Amtsblatt der Stadt Stadtroda
Amtsblatt der Stadt Stadtroda
Amtsblatt der Stadt Stadtroda
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Stadt</strong>rodaer Zeitung 06/09<br />
�<br />
Fortsetzung aus 5/09<br />
Leserpost<br />
�<br />
Erinnerungen an die Herrenstraße<br />
1944 – 1957 (von Frau Rotraut Ortleb-Walz)<br />
Wenn wir alle in Nachthemden im Vor<strong>der</strong>haus angetreten waren<br />
und es außer Onkel Willis Holzbein nichts Interessantes<br />
mehr gab, untersuchten die Soldaten die Gänge mit den vier<br />
Holztreppen in zwei Stockwerken. Das schallende Gelächter<br />
und Schenkelklopfen, wenn sie sich plötzlich über den Hof<br />
hinweg entdeckten o<strong>der</strong> auf den Inhalt des Klei<strong>der</strong>schranks<br />
stießen, den <strong>der</strong> Sergeant vorsichtig öffnen musste, zeigte<br />
uns die An<strong>der</strong>sartigkeit dieser Armee im Unterschied zu den<br />
Amerikanern in den Wochen vorher.<br />
Im offenen Hof waren die sechs abgeteuften, tiefen Gruben,<br />
in denen die Rindshäute, geschichtet mit zerkleinerter Eichenrinde<br />
und Wasser, in zwei Jahren zu prima Sohlenle<strong>der</strong><br />
wurden. Die unbeschreiblichen Gerüche, beson<strong>der</strong>s beim<br />
„Ziehen“ (Auspumpen) <strong>der</strong> Gruben und beim vorherigen<br />
Wässern und Scheren <strong>der</strong> rohen Häute, haben mir wohl<br />
meine empfindliche Nase eingebracht. In den wirtschaftlich<br />
zusammengebrochenen Zeiten von 1945 – 47 war das unter<br />
den Dielen <strong>der</strong> Gänge versteckte Le<strong>der</strong> als Tauschobjekt<br />
von unschätzbarem Wert; und weil es in den Gruben seit<br />
1938 geruht hatte, war es von beson<strong>der</strong>s guter Qualität. Es<br />
wurde millimetergenau mit krummen Messern von meiner<br />
Mutter zugeschnitten und hielt einigen Jahre unter den vom<br />
Schuster in <strong>der</strong> Klingenstraße selbst gemachten Stiefeln. Die<br />
ausgelaugte Lohe wurde auf den Böden des Hinterhauses<br />
getrocknet und an <strong>der</strong> Außenwand <strong>der</strong> Werkstatt an <strong>der</strong> Roda<br />
aufgeschüttet. Sie ergab eine prima Feuerung für den Küchenherd,<br />
hatte aber noch einen negativen Nebeneffekt: Vor dem<br />
Zusammenbruch 1945 entsorgten Nachbarn heimlich, was<br />
nicht mehr gebraucht wurde. Wir hatten die Aufgabe, das mit<br />
dem Spruch zu verhin<strong>der</strong>n: Schmeißt es in die Rode! Dabei<br />
müssen die Jungs scharf aufgepasst haben, wohin SS-Ehrendolche,<br />
Schießprügel, Munitionsgurte, Abzeichen geraten<br />
waren. Leicht angerostet holten sie es dann im Herbst heraus,<br />
zum Schrecken <strong>der</strong> Eltern und zum Indianerspielen.<br />
Heute zeigt dieser alte Handwerkerhof von vorn und hinten<br />
einen jämmerlichen Anblick. Der Denkmalschutz hat festgestellt,<br />
dass die 350 Jahre alten Balken keinen Holzwurmbefall<br />
haben. Vielleicht taucht das ganze Anwesen mit seinem<br />
Kreuzgewölbe im Erdgeschoss, <strong>der</strong> originellen Alkovenstube<br />
mit einem englischen Ofen aus Gusseisen rechts von <strong>der</strong><br />
Haustür und seinen offenen Böden noch einmal aus dem<br />
Dornröschenschlaf auf.<br />
Aus dem ersten Stock des Vor<strong>der</strong>hauses hatten wir auch<br />
den Einzug <strong>der</strong> zweiten, uns befreienden Armee beobachtet.<br />
Merkwürdigerweise von West nach Ost zog <strong>der</strong> Tross <strong>der</strong> Roten<br />
Armee durch die Herrenstraße. Vorneweg eine Rin<strong>der</strong>herde,<br />
die Soldaten auf Panje-Wägelchen, fröhlich winkend und<br />
über je<strong>der</strong> Schulter ein Paar deutsche Wehrmachtsstiefel,<br />
abgekämpft, kahl geschoren und in ihren fremden Uniformen<br />
im Stroh sitzend. Zum Stehen kamen sie, als eine Kuh vor<br />
<strong>der</strong> Herzog-Ernst-Brücke zusammenbrach und kalbte und<br />
die Glut aus den Gulaschkanonen das herumfahrende Stroh<br />
entzündete und gelöscht werden musste.<br />
Von den Nachbarhöfen habe ich drei besser kennen gelernt.<br />
In die Praxis von Dr. Kipping musste ich selten. Er gehörte<br />
noch zu den Ärzten, die ins Haus kamen. Ich fand mich aber<br />
ein im Anbau im Hof, wo <strong>der</strong> Doktor als Hobby-Imker Honig<br />
schleu<strong>der</strong>te. So beschaulich war damals das Leben eines<br />
Arztes! Außerdem stand in <strong>der</strong> Remise sein stillgelegtes<br />
Wan<strong>der</strong>er-Cabriolet, in dem wir tolle Touren simulierten. In<br />
dem langen Hof konnte man prima Torschießen üben, auf<br />
die Toreinfahrt, ohne das irgendjemand sich über die erheb-<br />
11<br />
liche Geräuschkulisse aufgeregt hätte. Dunkel kann ich mich<br />
erinnern, dass in dieser Toreinfahrt Panzerfäuste lagen und<br />
die älteren Jungs fachsimpelten, wie einfach die zu bedienen<br />
waren zur Ausschaltung von Ami-Panzern.<br />
Bei Fleischer Reusche saßen wir eigentlich jeden Tag in<br />
<strong>der</strong> Stube hinter dem Laden. Dort erhielten wir auch den<br />
riesigen Schlüssel, mit dem wir abends die beiden Fremdarbeiter<br />
(aus Frankreich und Belgien) in das alte Fasslager<br />
am Steinweg einschließen mussten. Dass das nur eine symbolische<br />
Handlung nach dem Prinzip „Ordnung muss sein“<br />
war, haben selbst wir Kin<strong>der</strong> gemerkt. Unsere Gefangenen<br />
aßen nämlich immer am Tisch mit, was eigentlich verboten<br />
war. Am Interessantesten war es bei dem kin<strong>der</strong>lieben aber<br />
unverheirateten Stellmacher Eugen Meißner, wo wir bei<br />
schlechtem Wetter stundenlang im Holzlager spielen durften.<br />
Er zeigte uns auch die hölzernen Schießscheiben <strong>der</strong> längst<br />
verbotenen Schützengesellschaft, die er wohl angefertigt und<br />
aufgehoben hatte.<br />
Wenn man heute in 30 Sekunden mit dem Auto durch die<br />
Herrenstraße rauscht, sieht man von all diesen Herrlichkeiten<br />
eines alten, vom Krieg verschonten Städtchens nichts mehr.<br />
Wie viel sich verän<strong>der</strong>t hat, zeigt ihre Besiedlung. Wir ehemaligen<br />
Nachbarinnen haben uns kürzlich die Mühe gemacht,<br />
einmal Haus für Haus die Bewohner zusammenzuzählen.<br />
Wir sind im fraglichen Zeitraum auf ungefähr 200 Bewohner<br />
gekommen, davon über 50 Kin<strong>der</strong>! Die Herrenstraße war also<br />
auch eine Wohnstraße. In jedem Haus wohnte in Vor<strong>der</strong>- und<br />
Hinterhäusern mindestens eine Familie, mit den Großeltern,<br />
die mit steilen Treppenhäusern irgendwie zu Rande kommen<br />
mussten.<br />
Zu den Geschäftsleuten, Ärzten und Handwerkerfamilien<br />
kamen ab 1944 Evakuierte aus den zerbombten Großstädten<br />
Westdeutschlands o<strong>der</strong> aus Berlin, bevor ab Februar<br />
1945 die Ostpreußen, Pommern und Schlesier eintrafen, auf<br />
die niemand vorbereitet war. Dass die Rote Armee trotz <strong>der</strong><br />
verfälschten Nachrichten im Radio o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> „Wochenschau“<br />
im Kino im Felsenkeller längst in unserer Richtung im<br />
Anmarsch war und die deutschen Län<strong>der</strong> im Osten erobert<br />
hatte, das galt als unvorstellbar. Aus den Hinterhöfen und<br />
Dachkämmerchen sind die Flüchtlinge, die man „Umsiedler“<br />
nennen musste, irgendwann wie<strong>der</strong> ausgezogen und zu<br />
„richtigen“ Bürgern geworden. Uns taten immer die Kin<strong>der</strong><br />
leid, weil sie keine Spielsachen, Schuhe und Klei<strong>der</strong> hatten.<br />
Dass ihre Eltern und Großeltern immer beson<strong>der</strong>s zersorgt<br />
und grau aussahen, fiel in <strong>der</strong> allgemeinen Anspannung <strong>der</strong><br />
ersten Nachkriegsjahre nicht so auf.<br />
Mit dem Abriss des historischen Rathauses 1951 begann<br />
die neue Zeit. Unsere Straße wurde umbenannt in Magnus-<br />
Poser-Straße. Als im nächsten Jahrzehnt auch die rechte<br />
Seite des Marktplatzes dem Walten <strong>der</strong> SED-Bezirksleitung<br />
und <strong>der</strong> Spitzhacke zum Opfer gefallen war, begann <strong>der</strong> Bedeutungsverlust<br />
<strong>der</strong> alten Hauptstraße. Die vorindustriellen<br />
Handwerkergeschäfte sind, da nicht mehr nötig und unrentabel,<br />
verschwunden. Die Bausubstanz <strong>der</strong> alten Häuser konnte<br />
häufig nicht gut erhalten werden. Arztpraxen entstanden neu<br />
in Häusern mit Kanalisation, das Rathaus war über die Roda<br />
in den „Hirsch“ gezogen, und für den gemütlichsten Gasthof,<br />
den historischen „Schwarzen Bären“, gab es keinen Ersatz.<br />
Das Herz <strong>der</strong> alten <strong>Stadt</strong> begann zu veröden.<br />
Immer noch ist die Herrenstraße wichtige Durchgangsstraße.<br />
Sie ist auch fußläufig von allen Seiten zu erreichen. Wenn die<br />
Wertschätzung historisch gewachsener Städte sich heute<br />
verbinden lässt mit einer sinnvollen Mo<strong>der</strong>nisierung, dann<br />
besteht die Hoffnung, dass auch die alte Hauptstraße <strong>Stadt</strong>rodas<br />
wie<strong>der</strong> entsteht. Schluss