Alder (1930) - Swiss Embroidery
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Frau Kettenstich<br />
/<br />
Eine industrielle Plauderei<br />
von Otto <strong>Alder</strong><br />
I<br />
Separatabdruck aus der St. Galler Jahl'esmappe <strong>1930</strong><br />
Buchdruckerei Zollihofer & Oe. - St. GaUen <strong>1930</strong>
Madame Kettenflieh.<br />
Madame KettenIlich, fühlen fleh ab und zu vernachläfftgt,<br />
weil man Ihrer viel jüngern Schweller,<br />
der Plattllichllid,erei, in der Prelfe viel mehr Aufmerkfamkeit<br />
fchenkt, als Ihnen. Sie mögen fich<br />
tröllen, denn Ihre Schweller wäre vielleicht froh,<br />
es gefchähe diesbezüglich weniger, klingt doch lange nicht alles<br />
wohl, was man über fle ausfagt und ill doch manches davon<br />
Ihrem Rufe geradezu fchädlich. Und dann dürfen Sie, Fr;m<br />
KettenIlich, eben nicht vergelfen, dafi Sie eine Matrone flnd,<br />
während die Welt flch im allgemeinen lieber mit der leichtlebigen<br />
jugend abgibt.<br />
Ich perlönlich bin aber gottlob nicht fo veranlagt und habe<br />
Ehrfurcht vor dem Alter. Das will ich Ihnen gleich beweifen,<br />
indem ich Ihnen die Herren Gebrüder Schläpfer vorllelle. Es<br />
handelt fich dabei aber nicht um zwei Brüder, wie Sie etwa<br />
denken könnten, fendern um deren drei, nämlich:<br />
Herren Albert Schläpfer-Graf, 89 jahre alt, St. Gallen<br />
Ferd. Schläpfer-Tobler, 87 jahre alt, St. Gallen<br />
j. Schläpfer-Lämmlin, 82 jahre alt, Ebnat,<br />
wahrlich ein feltenes Trio von Brüdern, die in diefem hohen<br />
Alter noch geillesfrifch in die Welt blicken. "Ich danke für<br />
Ihre Aufmerkfamkeit" werden Sie fagen, "aber was habe ich<br />
denn mit Ihnen zu tun?" Das will ich Ihnen gleich offenbaren,<br />
aber Sie müffen mir verfprechen, mich nicht zu verraten!<br />
Ich habe nämlich die drei Herren wohlweislich nicht um die<br />
Erlaubnis gefragt, von ihnen erzählen zu dürfen, und zwar aus<br />
1111/111 111111111 III~ /l1IJ 111111111111111111111111111111111<br />
3
guten Gründen; denn in ihrer gronen Befcheidenheit würden<br />
sie mir in den Arm gefallen fein und {lch dagegen gewehrt<br />
haben.<br />
Hauptfächlich ifl es der ältefle der drei, um dellentwillen ich<br />
vor diefer Indiskretion nicht zurückfchrecke, denn er ifl es, verehrte<br />
Frau Kettenflich, der am längflen von allen Ihren Dienern<br />
Treue an Ihnen geübt hat. Denken Sie {lch, heute, in feinem<br />
89. Lebensjahre, fabriziert und exportiert er immer noch die<br />
Artikel Ihrer Branche und hält Ihr Banner hoch! Das wird Sie<br />
freudig überrafchen! Falls Sie einen Lorbeerkranz zu vergeben<br />
haben, fo widmen Sie ihn bitte dem Veteranen Albert Schläpfer.<br />
Auch der zweite, der 87 jährige, hat jahrzehntelang in Ihren<br />
Dienflen geflanden und war ein Künfller in feinem Fache als<br />
"Modelflecher". Was das ifl, wiffen Sie, Frau Kettenflich, gut<br />
genug, und andern werde ich es später erklären, und dann<br />
werden auch diefe, nicht nur Sie, verHehen, warum nicht er<br />
Ihnen, fondern Sie ihm untreu geworden {lnd.<br />
Und der dritte, der 82 jährige, was ifl mit ihm, werden Sie<br />
fragen. Ja, das ifl fo eine eigene Sache und ich fage es ungern.<br />
Er ifl der einzige, der Ihnen fchon in jungen Jahren untreu<br />
geworden ifl .. Er lieB {lch verführen durch Ihre junge, vielverheiliende<br />
Rivalin, trennte {lch von Ihnen und wurde zum<br />
tlberläufer in die mechanifche Stickerei, in welcher er indes<br />
auch feinen Mann flellte; darum dürfen Sie es ihm, dem Jüngling<br />
in diefern fe!tenen Trio, nicht übelnehmen. Einfl fland ja<br />
auch er in Ihren Dienflen.<br />
Doch nun genug des Plauderns ! Ifl doch der eigentliche<br />
Zweck, Ihrem geheimen W unfche entgegenzukommen und ein<br />
bilichen zu erzählen, von dem, was Sie, geehrte Frau Kettenflich,<br />
auch Ihrerfeits feit Ihrer Geburt vor nahezu 175 Jahren<br />
alles geleiflet haben und von Ihren wechfelnden Schickfalen.<br />
4<br />
Aber dazu eben brauchte ich einen Wiffenden und wer anders<br />
könnte es heute fein, als gerade Ihr treuer Freund, Herr Albert<br />
Schläpfer, der perfönlieh während voller 75 Jahre Ihr Feld gepflegt<br />
hat? Ich erbat mir a1fo ein "Interview H<br />
von ihm, und<br />
zufammen haben wir dann den Ereigniffen nachgeforfcht, allerdings<br />
in etwas anderer Weife als es wirkliche Gefchichtsfchreiber<br />
tun würden, indem wir, was bis anhin faR nicht gefchah, der<br />
technifchen Seite befondere Aufinerkfamkeit fchenkten. Gerade<br />
das dürfte wohl Nichtfachkreife, für die ich auch fchreibe, interemeren.<br />
Sie felbfl, geehrte Frau Kettenflich, werden es verflehen,<br />
wenn das Geplauder je~t ein Ende hat und einer gewiffen<br />
Trockenheit weichen muli, die mir felbfl nicht mundet.<br />
Ihren Tauffchein konnten wir leider nicht finden, aber alte<br />
Chroniken verlegen Ihren Einzug in unfer Land in das Jahr 1753.<br />
Das will aber wohl nur heilien, daJi fleh die Kettenflichflickerei<br />
von dann an zu einer Induflrie entwickelte. Eine alte Sage erzählt<br />
zwar, dali das Stid,en auf Veranlaffung in Lyon etablierter<br />
fI. gallifcher Kaufleute bei uns eingeführt wurde, und dali dafür<br />
zwei Türkinnen als Lehrmeiflerinnen nach Appenzell gebracht<br />
worden feien. Im Kaufrnännifchen Directorium ifl ein Fries<br />
zu fehen, in deffen Mittelflück Maler E. Rittmeyer dies darflellt.<br />
Eine fehr gute Reproduktion des Gemäldes befindet {lch im<br />
wohlgelungenen Zentenarbuch des Kantons St.Gallen von 1903.<br />
Wenn man aber in den Mufeen die kunilvollen Stickereien<br />
fleht, welche auch in den Schweizerklöilern und von den Frauen<br />
der oft in Kriegen abwefenden Schloli- und Burgherren gefchalfen<br />
wurden, fo könnte man zum Schluffe gelangen, daJi<br />
" der Anfloli zum Entilehen einer Stickerei-Induilrie ebenfogut<br />
von dort her hat kommen können. Allerdings haben diefe<br />
Stickerinnen wenig mit Kettenflich gearbeitet, wohl aber die<br />
Orientalinnen, hauptfächlich in Seide und Metall, wie noch<br />
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heutigen Tages. Von einer Induflrie konnte man aber erfl<br />
zirka ab 1820 fprechen. Es wurde bis etwa 1860 ausfchlielilich<br />
auf ganz feine Moulfeline geflickt, anHinglich fogar nur auf echt<br />
ollindifche Feinmoulfeline, bis dann auch unfere oflfchweizerifche<br />
fortfchrittliche Moulfeline-Weberei dazu gelangte, die<br />
Moulfeline in der nötigen Feinheit herzullelIen.<br />
Die in jener Zeit produzierten Artikel waren mannigfaltige:<br />
Taufkleider, Mouchoirs, Kragen, Manrchetten, Schärpen, Barben,<br />
Schleier, Kappen, Fichus, Ärmet Hauben, Schürzen, Pelerinen,<br />
Allovers, Einlä~e und Bandes etc., fafl alles in Weili.<br />
Wer flch dafur interelllert, flndet einige gute Beifpiele von<br />
Erzeugnilfen jener Zeiten im Induflrie- und Gewerbe-Mufeum<br />
in SI. Gallen.<br />
Die damalige Kettenflichllickerei war gänzlich Handarbeit<br />
der feinflen Art, wie fle heute gar nicht mehr in Quantitäten<br />
erllellt werden könnte; denn diefe Kunllfertigkeit ill feit der Erfindung<br />
der Kettenflichmafchine fall gänzlich verloren gegangen.<br />
Einzig im Rheintal foll noch etwa ein Du~end Heimarbeiterinnen<br />
darin tätig fein. Sie flnd naturgemäli von der alten Garde.<br />
Diejenige, die ich befuchte und an der Arbeit fah, ill 85 Jahre alt.<br />
Der Fabrikationsprozeli war folgender: Die Zeichnungen<br />
talentierter Fachentwerfer wurden mit Kohle auf Papier entworfen,<br />
wobei befonders darauf zu achten war, dali fle möglichfl<br />
fortlaufend geflickt werden konnten. Nachdem fle gelliipfelt<br />
waren, wie dies heute noch gefchieht, kam das, was<br />
man heutzutage in der Kettenflichllickerei nicht mehr kennt:<br />
das Modelftechen. Auf glatte, zirka 4 cm dicke Ahornholzfcheiben<br />
bis zur Grölie von 60 cm' wurde die geflüpfelte Zeichnung<br />
mit Staubdruck durchgepaufl und eingebrannt, d. h. fixiert.<br />
Mit etwa zwanzig verfchiedenen feinen Eifenwerkzeugen verfehen<br />
, machte nun der ModeHlecher, der Zeichnung folgend,<br />
6<br />
ein zirka >1 mm tiefes Gräbchen. In dasfelbe fchlug er mit<br />
einem Hämmerchen ein etwa 5 mm breites und 1 mrn dickes<br />
Metallbändchen fenkrecht mäglichfl gleich tief hinein, wobei er<br />
flch einer kleinen Zange mit abgerundeten Schnäbeln bediente,<br />
mit welcher er dem MetaJlbändchen die Formung gab, ehe er<br />
es einfchlug. Diefes belland lange Jahre aus Melllng, fpäter<br />
ging man aber, der Billigkeit wegen, auf Zinkbändchen über.<br />
Weil es unmäglich war, die MetaJlbändchen gleichmäliig llark<br />
vorllehend einzufchlagen, mulite der fonfl fertige" Model" noch<br />
auf einem glatten. harten Stein einge[chliffen werden, was eine<br />
fehr anllrengende Arbeit bedeutete. Endlich wurde auf der<br />
Rückfeite noch ein Handgriff für das Drucken eingekerbt, bei<br />
ganz grolien Modellen auch deren zwei, da wegen der Schwere<br />
des Models in diefern FaJle zwei Drucker zufammen arbeiten<br />
muliten. Die Tätigkeit des Modelflechers war keineswegs eine<br />
mechanifche, fondern fle erheifchte Gefühl für die oft fehr komplizierte<br />
Zeichnung, und da gab es recht unterfchiedlich qualifizierte<br />
ModelRecher, nicht wahr, meine verehrte Frau KettenRich!<br />
Zu den Meillern in feinem Fach gehärte nun unfer Freund, der<br />
87jährige Herr Schläpfer-Tobler. Noch bis gegen 1900 war er<br />
darin tätig; mit dem neuen Jahrhundert aber wurden Sie, Frau<br />
Kettenllich, ihm untreu, und er ill nun heute wahrfcheinlich der<br />
einzige noch lebende ehemalige Modelflecher!<br />
Wenn ich mich bei diefen technifchen Details falange aufgehalten<br />
habe, fo ill es, weil ich etwas festhalten mächte, delfen<br />
man fleh allgemein gar nicht mehr erinnert, und das man auch<br />
in keiner Chronik findet. Im Indullrie- und Gewerbemufeum<br />
St. GaUen flnd noch einige kleinere" Mödel" aufbewahrt.<br />
Obige Befchreibung zeigt, dali man es hier mit einem fehr<br />
kollfpieligen und dazu noch äulieril fchwerfäUigen Syilem zu<br />
tun hat, welches nur folange Zeit Belland haben konnte, weil<br />
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in früherer Zeit die gleichen Muller jahrelang hindurch immer<br />
und immer wieder bellellt wurden.<br />
Als dann die grolien Vorhänge und die mächtigen Stores<br />
aufkamen, wobei für jedes einzelne MuRet eine ganze Reihe<br />
von Mödeln zusammengefeIlt werden mulite, da wurde es geradezu<br />
zur Notwendigkeit, einen andern Weg zu suchen. Man<br />
fand ihn im bezeichnenden Ausdruck "Schmierdruck", der darin<br />
beiland, dali man für den Druck direkt auf den Stoff das geilüpfelte<br />
Papier mit einer nicht zu flü!figen Farbe überilrich. Anfänglich<br />
war diefes Prozedere recht mangelhaft, fo dali es nur<br />
für grobe Ware angewendet werden konnte. Das war denn<br />
auch der Grund, weshalb man flch, wie gefagt, für feine Artikel<br />
bis ans Ende des 19. Jahrhunderts noch an die Kunil des Modelilechers<br />
wenden mulite, insbefondere für Artikel, die nach dem<br />
Sticken nicht mehr der reinigenden Bleiche unterworfen werden<br />
konnten. Zum Werkzeug der Kettenilichilickerin gehörte<br />
der "Tambouri" dem die eng1ifche Bezeichnung "Tambour<br />
<strong>Embroidery</strong>" für Kettenilich-Artikel feinen Urfprung verdankt.<br />
Es iil dies der runde Rahmen, in welchem das vorbedruckte<br />
Gewebe eingefpannt wird, der gleiche, wie er in der Appenzeller<br />
Handilickerei im Gebrauche iil.<br />
Sodann ein eigenartiger,etwas komifcher Fingerhut aus Blech,<br />
aufbeiden Seiten offen und vorne mit einem rundlichen Schlill<br />
verfehen. Er wird auf den Zeigfinger der rechten Hand aufgellülpt<br />
und dient als Führung eines metallenen Häkchens mit<br />
einem ea.13 em langen Holzgrifl. Diefes wird vom Daumen der<br />
rechten Hand und dem gebogen gehaltenen Mittelfinger auf<br />
und ab durch den Stoff geilolien und erfalit dabei denflch hinter<br />
demfelben auf einer Spule befindlichen, von der linken Hand<br />
geführten Stickfaden. Es zieht diefen auf die Vorderfeite des<br />
gefpannten Gewebes, wobei flch dort eine Schlaufe bildet, durch<br />
8<br />
deren Mitte das Häkchen flicht, ja dali fle vorne auf dem Stoff<br />
befeiligt iil. Derart, Schlaufe an Schlaufe gereiht, ergibt flch<br />
dann, der Zeichnung folgend, das Bild einer Kette, daher der<br />
Name "Kettenflich".<br />
Wenn man bedenkt, dali für die obengenannten vielfältigen<br />
Artikel jahrzehntelang nur ganz feine Garne zur Verwendung<br />
kamen, mittels welchen die zarteilen Zeichnungen in allen ihren<br />
Biegungen ebenfo vollkommen wiedergegeben wurden, wie<br />
von der Appenzeller Handilickerei, und fleht, wie z. B. die feine<br />
MouiTeline mit zahllo[en, zarten Motiven in ganzer Breite überilickt<br />
wurde, und flch vorilellt, wie langfarn das Sticken von<br />
Hand vor flch ging, fo begreiil man, dali, wie berichtet wird, zu<br />
Zeiten lebhaften Gefchäftsganges eine Maffe von Heimarbeiterinnen<br />
erforderlich war; man fpricht von 30-40,000! Dali<br />
eine folche Unzahl im Appenzellerland und im Rheintal, wo<br />
fle ihren Standort hatten, nicht zu finden war, ill gegeben. Die<br />
von dort und von der Stadt St. Gallen aus beherrfchte Induilrie<br />
fah flch gezwungen, über den Rhein zu gehen, ins Vorarlberg,<br />
in den Bregenzerwald und über den Bodenfee nach Schwaben<br />
hinaus. Trolldem mulite mit unheimlich langen Lieferzeiten<br />
gerechnet werden, um [0 mehr, als im Sommer nur wenig ge~<br />
flickt wurde. Ein mit diefer Eigenfchaft behafteter Artikel würde<br />
von der heutigen, nervöfen Käuferfchaft überhaupt nicht angerührt<br />
werden!<br />
Während anfangs die Handketten!lich-Produkte aufMouffeline<br />
ganz blind waren, hat man die Technik allmählich durch<br />
Applikation von Tüll bereichert, ferner durch Ziehhöhle. Sodann<br />
flickte man auch auf feinen Tüll, zuer!l mit Mouffeline-Applikation,<br />
fpäter direkt auf Tüll, ebenfalls durch Mifchung von<br />
Ziehhöhlen belebt.<br />
Ab 1790 kamen als Grundfloff die feinen franzöflfchen Linons<br />
9
und Batilies zur Verwendung, angeregt durch die Pariferkundfchaft,<br />
die von allem Anfang an der Kettenllichllickerei ein befonderes<br />
Interelfe entgegenbrachte.<br />
Es blieb aber keineswegs ausfchliefilich bei weiJien Artikeln,<br />
fondern auch die Buntllickerei in Seide und Metall wurde gepflegt,<br />
insbefondere für ShawIs und Roben, und zwar fchon im<br />
achtzehnten Jahrhundert.<br />
Neben blühendem Gefchäftsgang kannte man zu jener Zeit<br />
fchon Krifenzeiten, wird doch im Jahre 1793 berichtet von Be<br />
Rrebungen zur "Einführung neuer InduRrien" J weil man Geh<br />
von der Stickerei abwende. Da war es denn ein grofies Glück,<br />
daJi in den 1820er Jahren flch ein neues Feld für die Kettenllich-Stickerei<br />
eröffuete: die Vorhangllickerei in allen ihren<br />
Formen: Vorhänge, Stores und Vitrages, welche flch in wenigen<br />
Jahren zu einern bedeutenden Exportartikel entwickelte. Lange<br />
Zeit befchränkte man flch auf Moulfelinegrund in blinder<br />
Stickerei; fpäter auch bereichert durch Ziehhöhle. Es dauerte<br />
fall 30 Jahre bis man Tüllrideaux mit Stoff applikation als Neuheit<br />
brachte. Nach weitern 10 Jahren tauchten Vorhänge auf,<br />
welche direkt auf Tüll gellickt waren. Dabei hatte es aber fein<br />
Bewenden bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, und auch<br />
die Art der Zeichnungen blieb flch llets annähernd gleich, fo<br />
dafi man anflng, des Artikels fatt zu werden.<br />
Einen neuen bedeutfamen Auffchwung aber nahm er dann<br />
im Jahre 1888, als es gelang, unfern Kettenllichvorhängen den<br />
Charakter von Spi~envorhängen zu geben, indern man alte<br />
Spi~en als Vorbild nahm und mit ihren Effekten die Vorhänge<br />
umrahmte. In den reichlich vorhandenen illullrierten Werken<br />
über belgifche und franzöflfche, auch italienifche Spi~enarten;<br />
lland man vor einer fall unerfchöpflichen Quelle von Anregungen.<br />
Es war dies eine Zeit des Fortfchrittes - endlich!<br />
10<br />
Sie gellatten mir wohl, fehr gefchä~te Frau Kettenllich, hier<br />
ein perlönliches Erlebnis einzufchalten:<br />
Infolge Todes des Chefs des Rideauxdepartementes meiner<br />
Firma, als erlles Opfer der damals erllmalig grafllerenden Influenza,<br />
muJite ich vorübergehend den fchöpferifchen Teil feiner<br />
Tätigkeit übernehmen. Das lag mir, weil ich in meinem eigenen<br />
Rayon ja ohnehin das Spi~enfach bearbeitete und daher darin<br />
Befcheid wuJite. Abgefehen von den technifchen Schwierigkeiten,<br />
flellte fleh mir eine andere entgegen, indem die Zeichner<br />
der Fabrikanten, vielleicht in Ermanglung von Anleitung feitens<br />
ihrer Chefs, flch nicht richtig auf die ganz neue Aufgabe einllellten.<br />
Wir befchlolfen daher, denfelben unfere eigenen Zeichnungen<br />
zur Ausführung zu liefern und hatten damit um fo mehr<br />
Erfolg, als wir als Entwerfer eine ausgezeichnete Kraft befalien,<br />
die flch fehr rafch in den ganz neuen Aufgaben zurechtfand<br />
und auch technifch "zu Haufe" war. Er hieJi Frifchknecht und<br />
war allgemein bekannt, weil die Natur ihn körperlich auf ganz<br />
arge Weife vernachläfllgt hatte. Auf einern zwerghaften und<br />
ganz verkrüppelten Körper ruhte aber ein prächtiger Kopf, der<br />
den Defekt vergelfen lieJi. Noch mehr taten es aber feine<br />
Leillungen. Als ich ihm einll meine Verwunderung darüber<br />
ausfprach, dali er mit diefen verkrümmten Händen überhaupt<br />
zeichnen könne, meinte er lächelnd, es gebe ja Zeichner ohne<br />
Arme.<br />
Die hervorragendllen Zeichner jener Zeit waren Weber<br />
Benz, St. Gallen, ein Künlller erllen Ranges, fodann Reich der<br />
ältere, der Firma Gebrüder Reich in Paris, und ausgezeichnet<br />
auch delfen Schüler Kürfteiner von Mick & Kürlleiner in Paris,<br />
welche alle ebenfalls für den St. Gallermarkt arbeiteten.<br />
Bei diefern AnlaJi darf wohl erwähnt werden, daJi, wie damals<br />
fo auch heute noch eine Anzahl der bedeutendllen Parifer<br />
11
Textil-Zeichnungs-Ateliers mit zum Teil über dreiliig "Artifles"<br />
in den Händen von Schweizern flnd, bei welchen oft Schüler<br />
unferes Induflrie- und Gewerbemufeums ihre weitere Ausbildung<br />
genieiien.<br />
In der eben befchriebenen fortfchrittlichen Periode hatten<br />
Sie, verehrte Frau Kettenflich, unfchä~bare Hilfstruppen an<br />
der Zeichnungsfchule, die vom Kaufmännifchen Directorium<br />
Anno 1867 gegründet worden war und an deren Lehrern Schlatter<br />
und lenny. Sodann an den Schä~en des Induflrie- und Gewerbe-Mufeums,<br />
das zehn lahre fpäter, ebenfalls vom für die<br />
Induflrie je und je tatkräftig wirkenden Kaufmännifchen Directorium<br />
erbaut wurde, und diefe Zeichnungsfchule in flch aufnahm.<br />
la, Frau Kettenflich, nun konnten Sie fchmunzeln und<br />
flch des neu eingezogenen fchöpferifchen Beflrebens freuen.<br />
Nacheinander wurden bearbeitet: die flachen DenteIles de<br />
Milan und DenteIles de Venise, teils mit, teils ohne Spachteln,<br />
bei welch le~teren die einzelnen Motive der Spi~e gegenfeitig<br />
an flch felbfl Halt hatten.<br />
Dann kamen die koflbaren DenteIles de Venise a relief, bei<br />
welchen das fo charakteriflifche Relief durch den fogen. "Langflich"<br />
hervorgebracht wurde, und zwar als Handflickerei mit<br />
vielfädigem, ungezwirntem Garn, das rafch deckt.<br />
Der GrundRoff aller diefer Spi~envorhänge war der Tüll und<br />
eine Applikation von Nanzouk gab die Illuflon des Geflechtes,<br />
mit welchem die echte Handfpi~e die KontraRwirkung im Deffin<br />
hervorbringt. Diefe neuen Techniken erheifchten ein Heer von<br />
Ausfchneiderinnen, fogen. Höhlerinnen, Ausbefferinnen und<br />
Verweberinnen, womit Sie, verehrte Frau KettenRich, willkommenen<br />
neuen Verdienfl in die Bergdörfer brachten. Die Arbeit<br />
des Höhlens wurde nämlich erfl nach dem Bleichen gemacht.<br />
Dabei war abfolute Reinlichkeit unerlälilich, und wo anders<br />
12<br />
wurde diefe mehr gepflegt als in den hiefür renommierten<br />
Appenzeller Dörfern und Einzelhäuschen, vor denen man, wie<br />
auch heute noch, die Arbeiterinnen bei fchönem Wetter an<br />
ihrer heikeln Arbeit im Freien beobachten konnte.<br />
Aber noch über etwas anderes konnten Sie flch, Frau Kettenllich,<br />
zu jener Zeit freuen: Man pflegte die Solidität des neuen<br />
Fabrikates, indem man die Ränder der auszufchneidenden Pi ..<br />
guren des DeHlns "unterRickte H J d. h. in FeRonRich ausführte,<br />
wodurch ein AbreiBen der Ränder in der Wäfche abfolut vermieden<br />
wurde. Wichtig war dazu auch die Verwendung nur<br />
guter Tüllqualitäten.<br />
Das alles bedingte für die neuen Artikel hohe Preife; fle<br />
wurden indes, fpeziell von den Amerikanern, willig bezahlt,<br />
wie überhaupt diefe es waren, welche die[en Neuheiten den<br />
Erfolg bereiteten.<br />
Dali folche Herrlichkeit nicht allzulange währte, wiffen Sie,<br />
Frau Kettenllich, nur allzugut. Mit dem Begehren nach Verbilligung<br />
verfchwand das UnterRicken und damit die abfolute<br />
Solidität. Es entRand eine quafl Imitation der Imitation, ein<br />
Maffenartikel, deffen flch haupdächlich Walzenhaufen bemächtigte.<br />
Glücklicherweife tauchte in der Folge ein anderer Artikel,<br />
der Brüffeler Vorhang, auf, und gelangte zu Erfolg. Er war<br />
gänzlich auf Tüll geflickt, jedoch nicht, wie die früheren Tüllvorhänge,<br />
mit einheitlichem grobem Garn, fondern fie trugen<br />
den Charakter von Alen
von Duftigkeit, welcher den Artikel fo beliebt machte, da§ er<br />
bis zur Stunde ein Hauptartikel geblieben Hl.<br />
Eine Variante desfelben bilden die wegen der gleichen Eigenfchaft<br />
der Duftigkeit auch beliebten Doppeltüll-Vorhänge, bei<br />
welchen durch die Applikation eines zweiten Tülls, der nur in<br />
den Blumen, Blättern und Ornamenten flehen bleibt, eine feine<br />
Transparenz diefer Motive und damit das Ausfehen von Brüffeiervorhängen<br />
gewonnen wird. Auch diefer Artikel beanfprucht<br />
viel Ausfchneiden. Duftig wie die Techniken diefer beiden<br />
Artikel foilen auch die DeHlns fein. Was hätte fich belfer für<br />
fie geeignet, als die Louis-XV.- und Louis-XVI.-Stile mit ihrer<br />
Eleganz, die in vielen andern Induftrien auch immer und immer<br />
wieder obenauffchwingen? Daneben ifl der Empireflil mit<br />
Recht beliebt. Das Studium diefer Stile ifl daher für jeden<br />
Entwerfer wichtig.<br />
Nun aber darfich nicht länger zögern eines Ereignilfes zu<br />
gedenken, das, verehrte Frau Kettenflich, von höchfler Wichtigkeit<br />
für Ihre Induflrie wurde und erll die volle Ausbeutung der<br />
vielen neuen Artikel geflattete. Es ifl dies die Erfindung<br />
der einnadligen Kettenflichmafchine, deren Anfänge<br />
auf das I ahr 1865 zurückgeführt werden, die aber erfl in den<br />
siebziger lahren zu allgemeiner Verwendung gelangte. Zum<br />
Unterfchied zur bisherigen feinen Hand-Kettenflicharbeit und<br />
zu der in diefer Zeit aufgekommenen mechanifchen Stickerei<br />
wurde ihr Produkt "Grobflickerei" genannt, obfchon diefe Bezeichnung<br />
nicht gerade fchmeichelhaft klingt. Die erfle einigerrnaben<br />
verbreitete Kettenflichmafchine war diejenige von Mechaniker<br />
Scha~ in Weingarten. Fafl gleichzeitig löfle auch Bo nnaz<br />
in Paris das Problem in noch wefentlich verbelferter Weife,<br />
trat dann aber fpäter feine Erfindung an den Mechaniker Cornely<br />
in Paris ab, der im lahre 1868 die erflen Mafchinen nach<br />
14<br />
St. Gallen brachte, die in Tarare bereits aufgeflellt worden waren.<br />
Von da an fegeIte die Kettenllichllickerei unter verfchiedenen<br />
Namen:<br />
Kettenllichflickerei, Broderie au point de chainette, Chainstitch<br />
embroidery,<br />
Bonnazftickerei, Broderie a la Bonnaz, Bonnaz embroidery,<br />
Cornelyflickerei, Broderie a la CorneIy, Cornely embroidery ..<br />
Auch der frUher erwähnte Ausdruck" Tambour <strong>Embroidery</strong>"<br />
ia in England heute noch im Gebrauch, ebenfo "Crochet embroidery",<br />
herrührend vom Häkchen, delfen flch die Handkettenflich-Arbeiterin<br />
bedient. Ich erwähne diefe Variationen,<br />
weil ich noch unlängll in den Fall kam, im Zufammenhang<br />
mit Zollanlländen erklären zu mülfen, wiefo alle diefe Bezeichnungen<br />
einen und denfelben Artikel bedeuten.<br />
Es konnte nicht ausbleiben, dali findige Köpfe auf die Idee<br />
kamen, mehrnadlige Kettenllichmafchinen zu Imnllruieren.<br />
Bourry in St. Gallen und I. I. Rieter in Winterthur<br />
folgten dabei dem Prinzip der Plattflich-Stickmafchine, mit dem<br />
Unterfchied jedoch, da6 ihre auch 3'/2 Stab lange Mafchine<br />
nur einreihig war j üe koftete zirka Fr. 5000.-. Eine noch<br />
teurere Mafchine konllruierte die mechanifche Werkllätte in<br />
St. Georgen.<br />
Von anderer Seite, z. B. von Mechaniker Hartmann zu[ammen<br />
mit Billwiller und Merk, wurden 2-, 4- und 6-llöckige einnadlige<br />
Stickmafchinen mit einigem Erfolg auf den Markt<br />
gebracht. Keine diefer Konllruktionen vermochte aber durchzudringen.<br />
Der Grund dafür ill fall peinlich zu nennen; denn<br />
es war der Tieflland der Löhne, unter welchem die gewöhnliche<br />
einnadlige Ketfenffichmafchine arbeitet, verbunden mit einer<br />
Reihe von Spefen, die verglichen zur Heimarbeit mit jeder<br />
Fabrildndullrie zufammenhängen. Die gleichen Gründe find<br />
15
es denn auch, die es verhinderten, die einnadligen Mafchinen<br />
namhaft in Fabriken zu gruppieren. Es gefchah dies ausnahms.<br />
weife durch SpezialilIen in Phantafleartikeln, welche nur unter<br />
Aufflcht richtig erllellt werden können. Auch kam es vor, daJi<br />
Fabrikanten nur eine einzige Mafchine in ihrem Haufe hatten<br />
zu Verfuchs· und Mullerzwecken. Es ill intereffant und aUßer<br />
Ihnen, geehrte Frau Kettenllich, nur wenigen bekannt, daß tro$<br />
der bisherigen Mißerfolge mit der Konllruktion von vielnad.<br />
ligen Kettenllichmafchinen, diefe Idee felbil den mit feiner ein·<br />
nadligen fo erfolgreichen CorneIy nicht ruhen lieb. Anfang 1900<br />
brachte er in Frankreich eine einilöcldge 36 nadlige Mafchine<br />
von 5,75 m Länge auf den Markt. Das Neuartige an ihr ill,<br />
oblebon auch fle, wie die Handilickmafchine, auf dem Panto.<br />
graphenprinzip beruht, das der Stoff, im Gegenfa$ zu derfelben,<br />
wagrecht gefpannt und ebenfo der Pantograph wagrecht, ilatt<br />
fenkrecht geführt wird. Ihr Antrieb gefchieht elektrifch. Ihre<br />
Konilruktion geRattet das Nachfpannen des Stoffes, zumeiil<br />
Tüll, fo daß beliebig lange Stücke erilellt werden können. Der<br />
grose Vorteil dieler Mafchine beileht u. a. darin, dali der Vor·<br />
druck wegfällt, fo dali die Ware volliländig rein bleibt und ohne<br />
Auswafchen oder Bleichen fofort vom Stuhl weg in den Handel<br />
gebracht werden kann, womit auch die Nachteile der noch zu<br />
erwähnenden "scoured ll Fabrikation vermieden find. Dagegen<br />
haftet dieb Mafchine ein anderer wichtiger Nachteil an, fle<br />
eignet flch nur gut für Meterware und erweiil flch als unvorteil.<br />
haft, wenn es flch um abgepaste, ringsum bellickte Vorhang.<br />
artikel handelt. Ein rentabler Betrieb iil alfo nur möglich, wenn<br />
und folange eine Nachfrage nach folchen Artikeln am Meter<br />
beileht, was bekanntlich nur zeitweilig der Fall iil, fo z. B.<br />
gegenwärtig. Diefer Umiland bewirkt es, dali die einzige<br />
fchweizerifche Firma, welche folche Mafchinen befl$t, und zwar<br />
16<br />
deren drei, es vorläufig dabei bewendet fein laffen will. Sie<br />
hatte diefelben im Frühling 1914 beileIlt, wegen des Kriegs.<br />
ausbruches dann aber eril im Jahre 1923 geliefert erhalten! In<br />
der Zwifchenzeit und feither foll in Frankreich eine gröliere<br />
Anzahl folcher Mafchinen in Betrieb gefe$t worden fein, tro$<br />
der hohen KoRen von 14,000 Schweizerfranken, unmontiert,<br />
loeo Fabrik.<br />
Sie werden fleh erinnern, verehrte Frau Kettenilich, das Sie<br />
von Seite der Mafchinen· Induilrie in den neunziger Jahren<br />
neue wichtige Elemente zur Bereicherung Ihrer Produkte ge·<br />
liefert erhielten, le eine FeRoniermafchine, eine Li$enaufnäh·<br />
mafchine fowie zwei Soutachemafchinen~Syfieme, wovon das<br />
eine beliebig dicke Schnüre aufnähte, indes das andere während<br />
des Stickens die Schnur felbil erRellte. In diefer Periode ent·<br />
Rand, mit Hilfe diefer Spezialmafchinen, der Mode folgend,<br />
u. a. eine Imitation franzöflfcher Spi$envorhänge, teilweife mit<br />
aufgenähten Reliefringen, eine Spezialität von Luxeuil, daher<br />
Luxeuil- auch Renaiffance-Rideaux gehei~en, die indes nur<br />
wenige Saifons in GunR blieben, aber gegenwärtig wieder<br />
etwelche Beachtung zu finden fcheinen. Auch die Schifflimafchine<br />
verfuchten Rrebfame Kettenllichfabrikanten, fpeziell für Vitrages<br />
dienilbar zu machen, ohne damit zu einem eigentlichen Erfolg<br />
zu gelangen.<br />
Sodann konnte es nicht fehlen, dali die wichtige Erfindung<br />
der A$Rickerei die Aufmerkfamkeit Ihrer Leute, Frau Ketten·<br />
llich, auf flch zog. In der Tat entRand dann ein neuer Tüll·<br />
vorhangartikel mit Kettenilich.A$bordüren, der allgemein gefiel,<br />
aber, weil zu teuer, ebenfalls keine lange Lebensdauer hatte.<br />
Dagegen kommen feit jener Zeit zur Verzierung und Belebung<br />
von Kettenllichartikeln vielfach zerilreut eingefe$te, mechanifch<br />
geRickte A$medaillons zur Verwendung, meiR im Venife· und<br />
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Filetgenre. Leider überwucherte fchon in der Mitte der neunziger<br />
Jahre die Tendenz nach äuberiler Verbilligung, fpeziell des<br />
Hauptartikels, der Spachtelvorhänge. In diefer Richtung lag<br />
der um die[e Zeit aufgekommene rogen. " scoured curtain",<br />
bei welchem die Koilen des Bleichens wegfielen. Man flickte<br />
nämlich direkt auf feil appretierten, groben Tün, der vorher<br />
ausgewafchen wurde und eine natürlich rohe, d. h. leichte Ecru<br />
Farbe hatte, von welchem flch die mit hellerem Garn ausgeführte<br />
Stickerei gut abhob. Sie kommt quafl direkt von der<br />
Mafchine weg in den Handel. Diefe Technik bildet auch heute<br />
Anno 1929, den überwiegenden Teil des MalTenexportes i~<br />
Vitrages und Brise-bise nach Nordamerika, was darum bedauerlich<br />
ifl, weil mangelhaftes Reinhalten beim Sticken oft<br />
Anlab zu Reklamationen gibt. Eine neue Form von Vorhängen<br />
hat Ihnen neue Befchäfligungen gebracht. Es waren dies die<br />
Rideaux und Brise-bise mit Abfchluli von Falbeln mit dem fo<br />
friedlich klingenden Namen "Rideau:,.; bonne femme u , die aber<br />
manchen Kampf kofleten, um fle vor einem Zollzufchlag für<br />
Konfektion zu bewahren.<br />
Sie würden es, Frau KettenRich, als eine Lücke empfinden,<br />
wenn ich nicht noch des Neflors Ihrer mannigfachen Produkte<br />
gedächte, der fchon vor der Erfindung der Kettenilichmafchine<br />
eine beträchtliche Rolle fpielte und eine ganz aparte Stellung<br />
einnimmt. Es find dies die fogen. JJ Kolonnen 11 J d. h. weibe<br />
Stickereien, meift allfMoulTeline, in fchrägen Streifen, zuweilen<br />
aber auch mit Bouquets beflickt und ausfchlielilich beflimmt für<br />
die Bekleidung der indifchen Frauen. Es iil dies zwar der unrentabelile<br />
Artikel der Kettenilichinduilrie, und doch iil man zeitweilig<br />
recht froh um ihn, nämlich dann, wenn BeileIlungen auf<br />
andere Artikel fehlen. Alsdann läbt der Fabrikant" Kolonnen"<br />
auf Lager anfertigen, um feine Leute zu befchäftigen und fchickt<br />
18<br />
die Ware in Konflgnation nach Indien, wo Ge einen Standardartikel<br />
bildet und ilets verkäuflich iil, wenn fte billig offeriert<br />
wird. Im übrigen flnd es hauptlächlich Gaifer Fabrikanten,<br />
die fleh in diefen Artikeln fpezialifleren und deren Zahl im Jahre<br />
1919 zirka 15 betrug, gegenüber Walzenhaufen, das deren ungefähr<br />
30 zählte.<br />
Glücklicherweife fanden fleh unter Ihren Fabrikanten, verehrte<br />
Frau Kettenilich, auch initiative Kräfte, die flch nicht auf<br />
die VorhangfHckerei befchränkten, fendern eine Reihe "anderer"<br />
Artikel hervorbrachten, die immer mehr an Bedeutung zunahmen,<br />
fo dali man für fle in der Exportllatiilik eine befondere Kolonne<br />
fchur. die im Jahre 1928 ungefähr einen Viertel des Gefamtumfa~es<br />
der Kettenilichilickereien von annähernd 8 Millionen<br />
aufwies.<br />
Es flnd dies vorab die Bettdecken und zeitweilig als<br />
MalTenartikel die fogen. "Duchess Sets", d. h. kleine Deckehen<br />
aller Formen und Formate, hauptlächlich in Spachtelarbeit auf<br />
Cambric. Hiezu zählen ferner die fogen. Kirchenfpi~en, welche<br />
zur Verzierung der Altäre und der Kleider der katholifchen<br />
Geiillichen Verwendung finden.<br />
Diefen Zwecken dienen fodann die Paramentilickereien in<br />
farbiger Seide- und Metallilickerei, kunilvolle Produkte, in<br />
welchen fleh im Kanton SI. Gallen zwei Fabrikanten erfolgreich<br />
fpezialifleren.<br />
Bunte PalTementerien gleicher Technik fpielten zeitweilig<br />
eine Rolle, wie auch farbig geilickte Blufen, Shawls, Schärpen,<br />
Mouchoirs, Schürzen, Kragen und Krawatten, fodann Parafol<br />
Covers, d. h. Sonnenfchirmüberzüge mit Tüll.<br />
Frau Kettenilich ! Sie erinnern flch gewib noch mit befonderm<br />
Stolz eines Verfuches, für die Kettenilichilickerei ein neues<br />
Feld zu gewinnen, nämlich die Ausfchmückung von Wohn-<br />
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äumen, an Stelle von Tapeten. Das war in den 1880er Jahren,<br />
als der Hechtfaal in St. Gallen unter Anleitung des damaligen<br />
Direktors des Induflrie. und Gewerbemufeums in gefchmack.<br />
voller Weife ausgellattet wurde. Wohl konnten dann einige<br />
BeRellungen von Paris erlangt werden, aber ein eigentlicher<br />
Erfolg der neuen Idee blieb Ihnen verfagt. Erll in diefem Jahre,<br />
alfo nach zirka 40 iährigem Bellehen, ill die Dekoration des<br />
Hechtfaales dem Umbau des Gaflhofes zum Hecht zum Opfer<br />
gefallen.<br />
Die Kunllflickerei findet heutzutage ihre Hauptanwendung<br />
im Rideauxfach und in der Fabrikation von Tifchdecken auf<br />
Etamine, bei welcher der fogen. Moosllich eine Rolle fpielt.<br />
Er beruht darauf, dali durch FallenialTen ie eines Stiches die<br />
Mafche des Kettenfliches aufrecht flehen bleibt, lo dali durch<br />
die grolie Anzahl folcher aneinandergereihter Mafchen ein<br />
Peluche-Effekt entlieht. Ein weiterer glücklicher Kontrall gegenüber<br />
dem flachen Kettenllieh wird durch Umrahmung der<br />
Zeichnung mit Schnur-Effekten mittelfl der fchon erwähnten<br />
zwei Sorten von Soutache-Mafchinen erzielt.<br />
Das technifch hervorragendlle Produkt der Kettenllichmafchine<br />
iil aber wohl die Fabrikation von Äf;fpif;en ganz in<br />
Metall, wobei das fo widerfpenllige, fchwer zu verarbeitende<br />
Flachmetall (Lametta) im Gegenfaf; zur eigentlichen Stickmafchine<br />
keine Schwierigkeit bietet.<br />
Alfo nicht wahr, an Mannigfaltigkeit der Leiflungsfähigkeit<br />
lätt die Kettenflichflickerei nichts zu wünfchen übrig und doch<br />
ifl ihr für den Export ein bedeutendes Feld verfchlolTen: die<br />
Verzierung von Kleiderlloffen aller Art a fa,on, welche gerade<br />
in den lef;ten Jahren anderwärts eine Rolle gefpielt hat und<br />
noch fpielt und Sie, Frau Kettenflich, wohl neidifch macht. Sie<br />
dürfen aber nicht vergelTen, dali Sie nicht allein flehen mit<br />
20<br />
Ihrer Mafchine; denn abgefehen von der Konkurrenz der<br />
eigentlichen Induflriezentren, die gleich Ihnen den Export<br />
pflegen, wie SacHen, Belgien und Frankreich, exiflieren Ketten·<br />
flichmafchinen in allen Grolillädten. Diefe arbeiten von Hand<br />
zu Mund, lle verrichten Al
ging, mit billigen Cluny - Luxeuil- und Barmen - Spi~en Vorhänge<br />
und Vitrages auf Tüll tu konfektionieren, welche, weil<br />
neuartig, zu unferem Schaden Anklang fanden. In der gleichen<br />
Zeit fchon trat die Madrasweberei als Konkurrent auf, und allmählich<br />
neigte die moderne Wohndekoration mehr und mehr<br />
auch zu andern ErzeugnHfen der Weberei,immerhin noch zögernd.<br />
Je~t aber dominieren fie, im Verein mit bedruckten Geweben,<br />
geradezu derart, dali in den Auslagen der Spezialgefchäfte in<br />
den GroliRädten die Erzeugniffe der KettenRichRickerei arg in<br />
den Hintergrund gedrängt find. Im Spi~enfach find es die<br />
duftigen, feinen Gewebe des Spi~enRuh1s von Calais in relativ<br />
billiger Preislage, welche unferen Pla~ einnehmen.<br />
Als noch bedrohlicher aber erweiR fich in le~ter Zeit die<br />
neue Wohnkultur, die fog. neue "Sachlichkeit", welche darauf<br />
ausgeht, alles Zierende auszufchalten, an den Wänden und<br />
Decken fowohl als an den Möbeln und damit auch an den<br />
FenRern. Das fchönRe Beifpiel folcher Tendenz find wohl die<br />
aus gebogenen eifernen Röhren gebildeten Tifche, Stühle und<br />
fogar Fauteuils. Da braucht man auch keine Dekorateure mehr.<br />
Das MerkwürdigRe dabei iR, da" gewiffe Küniller an der Spi~e<br />
einer folchen Bewegung Rehen, nicht einfehend, da" fie fich<br />
damit felbR das Grab fchaufeln!<br />
Ich geRehe Ihnen offen, werteRe Frau KettenRich, dali mich<br />
diefe neue Richtung beängRigt hat und ich das Gefühl bekam,<br />
es werde derleiben von feiten Ihrer Fabrikanten nicht die gebührende<br />
Aufmerkfamkeit gefchenkt, weder in der Art der<br />
Fabrikation, die Duftigkeit erheifcht, noch in der Neuartigkeit<br />
der Zeichnungen.<br />
In diefem bangen Zweifel entfchlo" ich mich, bei einigen<br />
prominenten Fabrikanten vorzufprechen und mir einen Einblick<br />
zu erwirken in ihr gegenwärtiges Schaffen. Schade, dali Sie,<br />
22<br />
Frau KettenRich, nicht dabei fein konnten; denn ich bin glücklich,<br />
ragen zu können, dab das, was man mir in freundlichRem<br />
Entgegenkommen zeigte, mich beruhigt und erfreut hat.<br />
Sowohl technifch als insbefondere auch zeichnerifch werden<br />
bei diefen Pionieren Ihrer Induilrie neue Wege befchritten in<br />
Anpaffung an die geänderte Gefchmacksrichtung. Es find Produlde,<br />
die fich fehen laffen dürfen und auch Anklang finden.<br />
Wohl iR die Zahl folcher Bahnbrecher noch befchränkt, aber<br />
es Reht zu hoffen, dali fleh aus der einen oder andern ihrer<br />
Schöpfungen nach und nach wieder ein Stapelartikel entwickle,<br />
bei welchem auch andere Fabrikanten mittun können. Das<br />
Lofungswort muli fein "Neues schaffen"! Es iR ja nicht das<br />
erilemal, dali Ihre InduRrie im Niedergang war, fich dann<br />
aber glänzend wieder erhob. Denken Sie zurück an die oben<br />
gefchilderten achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, wo auf<br />
Stagnation eine neue Blütezeit folgte. Warum? Weil man<br />
die ausgetretenen Wege verlaffen hat und Neues fchuf.<br />
Das fei auch heute die Parole Ihrer Jünger.<br />
Ich bitte Sie, fehr verehrte Frau KettenRich, rufen Sie ihnen<br />
zu: "Alle Mann auf Deck"!<br />
Ihr ergebener<br />
Otto <strong>Alder</strong>.<br />
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