Herne - Gesundheit vor Ort
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Titelthema<br />
ehrlicher als unsere Worte, weil wir weniger<br />
auf sie achten und uns daher mit<br />
ihnen schlechter verstellen können als<br />
mit unserer Stimme.<br />
Gehörlose Menschen profitieren am<br />
meisten von der Ausdruckskraft der<br />
Hände. Ihre Gebärdensprache ist eine<br />
vollwertige Sprache mit eigener Grammatik<br />
und einem großen Wortschatz,<br />
mit dessen Hilfe man sich differenziert<br />
verständigen kann. Obwohl es in verschiedenen<br />
Ländern unterschiedliche<br />
Gebärdensprachen und sogar „Dialekte“<br />
gibt, sind sie sich untereinander<br />
doch ähnlicher als die Lautsprachen, da<br />
sie auf allgemein menschlichen und daher<br />
allen Völkern verständlichen Grundgesten<br />
basieren. Der enge Zusammenhang<br />
von Sprache und Handgestik hat<br />
einen entwicklungsgeschichtlichen Ursprung:<br />
Ein Teil des Sprachzentrums im Gehirn<br />
(das so genannte „Broca-Zentrum“)<br />
hat sich im Laufe der Entwicklung aus<br />
einer Hirnregion gebildet, die zunächst<br />
nur für Bewegungsabläufe zuständig<br />
war. Auch heute beeinflusst es noch<br />
den Gebrauch der Hände, erfüllt aber<br />
<strong>vor</strong> allem die Aufgabe der Koordination<br />
von grammatischen Aspekten beim<br />
Sprechen. Dieses Gehirnareal ist besonders<br />
aktiv, wenn gehörlose Menschen<br />
sich mit Hilfe von Gebärden unterhalten.<br />
Sprache und Handgestik haben<br />
also sogar einen physiologische Bezug<br />
zueinander. Nicht umsonst hat sich daher<br />
alles, was die Hände tun, tief und<br />
vielfältig in die Sprache eingeprägt: Wir<br />
„handeln“, wenn wir etwas (im übertragenen<br />
Sinne) „in die Hand nehmen“,<br />
die „Behandlung“ des Arztes setzt<br />
den Einsatz der Hände <strong>vor</strong>aus und wir<br />
„begreifen“ etwas, indem wir mit dem<br />
Verstand etwas ergreifen wie einen Gegenstand<br />
mit den Händen. Die Liste der<br />
Beispiele ließe sich beliebig erweitern.<br />
Zu allen Zeiten waren die Menschen sich<br />
der besonderen Bedeutung ihrer Hände<br />
und deren Ausdruckskraft bewusst.<br />
Man erkennt an ihnen z.B. die Verfassung,<br />
in der sich jemand befindet. Kalte,<br />
feuchte oder zittrige Hände „sagen“<br />
über ihren Besitzer ebenso etwas aus<br />
wie ein zu lascher oder übertrieben<br />
kräftiger Händedruck. Aber nicht nur<br />
der gegenwärtige Zustand des „Handelnden“<br />
offenbart sich durch die Hände:<br />
Seit der Antike glaubte man in allen<br />
Hochkulturen, aus den Linien der Handfläche<br />
Rückschlüsse auf das zukünftige<br />
Schicksal ihres Besitzers lesen zu können.<br />
Die Hände offenbaren also etwas<br />
über den Menschen, die Berührung der<br />
Innenflächen ist etwas Persönliches, Intimes.<br />
Der Glaube, manche Menschen<br />
könnten durch Handauflegen Krankheiten<br />
heilen, deutet an, wie sehr man<br />
ihnen zutraut, die Kraft der Persönlichkeit<br />
zu transportieren. Auf dieser<br />
Grundlage haben sich in verschiedenen<br />
Ländern unterschiedliche Begrüßungs-<br />
Rituale gebildet:<br />
In islamischen Ländern geben nur gleichgeschlechtliche<br />
Menschen einander die<br />
Hand. In Japan gilt ein fester Händedruck<br />
als unhöflich, das „Schütteln“ der<br />
Hand als Provokation. In den USA würde<br />
es den behandelnden Arzt befremden,<br />
wenn ein Patient ihm die Hand reichen<br />
wollte: das Arzt/Patienten-Verhältnis erfordert<br />
eine sachliche Distanz, die dabei<br />
durchbrochen würde. Präsident Obama<br />
erregte bei einer seiner ersten Reden im<br />
Amt des Präsidenten das Missfallen der<br />
Europäer, als er (in New Jersey) wäh-<br />
Buchtipp:<br />
Reinhard Kiefer<br />
Halbstadt<br />
Rimbaud Verlag<br />
Vorn auf den Bestseller-Listen landen<br />
oft laute, provokante Titel. Richtig gute<br />
Bücher schreiben oft die leisen Autoren<br />
– Autoren wie Reinhard Kiefer.<br />
Jeder, der schon einmal von einer Illusion<br />
Abschied nehmen musste, findet bei<br />
ihm Trost. „Halbstadt“ könnte das Lieblingsbuch<br />
aller älteren Leser werden, die<br />
die 80-er Jahre erlebt haben, die sich<br />
an Tschernobyl und die Barschel-Affäre<br />
erinnern, an den Sturz von Bundeskanzler<br />
Helmut Schmidt, die Entführung der<br />
Landshut, Khomeni in Paris, den Fall der<br />
Mauer, aber auch an Fury und Lassie.<br />
Wie bei allen guten Büchern ist es unmöglich,<br />
sich dem Roman „Halbstadt“<br />
allein über eine Inhaltsangabe zu nähern.<br />
Die Helden des Romans zu erleben in<br />
ihrem Ringen um eine Bewältigung ihrer<br />
Lebenssituation, die man aus eigener<br />
Erfahrung kennt – das macht den Reiz<br />
des Lesens aus.<br />
<strong>Gesundheit</strong> <strong>vor</strong> <strong>Ort</strong> 2/2009 | 5