen kann,<br />
Doktor.“<br />
„Natürlich.“<br />
„D’Agosta!“, rief die Frau und kam durch das Lager gerannt.<br />
„Was ist?“<br />
„Wir sind nicht länger allein.“<br />
86
Besuch<br />
Der Jeep blieb vor einer Anhöhe stehen. Direkt vor ihm ragten<br />
breite Felsen aus dem sandigen Untergrund. Etliche, feuerrote<br />
Blätter verwuchsen zu einer dichten Vegetation. Dort konnten<br />
sie nicht hineinfahren. Von Nechayev oder Nottingham fehlte<br />
jede Spur. Dike stieg aus und Penkala folgte seinem Beispiel.<br />
In der Entfernung drang das leise Kreischen irgendeines Tieres<br />
zu ihnen herüber.<br />
„Und?“, fragte Dike.<br />
Penkala klappte den Tricorder zu und warf ihn auf seinen Sitz.<br />
„Energiezellen sind leer. Aber sie müssen hier irgendwo sein.“<br />
Als er sich in der Umgebung des Jeeps umsah, entdeckte er<br />
auf dem Boden Fußspuren. Asolo-Profil - Sternenflottenstiefel.<br />
Die von Frauen- und von Männerstiefeln. Und sie führten<br />
den Hügel hinauf, in diesen Blätterdschungel.<br />
Alex Penkala fluchte. Er hatte absolut keine Lust, in diesen<br />
Dschungel zu gehen.<br />
Bei der Vorstellung lief es ihm kalt den Rücken herunter. Aber<br />
hatte er eine andere Wahl? Er sollte Nechayev zurückholen.<br />
Für einen Moment überlegte er, ob sie einfach umkehren und<br />
D’Agosta sagen sollten, sie hätten niemanden gefunden, wusste<br />
aber sogleich, dass er es nicht tun würde. Nechayev! Diese<br />
Frau war ein echtes Problem. Was zum Teufel tat sie hier<br />
draußen?<br />
Penkala tastete nach seiner Stirnwunde. Sie schmerzte. Aber<br />
die Blutung hatte aufgehört. Er drehte sich zu Dike. „Bleib im<br />
Jeep. Ich sehe mich um.“<br />
„Sei vorsichtig.“, sagte Dike nur.<br />
87
Penkala grunzte und trat ins Halbdunkel des Blätterwaldes.<br />
Mit vor Aufregung klopfendem Herzen schob Nechayev die<br />
letzte der großen roten Blätter beiseite. Und lächelte. Direkt<br />
vor ihr auf einer Lichtung auf dem Hügel, umringt von knorrigen<br />
Felsen stand ein Schiff. Ein Shuttle der Sternenflotte.<br />
Kleiner als ein Runabout, aber auch wieder größer, als die<br />
normalen Typ-5-Shuttles. Das Schiff war beschädigt und<br />
machte einen heruntergekommenen Eindruck. Die Außenhülle<br />
war zerkratzt, Blätter lagen auf dem Dach verstreut und in der<br />
linken Antriebsgondel klaffte ein kleiner Einschlagskrater. Es<br />
lag schon eine ganze Weile auf dem Planeten. Mindestens fünf<br />
Monate.<br />
Unter dem rechten Flügel erstreckte sich ein großes Spinnennetz.<br />
Eine Libelle hatte sich darin verfangen und zitterte kontinuierlich<br />
mit den Flügeln, ohne frei zu kommen. Obwohl<br />
kein Zweifel mehr bestand, sah Nechayev trotzdem noch einmal<br />
auf ihr Scannergerät. Das Signal ging eindeutig von dem<br />
Schiff aus. Es verfügte noch immer über Energie. „Wir haben<br />
es gefunden.“, sagte sie begeistert.<br />
Nottingham kniete sich neben sie. „Meinen Sie es fliegt<br />
noch?“<br />
Die Beschädigungen waren offenbar stark. Es sah aus, als sei<br />
etwas großes gegen das Schiff gestoßen und hätte die Außenhülle<br />
an Steuerbord eingedrückt. Nechayev war nicht bereit,<br />
Wetten auf dieses Schiff abzugeben.<br />
„Viel wichtiger ist, was seine Sensoren entdeckten. Wieso es<br />
immer noch das Signal sendet.“, sagte sie. „Endlich Ian. Wir<br />
können es schaffen – so schlecht unsere Situation aus aussehen<br />
mag.“<br />
„Nach der Destabilisierung Omegas im Orbit, könnte die Sternenflotte<br />
die Mission abbrechen wollen.“<br />
88
„Und wenn schon. Ich brauche die Erlaubnis der Sternenflotte<br />
nicht, um für sie Entscheidungen zu treffen.“<br />
„Was ist mit der ersten Gruppe?“<br />
„Keine Ahnung.“, sagte Nechayev. „Ist auch völlig egal.<br />
Wichtig ist nur, was sie gefunden haben. Was sich im Datenspeicher<br />
dieses Schiffes befindet.“ Sie wollte aufstehen, über<br />
die Lichtung zum Schiff gehen, als sie Nottinghams Hand auf<br />
ihrer Schulter spürte. Er zog sie sanft wieder zurück. Fragend<br />
sah sie ihn an. Nottingham hielt einen Finger vor dem Mund<br />
und lauschte aufmerksam. Nechayev wollte etwas sagen, aber<br />
Nottingham hob die Hand und bedeutete ihr zu schweigen.<br />
Alles war ruhig.<br />
„Jemand ist hier.“, flüsterte er kaum hörbar.<br />
„Ein Tier?“<br />
Nottingham lauschte angestrengt. Das Geräusch kam von der<br />
Hügelseite hinter ihnen<br />
Dann hörte auch sie es endlich – ein leises Surren, wie von einer<br />
Biene.<br />
„Nein.“, sagte Nottingham. „Ein Jeep.“<br />
„Sie sind uns gefolgt?“<br />
„Penkala.“, vermutete Nottingham.<br />
Nechayevs Blick wechselte zwischen dem Schiff vor ihnen<br />
und dem Blätterwald. Dann nickte sie Nottingham düster zu.<br />
„Finden Sie ihn. Kümmern Sie sich drum.“<br />
Und lautlos wie eine Katze schlich Nottingham in den<br />
Dschungel zurück, während Nechayev zum Schiff ging.<br />
Penkala lauschte. Dann ging er weiter, rote Blätter vor sich<br />
wegschlagend, tiefer in diesen Mini-Wald hinein. Das Gefühl<br />
der Isolation, des Eintauchens in eine urtümliche Welt war<br />
nun zum Greifen nahe. Sein Herz klopfte heftig, während er<br />
den nicht steilen, aber weiten Hang hinaufkletterte. Penkala<br />
lief leicht gebeugt, wie ein schleichendes Tier. Er hatte keine<br />
89
Ahnung, was er machen sollte, falls noch einmal ein wildes<br />
Raubtier wie diese Chamäleons auftauchte. Waffen hatte er<br />
keine bei sich und solche Monster ließen sich kaum mit Fäusten<br />
beeindrucken. Auf einem Zwischengrat klaffte eine Lücke<br />
im Laubwerk und Penkala spürte eine warme Brise. Von dort<br />
aus konnte er über die gesamte Ebene blicken. Den Jeep unten<br />
sah er allerdings von hier aus nicht. Dennoch, die Aussicht<br />
war großartig. Öde. Aber großartig.<br />
„Nett.“, murmelte er. „Wirklich nett.“<br />
„Nicht wahr?“<br />
Penkala wirbelte herum. Hinter ihm war wie aus dem Nichts<br />
Nottingham aufgetaucht. Er hatte absolut keine Geräusche<br />
gemacht. Der Mann in der schwarzen Kluft verschmolz fast<br />
vollständig mit dem schattigen Hintergrund. Er hatte den Kopf<br />
gesengt, starrte Penkala diabolisch an und öffnete und schloss<br />
die Hände zu Fäusten.<br />
„Mein Gott, Nottingham!“, stieß Penkala wütend aus. Adrenalin<br />
wurde durch seinen Körper gepumpt. Nottingham sagte<br />
nichts. Er stand einfach nur da. <strong>Star</strong>rte Penkala an.<br />
„Wir dachten schon, sie wären in dem Regen umgekommen.“<br />
„Uns geht’s gut.“<br />
„Wo ist Admiral Nechayev?“<br />
„In der Nähe.“<br />
Penkala trat einen Schritt vor Nottingham zurück. Ein Ast zerbrach<br />
und knackte unter ihm, was Penkala einen leichten<br />
Schreck einjagte. Nottingham stand ruhig da. Lauernd.<br />
Penkala deutete über die Schulter. „Steigen Sie in den Jeep.“<br />
Für einen kurzen Moment blitzten Nottinghams Augen. „Sie<br />
sind mit dem Fahrzeug hier?“<br />
„Um sie abzuholen, ja. Bitte-“<br />
„Er hat Solarzellen, nicht wahr?“<br />
„Warum fragen Sie?“<br />
„Und somit hat er auch Energie.“ Nottingham trat näher.<br />
90
Penkala sah sich nach irgendwas zum Schlagen um. Ein Stein.<br />
Ein Ast. Ein zufällig anwesender Baseballschläger. Irgendwas.<br />
Aber ihm fiel nichts auf. „Wir sollen sie nur abholen und zurück<br />
zum Lager bringen.“<br />
Nottingham blieb stehen. „Wir?“<br />
„Wir.“, nickte Penkala. „Steigen Sie endlich ein. Wir verschwinden<br />
von hier.“<br />
„Ihr Kollege, Mr. Dike, nicht wahr?“ Nottingham hatte irgendetwas<br />
im Ton. Etwas sehr beunruhigendes. Seine Handschuhe<br />
knarzten, während er die Hände spannte und entspannte.<br />
„Dike, Fowler und Ramirez.“, log Penkala.<br />
„Das sind viele.“<br />
„D’Agostas Sicherheitsvorkehrungen, um die problemlose<br />
Rückkehr des Admirals zu gewährleisten.“<br />
Nottingham starrte ihn mit einem durchdringendem Blick an.<br />
Penkala versuchte ihm standzuhalten. Nach einer Weile lächelte<br />
Nottingham. „Fahren Sie zurück. Sagen Sie D’Agosta,<br />
es geht dem Admiral sehr gut.“<br />
Penkala nickte nur. „Na schön.“ Er trat in den Blätterwald zurück,<br />
drehte Nottingham aber nicht den Rücken zu. „Ach und<br />
Mr. Penkala.“, sagte Nottingham. „Fahren Sie vorsichtig. Ich<br />
möchte nicht, dass ihnen etwas geschieht.“<br />
Dike hob den Kopf, als Alex Penkala stolpernd aus dem<br />
Dschungel sprang. Er ging ungewöhnlich schnell zum Jeep zurück<br />
und warf ständig einen Blick über die Schulter. Er machte<br />
den Eindruck, gerade dem Tod von der Schippe gesprungen<br />
zu sein, war sich aber scheinbar nicht sicher, ob es ihn nicht<br />
doch noch erwischen würde. Dike runzelte die Stirn, während<br />
Penkala auf den Beifahrersitz stieg. „Hast du sie gefunden?“<br />
„Ja.“<br />
„Und...?“<br />
91
„Es geht ihnen gut.“<br />
„Es geht ihnen gut?“<br />
„Sie wollen nicht mit. Fahr zurück.“<br />
„Aber-“<br />
Penkala warf ihm einen bösen Blick zu und schlug die Tür zu.<br />
„Fahr!“<br />
Etwa ein halbes Dutzend, zwei Meter großer Gestalten, lauerten<br />
auf der Hügelkette verteilt und starrten auf das Lager mit<br />
den Fluchtkapseln hinunter. Die Sonne stand hinter ihnen, sodass<br />
man außer groben Umrissen nicht viel erkennen konnte,<br />
aber die Wesen waren stämmig, hatten sehr kurze Arme und<br />
Beine und einen gewaltigen Buckel – der schwere Schädel lag<br />
beinahe direkt über der Brust. Er erinnerte D’Agosta entfernt<br />
an den eines Nashorns – länglich und mit einem massiven, etwa<br />
dreißig Zentimeter langen Horn auf der Nase. Ihre Haut<br />
war schuppig und dunkelblau.<br />
Sie rührten sich absolut nicht, standen einfach da. Und blickten<br />
die verwirrten Offiziere unten im Lager an. Inzwischen<br />
war niemandem mehr entgangen, dass sie von der sichelförmigen<br />
Hügelkette beobachtet wurden. Die Offiziere drängten<br />
sich zusammen und wusste nicht, was sie von den reglos dastehenden<br />
Neuankömmlingen halten sollten.<br />
Judy fröstelte plötzlich, obwohl es sehr warm war. Sie zog den<br />
Reißverschluss ihrer Jacke hoch und trat zwischen Athol und<br />
ihrem Vater.<br />
„Was sind das für welche?“, fragte Allan.<br />
„Gredor.“, kam die rasche Antwort.<br />
Judy stieß den Amphion mit dem Ellenbogen an. „Athol, ein<br />
bisschen ausführlicher bitte.“ Athol lies sich von ihr nicht lange<br />
bitten. „Die Tarkon nennen sie Gredor. Dieser Ausdruck ist<br />
in ihrer Sprache eine Beleidigung. Wir nennen sie Bao-Dur –<br />
92
das verwunschene Volk. Sie sind die Einheimischen dieses<br />
Mondes.“<br />
„Noch vor euch und den Tarkon hier gewesen?“, fragte<br />
D’Agosta.<br />
Athol verschränkte die Arme hinter dem Rücken und nickte.<br />
Er sprach nun leiser. „Sie wurden nahezu vollständig ausgerottet<br />
und führen seither ein Schattendasein als Nomaden. Als<br />
Aussätzige. Und Gejagte.“ Er seufzte schwer. „Als die Tarkon<br />
den Mond eroberten und mit dem Abbau der Bodenschätze<br />
begannen, verschrieen sie die Gredor als niedere Wesen. Als<br />
Tiere.“<br />
D’Agosta runzelte die Stirn. Und dann hörte er Roe sagen:<br />
„Sie sind verstrahlt.“<br />
Er drehte sich zu dem jungen Mediziner um. Roe starrte auf<br />
die Anzeigen eines der wenigen funktionierenden Tricorders<br />
und tippte auf den Tasten herum. Nach einer Weile klappte er<br />
piepende das Gerät zu und sah D’Agosta an. „Die Scanner der<br />
Tricorder arbeiten hier aufgrund der starken Boronit-<br />
Vorkommen im Boden nicht zuverlässig, aber soweit ich das<br />
beurteilen kann, sind ihre Körper von der Untergrundstrahlung,<br />
deformiert. Athol, diese Hautfärbungen auf euren Körpern,<br />
hatte die euer Volk bereits, bevor ihr auf diesen Mond<br />
gebracht wurdet?“<br />
„Nein.“, schüttelte Athol sanftmütig den Kopf.<br />
Roe nickte. „Dachte ich mir.“ Er drehte sich zu D’Agosta.<br />
„Die Strahlung zeigt Auswirkungen erst nach längerer Zeit auf<br />
der Oberfläche. Ich kann’s nicht genau bestimmen. Monate ...<br />
Jahre. Ich weiß nicht. Uns droht vorerst keine Gefahr, bis die<br />
ersten Symptome einer Strahlenkrankheit eintreten, sind wir<br />
längst wieder weg. Aber die Amphion befinden sich schon<br />
sehr lange auf diesem Mond. Die da oben aber offenkundig<br />
noch länger. Sie zeigen bedeutende genetische Mutationen<br />
auf. Genau wie die Skorpione. Ich nehme an, alle Lebewesen<br />
auf der Oberfläche mutieren graduell.“<br />
93
„Wie die Skorpione?“, wiederholte Fowler, der hinter ihnen<br />
stand. Er hielt sein Gewehr fest umschlungen.<br />
„Genaugenommen sind die Wesen dort oben mit ihnen verwand.“,<br />
erklärte Roe.<br />
Judy zog eine Grimasse. „Die sehen aber gar nicht aus, wie<br />
Skorpione.“<br />
„Nein, natürlich nicht.“, sagte Roe. „Verwandtschaftsgrade<br />
bestimmt man nicht anhand des Aussehens, sondern durch die<br />
Anzahl gleichartiger Aminosäuren. So gesehen sind Menschen<br />
auch mehr mit dem nordafrikanischen Wolfshund verwand,<br />
als mit Affen.“<br />
„Was bedeutet das?“, fragte Athol, der dieser komplexen<br />
Thematik offenbar nicht folgen konnte.<br />
Judy sagte: „Du bist verstrahlt und ich mit einem Hund verwandt.<br />
Das bedeutet es.“ Sie blickte wieder zu den Fremden<br />
hinauf. „Warum stehen die da oben rum wie Psychos? Athol,<br />
sind die Typen gefährlich?“<br />
„Im Grunde sind sie friedlich.“<br />
„Du scheinst nicht sehr überzeugt zu sein.“, stellte Judy fest.<br />
„Sie wagen sich für gewöhnlich nicht in die Ebene. In die Nähe<br />
der Tarkon. Wir haben sie nur selten hier gesichtet. Zumeist<br />
bleiben sie in den Bergen.“<br />
„Wir scheinen ihr Interesse geweckt zu haben.“, lächelte<br />
D’Agosta. „Kann man mit ihnen Kommunizieren?“<br />
Athol schüttelte nur den Kopf. „Es ist nie jemandem gelungen<br />
und sie selbst starten keinen Kommunikationsversuch. Nur einer<br />
hat es je getan und sich in die Nähe von Beliar’s Siedlung<br />
getraut. Wir wissen nicht, was er dort wollte, aber er wurde<br />
noch außerhalb des Schutzwalls erschossen. Daraufhin kamen<br />
alle anderen Gredor nach und nach dorthin gewandert und umstellten<br />
die Festung – aber sie griffen nicht an. Die Tarkon sahen<br />
in ihrem Verhalten dennoch eine Bedrohung und schlachteten<br />
sie alle ab, machten später sogar jagt auf Unbeteiligte.<br />
Nun gibt es nur noch sehr wenige Gredor.“<br />
94
Das fand D’Agosta sehr merkwürdig. „Warum sind die Gredor<br />
denn nicht einfach geflohen?“<br />
„Es sind sehr treue Wesen.“, erwiderte Athol sanft. „Sie halten<br />
eine Totenwache. Die Gredor würden niemals vorzeitig einen<br />
Gefährten verlassen, ob verwundet, oder tot. Auch wenn die<br />
Tarkon in ihnen nur Tiere sehen, so spüren sie doch offenbar,<br />
was der Tod bedeutet. Jedenfalls zeigen sie uns etwas durch<br />
dieses Verhalten, das nur als tiefe Trauer gedeutet werden<br />
kann.“<br />
„Wie Elefanten.“, sagte Roe nachdenklich, erntete dafür aber<br />
nur fragende Blicke. „Sie sind wie Elefanten, oder Gorillas die<br />
ihren Nachwuchs schützen und kämen nie in den Sinn einen<br />
Artgenossen im Stich zu lassen. Dafür sind sie auch bereit sich<br />
in Todesgefahr zu begeben. Das machten sich Wilderer früher<br />
zunutze. Ganze Herden wurden auf der Erde auf diese Weise<br />
ausgerottet. Sie schossen ein Tier nach dem anderen und keines<br />
kam auf den Gedanken zu fliehen.“<br />
Athol nickte traurig. „Sehr treue Wesen.“, wiederholte er.<br />
„Was immer sie von den Tarkon wollten, es wurde zu ihrem<br />
Verhängnis. Aber ich weiß auch nicht, ob sie unsere Sprache<br />
überhaupt verstehen.“<br />
Fowler hob das Gewehr. „Eine Sprache versteht jede Lebensform.“<br />
D’Agosta wirbelte herum. „Fowler, nicht!“<br />
Aber Fowler drückte bereits den Abzug. Das Gewehr ruckte.<br />
Ein Energiebolzen raste durch die Luft, in die Richtung der<br />
Gredor, aber weit, weit über ihre Köpfe hinweg. D’Agosta erkannte,<br />
dass Fowler bewusst daneben geschossen hatte. Er<br />
wollte sie lediglich ängstigen. Und damit hatte er Erfolg. Die<br />
Gredor zeigten plötzlich Aktivität, wandten sich vom Lager ab<br />
und verschwanden schnell hinter der Hügelkette, wie sie aufgetaucht<br />
waren. Dabei machten sie aber nicht den Eindruck<br />
einer panischen Flucht.<br />
D’Agosta war aufgebracht. „Fowler, was sollte denn das?“<br />
95
„Besser die fürchten uns.“<br />
„Das habe ich nicht befohlen!“<br />
„Allan, regen Sie sich ab-“<br />
„Wir sind nicht hier, um diese Wesen einzuschüchtern. Auf<br />
diesem Mond sind wir die Fremden. Nicht die.“<br />
„Einschüchtern? Die verängstigen doch uns!“<br />
„Es sind doch nur Tiere. Die wollen nichts bösartiges.“<br />
„Ach, jetzt machen sie aus einer Mücke keinen Elefanten. Ich<br />
hab ihnen ja nichts getan.“<br />
„Aber ich habe es nicht befohlen!“, wiederholte D’Agosta.<br />
„Wenn ich nicht die ausdrückliche Anweisung gebe, dann<br />
sollten-“<br />
Plötzlich wurden die beiden Männer unterbrochen. Smith rief<br />
nach D’Agosta. „Lieutenant, Commander?“<br />
„Ja?“<br />
„Unsere Patientin ist aufgewacht.“<br />
96
Ramina<br />
Smith war im Lazarett zu Ramina vorgebeugt, hielt mit der einen<br />
Hand ihr rechtes Auge auf und in der anderen eine kleine<br />
Taschenlampe. Sie erkannte eine Pupillendifferenz, die linke<br />
ihrer Patientin Pupille war geweiteter, als die rechte. Außerdem<br />
klagte die Orionerin über starke Kopfschmerzen,<br />
Schwindel und Gleichgewichtsstörungen.<br />
„Commotio Ceribri.“ Smith deaktivierte die kleine Lampe,<br />
richtete sich auf und seufzte. „Sie haben ein Schädel-Hirn-<br />
Trauma erlitten.“<br />
Ramina stöhnte. „Eine Gehirnerschütterung?“<br />
„Ersten Grades, ja.“, nickte Smith. „Vermeiden Sie schnelle<br />
Bewegungen.“ Sie griff hinter sich und öffnete eine Schublade<br />
aus einem Wandschrank.<br />
„Ich werde ihnen ein leichtes Schmerzmittel geben. Mehr haben<br />
wir leider nicht und Sie müssen mit Übelkeit und Erbrechen<br />
rechnen.“<br />
Ramina nickte nur. Sie sah sich um. Hinter dem geschlossenen<br />
Vorhang schlief eine Person und sie glaubte den Piloten zu erkennen.<br />
Auf dem anderen Bett ruhte der bewusstlose Dorak.<br />
Seine Haut war angesengt, die Kleidung zerrissen und<br />
schmutzig. Ramina vermutete, dass sie auch kein besseres<br />
Bild abgab.<br />
„Was ist mit Dorak?“<br />
„Er ist auf dem Weg der Besserung.“, sagte Smith. Dann nickte<br />
sie D’Agosta zu, der geduldig hinter ihr gewartet hatte.<br />
97
„Schonen Sie meine Patientin.“ Anschließend wandte sie sich<br />
Hawk zu.<br />
D’Agosta wartete bis Smith bei dem Piloten war, ehe er sich<br />
Ramina zuwandte. Ramina war nicht besonders groß, ihr Gesicht<br />
annähernd rund und die Haut grün schimmernd, wie bei<br />
jedem Mitglied ihrer Spezies. Außerdem war sie noch recht<br />
jung.<br />
„Was ist passiert?“, fragte er.<br />
„Wir hatten Glück, schätze ich.“<br />
Allan seufzte schwer. „Denkt Crocker auch, aber so würde ich<br />
das nicht gerade nennen.“<br />
Ramina ging nicht auf den Kommentar ein. „Ich war mit Dorak<br />
auf dem Hangardeck und wollte ihn zu den Arrestzellen<br />
bringen, als das Evakuierungssignal erfolgte.“<br />
„Sie wollten ihn Arrestieren?“<br />
„Eine Vorsichtsmaßnahme. Ich dachte er hätte uns in eine Falle<br />
gelockt. Kurz bevor der Angriff der Breen erfolgte, war er<br />
von Technikern im Hangar entdeckt worden. Er versuchte dort<br />
gerade ein Runabout zu stehlen. Aber dessen Andockklemmen<br />
ließen sich glücklicherweise nicht lösen. Es hat wohl einen<br />
Defekt mit den Maschinen gegeben, oder so etwas. Ich weiß<br />
es nicht genau.“<br />
„Schätze dafür ist meine Tochter verantwortlich.“<br />
Leiser fragte Ramina: „Hat sie es geschafft?“ Es klang beinahe,<br />
als würde sie aufrichtige Anteilnahme zeigen. Aber<br />
D’Agosta war sich nicht sicher. „Judy? Ja, sie ist bei mir und<br />
wohlauf.“<br />
Ramina nickte. „Nun, wie auch immer. Dorak kam aus dem<br />
funktionsuntüchtigen Schiff wieder raus, ich schnappte ihn<br />
und kurz darauf ging der Angriff los.“<br />
D’Agosta schaute nachdenklich zu Dorak herüber. Der cardassianische<br />
Reiseführer schlief feste. „Denken Sie, er hat uns<br />
wirklich in eine Falle gelockt?“<br />
98
„Ich weiß nicht. Als der Angriff erfolgte, schien er mindestens<br />
genauso überrascht zu sein, wie wir. Und er hat sicher nicht<br />
beabsichtigt, das Schiff abstürzen zu lassen. Vermutlich war<br />
alles nur ein dummer Zufall.“<br />
„Vertrauen Sie ihm?“<br />
Ein Schatten huschte über Raminas Gesicht. „Ich vertraue<br />
niemandem.“<br />
D’Agosta seufzte. „Was geschah dann?“<br />
„Wir sind rechtzeitig in eine der Kapseln – nur wir beide - und<br />
abgestürzt. Ich kann mich kaum dran erinnern, alles ging so<br />
schnell, aber die Systeme litten unter erheblichen Energieausfällen.<br />
Irgendwie haben wir es dennoch heil nach unten geschafft.<br />
Wir sahen noch, wie die Shenandoah hinter den Bergen<br />
verschwand und aufschlug. Danach nahmen wir den Weg<br />
dorthin auf, wo wir weitere Fluchtkapseln vermuteten.“<br />
„Haben andere überlebt?“<br />
„Nein.“<br />
„Sind Sie irgendwem begegnet?“<br />
„Nein.“, sagte Ramina sofort. „O, Sie meinen anderen Überlebende?<br />
Nein, niemandem. Tut mir leid.“<br />
Erneut das Seufzen. D’Agosta überlegte eine Weile, eine Pause<br />
entstand. Dann deutete er auf ihren Unterarm. „Was ist<br />
das?“<br />
„Was ist wa-“ Erst jetzt bemerkte Ramina, dass der ganze Arm<br />
blutig war. Verkrustetes, altes, blaues Blut. „Muss mich verletzt<br />
haben.“, sagte sie zögernd.<br />
„Dann wäre das Blut doch grün, oder? Von Dorak, kann es<br />
auch nicht sein.“<br />
„Ich ... wir sind angegriffen worden.“<br />
„Angegriffen?“, fragte D’Agosta. „Von was?“<br />
„Ich weiß es nicht. Es ging alles sehr schnell. Ich wurde zu<br />
Boden geworfen und was danach passiert ist, weiß ich nicht<br />
mehr.“<br />
99
D’Agosta starrte sie lange an. „Die Gehirnerschütterung,<br />
stimmt’s?“<br />
„Ja, ich denke deswegen kann ich mich nicht mehr erinnern.“<br />
Sie zuckte mit den Schultern. „Eine anterograde Amnesie. Ist<br />
doch nichts ungewöhnliches, bei einem Schädeltrauma, oder?<br />
Außerdem sind wir auch ziemlich lange in der Hitze gelaufen.<br />
Wie lange waren wir überhaupt unterwegs?“<br />
D’Agosta blickte flüchtig nach draußen. Die Nachmittagssonne<br />
stand hoch am Himmel. „Der Absturz ist jetzt fast zwei Tage<br />
her.“<br />
Ramina sah ebenfalls durch die Fenster, zum Lager hinaus. Sie<br />
sah Rettungskapseln. Vielleicht fünf. Oder auch sechs. „Wie<br />
viele haben es geschafft?“<br />
D’Agosta kniff die Augen zu und rieb sich den Nasenrücken.<br />
Er wirkte plötzlich sehr niedergeschlagen. „Über vierzig. Wir<br />
hatten noch kurzzeitig Kontakt zu einer weiteren Gruppe, aber<br />
die Verbindung ist abgebrochen. Ramina, ich könnte ihre Hilfe<br />
gebrauchen.“<br />
„Ach?“<br />
„Sobald Sie sich besser fühlen, würde ich ihnen gerne die Leitung<br />
der Sicherheitsabteilung übertragen. Das, was davon übrig<br />
ist. Es sind ohnehin nur eine handvoll Leute, aber wir haben<br />
aktuell ein paar Probleme mit den Bewohnern des Planeten.<br />
Und mit Tieren.“<br />
„Tieren?“<br />
„Ja, große dunkelblaue, Gestalten. Mit einem Buckel und einem<br />
Horn.“<br />
Ramina horchte auf, was D’Agosta nicht entging. „Sagt ihnen<br />
das was?“, fragte er.<br />
„Nein.“, meinte Ramina.<br />
„Wie dem auch sei, ich habe weniger Probleme mit denen, als<br />
mit den übriggebliebenen Sicherheitsleuten. Garnere und die<br />
anderen, die es geschafft haben, erweisen sich als wenig kooperative<br />
Draufgänger und sind nicht gerade gut im Befolgen<br />
100
von Befehlen.“ Er seufzte. „Jedenfalls nicht, wenn ich diese<br />
Befehle gebe.“<br />
Ramina nahm die Information, dass es Garnere geschafft hatte<br />
pragmatisch auf. Sie konnte ihn nicht sonderlich gut leiden.<br />
Kaum jemand konnte das. Aber sie war ohnehin nicht an<br />
Freundschaften interessiert.<br />
D’Agosta zuckte mit den Schultern. „Wäre nicht schlecht,<br />
wenn ich jemanden in der Position habe, auf den ich mich verlassen<br />
kann, denn bisher fehlt der Gruppe völlig eine Kommandostruktur<br />
und ich würde gerne versuchen eine zu etablieren.<br />
Nur, damit das ohnehin schon herrschende Chaos nicht<br />
noch schlimmer wird.“<br />
„Ich werde die Aufgabe gerne vorrübergehend-“<br />
„Nicht vorrübergehend, fürchte ich.“ D’Agosta verzog das<br />
Gesicht. „Wir haben hier wirklich ein paar Probleme – gelinde<br />
gesagt. Der Aufenthalt auf dem Mond könnte länger dauern<br />
als zunächst angenommen und...“ D’Agosta seufzte erneut.<br />
„Wie soll ich es ihnen nur sagen?“<br />
„Was sagen?“<br />
„Lieutenant Spiers ... er ist tot.“<br />
„Spiers ... ist ... tot?“, wiederholte Ramina langsam.<br />
D’Agosta nickte ernst. „Er war bei Captain O’Conner, als es<br />
passierte. Wir haben seine Leiche ein paar Kilometer entfernt<br />
von hier gefunden. Offenbar haben die Tarkon ihn erschossen.<br />
Es ist schnell gegangen.“<br />
Raminas Gesichtshälften zuckten und D’Agosta glaubte beobachten<br />
zu können, wie sich ihre Haut zu einem dunkleren<br />
Grün färbte, aber er war sich nicht sicher, ob er diesen Effekt<br />
wirklich sah, oder sich nur einbildete.<br />
Ramina fragte mechanisch: „Tarkon?“<br />
„Eine Art Kriegerspezies, die auf diesem Planeten angesiedelt<br />
ist und durch zwei verschiedene Clans vertreten wird. Lieutenant<br />
Spiers wurde von ihnen aus nächster Nähe erschossen.<br />
Seine Leiche hat man zurückgelassen. Von Captain O’Conner<br />
101
und den anderen, die bei ihm waren, fehlt bislang jede Spur.<br />
Wir vermuten, dass sie gefangengenommen wurden. Ramina<br />
... ich weiß aus eigener Erfahrung, wie hart Sie diese Neuigkeit<br />
treffen muss. Meine Worte werden ihren Schmerz wahrscheinlich<br />
nicht lindern, aber-“<br />
„Ist schon okay.“, behauptete Ramina unwillkürlich. Sie<br />
sprang auf die Beine und straffte ihre Gestalt. „Es geht mir<br />
gut.“<br />
„Sind Sie sicher? Ich-“<br />
„Absolut sicher.“<br />
Aber D’Agosta kannte diesen Blick, kannte die hastigen Bewegungen<br />
und wusste, was nun in ihr vorging. Und dass sie<br />
besser allein sein wollte. Er nickte, überlegte ein paar Sekunden,<br />
ob er ihr tröstend die Hand auf die Schulter legen sollte,<br />
entschied sich dann aber dagegen, stand auf und trat aus der<br />
Kapsel heraus. Ramina starrte zum Fenster hinaus. Es schnürte<br />
ihr die Kehle zu und in der Bauchregion bildete sich ein<br />
merkwürdiger Knoten.<br />
Ronald Spiers war tot. Und diese Tarkon waren schuld. Sie<br />
wollte jeden einzelnen dieser verdammten Mistkerle töten. Sie<br />
wollte sie alle töten!<br />
Ramina erwachte auf einer Liege, in einem sterilen Untersuchungsraum.<br />
Die Lüftung dröhnte so laut, dass es sich in dem<br />
Zimmer wie in einem Raumhafen anhörte. Sie wusste nicht,<br />
wo sie war, oder wie sie an diesen Ort gelangt war. Man musste<br />
sie gleich nach ihrer Ergreifung unter Drogen gesetzt haben,<br />
entsprechend schwerfällig wollten ihre Glieder reagieren und<br />
ihr Geist arbeiten.<br />
Mit trüben Augen kam Ramina auf die Beine und wankte zur<br />
Tür. Sie war abgeschlossen. Sie klopfte eine Weile, aber niemand<br />
machte auf, auch nicht, als sie laut rief. An der gegenüberliegenden<br />
Wand befand sich ein breites Fenster, vor dem<br />
102
eine Sichtblende heruntergefahren war. Sie ging zu dem Kontrollfeld<br />
daneben und schaltete es ein. Ein Menü erschien. Die<br />
Symbole waren orionisch.<br />
Ramina suchte nach irgendeiner Kommunikationsfunktion, einem<br />
Türöffner, oder sonst was, aber sie fand nichts, obwohl<br />
sie eine ganze Weile in dem Interface herumstöberte. Sobald<br />
sie an ein System geriet, wurde ihr sofort der Zugang verweigert.<br />
Irgendetwas hatte sie aber wohl aktiviert, denn die Sichtblende<br />
öffnete sich plötzlich und entblößte den Sternenhimmel.<br />
Sie war im Weltraum.<br />
„Du meine Güte!“ Ramina stand mit klopfendem Herzen am<br />
Fenster der Raumstation, deren Ausläufer sie unter sich erkannte.<br />
Draußen, direkt vor ihr, drehte sich ein großer Planet<br />
mit weißen, weiten Polkappen und einer gewaltig grünen<br />
Landmasse, die von zahlreichen Flüssen und Seen durchzogen<br />
war. Ramina kannte den Planeten sofort wieder, auch wenn sie<br />
ihn nie zuvor mit eigenen Augen gesehen, geschweige denn<br />
besucht hatte. Es war ihr Planet.<br />
Ihre Heimat.<br />
Orion.<br />
Orion.<br />
„Beeindruckend, nicht wahr?“<br />
Ramina wirbelte herum. Eine Orionerin stand in der Tür. Sie<br />
war ihr unbekannt.<br />
„Hallo Ramina.“, sagte sie lächelnd. „Du bist wach, sehr<br />
schön. Wie geht es dir?“<br />
Es dauerte eine Weile, ehe Ramina antwortete. „Es ging schon<br />
mal besser.“ Sie wich zurück zur Wand, mit geballten Fäusten<br />
und unsicher, was sie als nächstes unternehmen sollte. Die<br />
Frau musterte sie abschätzend. In ihrem Gesicht zeigte sich<br />
eine Mischung aus Neugierde und Belustigung. Aber da war<br />
noch etwas anderes, was Ramina nicht einschätzen konnte. Sie<br />
betrat zwar den Raum, näherte sich der unsicher dreinschauenden<br />
Ramina aber nicht. Sie gab nicht einmal irgendwelche<br />
103
Erklärungsversuche von sich, sondern schien abzuwarten, was<br />
Ramina tun würde.<br />
Ramina zögerte nicht lange und fragte: „Wer sind sie? Warum<br />
ist es so laut hier drin?“<br />
„Das ist Teil des Reinigungsprozesses. Wenn wir die Ergebnisse<br />
der medizinischen Untersuchung haben, wird die Lüftungsanlage<br />
auf einen normalen Pegel gestellt.“<br />
„Und wer sind Sie?“<br />
„Aedra.“, antwortete die Frau. „Ich arbeite für das MDI, das –<br />
Ministerium für Deserteur-Identifikation-, das deine Familie<br />
vor fünf Tagen aufgespürt und dich hierher gebracht hat. Aber<br />
das weißt du alles längst.“<br />
Aedra war eine Klischee-Orionerin; grüne Haut, schwarzes<br />
Haar, perfekt gebaut, exotisch und verführerisch zugleich. Ihre<br />
dünne Kleidung zeigte mehr, als sie verbarg. Unter der enganliegenden<br />
Hose zeichneten sich die kräftige Beinmuskulatur<br />
deutlich ab und das kurze Top spannte sich über ihre großen<br />
Brüste.<br />
„Wo ist mein Vater?“, fragte Ramina grollend.<br />
„Deine Eltern wurden beide getötet.“, erklärte Aedra knapp.<br />
„Deine Mutter sofort bei eurer Ergreifung und dein Vater ist<br />
vor wenigen Stunden nach der Urteilsfällung des Rates hingerichtet<br />
worden.“<br />
Ramina keuchte. Fayar war tot? Das traf sie wie ein Hammerschlag,<br />
der ihr die Luft aus den Lungen presste. Sie konnte<br />
nicht fassen, wie kalt und nebensächlich Aedra von seinem<br />
Tod sprach. Ihre Lippen bebten, die Nasenflügel zuckten vor<br />
Wut. „Sie haben ihm das angetan!“<br />
„Nein. Nein, nein, nein.“, schüttelte Aedra den Kopf, als hätte<br />
man ihr gerade etwas absolut unglaubliches unterstellt. „Das<br />
hat er sich alles selbst angetan und du weißt das ganz genau,<br />
Ramina. Meine Organisation wollte niemandem etwas tun.<br />
Melissa nicht, Fayar nicht, niemandem. Aber Fayar hat es<br />
nicht anders gewollt.“<br />
104
„Das hätte nicht sein müssen!“<br />
„Natürlich hätte es nicht sein müssen.“, nickte Aedra. „Wir<br />
wollten ihm wirklich nichts tun, aber er lies uns keine andere<br />
Option. Vor allem dir will ich nichts tun.“<br />
Ramina schnaufte. „Und das soll ich ihnen glauben?“<br />
„Ramina. Bitte. Warum kannst du die neue Situation nicht akzeptieren?<br />
Lassen wir die Gefühle mal einen Moment aus dem<br />
Spiel und seien wir logisch. Dein Vater war ein Deserteur. Er<br />
hat uns verraten, das orionische Volk. Jedes Kind weiß, dass<br />
sich die Männer nicht mit Außerspeziesmitgliedern vermehren<br />
dürfen. Es würde unser System, unsere gesamte Kultur verwässern,<br />
möglicherweise sogar zerstören.“<br />
„Und wer hat diese Regel aufgestellt?“, fragte Ramina düster.<br />
„Die orionischen Frauen, die im ganzen Quadranten als Sklaven<br />
für bestimmte Dienste verkauft werden?“<br />
„Ich bin nicht hier, um mit dir über Sinn und Unsinn unserer<br />
Gesetze zu diskutieren.“, antwortete Aedra. „Zugegeben, das<br />
System ist komplex, aber es funktioniert. Wir Frauen haben<br />
die Kontrolle über Orion und wir können keine Kinder von<br />
Außenweltlern bekommen, als ob die Natur es so wollte. Die<br />
Männer können. Aber sie dürfen nicht. Wer sich an dieses einfache<br />
Gesetzt nicht halten kann, den erwartet der Tod.“<br />
„Warum?“<br />
Aedra sah ihr tief in die Augen. „Die Geburten könnten<br />
Mischlinge hervorbringen. Orionische Missgeburten, die nicht<br />
in der Lage sind, das System aufrechtzuerhalten.“ Sie winkte<br />
ab. „Du hast Glück, dass genug orionisches Blut in deinen<br />
Adern zu fließen scheint, dass wir dich in unsere Kultur integrieren<br />
wollen.“<br />
Ramina runzelte erstaunt die Stirn. „Integrieren?“<br />
Aedras Mine erhellte sich, sie lächelte. Es war ein ehrliches<br />
Lächeln. „Wir geben dir eine zweite Chance, Ramina. Ein<br />
neues Leben. Wir wissen, dass du in deinem alten sehr unglücklich<br />
warst. Es muss schwer für dich gewesen sein, unter<br />
105
all den Nichtgrünen.“<br />
„Das ... war es.“<br />
„Um so etwas zu verhindern – um Mitgliedern unseres Volkes<br />
ein solch schweres Leben zu ersparen, wurde meine Organisation<br />
ins Leben gerufen. Wir sind hier, um für dich alles zum<br />
Besseren zu wenden.“ Sie deutete mit einer fließenden Bewegung<br />
zum Fenster, hinter dem sich Orion drehte. „Schließlich,<br />
bist du doch ein integraler Bestandteil von all dem hier. Das<br />
ist dein Geburtsrecht, was dir deine Eltern gewaltsam weggenommen<br />
haben. Findest du nicht auch, dass du selber darüber<br />
entscheiden solltest, wo du leben möchtest? Was denkst du?“<br />
Ramina zögerte.<br />
„Sei nicht so stur, Ramina. Bedenke, was wir dir anbieten.“<br />
„Ich ... bin nie ... gefragt worden, wo ich ... leben möchte.“<br />
„Genau, Ramina, du wurdest nie gefragt.“, nickte Aedra. Sie<br />
lächelte noch immer. „Schlimmer noch, man hat es dir sogar<br />
vorgeschrieben. Du hattest gar keinen Wahl. Wäre es nicht<br />
schön, dort zu sein, wo du akzeptiert wirst? Wo du hingehörst?“<br />
„Ich wusste noch nie, wo ich hingehöre.“<br />
Aedra streckte Ramina die Hand entgegen. Ramina ergriff sie,<br />
zögerlich, und Aedra zog sie zu sich. Sie war stark. Stärker,<br />
als Ramina gedacht hätte. Die orionerin legte ihr einen Arm<br />
um die Taille und drehte sie sanft zum Fenster. Und als sie<br />
stolz nach draußen deutete, sagte sie: „Willkommen zurück in<br />
der Gesellschaft von Orion. Da, wo du willkommen bist. Da,<br />
wo du hingehörst, um deinen Beitrag für dein Volk zu leisten.<br />
Da, wo du großes vollbringen und alles tun und werden<br />
kannst, was du nur willst.“<br />
Ramina wusste nicht, was sie sagen, was sie denken sollte. Alles<br />
kam so plötzlich, ging so schnell. Diese Leute hatten ihren<br />
Vater getötet. Das war nicht Teil der Abmachung. Ihre Mutter<br />
hatten sie auch getötet. Aber war das für sie wirklich ein Verlust,<br />
in anbetracht dessen, wo sie war und was für Möglichkei-<br />
106
ten sich ihr nun boten?<br />
Aedra umarmte sie. Ramina wehrte sich nicht. Sie wollte etwas<br />
sagen, fand aber hin und hergerissen, zwischen Wut und<br />
Aufregung noch immer keine Worte. Bevor sie etwas sagen<br />
konnte, öffnete sich erneut die Tür. An der Kleidung des<br />
Mannes, der darin erschien, erkannte Ramina, dass es sich um<br />
einen Arzt handelte. Er hielt einen Datenblock hoch.<br />
„Die Untersuchungsergebnisse.“, sagte er. Seine Mine sprach<br />
Bände. Er hatte keine guten Nachrichten.<br />
Sie hörte sie reden. Aedra und der Arzt standen, ins Gespräch<br />
vertieft, hinter einer Glaswand in einem Nebenraum. Ramina<br />
versuchte herauszufinden, was sie sagten, konnte aber nichts<br />
verstehen. Ihre Stimmen wurden von dem Fenster zu sehr gedämpft.<br />
Zwei Dinge wusste sie aber. Sie sprachen über Ramina<br />
und was auch immer der Inhalt des Gespräches war, es bedeutete<br />
nichts gutes.<br />
Der Arzt wirkte aufgeregt, gestikulierte heftig. Aedra hörte zu<br />
und schüttelte ab und an den Kopf. Nach einigen Augenblicken<br />
nickte sie ernst und erwiderte etwas. Dann ließ sie den<br />
Arzt stehen und kam zu ihr herein.<br />
„Was ist los?“, fragte Ramina. „Was ist passiert?“<br />
Aedra seufzte. Sie schien alles andere als glücklich und suchte<br />
nun nach den richtigen Worten. „Wir dachten das orionische<br />
Genom sei bei dir stärker hervorgetreten, als das menschliche.<br />
Ich will direkt zum Punkt kommen; die Drüsen, die das Pheromon<br />
produzieren, was jede orionische Frau auszeichnet, sind<br />
bei dir verkümmert. Sie können es nicht produzieren.“<br />
Ramina begann zu zittern. Sie trat mehrere Schritte von der<br />
Frau zurück, sah sich nach dem Ausgang um. Dort standen<br />
Wachen. Jede einzelne Phaser ihrer Selbst, spürte Gefahr.<br />
„Was ... was bedeutet das?“<br />
„Beruhige dich.“, sagte Aedra. „Hab keine Angst.“<br />
107
„Kann der Defekt behoben werden? Können sie mich operieren?“<br />
„Nein, das wird gar nicht nötig sein. Komm her.“ Sie lächelte<br />
und streckte ihr die Hand entgegen. Ramina zögerte, griff aber<br />
danach.<br />
„Es wird alles gut, versprochen. Du gehörst hier her. Zu uns.<br />
Und trotz deiner ... Unzulänglichkeit, wirst du deinen Beitrag<br />
für unsere Kultur leisten.“ Und sie lächelte erneut. Aber diesmal<br />
war es ein tückisches Lächeln.<br />
108
Judy<br />
Judy D’Agosta saß auf einem Stein und sah zu, wie die A-<br />
bendsonne langsam zum Horizont herunterwanderte, bis sie<br />
grell auf der Metalloberfläche der Kapseln funkelte und ihre<br />
Strahlen in das Farndickicht hinter dem Lager schienen, wo<br />
Judy ihren rechten Stiefel auszog. Sie kippte ihn um und beobachtete,<br />
wie eine ganze menge Sand hinausrieselte. Sie schüttelte<br />
den Schuh so lange, bis nichts mehr kam und wiederholte<br />
die Prozedur dann mit dem anderen. Anschließend zog sie die<br />
Treter wieder an und ging probeweise ein paar Schritte. Erleichtert<br />
seufzte Judy auf.<br />
Schon viel besser!<br />
Das Mädchen schickte sich an, wieder zum Lager zurückzukehren.<br />
Nach allem, was in den vergangenen Stunden passiert<br />
war, wollte sie nicht mehr unbedingt hier draußen herumlaufen,<br />
sondern fühlte sich im Mittelpunkt der Gruppe doch um<br />
einiges wohler.<br />
Auf halbem Weg zurück erspähte sie allerdings Shannyn. Die<br />
Frau hielt offenbar nicht sehr viel von Gesellschaft, denn sie<br />
saß meistens weit abseits der übrigen Leute auf einem kleinen<br />
Fels, wo sie alles beobachten, gleichzeitig aber ihre Ruhe haben<br />
konnte – so auch jetzt. Nun war sie damit beschäftigt, ihr<br />
Schwert zu polieren.<br />
Judy fragte sich kurz, ob sie wirklich zu ihr gehen sollte, entschied<br />
sich dann aber dafür. Was hatte sie schon zu verlieren?<br />
109
Sie näherte sich von hinten und als erstes Stach ihr Shannyns<br />
Rucksack ins Auge, den sie nachlässig auf einen Fels geworfen<br />
hatte. Ein praktisches Ding.<br />
Shannyns Rucksack!<br />
Judy konnte sich nicht beherrschen. Sie musste ihn einfach berühren.<br />
Dabei fiel ihr auf, wie abgenutzt und verschlissen er<br />
war. Ein Reißverschluss ging gar nicht mehr auf, an vielen<br />
Stellen klafften feine Löcher im Stoff. Auch die beiden von<br />
der Blutkatze verursachten waren darunter – der Rucksack<br />
hatte Judy das Leben gerettet. Und an dem Forderfach sah sie<br />
einige rötliche Stellen, die aussahen, wie alte Blutflecken. Sie<br />
strich noch einmal über den Stoff–<br />
„Judy?“<br />
Shannyn hatte sie bemerkt. Sie sah nicht von ihrem Schwert<br />
auf.<br />
„Ja?“, sagte Judy und ihre Stimme verriet ihre Nervosität.<br />
„Kannst du mir etwas aus dem vorderen Fach holen? Eine<br />
Feldflasche?“<br />
„Okay.“, sagte Judy und sah hastig nach. Sie suchte und fand<br />
allerhand Kram, den sie nicht recht zuordnen konnte. Eine<br />
normale Sternenflottenausrüstung war das jedenfalls nicht.<br />
„Wenn du keine findest, ist’s auch nicht schlimm.“, sagte<br />
Shannyn.<br />
Judy hielt inne. Sie sah die Feldflasche. „Nein ich habe sie.“<br />
Shannyn griff nach hinten und nahm die Flasche blind entgegen.<br />
„Komm, setz dich.“, sagte sie dann.<br />
„Okay ... Lieutenant.“<br />
„Shannyn.“<br />
„Okay, Shannyn.“<br />
Shannyn Bartez war ein ganz normaler Mensch. Sehr ungezwungen<br />
und normal. Wie verzaubert setzte sich Judy neben<br />
sie und kam sich zum ersten Mal seit langer Zeit in ihrem Leben<br />
irgendwie dumm vor. Irgendwie ... unsicher. Sie versuchte<br />
herauszufinden woran das lag und kam zu dem Schluss, dass<br />
110
sie zum ersten Mal seit langer Zeit darauf achtete, was ein<br />
fremder Mensch von ihr hielt.<br />
„Ich wollte mich bedanken. Für heute Morgen. Sie haben mir<br />
das Leben gerettet.“<br />
Nicht nur heute Morgen, wie Judy enttäuscht feststellte. Auch<br />
bei den Amphion, bei den Blutkatzen und auf dem Schiff.<br />
Yeah, sie war das kleine, dumme Mädchen, dass dauernd gerettet<br />
werden musste. Judy seufzte.<br />
Shannyn hatte bisher noch nicht aufgesehen. Sie öffnete die<br />
Flasche, drückte einen Lappen darauf und kippte beides um,<br />
bis der Lappen sich mit Flüssigkeit vollgesogen hatte. Dann<br />
stellte sie die Flasche wieder ab und begann die scharfe Klinge<br />
zu polieren. Getrocknetes Blut klebte darauf. Judy glaubte zu<br />
wissen, dass es von dem Skorpion stammte, dem Shannyn den<br />
Schwanz abgeschlagen hatte.<br />
Judy deutete auf die Blutflecken. „So was machen Sie öfters,<br />
wie?“ Und kaum waren die Worte ausgesprochen, bereute sie<br />
das Gesagte auch schon. Aber Shannyn lächelte Judy nur an.<br />
„Hin und wieder. Wie alt bist du, Judy?"<br />
„Vierzehn.“<br />
„Was für eine Klasse ist das? Die neunte?“<br />
„Achte“<br />
„Achte Klasse.“, sagte Shannyn nachdenklich. Sie tränkte den<br />
Lappen erneut mit Flüssigkeit. „Was willst du werden, wenn<br />
du erwachsen bist?“, fragte sie.<br />
„Ich weiß noch nicht.“, sagte Judy ehrlich.<br />
„Das ist eine sehr gute Antwort.“<br />
„Wirklich?“ Sie war sich nicht sicher gewesen, ob das nicht zu<br />
lasch und langweilig klingt.<br />
„Ja.“, sagte Shannyn. „Kein intelligenter Mensch weiß in deinem<br />
Alter schon, was er tun will, wenn er Zwanzig oder Dreißig<br />
ist.“<br />
„Oh.“<br />
„Hast du denn etwas, das du gerne machen würdest?“<br />
111
„Ich hoffe, es hat auf jeden Fall mit Musik zu tun.“, sagte sie<br />
mit einem leichten Anflug von Schuldbewusstsein. Shannyn<br />
entging das nicht. „Was ist so schlimm daran?“<br />
„Na ja, ich spiele auf der Erde in einer kleinen Band. Sie heißt<br />
Warpdrive.“ Ein Schatten fuhr über Shannyns Gesicht. Warpdrive,<br />
also. Judy fuhr fort: „Und normalerweise wird man da<br />
mit vierzehn leicht in eine Schublade geschoben. Sie wissen<br />
schon.“<br />
„Nein, das weiß ich nicht.“ Shannyns Stimme klang Ausdruckslos.<br />
Judy spürte Panik in sich aufsteigen. „Nun, Jungstar, verrückte<br />
Jugendträume, kein anständiges Hobby, so was eben. Das wird<br />
schnell abgetan.“<br />
„Von wem beispielsweise?“<br />
„Von meinen Lehrern, meinem Dad. Ich meine, Dad sagt<br />
nichts dagegen, aber ... Es ist nicht so leicht, wenn man von<br />
Raumfahrern umgeben ist, wie ich das bin. Jeder ist verrückt<br />
auf die Sternenflotte und träumt von einer Karriere auf einem<br />
Raumschiff. Alle wollen sie zu den Sternen. Es ist verrückt.<br />
Früher auf der Erde, wurde man von allen gemieden, wen man<br />
so eine Streberin war. Und nun, im vierundzwanzigsten Jahrhundert,<br />
ist man der Außenseiter, wenn man sich nicht für die<br />
Sternenflotte begeistert, sondern sich eher für alltägliche Dinge<br />
interessiert. Wie für Musik. Sie meiden einen. Ach, ich<br />
weiß auch nicht.“ Judy war einfach so damit herausgeplatzt.<br />
Sie konnte nicht glauben, dass sie das alles zu Shannyn sagte,<br />
die sie vor zwei Tagen noch gar nicht gekannt hatte und trotzdem<br />
erzählte sie ihr all diese persönlichen Dinge. All die Dinge,<br />
die sie aufregten.<br />
Shannyn lächelte. „Dann musst du gut sein mit deiner Band?“<br />
„Ja, ich denke schon. Aber die meisten wollen mir eben einreden,<br />
das wäre nichts für ein Mädchen in meinem Alter. Ich<br />
solle lieber mit Puppen spielen, oder so was. Sternenkarten<br />
auswendig lernen.“ Sie zuckte mit den Schultern.<br />
112
Shannyn hatte die Politur beendet und legte den Lappen weg.<br />
„Also Judy, so jung du auch bist, eins kannst du ruhig schon<br />
lernen. Dein ganzes Leben lang werden Leute versuchen dir<br />
etwas einzureden. Und fast alles davon, ungefähr Neunzig<br />
Prozent, ist falsch.“<br />
Judy runzelte die Stirn.<br />
„Das ist eine Tatsache des Lebens.“, sagte Shannyn. „Menschen<br />
werden vollgestopft mit Fehlinformationen. Deshalb ist<br />
es so schwer herauszufinden, wem man glauben kann. Benutze<br />
einfach deinen Verstand. Ich weiß, wie es dir geht.“<br />
„Wirklich?“<br />
„Wirklich. Als ich in deinem Alter war, habe ich ein paar Sachen<br />
gemacht, von denen mir ebenfalls die meisten abgeraten<br />
haben. Sie wollten mir erzählen, ich sei zu jung dafür. Solle<br />
ebenfalls lieber mit Puppen spielen.“ Sie zwinkerte. „Anstatt<br />
mit Schwertern.“<br />
„War ihr Dad auch dagegen?“<br />
„Nein, nicht wirklich, auch wenn er nicht sonderlich davon<br />
begeistert waren. Aber die Entwicklung lies sich scheinbar<br />
kaum verhindern, bei den Vorlagen, die er mir in die Wiege<br />
gelegt hatte. Aber nein, meine Eltern haben mich nie wirklich<br />
eingeschränkt. Sie bläuten mir nur ständig ein, meinen Kopf<br />
zu gebrauchen. Ansonsten hatte ich alle Freiheiten. Das<br />
Schwert hier ist sogar von meinem Vater.“<br />
„Electric!“<br />
„Willst du es mal halten?“<br />
„Ist es schwer?“<br />
Shannyn lächelte. „Du wirst es schaffen. Sei vorsichtig, die<br />
Klinge ist sehr scharf.“<br />
Judy umschloss fest den Griff. Als Shannyn los lies und ihr<br />
das Schwert ganz überließ, wunderte sich Judy, wie leicht es<br />
war. Diese Waffe hatte kaum Gewicht. Sie fühlte sich fast an,<br />
wie ein Badmintonschläger.<br />
113
„Halte das Schwert vor dich, von deinem Körper weg. Ja, genau<br />
so. Hast du es feste?“<br />
Judy nickte.<br />
„Okay.“, sagte Shannyn. Lauter: „Schweren!”<br />
Unvermittelt wog das Schwert eine Tonne! Die Gravitation<br />
riss es zu Boden und Judy musste loslassen. Scheppernd knallte<br />
das Schwert auf den harten Sandboden. Judy sprang erschrocken<br />
zurück. Sie hatte das Schwert kaputt gemacht! „Es<br />
tut mir-“<br />
Aber Shannyn lächelte nur. „Normalmodus.“, sagte sie laut<br />
und streckte eine Hand nach dem Griff aus. Sie hob die Waffe<br />
problemlos hoch. „Das Schwert ist auf meine Stimme programmiert.“<br />
„Das ist aber nicht normal, oder?“<br />
„Ein alter Freund meines Vaters – ein sehr begabter Ingenieur<br />
-, hat mir ein paar Extras eingebaut. Auf verbale Befehle hin<br />
kann ich das Schwert in verschiedene Modi versetzen. Zum<br />
Beispiel, dass es sehr schwer ist. So kann die Waffe niemals<br />
gegen mich verwendet werden.“<br />
„Electric!“<br />
Shannyn wischte mit dem Lappen den Staub von der Klinge.<br />
Judy musterte Shannyn dabei mit leuchtenden Augen. „So<br />
sieht also eine Heldin aus.“, sagte sie.<br />
Aber Shannyn schüttelte mit dem Kopf. „Nein.“ Sie hielt das<br />
Schwert so, dass Judy direkt in die Spiegelung der blanken<br />
Klinge sah. Auf ihr eigenes Gesicht. „So sieht eine Heldin<br />
aus.“, sagte Shannyn ernst. „Jemand wie ich, der vom Schicksal<br />
begünstigt wird und verrückt genug ist, keine Angst zu haben,<br />
ist kein Held.“ Sie lächelte Judy aufmunternd zu und<br />
steckte das Schwert zurück in die Scheide an ihren Gürtel.<br />
„Ein junges Mädchen jedoch, gerade alt genug, um sich für<br />
Jungs zu interessieren, das sich trotz seiner Angst mit schwerbewaffneten<br />
Tarkon anlegt, das ist ein Held.“<br />
114
„Aber so wie Sie zu kämpfen, mit Schwerter und Waffen und<br />
das alles, das könnte ich nie.“<br />
„So?“, hob Shannyn die Brauen. „Du hast den Jeep der Tarkon<br />
außer Gefecht gesetzt, obwohl du noch nie in deinem Leben<br />
mit einem Gewehr umgegangen bist. Diese Amphion verdankt<br />
dir ihr Leben.“<br />
„Ach was.“, erwiderte Judy achselzuckend.<br />
Shannyn warf ihr einen Seitenblick zu. „Dein ganzes Leben<br />
lang werden Leute versuchen dir deine Erfolge und Leistungen<br />
wegzunehmen. Nimm sie dir nicht selbst weg.“ Sie legte<br />
dem Mädchen eine Hand auf die Schulter. „Du kannst alles<br />
schaffen, wenn du es nur willst.“<br />
Judy war beeindruckt. Einfach beeindruckt. „Woher-“<br />
Vom Lager drang D’Agostas aufgebrachte Stimme zu ihnen<br />
herüber: „Das war die richtige Entscheidung!“ Ihm folgte einig<br />
Gruppe aufgebrachter Sicherheitsleute auf dem Fuße, quer<br />
durchs Lager.<br />
„Dein Vater hat Probleme.“, sagte Shannyn und ging zum Lager.<br />
Judy sprang auf und lief ihr nach.<br />
115
Ramina<br />
„D’Agosta, was zur Hölle soll das?“ Allan blieb in der Mitte<br />
des Lagers stehen und drehte sich zu den aufgebrachten Sicherheitsleuten,<br />
Garnere, Fowler, Markson, Kendrick, Ramirez<br />
und Vam’Pelt um. Sie bildeten einen Halbkreis um ihn<br />
herum, bedachten D’Agosta mit geringschätzigen Blicken, o-<br />
der schüttelten den Kopf. Insbesondere Antonio Garnere war<br />
sehr verärgert. „Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?“,<br />
fragte er. „Wie konnten Sie nur Ramina die Leitung<br />
über die Sicherheit geben? Ausgerechnet diesem grünhäutigem<br />
Miststück?“<br />
„Bitte beruhigen sie sich.“, sagte D’Agosta. Inzwischen waren<br />
auch andere Personen auf den Tumult aufmerksam geworden,<br />
ließen alles stehen und liegen und kamen zu ihnen, um die Sache<br />
zu verfolgen, herauszufinden, was geschah. Und - wie er<br />
vermutete -, um life dabei zu sein, wenn die Sicherheitsabteilung<br />
D’Agosta in Stücke riss. „Ich halte sie für eine sehr gute<br />
Wahl und die Sache für die richtige Entscheidung.“<br />
Fowler schnaubte. „Ist es aber nicht. Ramina ist merkwürdig.“<br />
„Natürlich ist sie das. Ramina hat gerade Lieutenant Spiers<br />
verloren. Ich finde, sie hat allen Grund merkwürdig zu sein.“<br />
„Sie war auch schon vorher merkwürdig, Lieutenant Commander!“,<br />
maulte Fowler.<br />
D’Agosta schüttelte den Kopf, versuchte die Leute zu beschwichtigen.<br />
Die Ansammlung wurde unterdessen immer größer<br />
„Lieutenant Spiers hielt immer große Stücke auf sie.“<br />
116
Garnere winkte ab. „Spiers? D’Agosta, soll ich ihnen sagen,<br />
was Ramina war? Ramina war Spiers’ Bettgespielin! So<br />
sieht’s nämlich aus. Sie war seine ganz persönliche Nutte und<br />
hat sich nach oben geschlafen.“<br />
„Ich denke ihre Loyalitäten-“<br />
„...liegen einzig und allein bei sich selbst.“, beendete Fowler<br />
den Satz. Fowler wollte sie einfach nicht als leitende Kraft der<br />
Sicherheitsabteilung haben. Nicht in anbetracht der Tatsache,<br />
dass sie für längere Zeit auf diesem Mond festsitzen würden.<br />
Er hätte das beinahe als Argument vorgebracht, hätte fast zuviel<br />
ausgeplaudert, aber D’Agosta’s warnender und flehender<br />
Blick zugleich, hielten ihn davon ab.<br />
„D’Agosta, kennen Sie ihre Vergangenheit?“, fragte Garnere,<br />
wartete aber gar nicht auf eine Antwort. „Sie hat mit allem<br />
und jedem geschlafen, was nötig war, um sich weiterzubringen.<br />
Sie denkt immer nur an sich selbst, an ihr eigenes Wohlergehen.<br />
Ramina hat Spiers doch lediglich benutzt und jetzt<br />
fallen Sie ebenso auf ihre orionischen Pheromone herein, mein<br />
lieber.“<br />
„Sie kann keine Pheromone versprühen.“, entgegnete Allan.<br />
„Soweit ich weiß sind ihre Drüsen ineffektiv, Ramina kann<br />
das orionische Hormon nicht ausstoßen, welches-“<br />
„D’Agosta, verstehen Sie mich nicht?“, sagte Garnere laut.<br />
„Sie ist eine verdammte Nutte und das ist sie gerne! Ramina<br />
hat Spiers nur benutzt.“<br />
Eine Tür schlug zu.<br />
Alle drehten den Kopf. Ramina stand außerhalb des Lazaretts.<br />
Sie hatte alles gehört.<br />
Im Zimmer war es still.<br />
Ramina ging zur Tür, schlug mehrmals heftig mit der Faust<br />
auf die alten, rostigen Kontrolltasten, doch die Türhälften<br />
blieben verschlossen. Aus den Zimmern hinter dem Flur hörte<br />
117
sie gedämpftes, abgehaktes Stöhnen. Ab und zu auch einen<br />
Schrei, oder einen mit zittriger Stimme gerufener Name.<br />
Das kann nicht wahr sein, dachte sie. Das kann doch alles<br />
nicht wahr sein!<br />
Man hatte sie aus dem Untersuchungsraum der Raumstation<br />
im Orbit direkt hierher, in ein altes Hotel in der Hauptstadt O-<br />
rions gebracht. Aedra hatte dabei die ganze Zeit geschwiegen<br />
und nicht auf Raminas Fragen, was nun mit ihr geschehen<br />
würden, geantwortet.<br />
„Du wirst deinen Beitrag leisten.“, hatte sie nur gesagt.<br />
Ramina sah sich um. Der Raum war schmucklos und nicht<br />
sehr ausschweifend ausgestattet. Es gab Ablagen für Kleidung.<br />
Zwei Stühle standen an der Wand auf einem fleckigen Teppich<br />
und machten einen brüchigen Eindruck.<br />
Das robuste Bett war das einzig hochwertige Einrichtungselement.<br />
Es war wahrscheinlich auch das einzige, was die Besucher<br />
dieses Raumes benötigten. Schwache Leuchtstreifen an<br />
den Wänden tauchten das Zimmer in schummrig rötliches<br />
Licht. Fenster gab es keine.<br />
Ramina ging in den Waschraum nebenan. Bei jedem ihrer<br />
Schritte fiepte das Metallband an ihrem rechten Fußknöchel,<br />
dass dafür gedacht war, ihren Körper sofort mit lähmenden<br />
Schmerzimpulsen zu fluten, sollte sie je den Versuch starten,<br />
über die Türschwelle zu treten. Vermutlich würde es sie dabei<br />
auf der Stelle töten.<br />
Vorhin hatte Ramina den törichten Versuch gestartet, das<br />
Band zu lösen. Ihr war sofort ein Schlag versetzt worden, so<br />
heftig, dass sie jäh durch das halbe Zimmer, quer über das Bett<br />
geschleudert worden war. Weder der Schmerzimpuls, noch der<br />
Aufprall hatte ihr erstaunlicherweise das Bewusstsein geraubt,<br />
aber sie war fast eine Stunde lang nicht in der Lage gewesen<br />
auch nur eines ihrer höllisch schmerzenden Gliedmaßen zu<br />
bewegen und vom Boden wieder aufzustehen. Die Taubheit in<br />
den Muskeln spürte sie noch immer, weshalb sie den Wasch-<br />
118
aum nur mit schwerfälligen Schritten erreichte. Auch er war<br />
schmucklos und ähnlich spartanisch, wie das andere Zimmer.<br />
Die Wände waren kahl, der Boden hätte eine Putzkolonne<br />
dringend nötig gehabt. Der Spiegel über dem Waschbecken<br />
war gesplittert.<br />
Ramina drehte den Kran auf. Immerhin, das Wasser war sauber.<br />
Sie spritzte sich etwas ins Gesicht, um wieder wach und<br />
klar zu werden. Dann betrachtete sie ihr junges Gesicht in dem<br />
gesplitterten Spiegel.<br />
Was habe ich getan?<br />
Sie musste den Blick abwenden. Sie drehte sich um, ging in<br />
das andere Zimmer zurück und als sie aufblickte, bemerkte<br />
sie, dass die Tür zu ihrem Zimmer offen stand. Ein Schatten<br />
fiel über den Boden und ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen<br />
hatte, stand im Türrahmen. Sein schwarzes Haar war<br />
zerzaust, seine Kleidung zerschlissen und verschwitzt. Er erweckte<br />
den Eindruck eines miesen Gauners, wie sie meistens<br />
in den dunkelsten aller dunklen Gassen vorzufinden waren.<br />
Das lange Messer, dass er in seinen Gürtel gesteckt hatte,<br />
sprach Bände. An der Klinge entdeckte Ramina altes, getrocknetes<br />
Blut.<br />
Er betrachtete Ramina lange und grinste wild. Seine Zunge<br />
leckte seine Lippen. „Man sagte mir, ich sei dein erster Kunde?“<br />
Ramina wusste nicht, was sie tun sollte. Er war viel größer<br />
und kräftiger als sie. Panik stieg in ihr auf und schnürte ihr<br />
beinahe die Kehle zu. „Nein!“, sagte sie entschieden. „Nein,<br />
das ... nein, ich kann nicht!“<br />
Der Mann schloss die Tür hinter sich und nickte. Dabei wuchs<br />
sein Grinsen in die Breite. In seinen Augen funkelte es. „Oh<br />
doch, du kannst. Du hast gar keine andere Wahl.“ Er öffnete<br />
sein Hemd.<br />
Ramina fletschte die Zähne und unternahm einen verzweifelten<br />
Versuch ihn anzugreifen, aber das schien er zu erwarten,<br />
119
es schien ihm sogar zu gefallen. Bevor sie ihm auch nur annähernd<br />
gefährlich werden konnte, versetzte er ihr einen Handkantenschlag,<br />
der Raminas Kopf herumwarf und sie auf das<br />
Bett schleuderte. Für einen Moment sah sie Sterne. Und dann<br />
war er über ihr. Er umschloss ihre Handgelenke und drückte<br />
ihre Arme auf das Kissen. Sie wand ihren Körper, kam aber<br />
nicht frei. Ramina spürte seinen heißen, stinkenden Atem auf<br />
ihrer Wange, als er sein Gesicht nahe an ihres brachte und der<br />
blanke Horror schoss durch ihren Körper und Geist, als sie realisierte,<br />
was geschah.<br />
Und eine Träne rann die Wange der sonst so starken Ramina<br />
herab.<br />
„Bitte nicht!“, flehte sie. „Bitte!“<br />
Dann griff er zu seinem Gürtel, zog das Messer hervor und<br />
hielt ihr die Klinge an die Kehle. „Sei jetzt still.“, sagte er und<br />
begann ihren Hals zu küssen und schneller zu atmen.<br />
Ramina ertrug es.<br />
Sie schloss die Augen und ertrug alles still, um zu überleben.<br />
Dieser Überlebenswille vermaniferstierte sich in ihr, so feste,<br />
dass sie ihn niemals in Frage stellen sollte. In der nächsten<br />
halben Stunde erstarb etwas in Ramina. Und sie wusste, ihre<br />
Mutter hatte Recht gehabt. Ramina war die größte Bedrohung<br />
für die orionische Kultur, weil sie die Machtposition der Frauen<br />
gefährden konnte. Weibliche Mischlinge, deren verwässerte<br />
Gene das Pheromon, mit denen die Frauen die Männer beherrschten<br />
und beeinflussten, nicht hervorbringen konnten, gefährdeten<br />
das System. Mit ihnen drohten die Frauen die<br />
Machtposition auf Orion zu verlieren. Also tötete man sie, o-<br />
der setzte sie für die schmutzige Arbeit ein, um ebenso<br />
schmutziges Geld zu verdienen, wo sie niemandem schaden<br />
konnten.<br />
Ramina begriff, dass sie nirgends hingehörte. Dass sie niemanden<br />
mehr hatte. Ramina war ganz allein.<br />
120
Im anbrechenden Abend trat Ramina bedrohlich auf Garnere<br />
zu, der sie noch vor wenigen Sekunden als Nutte tituliert hatte,<br />
unwissentlich, dass sie ihn hören konnte. Sie ignorierte alle<br />
anderen Anwesenden – alle Schaulustigen - und blieb so dicht<br />
vor dem Sicherheitsoffizier stehen, dass sich fast ihre Nasenspitzen<br />
berührten. „Haben Sie irgendein Problem mit mir?“,<br />
fragte sie mit eisiger Stimme.<br />
Garnere schürzte die Lippen. „Sie haben meine Worte gehört.“<br />
Ramina nickte. „Wenn ich Sie noch einmal höre, werd ich ihnen<br />
die Kehle aufschlitzen, Garnere.“<br />
„Im Schlaf?“, fragte der Sicherheitsoffizier.<br />
Urplötzlich war es totenstill. Die Temperatur schien um mehrere<br />
tausend Grad gefallen zu sein. Von Ramina ging eine solche<br />
Kälte aus, dass D’Agosta glaubte, allein ihr Blick würde<br />
genügen, um ihn zu Eis erstarren zu lassen. Zum Glück sah<br />
Ramina ihn nicht an, als sie eine Frage an ihn richtete, sondern<br />
starrte weiterhin Garnere in die Augen. Der Sicherheitsoffizier<br />
versuchte dem Blick standzuhalten.<br />
„Lieutenant Commander D’Agosta, bleiben Sie bei der Entscheidung,<br />
dass ich die Leitung des hiesigen Sicherheitsteams<br />
übernehmen soll? Vorrübergehend und so lange, bis Hilfe eintrifft?“<br />
D’Agosta schluckte. Er spürte zum etwa hundertsten Mal an<br />
diesem Tag die Blicke der anderen auf sich ruhen. Sollte er<br />
diese Entscheidung wirklich treffen? Tat er Ramina und sich<br />
selbst damit einen Gefallen? Unter anderen Umständen hätte<br />
er sich kaum Sorgen gemacht, da ihr Zustand nur von kurzer<br />
Dauer gewesen wäre, aber er wusste mehr als die Übrigen. Ihr<br />
Aufenthalt auf dem Mond würde sehr viel länger dauern. Die<br />
Sache war doch die: Garnere konnte Ramina nicht leiden und<br />
er war ein bekannter Unruhestifter, der bislang nur durch Ronald<br />
Spiers’ problemlos im Zaum gehalten werden konnte.<br />
D’Agosta vermutete, dass er sich in der aktuellen Situation le-<br />
121
diglich übergangen fühlte und die Leitung über das restliche<br />
Sicherheitsteam vielleicht sogar selbst haben wollte. Vielleicht<br />
sogar der ganzen Gruppe, wie er seine Autorität untergrub.<br />
Oder aber es gab persönliche Differenzen, die D’Agosta nicht<br />
kannte. Aber das spielte keine Rolle, auf Garnere konnte er<br />
sich nicht verlassen. Das konnte er aber auch nicht, wenn er<br />
Ramina die Leitung übergab, denn dann würde Garnere<br />
sicherlich Ärger machen und andere, wie Fowler, gegen die<br />
Orionerin und ihn selbst aufhetzen. Andererseits, wenn er jetzt<br />
einen Rückzieher machte, dann würde wahrscheinlich er derjenige<br />
sein, der von Ramina die Kehle aufgeschnitten bekam<br />
und-<br />
Unfug!<br />
Solche Gedanken durften seine Entscheidungen nicht beeinflussen.<br />
Er musste endlich einmal handeln. „Chief Petty Officer<br />
Ramina hat als Lieutenant Spiers’ Rechte Hand und<br />
Stellvertreterin die besten Ambitionen, dafür.“, nickte er. „Also<br />
ja, ich bleibe bei meiner Entscheidung.“<br />
Ramina sagte, noch immer Garnere fixierend: „Wenn das so<br />
ist, Antonio, befolgen Sie ab sofort meine Befehle. Und wenn<br />
Sie das nicht tun, oder ungefragt den Mund aufmachen, kriege<br />
ich Sie wegen Insubordination dran. Ist das klar?“<br />
Schweigen.<br />
Der Sicherheitsoffizier hielt ihrem Blick nicht mehr länger<br />
stand und starrte an Ramina vorbei, irgendwo auf einen unsichtbaren<br />
Punkt hinter ihr.<br />
„Ist das klar?“, fragte Ramina erneut und mit mehr Schärfe.<br />
Garnere straffte seine Gestalt. „Ja.“<br />
„Ja ... und weiter?“<br />
Garnere blickte starr geradeaus.<br />
„Lieutenant, wir zollen dem Rang und dem Posten Respekt,<br />
nicht der Person.“<br />
Er grunzte. „Ja, Sir.“<br />
122
„Fein. Jetzt gehen Sie mir aus den Augen, bevor ich ihnen das<br />
Genick breche.“<br />
Garnere salutierte spöttisch, wandte sich ab und warf<br />
D’Agosta einen vernichtenden Blick von der Seite zu, bevor er<br />
mit Fowler davon stapfte. Auch die Anderen verteilten sich<br />
leise murmelnd, oder den Kopf schüttelnd. Innerhalb von Sekunden<br />
löste sich die Ansammlung auf. Ramina sah D’Agosta<br />
ausdruckslos entgegen, dann wandte sie sich an Isaac. „Erzählen<br />
Sie mir genau, was hier seit dem Absturz passiert ist.“<br />
Die Frauen gingen in die entgegengesetzte Richtung davon.<br />
Als alle abgerückt waren, oder peinlich berührt fortschauten,<br />
wenn D’Agosta in ihre Richtung sah, setzte er sich auf einen<br />
Stein und vergrub das Gesicht in die Hände. So saß er eine<br />
Weile da und schüttelte immer wieder den Kopf, bis jemand<br />
eine Hand auf seine Schulter legte. Erschrocken sah er auf. Es<br />
war Shannyn. Sie fragte: „Wollen wir spazieren gehen?“<br />
D’Agosta und Shannyn wanderten ein wenig, im matten Licht<br />
der untergehenden Sonne um das Basislager herum, während<br />
Crocker und ein paar Helfer damit begannen, die Scheiterhaufen<br />
zu entzünden, damit die Unsichtbaren, wie Athol sie nannte,<br />
nicht ins Lager eindrangen.<br />
Inzwischen war klar, dass es sich bei diesen Wesen um Chamäleons<br />
handelte - Raubtiere. D’Agosta schauderte innerlich.<br />
Sie waren erst seit kurzem auf dem Mond und hatten seine<br />
Oberfläche bereits nach kurzer Zeit als absolut feindliche Umgebung<br />
kennen gelernt. Riesige Skorpione, fressende Felsen,<br />
jagende Chamäleons.<br />
Der Mond selbst erwies sich als aggressiv und so machte er<br />
seine Bewohner zu seinem Gleichnis. Dennoch kam ihm die<br />
erhöhte Raubtierpopulation merkwürdig vor. So viele Raubtiere,<br />
so wenig Beutetiere? Er vermutete, dass dies alles an der<br />
radioaktiven Strahlen des Bodens und dem daraus resultieren-<br />
123
den Säureregen lag, hatte aber noch keine endgültige und zufriedenstellende<br />
Erklärung gefunden. D’Agosta hoffte nur,<br />
dass sie nicht lange genug bleiben würden, um sich ebenfalls<br />
an diese Umgebung anzupassen.<br />
Aber vielleicht war es auch schon zu spät. Die Sicherheitsabteilung<br />
fiel ohne Spiers’ Kontrolle ja jetzt schon übereinander<br />
her. Sie waren alle ein wilder Haufen, die meisten von ihnen<br />
hatten den Dominion-Krieg auf der Shenandoah erlebt, dort<br />
Freunde und Familie verloren. Das Schiff war häufig als Träger<br />
und Transportmittel für die Bodentruppen eingesetzt worden,<br />
wodurch auch die Sicherheitsleute an entsprechenden<br />
Operationen und Belagerungen teilgenommen hatten. An niemandem<br />
in der Sicherheitsabteilung war der Krieg spurlos<br />
vorbeigezogen. Entsprechend wild und aufmüpfig verhielten<br />
sie sich nun, jeder versuchte die Grausamkeiten der Schlachten<br />
auf andere Art zu verarbeiten. Manche wurden hart, andere<br />
Schweigsam. Und wieder andere Vorlaut.<br />
Vielleicht war das der Grund, warum sie D’Agosta mit Argwohn<br />
begegneten. Er hatte nicht im Krieg an ihrer Seite gekämpft,<br />
war nach dem Tod seiner Frau auf der Erde geblieben,<br />
weit weg von den Frontlinien.<br />
Für Leute wie Garnere musste er wie ein Verräter erscheinen.<br />
Allan seufzte und sah zur Ebene hinaus. Penkala und Dike waren<br />
noch immer nicht zurückgekehrt. Er hoffte, mit ihnen war<br />
alles in Ordnung. Er hoffte, mit Nechayev war alles in Ordnung<br />
– trotz allem. Sie sollte das Kommando über die Gruppe<br />
übernehmen. Gerade jetzt, in dieser Situation, hätte er sie gut<br />
brauchen können.<br />
Dann blickte er zu den Bergen. Irgendwo dahinter lag die Festung<br />
der Tarkon in der sich wahrscheinlich Captain O’Conner<br />
befand. D’Agosta konnte nur beten, dass es ihm gelang mit<br />
den Tarkon zu verhandeln und dass er so schnell wie möglich<br />
zurückkehrte, um den Befehl über die Gruppe zu übernehmen<br />
124
und Allan abzulösen. Wenn er überhaupt noch lebte. D’Agosta<br />
wollte feste daran glauben.<br />
„Was hat es mit dieser Ramina auf sich?“, fragte Shannyn neben<br />
ihm.<br />
„Was wollen Sie denn wissen?“<br />
„Alles.“, sagte Shannyn mit einem Lächeln. „Ich habe noch<br />
nie von ihr gehört.“<br />
D’Agosta runzelte die Stirn. „Sie sind wirklich noch nicht lange<br />
auf dem Schiff, nicht wahr?“<br />
„Nein.“<br />
„Ramina ist schon länger bei uns. Es gibt keine Beschwerden<br />
über ihre Pflichterfüllung. Im Gegenteil, soweit ich weiß, ist<br />
sie immer sehr zuverlässig. Aber damit habe ich zugegebenermaßen<br />
auch nicht so viel zu tun.“<br />
„Warum wird Sie dann gemieden?“<br />
„Woher wollen Sie wissen, dass Ramina gemieden wird?“,<br />
fragte D’Agosta verwundert.<br />
„Sagen wir einfach, ich kenne jemanden, der ähnlich verschwiegen<br />
ist.“, zuckte Shannyn mit den Schultern. Sie bogen<br />
um eine Kapsel und kehrten in das Lager zurück. Inzwischen<br />
brannten alle Scheiterhaufen. Schatten von flackerndem Licht<br />
tanzten über Shannyn’s Mine.<br />
D’Agosta sagte: „Es gibt diverse ... Gerüchte über ihre Vergangenheit.“<br />
„Ach so?“<br />
„Man sagt sie sei eine Diebin gewesen. Und schlimmeres.“<br />
„Wie hat Sie es dann in die Sternenflotte geschafft? Immerhin<br />
ist Sie Chief Petty Officer.“<br />
„Sicherheitschef Spiers sieht sich dafür verantwortlich. Die<br />
beiden kennen sich schon länger und er hat ihr erheblich unter<br />
die Arme gegriffen. Die beiden hatten eine besondere Beziehung.<br />
Sie hatten-“<br />
„Sex.“, sagte Shannyn.<br />
125
D’Agosta errötete leicht. „Genau. Aber ich denke es steckt<br />
sehr viel mehr dahinter. Es muss schon Liebe gewesen sein.“<br />
„Warum sind Sie sich da so sicher?“<br />
„Ramina verfügt meines Wissens nach nicht mehr über die<br />
Fähigkeit der orionerinnen, Männer durch das Ausstoßen bestimmter<br />
Hormone zu verführen. Ich glaube diese Organe sind<br />
verkümmert, oder etwas derartiges. Vielleicht auch durch einen<br />
Unfall zerstört, es gibt verschiedene Gerüchte darüber.<br />
Eines davon besagt, dass Sie sich zusätzliche Drüsen implantieren<br />
ließ, um mehr Macht zu erlangen. Solange, bis ihr Körpersystem<br />
schließlich kollabierte. Aber das sind nur Gerüchte.<br />
Selbst aus den Personalakten kann man nicht viele Informationen<br />
über ihre Zeit vor der Sternenflotte entnehmen. Schätze<br />
auch hier hatte Ron seine Finger im Spiel.“<br />
„Verstehe.“<br />
„Wie dem auch sei, sie war immer zuverlässig. Ich vertraue<br />
ihr.“<br />
Shannyn lächelte. „Hormonell bedingt?“<br />
Nun schmunzelte auch D’Agosta. „Nicht unbedingt. Nein, aus<br />
einem anderen Grund.“ Er blieb stehen und sah Shannyn<br />
plötzlich sehr ernst in die Augen. „Ich muss nicht unbedingt<br />
die Vergangenheit einer Person kennen. Was jemand vorher<br />
getan hat und wo jemand herkommt. Es zählt, was Sie im Hier<br />
und Jetzt tut. Darauf richtet sich mein Vertrauen.“<br />
Shannyn stemmte die Hände in die Hüften und neigte den<br />
Kopf ein wenig. Lächelnd fragte sie: „Warum habe ich das<br />
Gefühl, dass Sie jetzt nicht mehr über Ramina sprechen?“<br />
Er zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht.“<br />
Plötzlich verhärteten sich Shannyns Züge. Sie sah nicht mehr<br />
ihn an, sondern über seiner Schulter hinweg, zu der sichelförmigen<br />
Hügelkette, die das Lager im Osten umgab. „Sie sind<br />
wieder da.“<br />
126
Leuchtfeuer<br />
Manilow Crocker hob das Fernglas an die Augen und betrachtete<br />
die Gredor, wie sie starr auf der Hügelkette standen und<br />
zu ihnen herabblickten.<br />
„Sind es dieselben?“, fragte D’Agosta neben ihm. Inzwischen<br />
hatten alle die dunklen Gestalten entdeckt, deren grobe Umrisse<br />
sich vom dunklen Hintergrund abhoben. Jeder einzelne von<br />
ihnen trug eine Fackel. Sie bewegten sich nicht. Sie standen<br />
einfach nur da. Wie zuvor. Es war unheimlich, einfach unheimlich.<br />
Die Gestrandeten tuschelten nervös.<br />
„Bin mir nicht sicher.“, sagte Crocker und schaltete auf Nachtsicht<br />
um. Er war zufrieden mit sich, weil es das einzige Nachtsichtgerät<br />
war, das sie hatten und es hatte sich in der Kiste befunden,<br />
die während dem Absturz unter seinem Sitz geruht<br />
hatte. Durch das Gerät sah er die Welt in fahlen Grünschattierungen.<br />
Deutlich erkannte er die merkwürdigen Wesen hoch<br />
auf dem Berg.<br />
„Ich denke es sind gleich viele.“, sagte er und reichte das<br />
Fernglas an D’Agosta weiter. Der hielt Judy fest und reichte<br />
das Ferngerät sofort an Ramina weiter. Er selbst begnügte sich<br />
damit, die Augen zuzukneifen und zu starren. „Und? Haben<br />
die Sie angegriffen?“, fragte er.<br />
Ramina klang Ausdruckslos. „Nein.“<br />
„Wir sollten vielleicht rein gehen.“, sagte Judy. „In die Kapseln.<br />
Und sie verschließen.“<br />
127
„Die Kapseln können uns nicht mehr alle aufnehmen.“, erwiderte<br />
Allan. Drei hatten sie auseinandergenommen. Der Rest<br />
bot ohnehin kaum noch Schutz.<br />
„Ich meine ja nur.“, sagte Judy. „Dass wir in den Kapseln sicherer<br />
sind.“<br />
„Dir ist unwohl, nicht wahr?“, fragte Fowler. Judy nickte.<br />
„Das Mädchen hat in einem Punkt recht: da stimmt was nicht.<br />
Die könnten jeden Moment angreifen.“<br />
„Oder Sie warten, was wir als nächstes tun.“<br />
„D’Agosta, die stehen mitten in der Nacht auf einer Hügelkette<br />
und beobachten uns. Was glauben Sie wollen die? Uns auf<br />
ein Kaffeekränzchen einladen? Wir müssen entsprechend handeln.“<br />
Er tippte auf sein Gewehr.<br />
„Nein.“, sagte D’Agosta. „Das kommt nicht in Frage.“<br />
„Aber ich stimme Fowler zu.“, sagte Ramina und senkte endlich<br />
das Nachtsichtgerät.<br />
D’Agosta sah sie überrascht an. „Ach ja?“<br />
„Die wollen etwas von uns.“<br />
„Dann sag mal an, was die von uns wollen, Greenhorn.“, sagte<br />
Fowler. „Die sind schließlich erst aufgetaucht, nachdem du<br />
und dein cardassianischer Freund hier aufgetaucht bist.“<br />
„Ich habe sie nie zuvor gesehen.“<br />
Fowler grunzte.<br />
„Vielleicht haben Sie die Gredor unwissend zum Lager geführt.“,<br />
warf Shannyn ein. „Athol, sagtest du nicht, die Gredor<br />
seien Aussätzige?“<br />
Der Amphion nickte.<br />
„Sind es Plünderer?“<br />
„Sie suchen fremde Sachen, ja. Kein Tauschhandel. Sie nehmen<br />
sich, was sie wollen.“<br />
„Da haben wir es.“, schnaufte Fowler. „Die halten unser Lager<br />
für einen hübschen Basar. All you can stole. D’Agosta, wir<br />
sollten noch einmal dasselbe machen, wie heute Nachmittag.<br />
Sie verscheuchen.“<br />
128
„Und was hindert sie daran, zurückzukehren?“, fragte Crocker<br />
höhnisch. „Wie heute Mittag?“<br />
„Haben Sie ne bessere Idee?<br />
„Ja, die habe ich.“<br />
Crocker zog eine Sternenflotten-Decke weg und zum Vorschein<br />
kam ein kleines Gebilde, dass aussah, wie eine Art umfunktionierter,<br />
altertümlicher Mörser. Crocker hatte sie zu der<br />
Kapsel geführt, in der sie ihre verbliebene Ausrüstung bewahrten.<br />
Voller Stolz richtete er nun die Beine des Gerätes aus,<br />
stellte es auf dem sandigen Boden ab, trat zurück und rieb sich<br />
die Hände.<br />
„Was ist das?“, fragte Fowler Crocker.<br />
„Das ist ein Leuchtfeuer. Wir haben es aus verschiedenen<br />
Komponenten gebaut, war gar nicht so einfach. Ursprünglich<br />
um ein großes Signalfeuer in der Nacht zu entfachen, damit es<br />
andere Überlebende sehen und wir ihnen so den Weg zu uns<br />
weisen können. Jetzt gelingt es uns vielleicht zwei Fliegen mit<br />
einer Klappe zu schlagen. Wenn die Gredor dieses Feuerwerk<br />
erleben, werden sie die Beine in die Hand nehmen.“<br />
D’Agosta betrachtete die Konstruktion missmutig. „Und Sie<br />
denken, das klappt?“<br />
„Aye. Bei den verschollenen Schiffen des Beta-Dreiecks, das<br />
Ding wird funktionieren.“<br />
„Dadurch könnten wir die Tarkon auf unsere Position aufmerksam<br />
machen.“, warnte Shannyn.<br />
„Wird das wirklich so heftig werden?“, wandte sich D’Agosta<br />
an Crocker.<br />
„Aye. Im Umkreis von dreißig Kilometern wird man es auf jeden<br />
Fall sehen.“<br />
„Kann es den Gredor schaden?“<br />
„Keinesfalls. Ist wie ein Feuerwerk. Hell und laut. Das dürfte<br />
sie einfach erschrecken.“<br />
129
D’Agosta überlegte lange. Er sah zu der Hügelkette. Die Gredor<br />
standen weiterhin unbeeindruckt dort. Harrend. Inzwischen<br />
war ihm die Sache nicht mehr geheuer, denn in der<br />
Nacht wirkten sie noch eine ganze Ecke bedrohlicher, als am<br />
Tag. Wenn sie wenigstens etwas unternehmen würden. Irgendwas.<br />
Aber sie standen einfach nur da! Diese Ungewissheit,<br />
war einfach furchtbar.<br />
Allan wollte den Tieren nichts antun und sie auch nicht erschrecken,<br />
aber Athol war sich sicher, dass man nicht mit ihnen<br />
Kommunikzieren könnte und Allan sah keinen anderen<br />
Ausweg. Oder doch? Er überlegte einen Moment, ob er nicht<br />
vielleicht zu ihnen hoch wandern und es doch mit einer Verständigung<br />
versuchen sollte. Vielleicht würde der Universalübersetzer<br />
etwas bringen. Andererseits – warum kamen sie<br />
nicht einfach zu ihnen? D’Agosta entschied sich dann doch<br />
lieber dazu, auf Nummer Sicher zu gehen. Er suchte seine<br />
Tochter in der Menge. Sie war tapfer und still, wartete einfach<br />
ab, was als nächstes geschehen würde. Dennoch konnte er ihr<br />
ansehen, dass sie ein mulmiges Gefühl hatte. Das Risiko war<br />
D’Agosta einfach zu groß. „Die Tarkon werden unsere Position<br />
früher oder später auf jeden Fall ausmachen.“, sagte er.<br />
„Ich vertraue auf das Verhandlungsgeschick von Captain<br />
O’Conner. Wenn wir weitere Überlebende dadurch zu uns<br />
führen können, dann wird es sich lohnen. Okay, Chief. Bitte<br />
versuchen Sie es.“<br />
Crocker klatschte in die Hände. „Alle zurücktreten!“<br />
Es klapperte, als er die Aluminiumbeine des Launchers ausklappte.<br />
Noch sah das Ding, so wie es jetzt im sandigen Boden<br />
lag, aus wie ein wirrer Haufen dünner Streben – wie etwas zu<br />
klein geratene Feldstangen.<br />
„Jetzt werden wir sehen.“, sagte Crocker zu Garnere, der ihm<br />
half, das Ding aufzubauen. Die so entstehenden Beine wirkten<br />
klapprig und Schwach, aber Crocker wusste, dass die Querstreben<br />
ihm erstaunliche Standfestigkeit geben würden. Die<br />
130
Struktur wuchs, bis sie etwa ein Meter groß war. „Fertig.“,<br />
sagte Crocker. „Sollen wir?“<br />
D’Agosta nickte.<br />
„Haltet euch die Ohren zu.“ Er richtete das Rohr aus betätigte<br />
einen Schalter. Der Launcher schleuderte einen rotglühenden<br />
Ball – eine Leuchtrakete in den nächtlichen Himmel. Sie hinterließ<br />
einen rosaroten Schweif, der im Wind schnell verwehte.<br />
„Das ist alles?“, fragte D’Agosta. Kaum waren die Worte<br />
über seine Lippen gekommen, entfachte sich aus dem Ball ein<br />
wahres Feuerwerk.<br />
D’Agosta drückte Judy an sich, als eine käseglockenartige<br />
Feuerwand über die Entfernung einiger Kilometer, sich über<br />
die Ebene legte. Das Gemisch zündete immer heller nach,<br />
immer intensiver. Und immer lauter!<br />
„Es funktioniert!“, rief Isaac begeistert und deutete zu den<br />
Hügeln. Die Gredor ergriffen die Flucht. Diesmal schnell und<br />
panisch. Manche ließen ihre Fackeln fallen und rannten überstürzt<br />
fort, wild mit den kurzen Ärmchen wedelnd. Andere<br />
stolperten, oder stießen Artgenossen um.<br />
Die Sternenflottenoffiziere jubelten. Das Feuerwerk wurde in<br />
einem gewaltigen Nachglühen noch heller.<br />
„Findet euren Weg zu uns.“, murmelte Allan und hoffte, dass<br />
Ashley und Floyd das Feuerwerk sahen.<br />
Im schummrigen Licht der hereinbrechenden Nacht des Mondes,<br />
trat Beliar neben seinem Schreibtisch an das geöffnete<br />
Fenster im höchsten Turm der Tarkon-Festung und starrte hinaus.<br />
Trotz der späten Stunde war es noch warm. Zu warm für<br />
seinen Geschmack. Nicht einmal der Wind brachte ihm eine<br />
herbeigesehnte kühle Brise. Darüber sah er aber bereitwillig<br />
hinweg, bei dem Bild, dass sich ihm am Himmel jenseits der<br />
131
Hügel darbot. Dort entfaltete sich ein grün-schimmerndes,<br />
gewaltiges Feuerwerk. Beliar kniff die Augen zusammen und<br />
murmelte kaum hörbar: „Dummköpfe!“<br />
Er drehte den Kopf zu Theia, die stocksteif hinter ihm stand<br />
und über seine Schulter hinweg nach draußen zu dem Spektakel<br />
starrte. Sie schien erfreut. „Nun haben sie ihre Position<br />
verraten. Sollen wir die Artilleriegeschütze auf diese Koordinaten<br />
ausrichten?“, fragte sie.<br />
Beliar kratzte sich nachdenklich am Bart. „Nein, noch nicht.<br />
Erst will ich den Föderierten eine Nachricht - ein Geschenk -<br />
zukommen lassen. Sie sollen über den unbändigen Zorn der<br />
Kinjal informiert sein. Machen Sie ihren Jäger klar, Theia.“<br />
Theia schlug die Hacken zusammen, nickte knapp und wandte<br />
sich sofort zum Gehen. Als die Schritte ihrer schweren Stiefel<br />
verhallt waren, drehte sich Beliar wieder zu dem Feuerwerk<br />
um. Und fletschte die Zähne.<br />
Das Leuchtfeuer verklang allmählich. Es hatte ganze Zehn<br />
Minuten hell gebrannt und war sicher nicht unentdeckt geblieben.<br />
Die Gredor hatte das Lichtspektakel jedenfalls hinreichend<br />
eingeschüchtert und schließlich vertrieben.<br />
„Wunderschön, nicht?“, fragte D’Agosta, der dem schwachen<br />
Nachleuchten zuschaute. „Ich hoffe nur, es war die richtige<br />
Entscheidung.“<br />
Shannyn hinter ihm zog die Schultern ein paar Zentimeter<br />
nach oben. „Immerhin war es eine Entscheidung.“<br />
„Der Captain wird schon Erfolg bei den Tarkon haben.“, sagte<br />
Crocker. „Ich kenne niemanden, mit einen besseren Verhandlungsgeschickt.“<br />
D’Agosta nickte. „Und mit etwas Glück führt das Leuchtfeuer<br />
andere Überlebende zu uns.“<br />
Crockers Mine erhellte sich. „Aye. Mit noch mehr Glück bringen<br />
die auch etwas zu Essen mit.“<br />
132
Allan wandte sich zu ihm um. „Stimmt etwas mit den Nahrungsvorräten<br />
nicht?“<br />
„Wir haben ein paar ... Probleme.“<br />
„Definieren sie Probleme.“<br />
„O Gott, o Gott, wir werden alle sterben?“<br />
D’Agosta starrte ihn für einige Sekunden einfach nur an. Dann<br />
lächelte Crocker. „Sollte ein Scherz sein. So schlimm ist es<br />
nicht. Aber uns gehen die Vorräte langsam zur Neige. Wenn<br />
sich die Sternenflotte verspätet und wir etwas länger auf diesem<br />
Mond festsitzen, müssen wir uns nach Alternativen umsehen.<br />
Dringend. Die Leute fangen schon an sich selbst nach<br />
was essbarem umzusehen. Und ich weiß nicht, ob es hier giftige<br />
Pflanzen oder etwas derartiges gibt. Denkbar wär’s. Bin<br />
kein Koch. Ohne einwandfrei funktionierende Tricorder ist<br />
das schwer festzustellen.“<br />
D’Agosta ging zu Judy und kniete sich vor das Mädchen.<br />
„Hast du das gehört?“<br />
Judy schnitt eine Grimasse. „Wie soll man ein O Gott o Gott,<br />
wir werden alle sterben, nicht überhören?“<br />
„Denk dir nichts.“<br />
Judy rollte die Augen und ersparte sich einen Kommentar.<br />
D’Agosta schloss väterlich ihre Jacke und neigte den Kopf.<br />
„Hör mal, was hälst du davon, wenn du mein neuer Exekutivoffizier<br />
bist?“<br />
„Dein ... Exekutivoffizier?“<br />
„Ja. Du bist unser Verbindungsmann - vielmehr unsere Verbindungsfrau<br />
– zu den Amphion. Eine Botschafterin. Das<br />
warst du schon von Anfang an, die hören alle auf dich. Kannst<br />
du Athol um Hilfe fragen? Er weiß, wie man in dieser Umgebung<br />
überlebt und wo es etwas zu Essen und zu Trinken gibt.“<br />
Sein Magen rebellierte zwar bei der Vorstellung, an das Essen,<br />
was sie in Athols Lager zu sich genommen hatten, aber es war<br />
besser, als zu hungern. „Würde das mein Exekutivoffizier für<br />
mich machen?“<br />
133
„Klar, Dad. Aber lass mich bitte einfach nur deine Tochter<br />
sein, okay? Einfach nur deine Tochter.“ Sie steckte die Hände<br />
in die Jackentaschen und schlenderte zu Athol. D’Agosta sah<br />
ihr einen Moment lang nach und drehte sich dann zu Crocker.<br />
„Athol wird uns helfen. Bis es Alternativen gibt, sollen sich<br />
alle ausschließlich von den Notrationen ernähren, verstanden?“<br />
„Aye.“ Der Chief nickte und machte sich sogleich an die Arbeit.<br />
D’Agosta stand allein mit Shannyn im Zentrum des Lagers.<br />
Er sah, wie seine Tochter Athol erreichte und mit ihm<br />
sprach.<br />
„Wollten Sie mit Vierzehn in die Sternenflotte?“, fragte Shannyn<br />
leise.<br />
„Nein.“, sagte Allan nach einer Weile. „Ich denke ich hatte<br />
andere Dinge im Kopf.“<br />
Shannyn nickte nur. „Sehen Sie?“<br />
„Kein Kaffee?“, fragte Alex Penkala. „Was soll das heißen, es<br />
gibt keinen Kaffee?“<br />
Es war mitten in der Nacht. Schon wieder. Der schnelle Tag-<br />
Nacht-Zyklus des Mondes machte ihn ganz verrückt. Penkala<br />
hatte die letzten Stunden auf dem unbequemen Sitz eines eiernden<br />
Jeeps verbracht. Er und Dike waren erst vor ein paar<br />
Minuten von ihrer Fahrt raus auf die Ebene zurückgekehrt –<br />
natürlich ohne Nechayev. Nun war Penkala erschöpft und<br />
fühlte sich schmutzig. Er brauchte eine Dusche – die er aber<br />
kaum bekam – und einen Kaffee. Stattdessen sah Crocker ihn<br />
verständnislos an, während sie vor der Vorratskapsel in diesem<br />
erbärmlichen Basislager standen. Sie hatten im Jeep das<br />
Leuchtfeuer gesehen. Nun war der Himmel nur noch schwarz,<br />
die Wolken hingen tief.<br />
„Tut mir leid.“, sagte Crocker. „Nur Notrationen.“<br />
134
„Aber ich sehe die Kaffeekisten doch da hinten in der Kapsel<br />
liegen.“<br />
„Die sind für den Notfall.“<br />
„Aber-“<br />
„Nur Notrationen. Befehl von D’Agosta.“<br />
Penkala breitete die Arme aus. „Ich bin der leitende Ausrüstungsoffizier.<br />
Als solcher gestatte – nein, ich befehle – ihnen,<br />
mir auf der Stelle diesen Kaffee auszuhändigen.“<br />
Crocker brummte. „Auf dem Schiff waren Sie Ausrüstungsoffizier,<br />
Penkala. Jetzt nicht mehr.“<br />
„Seit wann das?“, fragte Penkala.<br />
Crocker stemmte die Hände in die Hüften. „Seit Sie lieber mit<br />
dem Jeep durch die Gegend tuckern, anstatt sich um die Ausrüstung<br />
zu kümmern.“<br />
„Hey, das war D’Agostas Befehl.“<br />
„Genau wie diese Sache hier. Tut mir leid, Lieutenant.“<br />
Penkala neigte eingeschnappt den Kopf. „Tut es nicht.“<br />
Crocker zog die Schultern hoch, packte die nun unbrauchbare<br />
Leuchtfeuermaschine unter die Arme und verschwand hinter<br />
der Kapsel.<br />
„Hey.“, wisperte Garnere, der in der Kapsel gesessen und die<br />
Unterhaltung verfolgt hatte. Er warf Penkala ein kleines Päckchen<br />
zu. Der Lieutenant fing es geschickt auf. Es war Kaffee.<br />
„Das ist gegen D’Agostas Anordnung.“<br />
Garnere zog die Schultern hoch. „D’Agosta ist nicht unser<br />
Kommandant. Er hat keine Ahnung. Niemand hört auf ihn.<br />
Die Sternenflotte wird ohnehin jeden Moment hier eintreffen,<br />
was soll’s also? So ein bisschen Kaffee wird niemanden töten,<br />
nehmen Sie es ruhig.“<br />
„Danke.“, sagte Penkala. Er fühlte sich etwas unsicher. „Ich<br />
weiß nur nicht, ob wir ihm so in den Rücken fallen sollten.“<br />
Garnere grunzte. „Er fällt doch uns in den Rücken. Ich bitte<br />
Sie, Rationen sind noch genug da. Außerdem ist der Mond<br />
zwar nicht gerade Risa, aber es gibt hier Pflanzen. Jeder kann<br />
135
sich selbst versorgen. Wozu sollten wir hungern? Wie gesagt,<br />
die Sternenflotte wird ja eh sehr bald eintreffen.“<br />
„Nun – Danke.“<br />
„Keine Ursache.“, sagte Garnere und deutete auf Penkalas<br />
Kopf. „Übrigens, die Wunde dort sollten Sie behandeln lassen.“<br />
Und das tat er schließlich auch. Mit kaltem, aber wohlschmeckendem<br />
Kaffee im Bauch marschierte Penkala durch das Lager.<br />
Er sah, wie die Leute sich schlafen legten. Fast jeder<br />
spähte vorher unsicher zum Himmel hoch, um sich zu vergewissern,<br />
dass nicht wieder ein Platzregen aus Säure auf sie<br />
herabstürzen würde. Aber der Himmel war Wolkenlos. Alex<br />
trank schnell seinen Becher aus und betrat das Lazarett. Es<br />
war dunkel im Innern, das Licht war gedämmt. Nur wenige<br />
Leuchtstoffröhren glühten matt.<br />
Sanitäter Roe lag quer über drei Stühle gestreckt und hatte die<br />
Augen geschlossen. Trotz der zweifelsfrei unbequemen Lage<br />
schlummerte er tief und fest. Smith saß hinter einem kleinen<br />
Arbeitstisch und sah auf, als Penkala das Lazarett betrat.<br />
„Entschuldigen Sie, wenn ich störe.“, sagte er höflich. „Aber<br />
ich hatte eine unliebsame Begegnung mit einem Stahlrohr.<br />
Vielleicht könnten Sie sich das mal ansehen?“<br />
Smith stand sofort auf und deutete auf den Stuhl neben dem<br />
kleinen Arbeitstisch. „Setzen Sie sich, bitte.“ Sie betrachtete<br />
die Wunde genau. „Eine kleine Platzwunde. Ist nicht so<br />
schlimm.“<br />
„Tut aber höllisch weh, wenn ich dran komme.“<br />
„Wie haben Sie das angestellt?“<br />
„Ach, die verdammte Nechayev.“<br />
Smith runzelte die Stirn, versuchte es nebensächlich klingen<br />
zu lassen, als sie fragte: „Nechayev?“<br />
136
„Wir sollten Sie mit dem Jeep suchen, weil sie ständig in der<br />
Ebene herumspaziert und D’Agosta sich unverständlicherweise<br />
Sorgen um sie macht. Da kam es zu demselben Phänomen,<br />
wie wir es schon mal sahen und irgendeine unterirdische<br />
Schockwelle erfolgte. Na ja, ich war nicht angeschnallt und<br />
bin gegen eine Querstrebe des Jeeps geknallt.“<br />
„So? Haben Sie Nechayev gefunden?“, fragte Smith und<br />
tränkte ein Tuch mit einer Wundsalbe. Penkala zischte, als sie<br />
damit begann, es zu verreiben. „Ja. Mitten in der Ebene.“, sagte<br />
er.<br />
„Was hat sie dort gemacht?“<br />
„Keine Ahnung. Ich will’s auch gar nicht wissen. Ihr Gorilla<br />
Nottingham hat mich abgefangen ehe ich sie zur Rede stellen<br />
konnte und ich bin lieber fortgegangen, als mich mit dem Kerl<br />
länger zu unterhalten. Sonst könnten Sie jetzt vermutlich mehr<br />
von mir flicken. Nein, nein. Meine erste Begegnung mit Nottingham<br />
hat mir gereicht. Warum fragen Sie überhaupt, Doktor?“<br />
„Nur so.“, sagte Smith schnell, versuchte desinteressiert zu<br />
klingen. „In der Wüste sagten Sie, ja?“<br />
„Richtig.“<br />
„Weit entfernt?“<br />
„An die fünfzehn Kilometer werden es wohl gewesen sein, ja.<br />
Ein ordentlicher Marsch für so eine alte Frau, was?“<br />
„Nechayev ist körperlich noch sehr fit.“ Smith befeuchtete einen<br />
Lappen und drückte ihn gegen Penkalas Wunde. Ein stechender<br />
Schmerz durchzog seinen Schädel und er zuckte zusammen.<br />
„Autsch!“<br />
„Ich muss die Wunde erst reinigen.“<br />
„Muss das so schmerzhaft sein?“<br />
„Ist gleich vorbei.“<br />
„Was ist mit meiner Stirn? Können Sie alles heilen, oder werden<br />
fortan Narben mein hübsches Gesicht verschandeln?“<br />
137
Smith griff in eine Schublade und hob einen Dermalregenerator<br />
hoch. „Ist aber nicht mehr viel drin. Können Sie ihn nachher<br />
aufladen?“<br />
„Sicher.“<br />
„Wenn das so ist, dann wird ihr Gesicht so hübsch, wie eh und<br />
je. Halten Sie jetzt still.“ Bei den Dermalregeneratoren handelte<br />
es sich um kleine Geräte, mit denen geringfügige Hautirritationen,<br />
Verbrennungen und kleine Schnittwunden behandelt<br />
werden konnten. Für größere Verletzungen reichten die Kapazitäten<br />
kaum aus, dennoch hatte Smith die vergangenen Stunden<br />
damit verbracht, mit dem kleinen Gerät Hawks Wunden<br />
minutiös zu behandeln – mit sichtlichem Erfolg. Leider stand<br />
nicht mehr in ihrer Macht, bis auf das geradezu mittelalterliche<br />
Morphium, was sich wirklich nur für den äußersten Notfall<br />
in den Kapseln befand. Jener Notfall war eingetreten. Andere<br />
Schmerzmitteln standen ihnen im Augenblick nicht zur<br />
Verfügung.<br />
Smith justierte das Gerät, beugte sich vor und ging mit äußerster<br />
Präzision über die Wunde. Der Dermalregenerator summte<br />
leise und der Regenerationsstrahl heilte das beschädigte Gewebe<br />
durch neues. Nach einer Weile erhob sie sich. „Das<br />
war’s.“<br />
„Halb so wild, wie gedacht.“, sagte Penkala und fasste sich an<br />
die Stelle, wo zuvor noch eine tiefe Wunde geklafft hatte. Nun<br />
spürte er dort nichts mehr. „Danke.“<br />
Er stand auf. Dabei fiel ihm die Plane auf, hinter der Pilot<br />
Hawk schlummerte. Sein Oberkörper war entblößt. Von den<br />
Wunden vom ersten Tag war kaum noch etwas zu sehen. Penkala<br />
senkte die Stimme. „Er ist schuld an unserem Dilemma,<br />
nicht wahr?“<br />
Smith starrte ihn an. „Was sagen Sie da?“<br />
„Ich meine ja nur. Draußen reden einige darüber. Sie sagen, er<br />
hätte den Warptransit nicht rechtzeitig ausgeführt. War weg-<br />
138
getreten, oder so. Er trägt doch die Schuld an unserem Unglück,<br />
oder?“<br />
Smith deutete zur Luke. Ihre Stimme war plötzlich eisig. „Gehen<br />
Sie jetzt.“<br />
„Ich wollte nicht-“<br />
„Raus!“<br />
„Tschuldigung.“, murmelte Penkala und verließ das Lazarett.<br />
Er schloss die Tür hinter sich. Smith ballte die Hände zu Fäusten.<br />
Roe schlummerte unterdessen friedlich weiter. Er war<br />
durch den Lärm glücklicherweise nicht wach geworden. Smith<br />
zog die Plane zurück und stellte erschrocken fest, dass Hawk<br />
die unbrauchbaren Augen geöffnet hatte und zur Decke starrte.<br />
Er musste Penkala auf jeden Fall gehört haben.<br />
„Cooper.“, sagte sie.<br />
Hawk seufzte und schüttelte den Kopf. „Ursache und Wirkung,<br />
Rhonda. Ursache und Wirkung.<br />
„Cooper-“<br />
„Lass mich.“, sagte er leise und drehte sich von ihr weg. Und<br />
schloss die Augen.<br />
139
Athol<br />
Tief gebückt kauerte Athol auf der Erde, die Nase nur wenige<br />
Zentimeter vom Boden entfernt. Er hatte vor wenigen Sekunden<br />
mit einem Stein auf den sandigen Untergrund geklopft<br />
und lauschte nun. In dieser Nacht war es ungewöhnlich warm.<br />
Er schätzte beinahe Dreißig Grad. Athols Lungen brannten ein<br />
wenig, vom beißenden alkalischen Staub. Schweiß glänzte auf<br />
seiner Stirn und dem kahlen Schädel. Doch Athol beachtete<br />
das alles nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Loch<br />
inmitten eines kleinen Sandhaufens gerichtet. Mit dem Stein in<br />
der Hand klopfte er noch einmal rhythmisch auf den Boden.<br />
Fünf Mal hintereinander. Dann hielt er inne und lauschte wieder.<br />
Judy gähnte in der Dunkelheit der Nacht. Das Kinn auf die<br />
Hände gestützt, saß sie im Schneidersitz neben Athol und versuchte<br />
wach zu bleiben, während der Amphion darauf hoffte<br />
irgendwelche Tiere aus dem Boden zu locken, um sie kochen<br />
zu können. Spinnen und Käfer oder so was, Judy wusste es<br />
nicht genau. Genaugenommen wollte sie das aber auch gar<br />
nicht. Allein bei der Vorstellung lief es ihr kalt den Rücken<br />
herunter. „Athol, was immer du da machst, es funktioniert<br />
nicht.“<br />
Der Amphion sah nicht auf, als er antwortete. „Geduld, Judy<br />
D’Agosta. Hab Geduld und vertraue darauf, dass Gott uns ein<br />
wenig hilft.”<br />
Judy runzelte argwöhnisch die Stirn. „Ihr Amphion glaubt tatsächlich<br />
an einen Gott?“<br />
140
Athol nickte eifrig. „An den Erschaffer der Welt. Meiner<br />
Welt, eurer Welt ... er gibt uns Nahrung, gibt uns Sonne. Er<br />
hat keinen Namen und kein Antlitz, aber er ist allgegenwärtig.“<br />
„Primitivo!“<br />
Der Amphion neigte den schweren Schädel zur Seite. „Glaubst<br />
du denn nicht an einen ... Gott?“<br />
Judy schnaufte. „Ich glaube nicht nur nicht an einen Gott, ich<br />
bin sogar ziemlich überzeugt davon, dass es keinen gibt.“ Leiser<br />
fügte sie hinzu: „Und falls es ihn gibt, kann er mir gestohlen<br />
bleiben.“<br />
„Aber du kannst dir doch nicht sicher sein.“<br />
„Und ob ich das kann. Ob es mir passt, oder nicht, aber ich bin<br />
ein Sternenflottenbalg, umgeben von Sternenflottenleuten. Die<br />
haben sich allesamt der Wissenschaft verschrieben, ein Glaubenssystem<br />
passt nicht in ihre Welt. Und weißt du was? Sie<br />
haben recht. Eines der ersten Dinge, die mir mein Lehrer<br />
Floyd einbläute, war der Fehler mit der Gottesidee – auch<br />
wenn ich ohnehin nie an einen geglaubt habe. Pass auf, es ist<br />
ganz einfach.“ Auch Athol setzte sich nun interessiert in den<br />
Schneidersitz.<br />
Judy deutete auf den Stein in seiner Hand. „Da, ein Werkzeug.<br />
Es ist ein simpler Stein, aber du benutzt ihn als Werkzeug.<br />
Früher oder später benutzt jede intelligente Lebensform diverse<br />
Hilfsmittel. Werkzeuge haben uns – uns Menschen, euch<br />
Amphion und sogar die Tarkon - dazu befähigt, zweckbestimmt<br />
zu denken, Dinge herzustellen und Dinge zu tun, um<br />
eine Welt zu gestalten, die besser zu uns passt. Stell dir mal<br />
einen Frühzeitmenschen vor Zwanzigtausend Jahren vor. Oder<br />
eben einen Uramphion vor... ich weiß nicht, wann ihr entstanden<br />
seit. Jedenfalls stell dir vor, wie dein oder mein früher<br />
Vorfahre sich nach einem langen Arbeitstag umsieht. Er sieht<br />
eine Welt, die ihm ganz gut gefällt. Und ich rede nicht von<br />
diesem Mond, sondern dem Ort, wo ihr entstanden seid. Pf,<br />
141
diesen Mond kann sicher niemandem gut gefallen. Jedenfalls,<br />
dein Vorfahre sieht also Berge mit Höhlen. Was kann man da<br />
machen?“<br />
„Sich verstecken.“, sagte Athol. „Unterschlupf vor Regen und<br />
Wetter finden.“<br />
„Genau.“, nickte Judy. „Und man rennt keinen Skorpionen<br />
über den Weg. Also, er sieht die Berge mit Höhlen, dann gibt<br />
es da Beeren und Nüsse und ein Bach der frisches Trinkwasser<br />
bringt und es gibt eine Menge Tiere, die man jagen und erlegen<br />
kann.“<br />
„Um sie zu essen, richtig?“<br />
„Ja, richtig.“<br />
„Und um aus ihren Knochen Waffen herzustellen, um andere<br />
Tiere zu fangen. Oder um ihre Felle zu tragen.“<br />
„Hm.“, machte Judy und musterte Athol. Er trug selber Tierfelle<br />
als Kleidung. „Vielleicht müssen wir gar nicht zu euren<br />
Vorfahren springen, ich glaube ihr seid eure Vorfahren.“<br />
„Wie meinst du das?“<br />
„Spielt keine Rolle.“, winkte Judy ab. „Dein Vorfahre hat also<br />
einen Augenblick Zeit nachzudenken und weißt du was er sich<br />
denkt? Er denkt sich, dass die Welt in der er lebt ganz gut zu<br />
ihm passt. Und dann stellt er sich eine tückische Frage, die er<br />
sich aufgrund des Wesens seiner Persönlichkeit stellt, der Persönlichkeit,<br />
zu der er sich entwickelt hat und die erfolgreich<br />
ist, weil er so denkt. Der Amphion als Macher betrachtet seine<br />
Welt und fragt sich, wer das alles gemacht hat. Kommst du<br />
mit?“<br />
„Die Frage stelle ich mir selber.“, nickte Athol.<br />
„Das tun alle irgendwann.“, sagte Judy. „Die Frage an sich ist<br />
auch völlig okay, aber dann kommen die meisten Spezies zu<br />
einem trügerischen Schluss. Zu welchem kommst du, wenn du<br />
dir die Frage stellst, wer das alles gemacht hat?“ Sie deutete<br />
mit einer wagen Bewegung zur Ebene.<br />
142
Athol schob nachdenklich das Kinn vor. „Egal wer das gemacht<br />
hat, er ist viel größer und viel mächtiger als ich.“<br />
„Und Unsichtbar?“<br />
„Ich glaube schon.“<br />
Judy lächelte. „Floyd hatte so recht! Du bist das perfekte Beispiel.<br />
Weil du nur humanoide kennst, die Dinge herstellen,<br />
gehst du davon aus, dass der Macher der Planeten so ist wie<br />
du. Nur mächtiger und natürlich unsichtbar; einer wie du und<br />
weil du als Mann der <strong>Star</strong>ke bist, der alles macht, ist dieser<br />
Gott wahrscheinlich auch ein Mann, richtig?“<br />
Athol dachte angestrengt nach und versuchte ihr aufrichtig zu<br />
folgen. „Ich denke schon, ja.“<br />
„Eindeutig. So seid ihr zur Gottesidee gelangt, genau wie viele<br />
andere auch. Und weil ihr Dinge wie Waffen, oder Werkzeuge,<br />
nur herstellt, weil ihr auch vorhabt, etwas mit ihnen anzufangen,<br />
fragst du dich doch unweigerlich, wozu dieser Gott<br />
das alles gemacht hat, wenn er es gemacht hat, richtig?“<br />
„Er hat das für uns gemacht.“<br />
Judy klatschte. „Bingo. Du bist drauf reingefallen, die Falle ist<br />
zugeschnappt.“<br />
„Ich kann dir nicht ganz folgen.“, gestand Athol.<br />
„Du denkst, dass alles ganz gut zu uns passt, richtig? Es gibt<br />
all diese Dinge, die dich ernähren und auf dich aufpassen und<br />
das das Universum – vielleicht sogar dieser Mond – wie für<br />
dich geschaffen ist was? Und du kommst dadurch zur Schlussfolgerung,<br />
dass, wer auch immer das alles gemacht hat, es für<br />
dich geschaffen hat.“<br />
„Ja, aber-“<br />
„Athol, das ist absoluter Blödsinn! Das ist etwa so, als wache<br />
eines Morgens eine Pfütze auf und denkt: „Wow - das ist eine<br />
krasse Welt, in der ich mich befinde – ein krasses Loch, in<br />
dem ich liege – passt doch ganz prima zu mir, oder? Ja, es<br />
passt so gut zu mir, dass es eigens für mich geschaffen worden<br />
sein muss.“ Und dann ist die Pfütze von der Idee so begeistert,<br />
143
dass sie sich daran klammert, während die Sonne immer höher<br />
steigt, die Luft erhitzt und die Pfütze immer kleiner wird und<br />
sich noch immer verzweifelt an die Vorstellung klammert,<br />
dass ihr doch bestimmt derjenige, der das alles für sie gemacht<br />
hat, ihr helfen wird. Es dürfte dann für sie ziemlich überraschend<br />
kommen, wenn sie einfach verschwindet.“ Judy seufzte<br />
und sagte ungewöhnlich leise und ernst: „Da ist niemand,<br />
der uns beschützt, Athol. Da ist niemand, der die Welt für uns<br />
gemacht hat. Das ist einfach durch die Natur entstanden, o-<br />
kay? Und wir sind nur eine Spezies von ganz, ganz vielen anderen<br />
und neben uns gibt es noch ganz, ganz viele Tiere.<br />
Glaub mir, ich weiß, wie Planeten entstehen. Das ist ziemlich<br />
trockener Stoff und weitweniger spektakulär, als man vielleicht<br />
denkt. Es dauert nur fürchterlich lange.“<br />
Eine Zeitlang schwiegen beide. Athol dachte sehr lange nach,<br />
während er in die Nacht hinausblickte. Nach einer Weile sagte<br />
er: „Du bist sehr klug, Judy D’Agosta. Uns hälst du bestimmt<br />
für dumm.“<br />
Judy erinnerte sich daran, wie sie vor einiger Zeit für die<br />
Schule von Mark Twain gelesen hatte. Er ging davon aus, dass<br />
alle Menschen in der Vergangenheit – und somit war quasi<br />
Athol gemeint -, ein Haufen unglaublich unbedarfter, abergläubischer<br />
Trottel waren. Aber das stimmte nicht und jetzt,<br />
wo Judy in Athols intelligente Augen blickte, wurde ihr das<br />
auch klar. Sie waren genauso intelligent und einfallsreich und<br />
nachdenklich und mutig und neugierig wie die Menschen heute<br />
und sie bemühten sich genauso, ihre Welt zu begreifen. Judy<br />
schüttelte den Kopf. „Ne. Du hast doch verstanden, was ich<br />
sagte, oder? Worauf ich hinaus will. Und du kannst es doch<br />
nachvollziehen, ja?“<br />
Athol nickte.<br />
„Siehst du? Dann seid ihr nicht dumm. Ihr denkt nur nicht<br />
richtig nach. Hast du dir je eigenständig Gedanken darüber<br />
gemacht? Über die Gottesidee, meine ich.“<br />
144
„Nun, ich habe die Überlieferungen gelesen.“, sagte Athol.<br />
„Und in den Überlieferungen-“<br />
„In den Überlieferungen, ach so. Also etwas, was jemand anderes<br />
geschrieben hat? Das hast du gelesen und ihm geglaubt?“<br />
Athol nickte.<br />
Und Judy grinste. „Weißt du Athol, dein ganzes Leben werden<br />
andere versuchen, dir etwas einzureden. Und das meiste davon,<br />
ungefähr neunundneunzig Prozent, ist falsch.“ Sie zuckte<br />
mit den Schultern. „Ist eine Tatsache des Lebens. Du wirst<br />
von allen Seiten mit Fehlinformationen vollgestopft und weil<br />
es so viele sind, ist es schwer herauszufinden, wem du glauben<br />
kannst.“ Judy lächelte tückisch, als sie hinzufügte: „Glaube<br />
am besten einfach mir. Und benutze ansonsten den da.“ Sie<br />
deutete auf seinen breiten Schädel.<br />
Athol war sichtlich beeindruckt und für einen Moment fuhr<br />
Judy der Gedanke durch den Kopf, dass sie nun, wo sie die<br />
Rollen umgekehrt hatte, auf Shannyn einen ähnlichen Eindruck<br />
erwecken konnte, wie Athol das gerade auf sie tat. Ein<br />
Primitiver. Die Vorstellung gefiel ihr gar nicht. Sie seufzte<br />
schwer, als sie sagte: „Fakt ist aber, dass niemand eine Welt<br />
für uns gemacht hat. Wir wurden einfach in sie hineingeboren<br />
und haben uns ihr dann angepasst. Und Gott... – da ist kein<br />
Gott. Der hat nicht uns erfunden, sondern wir haben ihn erfunden.“<br />
Athol deutete auf seine rechte Brust. Judy schätzte, dass die<br />
Amphion dort auch ihr Herz hatten. Oder ein entsprechendes<br />
Gegenstück. „Dann ist er hier drin.“, sagte Athol und schien<br />
mit seiner Entgegnung sehr zufrieden zu sein. Er nahm den<br />
Stein wieder in die Hand und begann erneut in bestimmten<br />
Abständen auf den Boden oberhalb des Loches zu klopfen.<br />
„Will ich dir auch gar nicht absprechen.“, sagte Judy. „Aber<br />
da nützt er einem nichts, denn das macht ihn nicht real und e-<br />
xistent. Wenn er nur in deiner Vorstellung existiert, dann kann<br />
145
er dir auch nicht helfen.“ Sie seufzte erneut und klang sehr<br />
traurig. „Da ist absolut niemand der auf uns aufpasst, Ahtol.<br />
Jedenfalls keine höhere Macht. Na, vielleicht die Q und die alle,<br />
aber das ist wieder was anderes. Die mischen sich auch<br />
nicht ein. Wir sind also auf uns allein gestellt. Es gibt keinen<br />
Gott. Da war absolut niemand, der meine Mom beschützte.<br />
Und da war auch niemand, der die weibliche Amphion beschützte,<br />
richtig?“<br />
Und dann sagte Athol in einem merkwürdigen Tonfall: „Du<br />
warst da.“<br />
Judy runzelte die Stirn und begegnete Athols Blick, der ihr<br />
zum ersten Mal auf einer befremdende Art und Weise unheimlich<br />
vorkam. Es war fast, als ob-<br />
„Ah!“, machte Athol, als seine Bemühungen endlich von Erfolg<br />
gekrönt waren. Das rhythmische Klopfen hatte etliche<br />
kleine Käfer aus ihrem Unterbau gelockt und nun krabbelten<br />
sie alle nach draußen. Ihre absurd dünnen Beinchen klackerten<br />
bei jeder Bewegung. Athol griff beherzt in die tummelnde<br />
Masse Insekten hinein und versuchte, möglichst alle Käfer zu<br />
erwischen und sie in einen großen Lederbeutel hineinzustopfen.<br />
„Eine gute Ausbeute.“, sagte er. „Das wird ein Festessen.“<br />
„Ja.“, entgegnete Judy langsam. „Ein Festessen.“<br />
Athol bemerkte, dass sie ihn nachdenklich ansah. „Stimmt etwas<br />
nicht?“<br />
Judy blinzelte und setzt ein Lächeln auf. „Lass ... lass uns einfach<br />
hier weitermachen, okay?“, sagte sie schnell.<br />
„Gut.“ Dann machten sich beide daran die Tiere in den Beutel<br />
zu stopfen, auch wenn es Judy einige Überwindung kostete die<br />
Käfer anzufassen. Aber sie konnte alles schaffen, wenn sie es<br />
nur wollte. Für den Rest der Nacht schwiegen beide.<br />
146
Penkala<br />
Dike saß im Jeep, starrte zu den Nachtfaltern und Fliegen, die<br />
zu tausenden von dem Licht der Scheinwerfer magisch angezogen<br />
wurden, und wandte den Kopf wieder zum Horizont,<br />
wo das sporadische Wetterleuchten hin und wieder die Nacht<br />
erhellte. Er staunte über die ständige und bedrohliche Ruhe,<br />
die über der Ebene lag und den Mond auszuzeichnen schien.<br />
In dieser Stille schien das Knurren seines Magens noch lauter,<br />
als sowieso schon. Als jemand die Fahrertür aufzog drehte er<br />
den Kopf. Alex Penkala kletterte auf den Sitz. „Hey, ich-“<br />
„Warte.“, sagte Dike. Er trank noch einen Schluck Wasser und<br />
schraubte dann die Flasche zu. „Verdammte Fliegen.“<br />
Sie warteten und beobachteten.<br />
Penkala trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. „Worauf<br />
warten wir eigentlich?“<br />
Dike antwortete nicht sofort. „Auf die Sternenflotte?“<br />
„Die lässt sich Zeit.“, brummte Penkala. „Warum soll sie sich<br />
auch beeilen? Wir konnten ja nicht mal einen Notruf senden.<br />
Nein, die Sternenflotte wird noch ein paar Tage brauchen, bis<br />
die mal auf den Trichter kommt, uns zu suchen und bis dahin<br />
werden wir Notrationen futtern. Es sei denn-“<br />
„Sie wird kommen.“<br />
Penkala seufzte. „Aber im Augenblick kann ich keine Rettungsmannschaften<br />
entdecken. Dafür habe ich was ganz anderes,<br />
interessantes bemerkt.“ Er öffnete das Ausrüstungsfach<br />
zwischen den Sitzen und zog einen Phaser heraus. „Wie<br />
sieht’s aus, bist du bereit, mal ein bisschen riskant zu leben?“<br />
„Nie und nimmer.“, antwortete Dike.<br />
„Und für ein paar Früchte?“<br />
147
Dike sagte nichts, aber sein Magen knurrte laut genug.<br />
„Komm, ich zeig dir was. Keine Angst, es ist innerhalb des<br />
Lagers.“<br />
Sie stiegen aus und gingen vom Jeep weg, durch die schlafenden<br />
Reihen der Sternenflottenoffiziere, zum östlichen Rand<br />
des kleinen Lagers. Dike fuchtelte mit dem Händen vor seinem<br />
Gesicht, als er durch eine Fliegenwolke trat. Sie blieben<br />
in einer kleinen Farnwiese stehen. „Was willst du mir denn so<br />
besonderes zeigen?“, fragte Dike verärgert.<br />
„Das da.“<br />
„Der Fels dort drüben?“ Dike konnte an ihm nichts besonderes<br />
ausmachen. Er war vielleicht etwas löchriger als die übrigen<br />
Felsen, aber das war auch schon die einzige Abnormität, die<br />
ihm auffiel.<br />
„Ganz genau.“, nickte Penkala. „Das ist laut Athol ein Fressender<br />
Felsen.“<br />
Dike war sichtlich ungeduldig. „Fein. Fressender Felsen, hab<br />
verstanden. Können wir jetzt wieder zum Jeep gehen?“<br />
„Sieh genau hin, Dike!“<br />
„Aber ich kann nichts ungewöhnliches-“<br />
„Genau hinsehen!“<br />
Dike zuckte mit den Schultern. Er wollte sich gerade abwenden,<br />
als er die kleinen Früchte, die überall an dem Felsen hingen,<br />
doch noch erspähte. „Sieht aus, als wäre das was zu essen,<br />
nicht?“<br />
„Ist es.“, nickte Penkala. „Kleine leckere Früchte. Die einzigen,<br />
die ich bisher auf dem ganzen Mond entdecken konnte.“<br />
„Na dann holen wir doch welche.“<br />
Dike schickte sich gerade an, auf den Felsen zuzugehen, als<br />
Penkala ihn festhielt und mit dem Kopf schüttelte. Er hob einen<br />
kleinen Stein vom Boden auf und warf ihn zielsicher in<br />
Richtung des Felsens. Dike blinzelte überrascht. Noch bevor<br />
der kleine Stein dagegen prallen konnte, zuckte aus einem der<br />
zahlreichen Löcher blitzschnell eine graugrüne Tentakel her-<br />
148
vor und schnappte nach dem Stein, nur um sich unmittelbar<br />
darauf wieder zurückzuziehen. Und es geschah schnell! So<br />
unglaublich schnell.<br />
„Deswegen wird er fressender Fels genannt.“, erklärte Penkala.<br />
„Als ich vorhin aus dem Lazarett kam, habe ich zufällig<br />
beobachtet, wie einer der dreiköpfigen Vögel auf dem Fels<br />
landete und nach einer Frucht picken wollte. Ich schätze sie<br />
setzen einen Duftstoff frei, oder so was. Wie bei einer fleischfressenden<br />
Pflanze. Und dann – Pow -, schlägt das Ding zu.<br />
Eine der Tentakeln hat den Vogel regelrecht zusammengeklappt<br />
und binnen weniger Sekunden ins Innere gezogen. Das<br />
ging so schnell, dass ich gar nicht richtig gucken konnte. Unglaublich,<br />
was?“<br />
Dike begann fast sofort zu schwitzen. Seine Stirn glänzte.<br />
„Nein.“, sagte er düster. „Hier überrascht mich gar nichts<br />
mehr.“ Er spürte, wie sein Magen knurrte, nach Essen verlangte.<br />
„Wie eine Kokosnuss.“, murmelte er.<br />
„Bitte?“<br />
„Wie eine Kokosnuss, sagte ich. Die Dinger dort. Kokosnüsse<br />
sind toll und geradezu perfekt konstruiert. Zuerst bohrt man<br />
sie an und trinkt die Milch, dann schlägt man die Nuss auf und<br />
schneidet ein Stück Schale ab, das als Werkzeug zum Herausschneiden<br />
des Kokosnussfleisches dient. Und dann hängt die<br />
Natur etwas, zum menschlichen Gebrauch dermaßen perfekt<br />
geeignetes, in sieben Metern Höhe an einen astlosen Baum.“<br />
„So?“, fragte Penkala. „Also ich für meinen Teil sehe da gar<br />
kein Problem, schließlich sind wir nicht in der Steinzeit.“ Er<br />
wedelte kurz mit dem Phaser und legte dann an. „Jetzt pass<br />
gut auf.“ Penkala zielte sehr sorgfältig, hielt den Atem an und<br />
betätigte den Auslöser. Ein orangeroter Strahl fauchte durch<br />
die Nacht und die Frucht flog im hohen Bogen seitlich von<br />
dem Felsen weg.<br />
„Exzellenter Schuss!“, lobte Dike erstaunt.<br />
149
Penkala grinste und lief zur Frucht, darauf bedacht, dem Felsen<br />
nicht zu nahe zu kommen.<br />
„Und was hast du jetzt vor?“<br />
„Sie essen natürlich. Was soll die Frage, Dike?“<br />
„Vielleicht ist sie... giftig?“<br />
Penkala seufzte, nahm den Tricorder von seinem Gürtel und<br />
klappte ihn auf. Nach einer Weile schürzte er die Lippen und<br />
schüttelte den Kopf. „Kann nichts ungewöhnliches feststellen.“<br />
„Du bist auch keine Mediziner. Lass Roe das Teil überprüfen.“<br />
„Ich bin Ausrüstungsoffizier, schon vergessen? Als solcher<br />
wurde ich darauf trainiert verderbliche oder schlechte Nahrung<br />
mit bloßem Auge zu erkennen.“ Er hielt die Frucht vor sein<br />
Gesicht und drehte sie mit den Fingern. „Und die hier erscheint<br />
mir sehr ungefährlich. Ungefährlich und schmackhaft.<br />
Willst du auch was?“<br />
„D’Agosta hat gesagt wir sollen nur die Notrationen zu uns<br />
nehmen.“<br />
Penkala überlegte einen Moment, erinnerte sich dann aber an<br />
Garneres Worte. Er machte eine abfällige Handbewegung.<br />
„Ach, was weiß der denn schon?“<br />
„Du solltest dennoch lieber-“ Bevor Dike den Satz zuende<br />
sprechen konnte, hatte Penkala bereits in die Frucht gebissen.<br />
Er kaute genüsslich.<br />
„Dike, alter Freund. Ich hab einen Absturz in einem Jeep ü-<br />
berstanden! Ich hab einen Säureregen und den Hinterhalt von<br />
zwei unsichtbaren Monstern überstanden. Die Frucht hier wird<br />
mich auch nicht töten. Wäre doch lächerlich, oder?“<br />
„Ich hoffe du bereust das nicht.“<br />
„Bestimmt nicht.“, sagte Penkala. Plötzlich verzog er das Gesicht.<br />
Er keuchte, stieß heftig auf und hielt sich den Bauch.<br />
Sein Atem kam stoßweise, als er sich vor Schmerz krümmte.<br />
Ein Anfall!<br />
150
Dike riss die Augen auf und wurde kreidebleich. „Oh Nein!<br />
Nein, nein, nein!“, sagte er immer wieder.<br />
Er wirbelte herum und wollte gerade nach den Ärzten rufen,<br />
als er das boshaft schelmische Lachen hörte.<br />
Langsam drehte er sich um.<br />
Penkala lachte fröhlich und laut. „Du bist so leicht reinzulegen.“<br />
„Du ... du blöder idiot!“<br />
Dike verschränkte die Arme vor der Brust und ging beleidigt<br />
zum Jeep zurück.<br />
„Ach komm schon, war doch nur Spaß.“<br />
„Ich rede nie wieder mit dir. Nie wieder!“<br />
Penkala, noch immer lachend, folgte Dike und klopfte ihm auf<br />
die Schulter. „Alter, dein Gesichtsausdruck – unbezahlbar.“<br />
Und genüsslich biss er ein weiteres Mal in die Frucht.<br />
151
Dorak<br />
Dorak knöpfte seine grau-schwarze Jacke zu und wandte sich<br />
wieder zum Lager um. Fünf Kapseln standen nah beieinander<br />
geschoben, zwischen den kreisförmig angebrachten Scheiterhaufen,<br />
die nun hell loderten. Die Äste knackten im Feuer.<br />
Rauch stieg in den dunklen Himmel auf und wurde ab und zu<br />
durch den warmen Wind in das Lager geweht. Es war Nacht.<br />
Dorak bemerkte, wie sich einige Sternenflottenoffiziere in die<br />
Kapseln zum Schlafen zurückzogen.<br />
Darunter waren nur die Frauen. Die Männer begnügten sich<br />
damit, unter schweren Sternenflottendecken in den Schutzbietenden,<br />
stellenweise hohlen Felsen zu schlummern. Allen<br />
schien daran gelegen zu sein, möglichst nicht im Freien zu liegen.<br />
Erst recht nicht nach dem Niedersturz eines Säureregens,<br />
den auch Dorak erlebt hatte. Nur wenige waren noch auf den<br />
Beinen. Er hörte beiläufig zu, wie an der Vorratskapsel ein Sicherheitsoffizier<br />
über einen gewissen D’Agosta – den gegenwärtigen<br />
Anführer der Gruppe – lästerte. Offenbar war sein<br />
Respekt für diesen Mann nicht unbedingt sonderlich groß. Dorak<br />
lies seinen Blick weiter durch das Lager schweifen und<br />
bemerkte ein Kind.<br />
Es waren Kinder unter diesen Leuten!<br />
Diese Erkenntnis schockte ihn ein wenig. Aber nur ein wenig.<br />
Er hätte nicht gedacht, dass Kinder an Bord der Shenandoah<br />
waren. Als er auf Cardassia Auskunft über dieses Schiff eingenommen<br />
hatte, war ihm standhaft versichert worden, dass<br />
sich keine Kinder an Bord aufhielten. Ein großer Irrtum, wie<br />
152
sich nun herausstellte. Das machte die Sache im Nachhinein<br />
komplizierter. Unschöner.<br />
Aber nun konnte er auch nichts mehr daran ändern. Ein Stück<br />
abseits der Leute, gerade noch im Einfluss der Feuerstellen,<br />
erspähte Dorak eine Frau. Eine mit blond-rotem Haar, Stiefeln<br />
und einem blankpolierten Schwert, das sie an ihrer Seite trug.<br />
Und er erkannte sie sogleich wieder. Sie saß auf einem Felsen,<br />
und las in einem Datenblock.<br />
Als er sich ihr näherte und sie ihn bemerkte, blickte die Frau<br />
auf und steckte den Datenblock ohne übertriebene Eile, aber<br />
umgehend in den Rucksack. Sie schloss den Reißverschluss<br />
und schob ihn unauffällig hinter ihre Beine. Dorak erkannte<br />
gleich, dass sie auf diese Weise verhindern wollte, dass jemand<br />
unbefugtes sich daran zu schaffen machte. Er tat so, als<br />
hätte er nichts bemerkt. Als er sie endlich erreichte, blieb Dorak<br />
einfach stehen und wartete ab, was passieren würde. Die<br />
Frau betrachtete ihn ein paar Sekunden prüfend und brach<br />
dann die Stille: „Hallo.“<br />
Dorak war etwa mittleren Alters. Seine Augen groß, aufmerksam<br />
und geheimnisvoll, das Lächeln tückisch, aber nicht ohne<br />
Charme. Und selbst für einen cardassianer war er erstaunlich<br />
groß.<br />
„Was macht der Kopf?“, fragte Shannyn.<br />
„Befindet sich entgegen meiner ersten Annahme noch auf den<br />
Schultern.“, erwiderte Dorak bedächtig und ohne eine Mine zu<br />
verziehen. „Sie sitzen hier ganz alleine?“<br />
„Machen Sie sich etwa Sorgen um mich?“<br />
„Nun, dies ist eine unsichere Region. Voll mit gefährlichen<br />
Tieren und Wesen. Die Gredor könnten zum Beispiel zurückkehren.<br />
Oder diese Gestaltwandler, von denen ich vorhin hörte.“<br />
„Das Gefährlichste an diesem Ort hier bin ich.“, sagte Shannyn.<br />
153
„Verstehe...“, sagte Dorak langsam. Er starrte sie weiterhin<br />
reglos mit seinen durchdringenden Augen an, fast so, als ob er<br />
sie einer visuellen Sicherheitsüberprüfung unterzog. „Sie klingen<br />
von sich selbst sehr überzeugt.“<br />
„Ich weiß mich zu verteidigen.“<br />
Dorak machte eine wage Geste zu dem Schwert, das an ihrer<br />
Hüfte hing. „Glaube ich ihnen gern.“<br />
Eine Pause entstand. Dorak rührte sich weiterhin nicht, stand<br />
einfach da. Vor Shannyn und sah abwägend auf sie herab.<br />
Shannyn lehnte sich ein wenig vor, hielt dem Blick problemlos<br />
stand und lächelte dünn. „Sie erwähnten die Gredor. Aber<br />
Ramina meinte, sie wären ihnen nie begegnet. Sie wissen nicht<br />
zufällig mehr über diese Wesen, oder?“<br />
Dorak blieb gelassen und lächelte nun seinerseits. „Ich war<br />
besinnungslos und habe absolut gar nichts mitbekommen.“<br />
„Verstehe...“, sagte Shannyn in demselben Tonfall, wie Dorak<br />
vorhin.<br />
Der Cardassianer sog die Luft ein und hob einen Finger. „Was<br />
mir aber keinesfalls entgangen ist, war diese bizarre Lichterscheinung,<br />
die ich kurz vor dem Absturz in einem Seitenkorridor<br />
beobachtet habe. Bei ihnen.“<br />
„Haben Sie?“<br />
„Habe ich. Sie wissen nicht zufällig mehr darüber, oder?“<br />
Shannyn spitzte die Lippen, als würde sie nachdenken und<br />
schüttelte dann den Kopf. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“<br />
Ihm fiel auf, dass sie sehr unbestimmt blieb. „Da war ein<br />
durchdringendes Licht.“, sagte er. „Eine Art Portal, denke ich,<br />
nur wenige Sekunden existent. Und plötzlich, als dieses Phänomen<br />
verschwand, standen Sie in dem Korridor.“<br />
„Einfach so?“<br />
„Einfach so.“, nickte Dorak.<br />
Shannyn sah an ihm vorbei zur Ebene, als sie antwortete: „Das<br />
müssen Sie sich eingebildet haben.“<br />
154
Dorak lächelte gefällig. „Denkbar. Wahrscheinlich spielte mir<br />
mein Verstand einen dummen Streich, nicht wahr? Darf ich<br />
dennoch fragen, wie lange Sie schon auf der Shenandoah<br />
Dienst tun?“<br />
„Ich bin erst vor kurzem angekommen.“<br />
„Interessant.“, sagte Dorak und kratzte sich am Kinn. „Warum<br />
waren Sie an Bord? Nur für diese eine Mission?“<br />
„So könnte man es nennen.“<br />
„Ganz allein?“<br />
„Ich arbeite meistens allein, ja.“<br />
„Kann ich verstehen.“, erwiderte Dorak, noch immer freundlich<br />
lächelnd. „Meine Arbeit ist auch nicht sehr glamourös.<br />
Touristen durch cardassianisches Territorium führen, hier und<br />
dort den Reisebegleiter spielen... Alleine arbeiten ist immer<br />
etwas ... einsam. Für ihren Gatten muss das doch schwierig<br />
sein.“<br />
„Ich bin nicht verheiratet.“, sagte Shannyn achselzuckend. Ihr<br />
Blick begegnete Dorak’s. Er lächelte andeutungsvoll. Shannyn<br />
wusste genau, dass Dorak ein Spiel mit ihr trieb. Und sie spielte<br />
mit, denn noch erschien es ihr harmlos.<br />
„Das überrascht mich.“, entgegnete er. „Ich meine, eine so<br />
hübsche junge Frau wie Sie-“<br />
„Ich habe nie die Zeit dafür gefunden.“, sagte sie schnell. Um<br />
das Thema zu wechseln, fragte sie: „Was ist mit ihnen?“ Es<br />
klang, als würde Sie seine Antwort auf ihre Frage gar nicht<br />
wissen wollen. Oder aber längst wissen.<br />
„Auch nicht.“<br />
„Dachte ich mir.“, sagte Shannyn und musterte ihn.<br />
„Sie sehen mich an, als würden sie mich kennen, nicht wahr?<br />
Als käme ich ihnen irgendwoher bekannt vor.“, stellte Dorak<br />
feste.<br />
„Sie sehen tatsächlich jemandem, den ich einst kannte, sehr<br />
ähnlich.“<br />
„So? Und wer war das, wenn ich fragen darf?“<br />
155
Shannyn schmunzelte. „Ich glaube sein Name war Garak.“<br />
Dorak schmatzte. „Ah. Tatsächlich? Nun, das höre ich häufig.<br />
Dabei finde ich im Grunde, dass er mir ähnlich sieht.“ Eine<br />
weitere Pause. Beide lächelten andeutungsweise, aber dabei<br />
handelte es sich nur um eine Fassade, denn eine bedrohliche<br />
Atmosphäre lag unterschwellig in der Luft. „Was wollen Sie<br />
wirklich von mir, Dorak?“<br />
„Ich versuche herauszufinden, wer Sie sind, meine Liebe.“<br />
„Shannyn Bartez.“<br />
„Nein, nein, nein. Ich meinte, wer Sie wirklich sind. Und was<br />
Sie zu verbergen haben.“<br />
Ein Schatten huschte über ihre Züge. „Haben wir nicht alle<br />
etwas zu verbergen?“<br />
Doraks Lächeln wuchs in die Breite. „Ich stimme zu. Wollen<br />
Sie wissen, was ich denke? Ich denke, Sie kommen von ganz<br />
woanders her.“<br />
„Bloß, weil Sie glauben in dem Korridor etwas gesehen zu haben?<br />
Sie übertreiben maß-“<br />
„Vielleicht von einer anderen Zeit.“<br />
„Epius-“<br />
„Ah.“ Der cardassianer grinste über beide Ohren und verbeugte<br />
sich leicht. „Soll ich ihnen sagen, warum ich mir nun sicher<br />
bin, dass Sie nicht ganz diejenige sind, für die Sie sich ausgeben?“<br />
„Warum?“<br />
Er lächelte. „Weil ich meinen Vornamen nie zu irgendeiner<br />
Gelegenheit preisgegeben habe. Sie können gar nicht über diese<br />
Information verfügen.“ Shannyn schloss einen Moment die<br />
Augen. Dorak sagte: „Für’s Erste habe ich erfahren, was ich<br />
wissen wollte.“ Damit verbeugte er sich noch einmal leicht<br />
und lies sie allein.<br />
Shannyn sah ihm nach, wie er zum Lager zurückging. Sie<br />
schüttelte den Kopf und lächelte.<br />
156
Dorak wollte zur Ausrüstungskapsel gehen, überlegte es sich<br />
aber anders, als er eine zusammengekauerte Person auf der<br />
anderen Seite des Lagers entdeckte, ähnlich weit abseits sitzend,<br />
wie die geheimnisvolle Shannyn Bartez.<br />
Es war Ramina. Sie hatte die arme um die Beine geschlungen<br />
und saß an einen Felsen gelehnt in der stillen Nacht. Ihr Blick<br />
war zwar auf die nahen Hügel gerichtet, aber sie starrte auf einen<br />
Punkt der überall war, nur nicht in diesem Raumzeitkontinuum.<br />
Sie blickte nicht auf, als sich Dorak näherte und schließlich<br />
neben ihr stehen blieb. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn ü-<br />
berhaupt bemerkt hatte, was ihm aber sehr unwahrscheinlich<br />
vorkam. Ramina war so aufmerksam, ja fast schon paranoid,<br />
dass ihr einfach nichts entging. Andererseits hatte er sie auch<br />
nie so gedankenverloren erlebt. Er verschränkte die Hände<br />
hinter dem Rücken, sah ebenfalls zu den Hügeln und wartete<br />
eine Weile.<br />
Ramina schenkte ihm noch immer keine Beachtung, also fragte<br />
er: „Wie fühlen Sie sich?“<br />
Nun drehte sie den Kopf und warf ihm einen teilweise gequälten,<br />
teilweise wütenden Gesichtsausdruck zu.<br />
„Verstehe.“, sagte Dorak.<br />
Eine Pause entstand.<br />
Dorak folgte ihrem Blick zu den Bergen. Er glaubte zu sehen,<br />
wie Schatten zwischen den Felsen dort huschten. Aber möglicherweise<br />
spielte ihm ein Verstand auch nur einen Streich.<br />
„Sie sind noch immer dort, nicht? Verstecken sich.“<br />
Ramina nickte, blieb aber weiterhin stumm.<br />
Wieder eine Pause.<br />
„Ich wurde von den anderen gebeten, unsere Position zu lokalisieren.“,<br />
sagte Dorak. „Sie scheinen mir vertrauenswürdig.<br />
Vielleicht sollten wir ihnen einfach erklären, was in der Höhle<br />
passiert ist.“<br />
157
Es dauerte eine Weile ehe Ramina etwas sagte. Sie sprach sehr<br />
leise und düster. „Teilen Sie diesen Leuten alles mit? Oder<br />
mir?“<br />
Dorak schürzte die Lippen. „Nein.“<br />
„Sehen Sie? Es ist auch nicht nötig, denn sie werden es nie erfahren.“<br />
„Nun, ganz wie Sie meinen. Es ist Ihre Entscheidung.“ Und<br />
damit drehte sich Dorak herum und kehrte zum Lager zurück.<br />
Ramina sah ihm nur kurz nach und blickte dann zur Ebene.<br />
Die Nacht war völlig Still. Und friedlich.<br />
Ramina rührte sich nicht. Sie war über das vollgelaufene Becken<br />
im Waschraum zusammengesunken und hielt den Kopf<br />
unter Wasser. Die Augen starrten vor sich hin, ohne zu blinzeln.<br />
Das Haar lag still, wie eine Wasserpflanze.<br />
Für einen Unbeteiligten musste es so aussehen, als wäre sie<br />
tot.<br />
Das war sie nicht. Nicht körperlich. Ramina starrte auf den<br />
Grund des Waschbeckens. Der Rost setzte dort bereits an. Ein<br />
kleines Luftbläschen löste sich von dem Lappen, mit dem sie<br />
den Abguss verstopft hatte. Ramina sah ihm nach, ohne sich<br />
zu bewegen und schaute danach wieder zum Grund.<br />
Sie wusste, dass sie fast fünf Minuten lang die Luft anhalten<br />
konnte. Wie viel Zeit war vergangen? Sechs Minuten? Sechs<br />
Stunden? Sie wusste es nicht. Es war ihr egal. Es war ihr alles<br />
egal.<br />
Sie würde ohnehin auftauchen, sobald ihr die Luft ernstlich<br />
ausging, denn sie wollte überleben. Und sie würde auch überleben.<br />
Sie würde es irgendwie schaffen. Irgendwie.<br />
Sie musste nur ihre Gefühle ignorieren, sie irgendwie wegschließen<br />
und den Horror ertragen, der sie erwartete, sobald<br />
sie den Kopf aus dem Wasser hob. Es würde sich ihr schon eine<br />
passende Gelegenheit bieten. Sie klammerte sich feste an<br />
158
diesen Gedanken. Der letzte „Kunde“ war vor zwei Stunden<br />
gegangen und der nächste würde sicher bald kommen. Der<br />
wievielte war das nun? Auch das wusste Ramina nicht mehr.<br />
Auch das war ihr egal.<br />
Ein bisschen Zeit hatte sie noch und bis der nächste Händler<br />
eintraf, dem man zum allgemeinen Warenangebot auch noch<br />
die Sklavinnen spottbillig zur Verfügung stellte, wollte sie die<br />
Stille unter Wasser so lange wie möglich genießen. Es war<br />
schön.<br />
So still.<br />
So friedlich.<br />
Sie spürte, wie ihre Lungen zu brennen begannen und nach<br />
Sauerstoff verlangten, aber Ramina tauchte nicht auf. Sie<br />
konnte den Atem sehr lange anhalten. Ihre Eltern hatten ihr<br />
das beigebracht.<br />
Ihre Eltern.<br />
Sie erinnerte sich, wie sie Ramina auf einer Randwelt im Taurik-System<br />
das Schwimmen und Tauchen beigebracht hatten.<br />
Fayar war mit dem lachenden Mädchen im Wasser herumgetollt,<br />
hatte sie immer wieder ins warme Nass geworfen, während<br />
Ramina immer mehr gelacht hatte.<br />
Und Melissa war dabei besorgt gewesen, so besorgt, und hatte<br />
Fayar ständig aufgefordert, vorsichtiger mit ihr zu sein, bis sie<br />
auch in den See gekommen war und gemeinsam mit Ramina<br />
vereint, hatten sie Fayar unter Wasser getaucht. Sie hatten so<br />
viel Spaß gehabt.<br />
Nun war dort niemand mehr, der sich um sie sorgte. Niemand,<br />
der ihr half.<br />
Und niemand der wusste, dass sie an dem Tag, nach dem heftigen<br />
Streit mit ihrer Mutter, eine Nachricht an den nächsten<br />
bekannten Außenposten der Orioner geschickt und darum gebeten<br />
hatte, dass man sie und ihren Vater nach Orion zurückbringen<br />
solle.<br />
Wodurch sie ihre Position und die Orioner direkt zu ihren El-<br />
159
tern geführt hatte.<br />
Ihr Kopf zuckte unter Wasser. Ihr Körper erzitterte. Lippen<br />
und Kinn bebten. Sie schloss die Augen.<br />
Was hatte sie nur angerichtet? Wie unglaublich dumm war sie<br />
gewesen? Nun sollte sie für ihre Taten bitter büßen.<br />
Ramina gluckste. Und dann stieß sie einen fürchterlichen, vom<br />
Wasser erstickten Schrei aus, den sonst niemand hörte.<br />
Am Rande des Lagers fuhr eine sanfte Briese durch Raminas<br />
langes, schwarzes Haar. Sie legte das Kinn auf die angezogenen<br />
Knie, schloss die Augen und schwieg.<br />
160
Exitus<br />
Eine Stunde später hatten sich Allan und Judy D’Agosta gerade<br />
in die Rettungskapsel zurückgezogen, um etwas zu essen<br />
und danach zu schlafen, als Isaac plötzlich die Zugangsluke<br />
aufriss und immer wieder brüllte: „Er ist zusammengebrochen,<br />
er ist zusammengebrochen!“<br />
Allan wischte sich gerade die letzten Krümel vom Mund. Er<br />
legte die Gabel hin. „Wer ist zusammengebrochen?“<br />
„Penkala!“<br />
D’Agosta sprang auf, bedeutete Judy in der Kapsel zu bleiben<br />
und stürzte mit Isaac nach draußen in die Nacht. Im gleichen<br />
Moment sprangen Smith und Roe aus dem Lazarett heraus.<br />
D’Agosta sah Crocker erleichtert aufatmen. Ein Tumult hatte<br />
sich im Lager gebildet. Er hörte hektische Rufe. Die Männer<br />
riefen nach einem Arzt. In ihrer Mitte lag ein zuckender Körper.<br />
Dike sagte immer wieder „Und er hat eben noch Witze<br />
drüber gemacht, er hat noch Witze drüber gemacht!“<br />
Smith stieß die Leute beiseite. „Was ist passiert?“<br />
„W-weiß nicht genau.“, rief Dike. Er war panisch. „Er hat sich<br />
übergeben, einen Anfall bekommen und ist zusammengebrochen.<br />
Ich dachte es sei wieder einer seiner Scherze-“<br />
Penkala war blass und sein Körper zuckte unkontrolliert.<br />
Smith beugte sich über ihn, aktivierte ihre Handlampe und<br />
richtete den Lichtkegel auf Penkala. Sie riss die Augen auf.<br />
„Mein Gott!“<br />
Er war nicht nur blass, er war kreideweiß, als hätte er überhaupt<br />
kein Blut mehr in den Gefäßen. Aus seinem Mund lief<br />
schmieriger, schleimiger Schaum. Das war definitiv kein<br />
161
Scherz! Smith erkannte sofort, dass es nicht gut aussah. Ganz<br />
und gar nicht gut.<br />
Roe tippte wild auf dem Tricorder herum. „Sein vaskuläres<br />
System spielt verrückt.“<br />
Was konnte das ausgelöst haben? Smith sah zu Dike. „Hat er<br />
etwas gegessen, oder getrunken?“<br />
Dike zögerte.<br />
„Hat er etwas gegessen, oder getrunken?“<br />
„Er hat eine der Früchte dort gegessen. Vom fressenden Felsen.“<br />
Roe begegnete Smith’ Blick. „Die sind giftig.“, sagte er leise.<br />
„Athol hat uns davor gewarnt.“<br />
„Verdammt!“ Smith sprang auf die Beine. „Los, bringt ihn<br />
rein. Schnell, schnell!“<br />
„Was tun Sie?“, fragte Dike nervös.<br />
„Versuchen sein Leben zu retten.“<br />
Roe und ein paar der anderen wuchteten den zuckenden Körper<br />
hoch und rannten los. Dabei gab Penkala merkwürdige<br />
Geräusche von sich. Crocker trat zu Dike und brummte. „Ich<br />
bin sicher, dass sie alles tun werden, was in ihrer Macht steht.“<br />
D’Agosta sah zu, wie sie Penkala ins Lazarett brachten und<br />
die Luke schlossen. Er sah durch die Fenster, wie drinnen das<br />
Licht flackernd ansprang und dann die Silhouetten von Roe<br />
und Smith, wie sie hastig Befehle gaben und gestikulierten.<br />
Die Leute wurden unruhig, tuschelten nervös und umschlangen<br />
sich selbst, als sei ihnen kalt.<br />
D’Agosta dachte an den Schaum, der ihm aus dem Mund gelaufen<br />
war und drehte sich zu Dike. „Er hat von den Früchten<br />
gegessen, sagten Sie?“<br />
Dike nickte langsam. „Es gelang ihm eine davon abzuschießen<br />
und er wollte sie probieren.“<br />
„Sie hätten das gar nicht tun dürfen!“<br />
„Aber warum-“<br />
162
„Sie hätten es nicht tun dürfen, weil ich befohlen habe, sich<br />
von dem fressenden Felsen fernzuhalten, deshalb!“, schimpfte<br />
D’Agosta. Er war sehr aufgeregt. „Diese Anordnung hat jeder<br />
erhalten. Sie hatten an dem Fels überhaupt nichts zu suchen,<br />
verstanden?“<br />
„Sie hätten auch genauso gut eine bessere Nahrungsquelle finden<br />
können.“, wandte Garnere ein. D’Agostas Zorn lies ihn<br />
kalt. „Etwas anderes, als die fürchterlichen Notrationen. Das<br />
habe ich auch vorhin zu Penkala gesagt.“<br />
D’Agosta blinzelte. „Sie? Wenn Sie ihn dazu ermutigten, haben<br />
Sie unnötig das Leben zweier Kameraden aufs Spiel gesetzt!“<br />
„Hey, ich habe niemanden zu irgendetwas ermutigt.“, verteidigte<br />
sich Garnere. „Ich konnte nicht ahnen, dass sie giftige<br />
Früchte essen. Ich äußerte lediglich meinen Unmut über die<br />
Notrationen.“<br />
„Wir sind auf diese Rationen angewiesen!“<br />
„Es war ein Unfall, Allan.“, sagte Isaac. Die anderen nickten<br />
traurig.<br />
D’Agosta konnte es nicht fassen. „Das glaub ich nicht!“, sagte<br />
er. „Das glaub ich einfach nicht! Habt ihr überhaupt den Ernst<br />
der Lage begriffen, in dem wir uns befinden?“ Er stöhnte und<br />
schloss die Augen. Natürlich konnten sie den Ernst der Lage<br />
nicht begreifen. Sie wussten einfach zu wenig.<br />
Er hörte Garnere sagen: „Tut mir leid, D’Agosta. Sie sind ja<br />
ein ganz netter Kerl, aber ein lausiger Anführer.“<br />
D’Agosta öffnete die Augen und hob den Kopf. Er begegnete<br />
durch die Reihen hindurch dem Shannyns Blick, die abseits,<br />
aber bereit zu helfen stand. Er erkannte, dass sie wusste, was<br />
er zu tun beabsichtigte. Aber er konnte in ihrem Blick weder<br />
Ablehnung, noch Bestätigung für sein Vorhaben erkennen. Sie<br />
wartete einfach ab.<br />
163
„Okay, das reicht.“, sagte D’Agosta. Er wirbelte herum und<br />
sprang in der Mitte des Lagers auf einen Felsen. „Kommt alle<br />
her und hört mir zu. Na los, hört mir zu!“<br />
Er wartete, bis sich alle um ihn herum einfanden, darauf gespannt<br />
zu hören, was er zu sagen hatte. Sie sahen zu ihm hoch.<br />
„Okay, was ich jetzt sage, wird euch sicher schocken, aber<br />
nach diesem Vorfall glaube ich, dass ich euch die Wahrheit<br />
mitteilen muss. Es ist absolut wichtig, dass ihr den Ernst unserer<br />
Lage begreift! Im Orbit ist mehr passiert, als-“<br />
„Allan.“, sagte Isaac.<br />
„Warten Sie, Brenda, ich will ihnen gerade etwas wichtiges-“<br />
„Allan! Hören Sie!“<br />
Er runzelte die Stirn und begriff jetzt erst, dass alle an ihm<br />
vorbei zum Himmel hinter ihm starrten. Er drehte sich um. Alles<br />
war dunkel. Die Hügel zeichneten sich matt in der Nacht<br />
ab. Und dann hörte er es, ein Geräusch, das er noch nie zuvor<br />
gehört hatte, ein dumpfes Knattern und Dröhnen, das immer<br />
mehr anschwoll, bis man es klar erkennen konnte: das Antriebsgeräusch<br />
einer Jagdmaschine. Im nächsten Moment donnerte<br />
ein großes Flugzeug über den Hügelkamm und raste direkt<br />
auf ihre Position zu.<br />
Die Leute stoben kreischend auseinander, aber ihnen blieb<br />
kaum Zeit. D’Agosta hatte nicht einmal die Zeit den Schock<br />
zu überwinden und seinen Beinen den Befehl zum Sprung zu<br />
erteilen, als der Jäger mit einer unglaublichen Geschwindigkeit<br />
auch schon über sie hinwegraste und er sah, wie er dabei<br />
etwas abwarf, direkt über dem Lager.<br />
Etwa zwei Meter lang, schwarz und-<br />
Eine Bombe!<br />
Nun sprang Allan endlich von dem Fels, warf sich auf den<br />
Boden und schlang die Arme über seinen Kopf. Er presste<br />
Augen und Mund zusammen und war sich sicher, dass nun alles<br />
aus war. Dass er jetzt in einer herannahenden Wand aus<br />
Feuer und Hitze sterben würde. Jeden Moment würden ihm<br />
164
Haut und Fleisch von den Knochen gebrannt. Er wartete auf<br />
die Hitze. Nach einer Weile stellte er benommen fest, dass er<br />
schon eine ganze Weile auf die Hitze wartete. Aber sie kam<br />
nicht.<br />
Allan öffnete blinzelnd die Augen und hob den Kopf. Er war<br />
nicht tot. Die anderen auch nicht. Das Lager war nicht zerstört.<br />
Er hielt am Himmel Ausschau, aber der Jäger war wieder verschwunden.<br />
Erst jetzt viel ihm auf, wie er sich offenbar entfernte,<br />
denn das dröhnende Geräusch wurde schnell leiser, bis<br />
es völlig verklang. Als nächstes hörte Allan das Getuschel und<br />
geschockte Ausrufe. Er drehte den Kopf und-<br />
Er sah, wie die Leute in der Mitte des Lagers einen Kreis bildeten.<br />
Alle waren bestürzt. Manche konnten nicht fassen was<br />
sie sahen und wandten sich ab, andere nahmen die Hand vor<br />
den Mund und rissen die Augen auf.<br />
Der Jäger hatte tatsächlich etwas abgeworfen, aber es handelte<br />
sich nicht um eine Bombe.<br />
Es war eine Nachricht. Die Tarkon ließen die Gestrandeten<br />
wissen, dass sie die Position ihres Lagers kannten. Und sie<br />
teilten D’Agosta mit, dass ihm nun niemand mehr helfen, ihm<br />
niemand mehr von der Verantwortung über die Gruppe befreien<br />
konnte.<br />
Allan D’Agosta rappelte sich wie in Trance auf und trat, unfähig<br />
klar denken zu können, auf die abgeworfene Leiche von<br />
Captain O’Conner zu.<br />
165
Fortsetzung folgt...<br />
166
Danksagung und Schlusswort<br />
Für alle, die dieses Projekt trotz <strong>Star</strong>tschwierigkeiten weiterhin<br />
unterstützten.<br />
In die Miniserie Cast Away fließen natürlich hin und wieder<br />
wissenschaftliche Forschungsbereiche und Themen mit ein,<br />
die ich als sehr interessant erachte, unter anderem die Evolutionsbiologie.<br />
All jenen, die ein wenig mehr über unsere Existenz<br />
erfahren möchten, lege ich „Das egoistische Gen“ von<br />
Richard Dawkins nahe.<br />
Es ist, als stoße man in einem dunklen und stickigen Raum die<br />
Türen und Fenster auf. Es wird einem klar, mit was für einem<br />
Chaos halbverdauter Ideen wir gewöhnlich leben, vor allem<br />
die Geisteswissenschaftler unter uns. Wir verstehen die Evolution<br />
„irgendwie“, obwohl wir insgeheim glauben, dass es mit<br />
dem Leben möglicherweise mehr auf sich hat als nur das. Einige<br />
von uns glauben sogar, dass es „irgendwie so was wie“<br />
Gott gibt, der sich um alles kümmert, was ein bisschen unwahrscheinlich<br />
klingt. Dawkins sorgt für jede Menge Licht<br />
und frische Luft und zeigt, dass der Aufbau der Evolution eigentlich<br />
sehr klar ist und sehr spannend, wenn man sie plötzlich<br />
begreift. Und wenn man sie nicht begreift, dann haben wir<br />
nicht den geringsten Schimmer davon, wer wir sind und woher<br />
wir kommen. Dennoch ist diese Miniserie natürlich reine Fiktion<br />
und dient hauptsächlich der Unterhaltung. Die darin ausgedrückten<br />
Ansichten sind meine eigenen, genau wie eventuell<br />
vorhandene sachliche Fehler.<br />
Rechtschreibfehler dürft ihr aber gerne behalten...<br />
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