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Das deutsche Schulsystem. Entstehung, Struktur ... - Bildungswissen

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Universität Duisburg Essen, Campus Essen<br />

Fachbereich 2, Erziehungswissenschaft, Psychologie,<br />

Sport- und Bewegungswissenschaft<br />

Arbeitsgruppe Bildungsforschung/Bildungsplanung<br />

<strong>Das</strong> <strong>deutsche</strong> <strong>Schulsystem</strong><br />

<strong>Entstehung</strong> ■ <strong>Struktur</strong> ■ Steuerung<br />

Skriptum zur Einführungsvorlesung in den Studienbereich D<br />

online: www.uni-essen.de/bfp/lehre/skripte.php<br />

Bildquelle: www.schulmuseum.at/<br />

© AG Bildungsforschung/Bildungsplanung – Oktober 2004


Inhaltsverzeichnis<br />

Zur Einführung ________________________________________________________________ 3<br />

1. Schultheoretische Grundlagen: Warum unterhalten entwickelte Gesellschaften<br />

institutionalisierte Bildungssysteme? ________________________________________ 3<br />

Anregung zur Wiederholung ______________________________________________________ 4<br />

2. Die historische Perspektive: Zur <strong>Entstehung</strong> des <strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong>s ________ 5<br />

2.1 Triebkräfte für den Ausbau des öffentlichen Schulwesens in Preußen _________________ 5<br />

2.2 Die Herausbildung des <strong>Schulsystem</strong>s in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts _________ 5<br />

2.3 Modernisierungstendenzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts _______________ 16<br />

2.4 Reformansätze nach 1918: Der Weimarer Schulkompromiss _______________________ 20<br />

2.5 Schule im Nationalsozialismus_______________________________________________ 24<br />

2.6 Deutsche Schulentwicklung von 1945 bis zur Gegenwart __________________________ 25<br />

Anregung zur Wiederholung _____________________________________________________ 29<br />

3. Die strukturelle Perspektive: <strong>Struktur</strong> und Funktionsweise des<br />

<strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong>s _________________________________________________ 31<br />

3.1 Der Aufbau des Bildungssystems am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ____________ 31<br />

3.2 Bildungsexpansion, Erfolge und Misserfolge sowie Bildungsbeteiligung_______________ 33<br />

Anregung zur Wiederholung _____________________________________________________ 45<br />

4. Zur Steuerung und Qualitätsentwicklung im <strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong>_____________ 46<br />

4.1 Organe und Zuständigkeiten im kooperativen Föderalismus als formale Aspekte<br />

der Schulsteuerung _______________________________________________________ 46<br />

4.2 Gegenstandsbereiche der Steuerung von Schule – Forschungstraditionen und<br />

Modelle_________________________________________________________________ 50<br />

4.3 Qualitätsfragen im Mittelpunkt des Steuerungsinteresses __________________________ 55<br />

4.4 Instrumente der Steuerung und Qualitätsentwicklung: Schulische Evaluation<br />

als Form der Output-Steuerung ______________________________________________ 58<br />

Anregung zur Wiederholung _____________________________________________________ 64<br />

5. Qualifikation, Selektion und Legitimation als konstante Elemente der<br />

Schulentwicklung________________________________________________________ 65<br />

5.1 Qualifikation _____________________________________________________________ 65<br />

5.2 Selektion und Allokation____________________________________________________ 66<br />

5.3 Legitimation _____________________________________________________________ 66<br />

Anregung zur Wiederholung _____________________________________________________ 67<br />

ABBILDUNGSVERZEICHNIS____________________________________________________ 68<br />

LITERATUR _________________________________________________________________ 69<br />

2


Zur Einführung<br />

Der folgende Text stellt eine knappe und daher vergröbernde Zusammenfassung der Vorlesung<br />

„<strong>Entstehung</strong>, <strong>Struktur</strong> und Steuerung des <strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong>s“ dar. Nach einer schultheoretisch<br />

orientierten Beschreibung der Funktionen, welche die Schulen übernommen haben (Kapitel 1),<br />

wird zunächst die historische Entwicklung des <strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong>s vom Ende des 18. Jahrhunderts<br />

an skizziert (Kapitel 2).<br />

Daran schließt sich eine Beschreibung der <strong>Struktur</strong> dieses Systems, so wie es am Ausgang des<br />

20. Jahrhunderts besteht, an. Einbezogen in diese strukturelle Betrachtung ist eine Darstellung der<br />

expansiven Bildungsbeteiligung und der schulischen Ausleseprozesse, die sich innerhalb dieser<br />

<strong>Struktur</strong> vollzogen haben und weiter vollziehen (Kapitel 3).<br />

Nach der analysierenden Beschreibung sowohl der Geschichte wie auch der <strong>Struktur</strong> des <strong>deutsche</strong>n<br />

Bildungssystems werden schließlich die Steuerung dieses Systems und der sich anbahnende<br />

Wandel zur teilautonomen Schule und der damit verbundenen Änderungen des Steuerungssystems<br />

beschrieben (Kapitel 4).<br />

Abgeschlossen wird diese Übersicht über die Vorlesung mit einer an den einleitend vorgestellten<br />

Funktionen der Schule orientierten Zusammenfassung (Kapitel 5). <strong>Das</strong> angehängte Literaturverzeichnis<br />

bietet nicht nur die Belege, die im Text herangezogen werden, sondern zugleich auch Hinweise<br />

für ein vertiefendes Studium.<br />

1. Schultheoretische Grundlagen: Warum unterhalten entwickelte<br />

Gesellschaften institutionalisierte Bildungssysteme?<br />

Antwort auf diese Frage, die – genereller gefasst – eine Frage nach dem Verhältnis zwischen den<br />

Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft ist, versucht die Schultheorie zu geben (zum Gegenstandsbereich<br />

und zur Entwicklung der Schultheorie vgl.: Tillmann 1987, Diederich/<br />

Tenorth 1997). Helmut Fend (Fend 1980), auf dessen strukturell-funktional orientierten Ansatz im<br />

Folgenden überwiegend Bezug genommen wird, benennt mit Blick auf die hier formulierte Frage<br />

drei gesellschaftliche Funktionen institutionalisierter Erziehung:<br />

■ Die erste Funktion ist die der Qualifikation:<br />

Schulen dienen der Weitergabe der Qualifikationen, die eine Gesellschaft benötigt, um sich selbst<br />

immer wieder von Generation zu Generation zu reproduzieren. Im ‚Schulordnungsgesetz‘ Nordrhein-Westfalens<br />

heißt es in § 1:<br />

„Die Schule hat die Aufgabe, die Jugend auf der Grundlage des abendländischen Kulturgutes und <strong>deutsche</strong>n<br />

Bildungserbes in lebendiger Beziehung zu der wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit sittlich,<br />

geistig und körperlich zu bilden und ihr das für Leben und Arbeit erforderliche Wissen und Können zu vermitteln“<br />

(vgl. BASS – Bereinigte Amtliche Sammlung der Schulvorschriften in der jeweils gültigen Fassung).<br />

In dieser Aufgabenstellung mit dem doppelten Bezug zu wirtschaftlicher und sozialer Realität sind<br />

zwei Anforderungen angesprochen, die in Vergleichstexten anderer Länder ebenfalls regelmäßig<br />

auftauchen: Schulen sollen auf das private und öffentliche Leben in der Gesellschaft und auf das<br />

Erwerbsleben bezogenes Wissen und Können vermitteln. Sie sollen die Heranwachsenden darauf<br />

vorbereiten, ein Leben als Bürgerinnen und Bürger und als Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen<br />

zu führen.<br />

■ Die zweite Funktion ist die der Selektion:<br />

Schulen tragen dazu bei, die Heranwachsenden durch schulische Auswahlprozesse (Selektion)<br />

auf die unterschiedlichen sozialen Positionen zu verteilen (Allokation). Eng einher mit der Qualifikations-<br />

geht die Selektionsfunktion der Schulen. Schulen wählen im Verlauf ihres Qualifikationsprozesses<br />

Schülerinnen und Schüler aus, und zwar in Abhängigkeit von ihnen vorgegebenen Kriterien,<br />

etwa danach, ob und inwieweit sie die gesteckten Qualifikationsziele erreichen können. Die<br />

Instrumente des <strong>Schulsystem</strong>s reichen von der Entscheidung über die generelle Zulassung zu einzelnen<br />

Bildungswegen und Institutionen, die Einschulungsfähigkeit, das Sitzenbleiben, das Überweisen<br />

in Sonderschulen, die Aufnahme in weiterführende Schulen bis hin zu Abschlusszeugnissen.<br />

3


Die Schulen üben dabei ihre Selektionsfunktion in einer doppelten Abhängigkeit aus: zum einen<br />

nämlich nach Maßgabe der ihnen gesetzten Kriterien, zum anderen aber auch mit Blick auf das<br />

Verhältnis, das zwischen den von ihnen vergebenen Zeugnissen, die das Erreichen bestimmter<br />

Qualifikationen bestätigen, und dem Bedarf auf dem Markt für Qualifikationen, dem Arbeitsmarkt,<br />

besteht. Indem Schulen auf diese Weise auswählen, kanalisieren sie ‚Schülerströme‘ und verweisen<br />

sie auf (hierarchisch) unterschiedliche gesellschaftliche Positionen (Allokation).<br />

■ Die dritte Funktion ist die der Legitimation:<br />

Schulen wirken an der Weitergabe der Normen und Werte mit, die für den Erhalt und die Fortentwicklung<br />

der jeweiligen Gesellschaft tragend sind. Neben der Qualifikation für das Leben in der<br />

jeweiligen Gesellschaft und neben der Selektion und der mit ihr verbundenen Allokation leisten<br />

Bildungssysteme einen Beitrag zur Legitimation der in einer Gesellschaft vorherrschenden Wertund<br />

Bewusstseinsstrukturen. Sie tun dies auf zwei parallelen Wegen:<br />

- Zum einen erfüllen Schulen ihre Legitimationsfunktion über das, was sie zum Gegenstand<br />

des Unterrichts machen. Dies ist festgelegt durch die Benennung von Gegenstandsbereichen,<br />

die das Schulwissen konstituieren (formalisiert in Stundentafeln), und durch die Inhalte,<br />

die in den einzelnen Unterrichtsfächern zu vermitteln sind (formalisiert in Richtlinien).<br />

- Zum anderen erfüllen Schulen in entwickelten westlichen Industriegesellschaften ihre Legitimationsfunktion<br />

dadurch, dass sie die sich in ihnen alltäglich vollziehende Selektion mit ihrer<br />

Folge, der Zuweisung zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen, an die individuell<br />

erbrachten schulischen Leistungen koppeln.<br />

Auf diese Weise liefert die in den Schulen alltäglich erfolgende leistungsgerechte Auswahl bzw.<br />

der proklamierte Anspruch der leistungsorientierten Auslese einen Beitrag nicht nur zur Herstellung<br />

gesellschaftlicher Ungleichheit, sondern zugleich auch zur Legitimierung der von Generation zu<br />

Generation immer neu entstehenden Ungleichheit in dieser Gesellschaft.<br />

Anregung zur Wiederholung<br />

1) Prägen Sie sich die drei zentralen Funktionen der Schule ein und erarbeiten Sie sich für jede<br />

der Funktionen eine Definition (ein bis zwei Sätze).<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

4


2. Die historische Perspektive: Zur <strong>Entstehung</strong> des <strong>deutsche</strong>n<br />

<strong>Schulsystem</strong>s<br />

Im Folgenden soll in groben Zügen die <strong>deutsche</strong> Schulgeschichte skizziert werden. Dabei bezieht<br />

sich die Darstellung (vgl. Herrlitz u.a. 1993) exemplarisch, soweit es die Zeit bis 1918 angeht (vgl.<br />

für eine Übersicht Abb. 1.1, S. 6) , auf die Entwicklung in Preußen; für die Zeit danach (vgl. für eine<br />

Übersicht Abb. 1.2, S. 21) bezieht sich der Text auf Deutschland insgesamt bzw. – für die Jahre zwischen<br />

1945 und 1989 – auf die beiden <strong>deutsche</strong>n Staaten.<br />

2.1 Triebkräfte für den Ausbau des öffentlichen Schulwesens in Preußen<br />

Die Durchsetzung der Schulpflicht und die Etablierung eines staatlich organisierten, finanzierten<br />

und kontrollierten <strong>Schulsystem</strong>s im Verlauf des 19. Jahrhunderts verdankt sich in Preußen (und in<br />

ähnlicher Weise im gesamten deutschsprachigen Raum) drei Faktoren:<br />

- dem etatistischen Interesse, Schulen als Mittel zur Herausbildung eines Staats- und Nationalbewusstseins<br />

zu nutzen (Legitimationsfunktion der Schule),<br />

- dem ökonomischen Interesse, die Entwicklung von Wirtschaft und vor allem staatlicher Verwaltung<br />

durch qualifiziertes Personal (Qualifikationsfunktion und Selektionsfunktion der<br />

Schule) zu fördern sowie<br />

- dem emanzipatorischen Interesse der Einzelnen, durch Bildung die eigenen Lebensmöglichkeiten<br />

zu erweitern (Qualifikationsfunktion der Schule).<br />

Herrlitz, H.-G./Hopf, W./Titze, H. fassen diesen Tatbestand wie folgt zusammen (in: Institutionalisierung<br />

des öffentlichen <strong>Schulsystem</strong>s. In: Lenzen, D.: (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft<br />

Band V, S. 55-71. Stuttgart 1984):<br />

„In der historischen Entwicklung der letzten 200 Jahre hat sich die Schule als öffentliche Einrichtung für<br />

Massenlernprozesse weltweit durchgesetzt. Diese Entwicklung legt den Schluss nahe, dass sie eine erfolgreiche<br />

gesellschaftliche Problemlösung für fundamentale Funktionsbedürfnisse moderner Gesellschaften<br />

darstellt. Die Entwicklung scheint unumkehrbar, da komplexe Gesellschaften die Lernprozesse der heranwachsenden<br />

Generation funktional verselbständigt und durch die Ausdifferenzierung eines in seinen<br />

Grenzen und Funktionen identifizierbaren Bildungssystems auf Dauer gestellt haben“ (S. 56).<br />

Am Beginn der von Herrlitz u.a. angesprochenen Entwicklungsphase formuliert K. A. v. Zedlitz,<br />

preußischer Justizminister unter Friedrich dem Großen, in seiner Schrift „Vorschläge zur Verbesserung<br />

des Schulwesens in den Königlichen Landen“ (1787) die Unzufriedenheit mit den schulischen<br />

Verhältnissen Preußens gegen Ende des 18. Jahrhunderts:<br />

„Wenn der Schulunterricht den Endzweck haben soll, die Menschen besser und für ihr bürgerliches Leben<br />

brauchbar zu machen, so ist es ungerecht, den Bauer wie ein Tier aufwachsen, ihn einige Redensarten,<br />

die ihm nie erklärt werden, auswendig lernen zu lassen; und es ist eine Torheit, den künftigen Schneider,<br />

Tischler, Krämer wie einen künftigen Konsistorialrat oder Schulrektor zu erziehen, sie alle Lateinisch, Griechisch,<br />

Hebräisch zu lehren und den Unterricht in Kenntnissen, die jene nötig haben, ganz zu übergehen<br />

oder diese Kenntnisse für sie unverständlich und unanwendbar vorzutragen. Darauf folgt also, dass der<br />

Bauer anders als der künftige Gewerbe oder mechanische Handwerke treibende Bürger und dieser wiederum<br />

anders als der künftige Gelehrte oder zu höheren Ämtern des Staates bestimmte Jüngling unterrichtet<br />

werden muss. Folglich ergeben sich drei Abteilungen aller Schulen des Staates, nämlich: 1) Bauern-,<br />

2) Bürger- und 3) Gelehrte Schulen“ (S. 74, in: Michael, B./Schepp, H.-H.: Die Schule in Staat und<br />

Gesellschaft. Dokumente zur <strong>deutsche</strong>n Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1993, S.<br />

73-77).<br />

2.2 Die Herausbildung des <strong>Schulsystem</strong>s in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

In Preußen wurde, ähnlich wie in den anderen <strong>deutsche</strong>n Staaten, die allgemeine Schulpflicht im<br />

Verlauf des 18. Jahrhunderts wiederholt proklamiert (1717 „General Edict“, 1763 „Generalschulreglement“<br />

und 1794 „Allgemeines Landrecht“). Durchgesetzt werden konnte die Schulpflicht jedoch<br />

erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts: Während zu Beginn kaum mehr als die Hälfte der Jugendlichen<br />

eine Schule besuchten, taten dies gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahezu alle Jugendlichen.<br />

Innerhalb dieses Prozesses der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht entwickelten sich<br />

– durchaus nach dem durch v. Zedlitz vorgegebenem Muster – das höhere, das mittlere und das<br />

niedere Schulwesen jedoch nach jeweils eigenen Gesetzmäßigkeiten.<br />

5


Abbildung 1.1: Politische Geschichte und Schulgeschichte in Preußen und im Kaiserreich<br />

vom 18. Jahrhundert bis 1918<br />

Politische Geschichte Schulgeschichte<br />

1713-1740 Friedrich Wilhelm I. 1717 Schulpflicht<br />

Begründung des preußischen<br />

Militär- und Beamtenstaates<br />

1740-1786 Friedrich II. (der Große) 1763 Schulpflicht<br />

Aufgeklärter Absolutismus<br />

in Preußen<br />

1788 1. Abiturreglement<br />

1789 Französische Revolution<br />

1794 Schulpflicht<br />

1806/07 Krieg zwischen Frankreich (Allgemeines Landrecht)<br />

und Preußen<br />

1810 Bauernbefreiung<br />

1811 Gewerbefreiheit<br />

1815 Wiener Kongreß<br />

Restauration in Europa<br />

danach: Einstellung der<br />

preußischen Reformpolitik<br />

1848<br />

Revolutionen in Paris<br />

Wien und Berlin<br />

Eröffnung der <strong>deutsche</strong>n<br />

Nationalversammlung<br />

(‚Paulskirche' in Frankfurt)<br />

1870/71 deutsch-französischer<br />

Krieg<br />

1871 Gründung des <strong>deutsche</strong>n<br />

Kaiserreiches<br />

1878 Sozialistengesetz<br />

im Deutschen Reich<br />

1888-1918<br />

Kaiser Wilhelm II.<br />

1914-1918 1. Weltkrieg<br />

1811<br />

1812<br />

Lehrlingsausbildung<br />

außerhalb der Zünfte möglich<br />

2. Abiturreglement<br />

1834 3. Abiturreglement<br />

1845<br />

preußische Gewerbeordnung<br />

1854 Stiehlsche Regulative<br />

1872 Allgemeine Bestimmungen<br />

1897 Nov. der preuß. Gewerbeordnung<br />

1900<br />

1908<br />

Allerhöchster Erlass<br />

Abitur für Frauen<br />

1919 Berufsschulpflicht<br />

6


■ Zur Etablierung des ‚höheren’ Schulwesens<br />

Die moderne Schulentwicklung Preußens begann um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im<br />

doppelten Sinne ‚von oben’:<br />

- Die preußische Regierung etablierte 1787 in Berlin das Oberschulkollegium als zentrale Aufsichts-<br />

und Planungsinstanz für das höhere Schulwesen.<br />

- Die Anstrengungen der ‚preußischen Bildungsreform’ konzentrierten sich zunächst auf das<br />

‚höhere’ Schulwesen.<br />

Die Etablierung des ‚höheren’ Schulwesens auf der Grundlage von Lateinschulen, Gelehrtenschulen,<br />

Stadtschulen und Ritterakademien (von z.T. katastrophaler Qualität) vollzog sich überwiegend<br />

über drei Reglements zum Abitur:<br />

1788:<br />

<strong>Das</strong> Abitur wird zum Nachweis der Studierfähigkeit als Prüfung am Ende der ‚Höheren Schulen’<br />

eingeführt. Es kann an Schulen oder an Hochschulen durchgeführt werden; es ist keine verbindliche<br />

Voraussetzung zum Studium; es wird jedoch Voraussetzung für die Erlangung eines Stipendiums.<br />

Die Einleitungssätze des preußischen „Reglements für die Prüfung an den Gelehrten Schulen“<br />

vom 23.12.1788 (1. Abiturreglement) verdeutlichen die Absichten, die die preußische Regierung<br />

mit diesem Reglement verfolgte:<br />

„Es ist bisher vielfältig bemerkt worden, dass so viele zum Studieren bestimmte Jünglinge ohne gründliche<br />

Vorbereitung unreif und unwissend zur Universität eilen, wodurch selbige nicht nur sich selbst schaden,<br />

und sich selbst die gehörige Benutzung des academischen Unterrichts schwer, ja oft unmöglich machen,<br />

und daher nur zu oft eben dadurch zum Müßiggang und zu mancherley Unordnungen während ihres academischen<br />

Lebens verleitet werden, sondern auch zugleich verursachen, dass viele Ämter, zu denen<br />

gründliche Kenntnisse erforderlich sind, wo nicht mit unwissenden doch mit seichten und unzweckmäßigen<br />

Subjecten besetzt werden. Um nun diesem, für die einzelnen Subjecte eben so sehr, als für das Ganze<br />

höchst nachtheilige frühzeitigen Eilen auf die Universität ohne Abwartung der gehörigen Reife, wenigstens<br />

in etwas zu steuern, und den studierenden Jünglingen neue Bewegungsgründe zur gewissenhaften<br />

Benutzung des Schulunterrichts zu geben: so haben Wir für nöthig gefunden, in Ansehung der Prüfung der<br />

zur Universität abgehenden Jünglinge eine neue Einrichtung zu machen, indem das bisher nach ältern<br />

Verordnungen übliche Examen der neuen Ankömmlinge auf der Universität wegen ihrer zu großen Menge<br />

nicht mit der erforderlichen Strenge und Gründlichkeit geschehen können; auch überhaupt die bisherige<br />

Einrichtung desselben weder für den fleißigen und wohl vorbereiteren Jüngling etwas besonders Aufmunterndes,<br />

noch für den unwissenden und trägen etwas Abschreckendes gehabt hat. Es ist daher beschlossen<br />

worden, dass künftig alle von öffentlichen Schulen zur Universität abgehende Jünglinge schon vorher<br />

auf der von ihnen besuchten Schule in der weiter unten zu bestimmenden Form öffentlich geprüft werden,<br />

und nachher ein detailliertes Zeugniß über ihre bey der Prüfung befundene Reife oder Unreife zur Universität<br />

erhalten sollen, welches Zeugniß sie demnächst bey ihrer Inscription auf der Universität zu produciren<br />

haben, damit es dort ad Acta gelegt und künftig bey ihrem Abgang von der Universität in ihrem academischen<br />

Zeugniß resumiert werden könne. Es ist jedoch hierbey Unsere Absicht nicht die bürgerliche Freyheit<br />

in so fern zu beschränken, dass es nicht ferner jedem Vater und Vormund frey stehen sollte, auch einen<br />

unreifen und unwissenden Jüngling zur Universität zu schicken: dies soll vielmehr nach wie vor dem<br />

Ermessen eines jeden überlassen bleiben. Aber dem ungeachtet ist es wohl für jedes Individuum als für<br />

das Ganze sehr nützlich, dass es von nun an actenmäßigg constire, wie jeder Jüngling die Universität bezogen,<br />

ob reif oder unreif: und haben Wir das Vertrauen, dass wenigstens manche Eltern oder Vormünder<br />

ihre Söhne oder Mündel, wenn sie bey dieser Prüfung unreif zur Universität befunden worden, noch so<br />

lange zurück behalten werden, bis sie bey einem abermaligen Examen das Zeugniß der Reife zu erlangen<br />

sich qualificiren“ (S. 266, in: Kamp, N.: <strong>Das</strong> Abiturreglement von 1788. Essen (Diss.) 1988, S. 266-269).<br />

1812:<br />

<strong>Das</strong> Abitur ist nach wie vor keine Studienvoraussetzung, es wird aber in den Folgejahren zur Voraussetzung<br />

des Eintritts in den Kirchen- oder Staatsdienst bzw. der Zulassung zu einem entsprechenden<br />

Examen (1820 – Übernahme eines katholischen Kirchenamtes, 1833 Prüfung in evangelischer<br />

Theologie, 1831 Staatsexamen für das höheres Lehramt, 1832 juristisches Staatsexamen).<br />

Die inhaltlichen Anforderungen, die im Rahmen des Abiturs überprüft werden sollten, werden 1812<br />

erstmals detailliert festgelegt.<br />

7


1834:<br />

Abiturprüfungen werden zur Voraussetzung für alle Studiengänge; lediglich die Studien in der philosophischen<br />

Fakultät, soweit sie nicht zu einem Staatsexamen führen, können ohne Abitur aufgenommen<br />

werden. Die Abiturprüfungen können nur noch an Gymnasien abgelegt werden.<br />

Parallel zur institutionellen Etablierung des Gymnasiums entwickelt sich ein gymnasialer Lehrplan:<br />

Beeinflusst durch den Neuhumanismus (vgl. dazu: Menze, Clemens: Die Bildungsreform Wilhelm<br />

von Humboldts. Hannover 1975) entsteht in entschiedener Ablehnung der am Gedanken der Nützlichkeit<br />

(Utilitarismus) orientierten Aufklärungspädagogik des Philanthropinismus’ (vgl. dazu: Blankertz,<br />

H.: Berufsbildung und Utilitarismus. Weinheim 1985) ein Lehrplan mit einer ausgesprochen<br />

philologischen Ausrichtung: Der gymnasiale Lehrplan von 1837 (vgl. Abbildung 2.1) widmet 54 %<br />

aller Unterrichtsstunden eines Gymnasiasten den Fächern Latein, Griechisch und Deutsch und<br />

lediglich 18% der Stunden dem Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften.<br />

Abbildung 2.1: Stundentafel für das Gymnasium (1837)<br />

Sexta Quinta Quarta Tertia Sekunda Prima Summe<br />

(1 J.) (1 J.) (1 J.) (2 J.) (2 J.) (2 J.) (9 J.)<br />

Lehrgegenstände<br />

Lateinisch 10 10 10 10 10 8 86<br />

Griechisch 0 0 6 6 6 6 42<br />

Deutsch 4 4 2 2 2 2 22<br />

Französisch 0 0 0 2 2 2 12<br />

Religion 2 2 2 2 2 2 18<br />

Mathematik 0 0 3 3 4 4<br />

Rechnen/ geometrische<br />

4 4 0 0 0 0<br />

Anschauungslehre<br />

Naturbeschreibung 2 2 2 2 0 0 10<br />

Physik 0 0 0 0 1 2 6<br />

Phil. Propädeutik 0 0 0 0 0 2 4<br />

Geschichte/ Geographie 3 3 2 3 3 2 24<br />

Zeichnen 2 2 2 0 0 0 6<br />

Schönschreiben 3 3 1 0 0 0 7<br />

Gesang 2 2 2 2 0 0 10<br />

Wöchentliche Lehrstunden<br />

32 32 32 32 30 30 280<br />

Hebräisch für künftige<br />

Theologen<br />

0 0 0 0 2 2 288<br />

Quelle: Reble, A. (Hrsg.): Zur Geschichte der höheren Schule, Bd. 2, Bad Heilbrunn 1975, S. 68<br />

Mit dieser Prägung hatten sich die neuhumanistischen Reformer gegen das Konzept der Utilitaristen<br />

durchgesetzt. Einer aus dem Kreis dieser Reformer, F. I. Niethammer, hatte in seiner Schrift<br />

„Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer<br />

Zeit“ (Jena 1808) die von der Aufklärungspädagogik geprägten Philanthropinisten (oder<br />

auch: Utilitaristen) in polemischer Tonlage so charakterisiert:<br />

„Der große Impulsator seiner Zeit, mit welchem für Deutschland eine neue Bildungs-Epoche überhaupt<br />

beginnt, und der auch die Umgestaltung der Erziehungslehre unter uns begründet hat, ist Friedrich der<br />

Zweite. In dem Reiche, das er durch seinen kräftigen Geist erschaffen hat, erhielt zuerst die <strong>deutsche</strong> Kultur<br />

eine vorherrschende Richtung aus Industrie und Gewerbfleiß. Die Forderung realer Nützlichkeit war<br />

jetzt an der Tagesordnung; reale Nützlichkeit aber hieß nur Einträglichkeit, materielle Production. Die laute,<br />

von der Regierung selbst ausgehende Anpreisung und ausreichende Begünstigung des Landbaues,<br />

des Fabrikenwesens, des Handels, der Industrie etc. mußte unausbleiblich auf überwiegende Schätzung<br />

mechanischer und technischer Geschicklichkeit wirken. Nein, es ist nicht bloß mechanische Betriebsamkeit,<br />

Gewerb- und Kunstfleiß, Handel und jede Art von Industrie, die man aus dem mächtig angeregten<br />

Umtriebe hervorgehen sieht: derselbe Geist, dieselbe Tendenz, dieselbe Regsamkeit zeigt sich auch in allen<br />

Zweigen des Denkens und der Bildung überhaupt. In der Erziehung, in der Religion, in der Philosophie,<br />

8


in dem ganzen Umkreise der Geistesthätigkeit, war ‚praktisch‘ jetzt das allgemeine Losungswort; nur was<br />

unmittelbar ins Leben eingreifend, in der Anwendung förderlich war, wurde geachtet. <strong>Das</strong> ganze Gebiet<br />

des Wissens gewann dadurch neues Leben und eine neue Gestalt; die Wissenschaften wurden mit angestrengtem<br />

Eifer umgearbeitet, um sie von ihrer praktischen Seite darzustellen, und sie für die Praxis nützlich<br />

zu machen.<br />

Was der große Reformator seiner Zeit durch diese aufgeregte allgemeine Thätigkeit nach Außen zunächst<br />

in seinem Volk bewirkte, hat die Mitwelt in Erstaunen gesetzt, und muß bei der späten Nachwelt noch Bewunderung<br />

finden. Aber nicht bloß sein Reich hat er durch seinen gewaltigen Geist umgeschaffen; von<br />

ihm ging unverkennbar auch der Impuls aus, der nach und nach eine Totalreform der <strong>deutsche</strong>n Cultur<br />

bewirkte. Die Hauptstadt seines Reiches war es, die den Ton in der schriftstellerischen Welt in Deutschland<br />

angab, wie seine Armee es war, die überall zum Muster genommen wurde, und seine Regierungszunft,<br />

die überall eifrige Nachahmung fand. Dankbar wird die Geschichte seine Zeit als Epoche eine<br />

höchstnöthigen und höchstwohlthätigen Geistes-Revolution bezeichnen, durch welche der Geist der Trägheit<br />

und der müssigen Speculation verbannt, das Reich der Aberglaubens erschüttert, die Fessel der supranaturalistischen<br />

Buchstaben-Auctorität zerbrochen, die schlummernde Kraft geweckt, das Denken frei<br />

gemacht worden ist.<br />

Aber selbst durch diese glänzenden Vorzüge wird der Historiker sich nicht blenden lassen, dieselbe Epoche<br />

nicht zugleich als den Zeitpunkt zu bezeichnen, mit welchem der Erbgeist seine verderbliche Herrschaft<br />

unter uns begonnen.<br />

Wie die Richtung des Geistes auf die Erde in der angeregten äußeren Betriebsamkeit mehr und mehr zunahm,<br />

der Trieb nach Geld und Gewinn durch die Einträglichkeit der materiellen Productionen aller Art<br />

immer mehr gereizt wurde, und dadurch die Gesamtkraft der Nation überwiegend nach dieser Seite lenkte,<br />

theilte sich dieselbe Richtung auch der geistigen Thätigkeit mehr und mehr mit. Nicht nur gewannen die<br />

Zweige des Wissens, die mit der materiellen Production in näherer Beziehung stehen, wie z.B. Mathematik,<br />

Physik, Chemie, ein entschiedenes Übergewicht, und wurden in dem Maße, in welchem sie sich durch<br />

Erfindung realer Vortheile für Gewerb und Industrie auszeichneten, mehr gesucht und mehr bezahlt, während<br />

rein wissenschaftliche Behandlung derselben Zweige des Wissens immer weniger Freunde fand:<br />

sondern sogar das rein geistige Gebiet des Wissens blieb von dem Einflusse jenes Geistes nicht ganz frei,<br />

selbst das Reinste und das Höchste ward nicht unbefleckt erhalten: die Religion zu gemeinem Moralismus,<br />

das Christenthum zum Eudämonismus, die Theologie zum Naturalismus, die Philosophie zum Synkretismus<br />

und Materialismus, die Weltweisheit zur Erdweisheit, die Wissenschaft zur Pulsmacherin erniedrigt.<br />

So begann in der Geistesrevolution der damaligen Zeit, neben den unverkennbaren Fortschritten vielfältiger<br />

Bildung, zugleich unter dem Namen von Aufklärung ein Rückschreiten der wahren Kultur, ein Haß<br />

alles rein Geistigen, Idealen, in Kunst und Wissenschaft, durch welchen auch jedes Erheben über das Irdische<br />

als mystische. Gläubelei in übeln Ruf gebracht, alles Leben in Ideen als Enthusiasterei verspottet<br />

wurde.<br />

Wem diese Schilderung von der Schattenseite jener merkwürdigen Entwicklungsperiode <strong>deutsche</strong>r Cultur<br />

zu grell scheinen möchte, erinnere sich nur an die lauten Klagen der Besseren jener Zeit, die der gerühmten<br />

Aufklärung als einer wahren Entgeistung der Nation sich vergebens entgegen stemmten.<br />

Was in einem solchen Reiche, bei solcher Stimmung der Mehrzahl, bei vorherrschender Auctorität jener<br />

Denkart, auch die Erziehung für eine Richtung nehmen, und wie sie, zurückwirkend, der allgemeinen Tendenz<br />

eine verdoppelte Geschwindigkeit geben musste, ist leicht zu erachten.<br />

Von der einen Seite zeit sich das Gute der allgemeinen Tendenz auch in der Pädagogik. Mehr Betriebsamkeit,<br />

Thätigkeit kam auch in den Unterricht; der alte Schlendrian ward aus seiner trägen Behaglichkeit<br />

aufgestört; man berechnete mehr, was eigentlich zu thun sei, was man bezwecke, und wie mans am besten<br />

erreichen könne; Mängel und Gebrechen der hergebrachten Erziehungsweise wurden kühn angegriffen,<br />

der Missbrauch des bloßen Zeichen- und Buchstabenwissens im Erziehungsunterrichte der verdienten<br />

Geringschätzung bloßgestellt; ein größerer Umfang der Lehrgegenstände und vielseitigere Behandlung<br />

derselben wurde unerlässlich gefordert, und dadurch zugleich um so nothwendiger gemacht, auf Verbesserung<br />

der Methode zu denken, um in kürzerer Zeit mehr zu leisten.<br />

Von der andern Seite aber zeigt sich auch das Nachtheilige der allgemeinen Tendenz eben so unverkennbar<br />

in der Pädagogik. Da der Impuls der Cultur aus dem Realen kam, aus dem aufgeregten Interesse für<br />

die Außenwelt und den Gewinn, der in derselben und für dieselbe zu machen war; so mußte schon dies<br />

auch der Pädagogik eine überwiegende Richtung nach Außen geben, die Kenntniß der Außenwelt zur ersten<br />

Forderung des Unterrichts erheben, und dagegen die Beschäftigung des Lehrlings mit den geistigen<br />

Gegenständen der Innenwelt in Mißcredit bringen. Doch hätte sich damit die Forderung der allgemeinen<br />

Bildung, welche die Hauptaufgabe der Schule ist, vielleicht noch vereinigen lassen, wiefern durch verbes-<br />

9


serte Lehrmethode und angestrengten Fleiß der Lehrer und Schüler auch noch für die neugeforderten<br />

Lehrgegenstände Zeit gewonnen worden wäre. Da aber die Verfassung des neu geschaffnen Reiches<br />

zugleich von allen Seiten die Bedürfnisse vermehrt, die Lasten erhöht, die Nothwendigkeit schnellen Erwerbes<br />

vergrößert, und die Unterthanen gezwungen hatte, alle ihre Kräfte für ihre Subsistenz anzustrengen;<br />

da zu eben diesem Zwecke auch die Kinder früher zur Arbeit angehalten werden mußten und alles in<br />

Amt und Brod zu kommen eilte: da musste nicht nur die Schulzeit abgekürzt, sondern auch unmittelbar für<br />

Erwerbszweck und Brodwissenschaft verwendet werden; da kamen die Realien zur Tagesordnung in den<br />

Schulen, da musste vor allem andern auf materielle Kenntnisse, das Hauptgewicht gelegt, und die Übung<br />

geistiger Lehrgegenstände hintangesetzt werden. In dieser Stimmung musste man insbesondere bald<br />

auch finden, dass es weit besser in der Welt forthelfe, lebende Sprachen zu verstehen, als jene todten, die<br />

als ein todtes Capital ohne Vortheil seyen; und man darf sich kaum noch wundern, dass die Herabwürdigung<br />

des Studiums der alten Sprachen bis zu dem Grade zunahm, dass endlich sogar laut und öffentlich<br />

die Erlernung jener Sprachen für entbehrlich erklärt wurde, und selbst Männer von Ansehen, die sich der<br />

einseitigen Behauptung ernstlich widersetzten, doch nicht verhindern konnten, dass nicht nur die Erlernung<br />

der alten Sprachen, sondern das philosophische Studium überhaupt und die Bekanntschaft mit der<br />

alten classischen Welt, in den Schulen immer mehr vernachlässigt wurde, und am Ende fast nur noch in<br />

einigen Klosterschulen – die aber eben deshalb als Muster des Pedantismus galten – ein ganz ungestörtes<br />

Asyl fand.<br />

In dieser Gährung der alten und der neuen Unterrichts-Methode, während noch in den Gymnasien bald die<br />

eine bald die andere sich im Übergewicht erhielt, trat mit einemmal das Philanthropin als erster Versuch<br />

einer vollständigen Darstellung der modernen Theorie hervor“ (Auszug).<br />

<strong>Das</strong> Gegenkonzept zum Utilitarismus findet sich – zumindest in seinen zentralen Elementen – in<br />

Wilhelm von Humboldts „Unmaßgeblichen Gedanken über den Plan zur Einrichtung des Litauischen<br />

Stadtschulwesens“ (1809). Dort schreibt er zu Reformvorhaben in Litauen:<br />

„Wenn ich, mit Vorbeilassung alles Details, gleich auf das Wesentliche des Plans gehe, so weicht er in den<br />

Hauptgesichtspunkten weit von den bisherigen Grundsätzen der Section ab; in der Ausführung nach der<br />

örtlichen Lage würde diese Abweichung grösstentheils wieder verschwinden. Allein es ist dennoch ebenso<br />

nothwendig, als mit denkenden Männern erfreulich, auch über die Grundsätze zu discutiren. Von ihnen<br />

hängt der Geist ab, in dem auch auf demselben Wege gewirkt wird, und dieser macht offenbar durch seine<br />

innere Kraft durchaus verschieden, was den äussren Einrichtungen nach, Eins und dasselbe scheint.<br />

Die Abweichung nun liegt in dem Begriffe der Bürgerschulen, welche in dem Plane als eine eigne, ihrem<br />

Begriff und Zweck nach abgegränzte Gattung von Schulen, und selbst wo sie das nicht sind, (für den Gelehrten)<br />

als ein besonderes Stadium des Unterrichts betrachtet werden.<br />

Die durch die wirkliche Ausführung wieder herbeigeführte Übereinstimmung würde daraus entstehen, dass<br />

doch nur in Lyk Bürger- und Gelehrtenschule getrennt seyn sollten, sonst aber nah und enge verbunden<br />

wären.<br />

Die Frage über die Zulässigkeit abgesonderter Bürger- oder Realschulen scheint weitläufig und schwierig<br />

zu erörtern. Sie hat zwei verschiedene Systeme hervorgebracht, wovon man das realistische neulich, in<br />

Baiern, so weit getrieben hat, dass man beinahe RealUniversitäten aufstellt.<br />

Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation, oder der Staat für diese<br />

annimmt, müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. – Was das Bedürfnis des Lebens oder<br />

eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht<br />

erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige<br />

Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen.<br />

Denn beide Bildungen – die allgemeine und die specielle – werden durch verschiedene Grundsätze geleitet.<br />

Durch die allgemeine sollen die Kräfte, d.h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden;<br />

durch die specielle soll er nur Fertigkeiten zur Anwendung erhalten. Für jene ist also jede Kenntnis, jede<br />

Fertigkeit, die nicht durch vollständige Einsicht der streng aufgezählten Gründe, oder durch Erhebung zu<br />

einer allgemeingültigen Anschauung (wie die mathematische und ästhetische) die Denk- und Einbildungskraft,<br />

und durch beide das Gemüth erhöht, todt und unfruchtbar. Für diese muss man sich sehr oft auf in<br />

ihren Gründen unverstandene Resultate beschränken, weil die Fertigkeit da seyn muss, und Zeit oder Talent<br />

zur Einsicht fehlt. So bei unwissenschaftlichen Chirurgen, vielen Fabrikanten u.s.f. Ein Hauptzweck<br />

der allgemeinen Bildung ist, so vorzubereiten, dass nur für wenige Gewerbe noch unverstandene, und als<br />

nie auf den Menschen zurück wirkende Fertigkeit übrigbleibe.<br />

Die Organisation der Schulen bekümmert sich daher um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch<br />

nicht um die gelehrte – ein Fehler der vorigen Zeit, wo dem Sprachunterricht der übrige geopfert, und auch<br />

10


dieser – mehr der Qualität, als Quantität nach – zum äussern Bedarf (in Erlangung der Fertigkeit des Exponirens<br />

und Schreibens) nicht zur wahren Bildung (in Kenntnis der Sprache und des Alterthums) getrieben<br />

wurde.<br />

Der allgemeine Schulunterricht geht auf den Menschen überhaupt, und zwar als<br />

- gymnastischer<br />

- ästhetischer<br />

- didaktischer und in dieser letzteren Hinsicht wieder als<br />

□ mathematischer<br />

□ philosophischer, der in dem Schulunterricht nur durch die Form der Sprache rein, sonst immer historisch-philosophisch<br />

ist, und<br />

□ historischer<br />

auf die Hauptfunktionen seines Wesens.<br />

Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner,<br />

und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden,<br />

wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental,<br />

chimärisch, und verschroben werden soll. Eher könnte es scheinen, dass bei der allmählig fortschreitenden<br />

Bildung die Methode insofern verschieden seyn müsste, als sich das Ziel derselben durch Unterricht<br />

als weit oder nahe gesteckt voraussehen lässt. Allein auch hier scheint mir der Unterschied nicht bedeutend.<br />

Bleibt man fest dabei stehen, Zahl und Beschaffenheit der Unterrichtsgegenstände nach der Möglichkeit<br />

der allgemeinen Bildung des Gemüths in jeder Epoche zu bestimmen, und jeden Gegenstand immer<br />

so zu behandeln, wie er am meisten und besten auf das Gemüth zurückwirkt, so muss eine ziemliche<br />

Gleichheit herauskommen. Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso<br />

wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten. Indess lässt kleine Verschiedenheiten allerdings<br />

die Wahl des Stoffes, da jede Form nur an einem Stoffe geübt werden kann, zu und auf diese wird in<br />

der Folge auch Rücksicht genommen werden. Auch können die grellen Contraste immer vermieden werden,<br />

und es braucht nie dahin zu kommen, dass ein Handwerker Griechisch, kaum Lateinisch gelernt habe.<br />

Die Gränze des Unterrichts, da wo derselbe nicht seinen Endpunkt, die Universität, als die Emancipation<br />

vom eigentlichen Lehren (da der UniversitätsLehrer nur von fern das eigene Lernen leitet) erreicht, kann<br />

nun durch nichts anderes bestimmt werden, als durch die zu allem Unterricht nöthigen Bedingungen Kraft<br />

und Zeit. Soweit der Schüler das eine hergiebt, und zum andern Mittel hat, so weit kann der Lehrer ihn<br />

führen, und soweit muss der Staat dafür sorgen, dass er gebracht werden könne.<br />

Die Pflicht der Schulbehörde bei der Organisation des Schulwesens ist nun, zu verhüten, dass der Schüler<br />

einen Weg mache der ihm unnütz seyn würde, wenn er ihn nun nicht auch noch weiter verfolgte. Leider<br />

aber ist dies fast immer jetzt bei unsern Schulen der Fall, wenn einer in tertia oder secunda stecken bleibt.<br />

Es wird aber nie Statt haben, wenn man (wie auf den sehr guten Schulen schon jetzt geschieht) beim Unterricht<br />

nicht auf das Bedürfnis des Lebens, sondern rein auf ihn selbst, auf die Kenntnis, als Kenntnis, auf<br />

die Bildung des Gemüths und im Hintergrunde auf die Wissenschaft sieht. Denn im Gemüth und in der<br />

Wissenschaft (die nur sein von allen Seiten vollständig gedachtes Object ist) steht jeder einzelne Punkt mit<br />

allen vorigen und künftigen in Contact, ist kein Anfang und kein Ende, ist alles Mittel und Zweck zugleich,<br />

und also jeder Schritt weiter Gewinn, auch wenn unmittelbar dahinter eherne Mauern gezogen würden.<br />

Sind diese Grundsätze richtig und kommt man nun von ihnen auf die verschiedenen Gattungen der Schulen<br />

(Spezialschulen immer ganz abgesondert), so ist wieder das erste und wichtigste Princip<br />

die Einheit und Continuität des Unterrichts in seinen natürlichen Stadien, da jede Theilung der Anstalt da,<br />

wo der Unterricht keine natürliche Theilung kennt, seine Folge zerreisst, Verschiedenheit in der Behandlung<br />

und dem Geiste derselben hervorbringt, und selbst die Lehrer, die nur bis zu einem willkührlich angenommenen<br />

Punkt führen sollen, ungewiss und verwirrt macht.<br />

Als natürliche Stadien aber kann ich nur anerkennen:<br />

- den Elementarunterricht<br />

- den Schulunterricht<br />

- den Universitätsunterricht.<br />

Der Elementarunterricht umfasst bloss die Bezeichnung der Ideen nach allen Arten, und ihre erste und ursprüngliche<br />

Classification, kann aber, ohne Nachtheil, in dem Stoff zu dieser Form in Natur- und Erdkenntnis<br />

mehr oder minder Gegenstände mit aufnehmen. Er macht es erst möglich, eigentlich Dinge zu<br />

lernen, und einem Lehrer zu folgen.<br />

11


Der Schulunterricht führt den Schüler nun in Mathematik, Sprach- und Geschichtskenntnis bis zu dem<br />

Punkte wo es unnütz seyn würde, ihn noch ferner an einen Lehrer und eigentlichen Unterricht zu binden,<br />

er macht ihn nach und nach vom Lehrer frei, bringt ihm aber alles bei, was ein Lehrer beibringen kann.<br />

Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in<br />

die reine Wissenschaft. Zu diesem Selbst-Actus im eigentlichsten Verstand ist nothwendig Freiheit, und<br />

hülfereich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fliesst zugleich die ganze äussere Organisation der<br />

Universitäten. <strong>Das</strong> Kollegienhören ist nur Nebensache, das Wesentliche, dass man in enger Gemeinschaft<br />

mit Gleichgestimmten und Gleichaltrigen, und dem Bewusstseyn, dass es am gleichen Ort eine Zahl<br />

schon vollendet Gebildeter gebe, die sich nur der Erhöhung und Verbreitung der Wissenschaft widmen,<br />

eine Reihe von Jahren sich und der Wissenschaft lebe.<br />

Übersieht man diese Laufbahn von den ersten Elementen bis zum Abgang von der Universität, so findet<br />

man, dass, von der intellectuellen Seite betrachtet, der höchste Grundsatz der Schulbehörde (den man<br />

aber selten aussprechen muss) der ist: die tiefste und reinste Ansicht der Wissenschaft an sich hervorzubringen,<br />

indem man die ganze Nation möglichst, mit Beibehaltung aller individuellen Verschiedenheiten,<br />

auf den Weg bringt, der weiter verfolgt, zu ihr führt, und zu dem Punkte, wo sie und ihre Resultate nach<br />

Verschiedenheit der Talente und Lagen, verschieden geahndet, begriffen, angeschaut, und geübt werden<br />

können, und also den Einzelnen durch die Begeisterung, die durch die reine Gesammtstimmung geweckt<br />

wird, zu Hülfe kommt“ (in: Michael, B./Schepp, H.-H. (Hrsg.): Die Schule in Staat und Gesellschaft. Göttingen<br />

1993, S. 104-108)<br />

Am Ende des Prozesses der Etablierung ‚höherer’ Schulbildung hat sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

ein höheres Schulwesen herausgeschält, das durch zwei Aspekte charakterisiert ist:<br />

- zum einen durch das Berechtigungssystem:<br />

Schulbildung, die in einer staatlich kontrollierten Prüfung nachgewiesen werden musste,<br />

wurde zur notwendigen Voraussetzung akademischer Ausbildung und staatlicher Beamtenkarrieren.<br />

- zum andern durch das Konzept der Allgemeinbildung:<br />

Gymnasiale Bildung war in Abgrenzung von jeder (berufsbezogenen) Spezialbildung für die<br />

künftigen ‚Eliten’ in Staat und Gesellschaft inhaltlich philologisch ausgerichtet.<br />

Erreicht wurde damit dreierlei:<br />

- Die Loyalität der durch Bildung aufgestiegenen Beamtenschaft wurde erzeugt und gesichert.<br />

- Die Qualifikation der ‚führenden’ Schichten wurde in staatlicher Institutionen geleistet und<br />

durch den Staat kontrolliert.<br />

- Die erfolgreiche Teilhabe an höherer Bildung ermöglichte den Söhnen des Bürgertums, in<br />

Konkurrenz zu dem bis dahin privilegierten Adel zu treten und sich dadurch aus den bis dahin<br />

engen Standesgrenzen zu befreien.<br />

■ Zur Etablierung des ‚niederen’ Schulwesens<br />

Die Etablierung des ‚niederen Schulwesens’ ist eng verbunden mit dem Prozess der Durchsetzung<br />

der Schulpflicht. Diese Schulpflicht wurde – wie schon dargestellt – im 18. Jahrhundert in Preußen<br />

wiederholt proklamiert (1717 „General Edict", 1763 „Generalschulreglement", 1794 „Allgemeines<br />

Landrecht"), aber erst im 19. Jahrhundert tatsächlich realisiert (1816 besuchten etwa 60 %, 1846<br />

etwa 80 % und 1871 etwa 90 % aller Heranwachsenden Schulen).<br />

Da die breite Volksbildung ökonomisch zunächst weniger wichtig war als die qualifizierte Beamtenbildung,<br />

entwickelte sich das ‚niedere’ zeitlich erst nach dem ‚höheren’ Schulwesen. Diese Entwicklung<br />

fand – anders als von z.B. Wilhelm von Humboldt gewünscht – in klar getrennten Institutionen<br />

nach deutlich unterschiedlichen Konzepten statt.<br />

Die mit dieser strukturellen Gliederung verbundene Position formuliert L. v. Beckedorff, ein Gegner<br />

der schulpolitischen Ansätze eines Wilhelm von Humboldt und seiner Mitstreiter, in seiner Beurteilung<br />

des Süvernschen, im Geiste Humboldts verfassten, Unterrichtsgesetzentwurfes (zwischen<br />

1819 und 1822):<br />

„Um aller dieser Gründe willen aber bedürfen wir in der menschlichen Gesellschaft nicht gleichartiger Stufen-,<br />

sondern verschiedenartiger Berufs- und Standesschulen; nicht wie der Entwurf vorschlägt, neu eingerichteter<br />

allgemeiner Elementarschulen, allgemeiner Stadtschulen und Gymnasien, als Anstalten, in welchen<br />

durchaus dieselben Gegenstände, nur in unterschiedenen Graden und in geringerer oder größerer<br />

Ausführlichkeit und Vollkommenheit gelehrt werden, sondern nach bisheriger alter Weise, guter Bauern-,<br />

12


Bürger- und Gelehrtenschulen, worin diejenigen, welche diesen zwar verschiedenen, aber gleich ehrenwerten<br />

Ständen angehören, von Kindesbeinen an zu ihrer künftigen Bestimmung vorbereitet werden; nicht<br />

endlich einer künstlichen Gleichheit der Volkserziehung, sondern vielmehr einer naturgemäßen Ungleichheit<br />

der Standeserziehung; zwar allerdings einer übereinstimmenden Bildung zur Religion und Sittlichkeit,<br />

aber keineswegs einer gleichartigen Abrichtung in Kenntnissen und Fertigkeiten“ (S.117 f., in: Michael,<br />

B./Schepp, H.-H.: Die Schule in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur <strong>deutsche</strong>n Schulgeschichte im 19.<br />

und 20. Jahrhundert. Göttingen 1993, S. 113-123).<br />

Die preußische ‚Volksschule’ (oder: ‚Elementarschule’ oder: das ‚niedere Schulwesen’ in Preußen)<br />

war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Prinzip der gewollten Bildungsbegrenzung bestimmt:<br />

sie war in der Regel einklassig, umfasste zumeist eine höchstens dreijährige Schulbesuchszeit,<br />

beschäftigte Lehrer, die über keine akademische Ausbildung verfügten, und war inhaltlich<br />

auf Rechnen, Lesen, Schreiben und Religion begrenzt. Gegen diese Bildungsbegrenzung<br />

wehrten sich fortschrittliche Bürger und vor allem Volksschullehrer: so z.B. der westfälische Industrielle<br />

F. Harkort (1842) oder der Lehrer W. Wander (1848).<br />

Auszug aus: F. Harkort: Bemerkungen über die preußische Volksschule und ihre Lehrer (Hagen<br />

1842):<br />

„Vorwärts ist die Losung der Nationen; materielle und geistige Interessen schlagen ihre Schlachten und<br />

halten Siegesfeier auf den Trümmern verlebter Formen. Da will nun manchen bedünken, der in altem<br />

Wohlbehagen großgewiegt, das Rad der Zeit sei aus den ewigen Geleisen gewichen und bedrohe mindestens<br />

das Heil der ganzen Christenheit; deshalb erflehen sie vom Himmel als Rettung, dass der Wagen still<br />

stehe [...] Andere [...] suchen die Bewegung zu hemmen und bauen Schranken, um das Volk zu sondern<br />

und Gaben und Licht nach Willkür zu verteilen. Auch diese werden den Geist nicht bannen, dessen Zeichen<br />

sie nicht erkennen. Jene gefürchtete Masse der unteren Stände verlangt nicht allein nach Brot und<br />

Schauspielen, nein, sie hat auch geistige Bedürfnisse, und indem man diese befriedigt, wird der Weg zum<br />

täglichen Brot sicherer gebahnt wie durch Schranken, Gebet und Fron. Nicht nach dem Stande eines Ackerknechts<br />

oder einer Viehmagd ist das Maß des Wissens zu berechnen, sondern nach dem Erbteil der<br />

Vernunft und Fähigkeiten, die Gott dem Tagelöhner wie dem Fürstensohne verliehen hat [...]“ (in: Jeismann,<br />

K.-E.: Die „Stiehlschen Regulative“. In: Hermann, U.: Schule und Gesellschaft im 19. Jahrhundert.<br />

Weinheim 1977, S. 158).<br />

Auszug aus W. Wander: Aufruf an Deutschlands Lehrer (Eisenach 1848):<br />

„<strong>Das</strong> <strong>deutsche</strong> Volk ist erwacht; neues frisches Leben pulst in seinen Adern. Vom russischen Winde der<br />

Memel bis zu den französischen Wellenschlägen der Mosel vernehmen wir den Ruf nach einem einigen<br />

Deutschland. Was vergeblich ersehnt worden ist, das soll jetzt ins Leben treten. Die Paulskirche in Frankfurt<br />

will das Gebäude der <strong>deutsche</strong>n Einheit und Freiheit gründen. Aber was würde der herrlichste Bau<br />

nützen, wenn nicht der rechte Geist in ihm lebte! Diesen rechten Geist im Volk zu wecken, wo er schläft –<br />

zu kräftigen, wo er matt daniederliegt – zu leiten, wo er in falsche Bahnen sich verirrt – das ist die Aufgabe<br />

der <strong>deutsche</strong>n Volkserziehung, die größtenteils in den Händen der <strong>deutsche</strong>n Lehrer liegt. Diese aber<br />

vermögen ihre Aufgaben, wie sie die Gegenwart hinstellt, nur dann entsprechend zu lösen, wenn sie sich<br />

für diesen großen Zweck vereinigen [...]. Alles sammelt sich unter der Fahne der Einheit. Deutsche Lehrer,<br />

reißet auch ihr die euch trennenden Schranken nieder! Laßt uns als Brüder arbeiten an dem großen Werke,<br />

das uns anvertraut ist: An der Bildung des <strong>deutsche</strong>n Volkes“ (in: Jeismann, K.-E.: Die „Stiehlschen<br />

Regulative“. In: Hermann, U.: Schule und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Weinheim 1977, S. 148).<br />

Zeitgleich mit dem Versuch einer bürgerlichen Revolution in Deutschland (Paulskirche, 1848) wurden<br />

die Ansätze einer Schulprogrammatik formuliert, die auch Schülern und Schülerinnen des<br />

‚niederen Schulwesens’ Bildungschancen hätte eröffnen können. Zentrale Elemente dieser schulpolitischen<br />

Forderungen waren:<br />

- die öffentliche Trägerschaft und Kontrolle der Schulen,<br />

- die Durchsetzung der Schulpflicht,<br />

- eine wissenschaftliche Ausbildung, eine feste Anstellung und eine hinreichende Bezahlung<br />

der Lehrer sowie<br />

- ein breit angelegter Fachunterricht.<br />

Nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution sah die preußische Krone in den Reformtendenzen<br />

unter den Volksschullehrern eine wesentliche Ursache der ‚Unruhen’. Der preußische König<br />

Friedrich Wilhelm IV äußerte sich 1849 in seiner „Ansprache an die Seminarlehrer“, also an die<br />

Ausbilder der künftigen Volksschullehrer, folgendermaßen:<br />

13


„All’ das Elend, das im verflossenen Jahre über Preußen hereingebrochen, ist ihre, einzig Ihre Schuld, die<br />

Schuld der Afterbildung, der irreligiösen Menschenweisheit, die Sie als echte Weisheit verbreiten, mit der<br />

Sie den Glauben und die Treue in dem Gemüthe meiner Unterthanen ausgerottet und deren Herzen von<br />

Mir abgewandt haben. Diese pfauenhaft aufgestutzte Scheinbildung habe Ich schon als Kronprinz aus innerster<br />

Seele gehaßt und als Regent Alles aufgeboten, um sie zu unterdrücken. Ich werde auf dem betretenen<br />

Wege fortgehen, ohne Mich irren zu lassen; keine Macht der Erde soll Mich davon abwendig machen.<br />

Zunächst müssen die Seminarien sämmtlich aus den großen Städten nach kleinen Orten verlegt<br />

werden, um den unheilvollen Einflüssen eines verpesteten Zeitgeistes entzogen zu werden. Sodann muß<br />

das ganze Treiben in diesen Anstalten unter die strengste Aufsicht kommen. Nicht den Pöbel fürchte Ich,<br />

aber die unheiligen Lehren einer modernen frivolen Weltweisheit vergiften und untergraben Mir meine Bureaukratie,<br />

auf die bisher Ich stolz zu sein glauben konnte. Doch so lange Ich noch das Heft in Händen<br />

führe, werde Ich solchem Unwesen zu steuern wissen“ (S. 167 f., in: Michael, B./Schepp, H.-H.: Die Schule<br />

in Staat und Gesellschaft. Dokumente zur <strong>deutsche</strong>n Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen<br />

1993, S. 167-168).<br />

Diese Kritik griff die restaurative Schulpolitik der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts mit den drei<br />

Stiehl'schen Regulativen von 1854 auf (vgl.: Jeismann, K.-E.: Die Stielschen Regulative. In: Herrmann,<br />

U. (Hrsg.): Schule und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Weinheim 1977, S.137-S.161). In<br />

diesen Erlassen wurde der Volksschulunterricht auf die elementaren Kulturtechniken und Religion<br />

zurückgeführt (vgl. den Normal-Lehrplan von 1854 in Abbildung 2.2), zudem wurde die Volksschullehrerbildung<br />

so begrenzt, dass Lehrer kaum mehr als ihre späteren Schüler und Schülerinnen<br />

lernen durften.<br />

Abbildung 2.2: Normal-Lehrplan für die einklassige Elementarschule (1854)<br />

Lehrgegenstände Wochenstunden<br />

Religion 6<br />

Lesen, dt. Sprache, Schreiben 12<br />

Rechnen 5<br />

Gesang 3<br />

zusätzlich, wenn örtliche Verhältnisse es zulassen:<br />

Vaterlands - u. Naturkunde 3<br />

Zeichnen 1<br />

Quelle: zusammengestellt aus dem 3. Regulativ von 1854, nach: Scheibe, W. (Hrsg.):<br />

Zur Geschichte der Volksschule, Bd. 2, Bad Heilbrunn 1974, S. 23 ff.<br />

Die folgenden Auszüge aus den drei preußischen Regulativen vom 1., 2. und 3. Oktober 1854 über<br />

„Einrichtungen des evangelischen Seminar-, Präparanden und Elementarschul-Unterrichts“<br />

(‚Stiehlsche Regulative‘) vermitteln einen Eindruck vom Geist dieser Politik:<br />

„Der Gedanke einer allgemein-menschlichen Bildung durch formelle Entwicklung der Geistesvermögen an<br />

abstraktem Inhalt hat sich durch die Erfahrung als wirkungslos oder schädlich erwiesen. <strong>Das</strong> Leben des<br />

Volkes verlangt seine Neugestaltung auf Grundlage und dem Ausbau seiner ursprünglich gegebenen und<br />

ewigen Realitäten und auf dem Fundament des Christentums, welches Familie, Berufskreis, Gemeinde<br />

und Staat in seiner kirchlich berechtigten Gestaltung durchdringen, ausbilden und stützen soll. Demgemäß<br />

hat die Elementarschule [...] nicht einem abstrakten System, oder einem Gedanken der Wissenschaft,<br />

sondern dem praktischen Leben in Kirche, Familie, Beruf, Gemeinde und Staat zu dienen, und für dieses<br />

Leben vorzubereiten, indem sie sich mit ihrem Streben auf dasselbe gründet und innerhalb seiner Kreise<br />

bleibt. <strong>Das</strong> Verständnis und die Übung des dahin gehörenden Inhaltes, und dadurch Erziehung ist Zweck;<br />

die Methode ist nur ein Mittel, welches keinen selbständigen Wert hat; die formelle Bildung ergibt sich<br />

durch Verständnis und Übung des berechtigten Inhalts von selbst; ohne Rücksicht auf den Inhalt, oder einem<br />

verkehrten Inhalt nachstrebend, wirkt sie schädlich und zerstörend“ (Jeismann, a.a.O. S. 142 f.).<br />

„Was bisher in einzelnen Seminaren noch unter den Rubriken Pädagogik, Methodik, Didaktik, Katechetik,<br />

Anthropologie und Psychologie usw. etwa gelehrt sein sollte, ist von dem Lektionsplan zu entfernen und ist<br />

statt dessen für jeden Kursus in zwei Stunden Schulkunde anzusetzen. In dem Seminar ist kein System<br />

der Pädagogik zu lehren, auch nicht in populärer Form. Der Unterricht über Schulkunde hat sich vor Abstraktionen<br />

und vor Definitionswerk sorgfältig zu bewahren und möglichst praktisch und unmittelbar zu gestalten<br />

[...]. Was die Erziehung im allgemeinen betrifft, so wird für den künftigen Elementarlehrer eine Zusammenstellung<br />

und Erläuterung der in der Hl. Schrift enthaltenen, hierher gehörigen Grundsätze ausreichen.<br />

Die Lehre von der Sünde, menschlicher Hilfsbedürftigkeit, vom dem Gesetz der göttlichen Erlösung und Hei-<br />

14


ligung ist eine Pädagogik, welche zu ihrer Anwendung für den Elementarlehrer nur einiger Hilfssätze aus der<br />

Anthropologie und Psychologie bedarf“ (Jeismann, a.a.O. S. 144).<br />

Von diesen Bestimmungen erwartet Stiehl,<br />

„dass die Seminarien ihren wahren Beruf immer bestimmter und erfolgreicher erfüllen werden. Unpraktische<br />

Reflexion, subjektives, für die Zwecke einfacher und gesunder Volksbildung erfolgloses Experimentieren<br />

wird ihnen fernbleiben. Unter Festhaltung christlichen Grundes in Leben und Disziplin werden sie<br />

immer vollständiger zu dem sich ausbilden, was sie sein müssen, Pflanzstätten für fromme, treue, verständige,<br />

dem Leben des Volkes nahestehende Lehrer, die sich in Selbstverleugnung und um Gottes Willen<br />

der heranwachsenden Jugend in Liebe anzunehmen Lust, Beruf und Befähigung haben“ (Jeismann,<br />

a.a.O. S. 145).<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts war damit in Preußen wie generell im deutschsprachigen Raum ein<br />

‚niederes’ Schulwesen entstanden, das mit seinem Konzept volkstümlicher Bildung einen Gegenentwurf<br />

zum Konzept humanistischer Bildung im Gymnasium darstellte.<br />

■ Zur Etablierung des ‚mittleren Schulwesens’<br />

Zwischen beiden Konzepten angesiedelt waren die Versuche, eine stärker auf Anwendbarkeit hin<br />

orientierte ‚mittlere’ Bildung zu etablieren (Realschulbildung – vgl. dazu: Leschinsky, A./Roeder,<br />

P.M.: Schule im historischen Prozeß. Stuttgart 1976, insbesondere S. 168-208). Die frühen Lehrplanentwürfe,<br />

an denen sich später im 19. Jahrhundert die Mittelschulen ausrichteten, stammten<br />

weitgehend aus dem Aufklärungsdenken des 18. Jahrhunderts, insbesondere aus dem utilitaristischen<br />

Bildungsverständnis dieser Zeit. Anders als Gymnasien und Elementarschulen bezogen sie<br />

Mathematik, Mechanik, Ökonomie und moderne Fremdsprachen bewußt in den Lehrplan ein.<br />

Auszug aus: E. Weigel: Kunst- und Tugendlehr von Trivial- und Kinderschulen (1681):<br />

„Die Tätigkeit des Geistes sag ich / die besteht im Rechnen: Rechnen aber heist / nicht nur mit Ziffern spielen<br />

oder nur mit Symbolen grüblen: sondern Rechnen heist aus vorgegebenen gewissen Posten und Wahrheiten,<br />

es seyn Innhalts- oder Zielungs Posten und Wahrheiten, ein verlangtes Facit mit Nachdencken forschen<br />

[...]. Denn Gott will haben, dass die Menschen keine Abergläuber, sondern Rechner seyn, und rechenschaftlich<br />

alles thun, auch endlich Rechenschaft von allen geben sollen. Derowegen müssen alle Schulen<br />

Rechen-Schulen seyn hauptsächlich, und das Sprechen nur als einen Werkzeug treiben“ (in: Leschinsky,<br />

A./Roeder, P. M.: Schule im historischen Prozeß. Stuttgart 1976, S. 176).<br />

Auszug aus: J. J. Hecker: Sammlung der Nachrichten von den Schulanstalten by der Dreyfaltigkeitskirche<br />

auf der Friedrichstadt in Berlin wie auch von gegenwärtiger Verfassung derselben<br />

(1749):<br />

„Unter den nützlichen Sachen, welche wir der Jugend wollen beibringen lassen, nennen wir zuerst die Mechanik.<br />

In dieser Klasse empfängt die Jugend einen Unterricht von Werkstätten, Instrumenten und Handwerksgeräten,<br />

von Kupfer-, Messing- und Eisenhämmern, von allerhand Arten der Uhren, von Getreide-,<br />

Papier-, Wasser-, Roß-, Wind-, Walk- und Handmühlen, vom Pfluge und von anderen zum Ackerbau erforderlichen<br />

Instrumenten etc. [...]. Wir werden zu diesem Zweck auch manchmal die künstlichen Handwerker<br />

und Professionen hierselbst besuchen, um zu sehen, was bei jeder Kunst und bei jedem Handwerk<br />

Ausnehmendes und Denkwürdiges zu beobachten ist [...]. Von den Sachen, die wir nicht wirklich sehen<br />

und betrachten können, werden wir uns allerhand Risse, Zeichnungen, Kupferstiche und Modelle zulegen.<br />

Eben zu diesem Zweck wird man der Jugend das bei so vielen Handwerkern höchst nötige Zeichnen und<br />

Reißen beizubringen suchen [...]“ (in: Leschinsky, A./Roeder, P. M.: Schule im historischen Prozeß. Stuttgart<br />

1976, S. 176 f.).<br />

Auszug aus: J. G. Groß: Entwurf eines mit leichten Kosten zu errichtenden Seminarii oeconomico<br />

politici (1739):<br />

Damit „hat unsere Schule eigentlich nichts zu tun, ... Denn unser Zeck ist nur, unsere Jugend aus dem<br />

Status der Rohheit (status bestialitatis) in den Status der Menschlichkeit (status humanitatis) zu bringen<br />

[...] und sie so zu brauchbaren Menschen zu machen“ (in: Leschinsky, A./Roeder, P. M.: Schule im historischen<br />

Prozeß. Stuttgart 1976, S. 179).<br />

Auszug aus: J. J. Hecker: Sammlung der Nachrichten von den Schulanstalten by der Dreyfaltigkeitskirche<br />

auf der Friedrichstadt in Berlin wie auch von gegenwärtiger Verfassung derselben<br />

(1749):<br />

15


„An Schulanstalten finden wir in Deutschland bis jetzt zwei Hauptarten, nämlich die eine in größeren Städten,<br />

wo man die Jugend, welche sich mit der Zeit auf Universitäten einer von den vier bekannten Fakultäten<br />

widmen will, in den dazu nötigen Vorbereitungswissenschaften unterrichtet, und die andere in kleineren<br />

Städten und auf dem Lande, wo man sich wegen der Umstände bloß begnügen muß, der Jugend die<br />

Gründe des Christentums beizubringen und sie zum Lesen und etwa auch zum notdürftigen Schreiben<br />

und Rechnen, wenn’s hoch kommt, anzuweisen (...)“ (in: Leschinsky, A./Roeder, P. M.: Schule im historischen<br />

Prozeß. Stuttgart 1976, S. 181).<br />

Vermittelt wurde ‚mittlere Bildung’ in Preußen vielfach an den Schulen, die im ersten Drittel des 19.<br />

Jahrhunderts nicht das Recht, ein Abitur zu vergeben, erworben hatten. Diese Schulen bildeten die<br />

institutionelle Basis der Realschulentwicklung im 19. Jahrhundert. Ihr praxisbezogenes Programm<br />

ermöglichte es ihnen, ihre Schüler einerseits nicht bewusst ‚dumm’ zu halten, andererseits aber<br />

nicht ausschließlich auf akademische Karrieren hin zu orientieren. Sie bedienten damit vor allem in<br />

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der sich die Industrialisierung stark beschleunigte, eine<br />

wachsende Nachfrage im Beschäftigungssystem.<br />

Auszug aus: A. Petersilie: Zur Statistik der höheren Lehranstalten in Preußen, gleichzeitig ein Beitrag<br />

zur Realschulfrage (1877):<br />

„Von den Reallehranstalten wird nun einmal im großen Publicum angenommen, dass sie vorwiegend praktischen<br />

Zwecken in die Hände arbeiten, und dass die durch ihren Besuch erworbene Bildung mit größerer<br />

Leichtigkeit im Leben nutzbar angelegt werden könne, eine Meinung, wofür sich eine Grundlage allerdings<br />

weniger im Geiste ihrer Organisation und ihres Lehrplans als in ihrem Namen findet. Aus dieser Anschauung<br />

heraus hat sich denn freilich auch die durchaus irrthümliche Ansicht gebildet, als vergesse die Realschule<br />

über dem Praktischen die Pflege des Idealen, des Guten und Schönen -, ein Vorwurf, der leider<br />

wirksam genug ist, um ihrer Entwicklung vorerst noch manches Hemmnis zu bereiten“ (in: Leschinsky,<br />

A./Roeder, P. M.: Schule im historischen Prozeß. Stuttgart 1976, S. 190).<br />

Auszug aus: K. Schneider/A. Petersilie: Volksschulwesen (1891) „Zum Wesen der eigentlichen<br />

Mittelschule“ formulieren Schneider und Petersilie:<br />

„Sie unterscheidet sich von den höheren Lehranstalten dadurch, dass sie eine kürzere Schulzeit zulässt,<br />

von ihren Leitern und Lehrern nicht akademische Bildung fordert und deswegen auch mit einem geringeren<br />

Kostenaufwande errichtet und unterhalten werden kann; ferner ist sie nicht ausschließlich für Knaben<br />

bestimmt, sondern es giebt auch Mädchen-Mittelschulen und sogar solche, in welchen Knaben und Mädchen<br />

nebeneinander unterrichtet werden. Andererseits erwirbt sie ihren Schülern keine Berechtigungen.<br />

Von der Volksschule unterscheidet sich die Mittelschule dadurch, dass sie berechtigt ist, Schulgeld zu fordern,<br />

und dass infolge dessen ihr nur Kinder zugeführt werden, die nach Lage ihrer häuslichen Verhältnisse<br />

die Gewähr für ungestörten, regelmäßigen Schulbesuch geben, die Mittel zur Anschaffung eigener<br />

Schulbücher und Zeit für häusliche Wiederholungen und Übungen haben; sodann verfolgt ihr Lehrplan<br />

zugleich weitergehende Ziele auch in den Lehrgegenständen der Volksschule und fügt diesen den Unterricht<br />

in wenigstens einer fremden Sprache zu. Damit hängt es zusammen, dass von ihren Lehrern eine<br />

höhere Lehrbefähigung gefordert wird als von den Volksschullehrern, und dass die Schülerzahl in den einzelnen<br />

Klassen niedriger bemessen wird“ (in: Leschinsky, A./Roeder, P. M.: Schule im historischen Prozeß.<br />

Stuttgart 1976, S. 196).<br />

2.3 Modernisierungstendenzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde die Diskrepanz zwischen der Schulentwicklung einerseits<br />

(höhere Bildung als neuhumanistische Bildung für Gymnasiasten, niedere Bildung als Bildungsbegrenzung<br />

für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung) und der ökonomischen Entwicklung<br />

andererseits mehr und mehr hinderlich. Ein ‚Modernitätsrückstand’ des Schulwesens löste<br />

Modernisierungsschübe aus.<br />

■ Modernisierungsschub I<br />

In den Jahrzehnten bis 1900 („Allerhöchster Erlaß") traten neben das neuhumanistische Gymnasium<br />

(Sprachenfolge Latein, Griechisch, Französisch), wie es bis 1834 entstanden war, in einem<br />

allmählichen Aufstiegsprozess zwei weitere ‚Vollanstalten’ mit dem Recht der Vergabe der vollen<br />

Studienberechtigung (vgl. dazu: Albisetti, J.C./Lundgreen, P.: Höhere Knabenschulen. In: Berg,<br />

Chr. (Hrsg.): Handbuch der <strong>deutsche</strong>n Bildungsgeschichte IV: 1870 – 1918. München 1991, S.<br />

228-278):<br />

16


- das Realgymnasium (neusprachliche Ausrichtung, Sprachenfolge Latein, Französisch, Englisch)<br />

und<br />

- die Oberrealschule (mathematisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung, Sprachenfolge Französisch,<br />

Englisch – ohne Latein – vgl. dazu Abbildung 2.3)<br />

Abbildung 2.3: Stundentafel für die Oberrealschule (1901)<br />

Lehrgegenstände VI V IV UIII OIII UII OII UI OI SA<br />

Religion 3 2 2 2 2 2 2 2 2 19<br />

Deutsch u. 4+1 3+1 4 3 3 3 4 4 4 34<br />

Geschichtserzählungen<br />

Französisch 6 6 6 6 6 5 4 4 4 47<br />

Englisch 0 0 0 5 4 4 4 4 4 25<br />

Geschichte 0 0 3 2 2 2 3 3 3 18<br />

Erdkunde 2 2 2 2 2 1 1 1 1 14<br />

Rechen u. Mathematik 5 5 6 6 5 5 5 5 5 47<br />

Naturwissenschaft 2 2 2 2 4 6 6 6 6 36<br />

Schreiben 2 2 2 0 0 0 0 0 0 6<br />

Freihandzeichen 0 2 2 2 2 2 2 2 2 16<br />

Quelle: Reble, A. (Hrsg.): Zur Geschichte der höheren Schule, Bd. 2, Bad Heilbrunn 1975, S. 114<br />

■ Modernisierungsschub II<br />

Während es im niederen Schulwesen keine durchgängigen Unterschiede der Erziehung von Mädchen<br />

und Jungen gab (koedukative Schulen standen neben reinen Mädchen- bzw. Jungenschulen),<br />

wurde im höheren Schulwesen sehr deutlich unterschieden: Die Gymnasien waren reine Jungenschulen,<br />

für die Mädchen, denen der Zugang zur Universität verwehrt blieb, gab es höhere<br />

‚Töchterschulen’, an denen keine Berechtigung vergeben wurde. Die Funktion dieser Schulen bestand<br />

in der Bildung bürgerlicher Hausfrauen.<br />

G. Tornieporth (in: Studien zur Frauenbildung. Weinheim 1979, S. 46 f.) skizziert dies so:<br />

„Die Kleinfamilie wurde verstanden als ‚intimer Binnenraum‘, als eine Gruppe, die nicht mehr – wie ehedem<br />

das ‚Haus‘ – auf gemeinsamen ökonomischen Interessen basierte, sondern auf der Liebesgemeinschaft<br />

der Gatten. Der ehelichen Gemeinschaft lagen nunmehr die Momente der Freiwilligkeit, der Neigung<br />

und der Bildung zugrunde. Der alte Zweckverband, dem sich jeder einzelne unterzuordnen hatte,<br />

war einer Gemeinschaft von Individuen gewichen, denen das Recht auf individuelle Entfaltung zugestanden<br />

wurde. Bildung wurde nicht nur das Kriterium für eine bürgerliche Lebensform, sondern auch die Basis<br />

der veränderten familialen Binnenbeziehungen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, auch der bürgerlichen<br />

Frau Zugang zu Bildungseinrichtungen zu verschaffen. Denn ‚für einen Mann von Bildung ist es nicht<br />

passend, eine Frau ohne Bildung zu nehmen‘, heißt es bei ROUSSEAU (Emile, 5. Buch, 1963, S. 818)“.<br />

In die gleiche Richtung weist eine Erklärung, die 1872 von Lehrerinnen und Lehrern an höheren<br />

Mädchenschulen auf ihrer ersten Hauptversammlung in Weimar verfasst wurde:<br />

Es gilt, „dem Weibe eine der Geistesbildung des Mannes in der Allgemeinheit der Art und der Interessen<br />

ebenbürtige Bildung zu ermöglichen, damit der <strong>deutsche</strong> Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und<br />

Engherzigkeit seiner Frau an dem häuslichen Herde gelangweilt und in seiner Hingabe an höhere Interessen<br />

gelähmt werde, dass ihm vielmehr das Weib mit Verständnis dieser Interessen und der Wärme des<br />

Gefühls für dieselben zur Seite stehe“ (zitiert nach: Kraul. M.: Höhere Mädchenschulen. S. 281 in: Berg,<br />

Chr. (Hrsg.): Handbuch der <strong>deutsche</strong>n Bildungsgeschichte IV – 1870-1918. München 1991, S. 279-303).<br />

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts näherte sich dann der Lehrplan eines Teils dieser Schulen dem<br />

der Gymnasien an, aber erst 1908 (in Preußen) wurde einigen von ihnen (von da an ‚Studienanstalten’<br />

genannt) das Recht eingeräumt, Abiturprüfungen durchzuführen. Seither können Frauen<br />

die Hochschulen besuchen: 1908 waren 2,4 % der Studienanfänger Frauen, 1919 waren es 9,4%<br />

und 1932 bereits 18,5 % (vgl. dazu: Kraul, M.: Höhere Mädchenschulen. In: Berg, Chr.: a.a.O., S.<br />

279-303).<br />

17


■ Modernisierung III<br />

Der Prozess der Anpassung der Schulen und Lehrpläne an die gesellschaftliche Entwicklung betraf<br />

auch das niedere Schulwesen: Die Politik der rigiden Bildungsbegrenzung der Stiehlschen<br />

Regulative wurde 1872 mit den „Allgemeinen Bestimmungen" deutlich gelockert: Mehrklassige<br />

Volksschulen, kleinere Lerngruppen, ein fachlich ausdifferenzierterer Lehrplan (vgl. Abbildung 2.4)<br />

bestimmten von nun an die Entwicklung (vgl. dazu: Kuhlemann, F.-M.: Niedere Schulen. In. Berg,<br />

Chr.(Hrsg.): a.a.O., S. 179-227).<br />

Abbildung 2.4: Stundentafel für die mehrklassige Volksschule (1872)<br />

Lehrgegenstände Unterstufe Mittelstufe Oberstufe<br />

Religion 4 4 4<br />

Deutsch 11 8 8<br />

Rechnen 4 4 4<br />

Raumlehre 0 0 2<br />

Realien 0 6 6 (8)<br />

Zeichnen 0 2 2<br />

Singen 1 2 2<br />

Turnen/ (Handarbeit) 2 2 2<br />

Zusammen 22 28 30 (32)<br />

Quelle: Scheibe, W. (Hrsg.): Zur Geschichte der Volksschule, Bd. 2, Bad Heilbrunn1974, S.35<br />

■ Modernisierung IV:<br />

Für die Entwicklung eines eigenständigen Berufsschulwesens waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

drei voneinander unabhängige Voraussetzungen bedeutsam:<br />

- Die Ausgrenzung ‚nützlicher’ Inhalte aus den Lehrplänen der allgemein bildenden Schulen,<br />

die der Neuhumanismus schulpolitisch durchgesetzt hatte, eröffnete den ‚Raum’ für eine eigenständige<br />

Schulentwicklung im Rahmen der Berufsausbildung.<br />

- Des Weiteren löste die ‚Befreiungspolitik’ der preußischen Reformer mit der Bauernbefreiung<br />

und der Gewerbefreiheit (Aufhebung des Zunftzwangs, Niederlassungsfreiheit) die berufliche<br />

Bildung aus dem Kontrollbereich der Zünfte.<br />

- Schließlich führten neue technologische Entwicklungen dazu, dass die ‚imitatio majorum’ als<br />

Prinzip der tradierten Berufsbildung den Anforderungen nicht mehr genügte.<br />

Begünstigt durch diese Rahmenbedingungen, darunter insbesondere durch die Niederlassungsfreiheit,<br />

konnten ab 1811 in Preußen Lehrlinge nicht nur bei Mitgliedern einer Zunft, sondern auch<br />

bei sonstigen Gewerbetreibenden ausgebildet werden. Der damit zunächst entstehende relativ<br />

ungeregelte Zustand wurde 1845 in der preußischen Gewerbeordnung neu geordnet: Von da an<br />

erfolgte eine Ausbildung der Lehrlinge auf der Basis einer vertraglichen Regelung, im Rahmen<br />

einer in der Regel dreijährigen Lehrzeit und mit dem Ziel einer Abschlussprüfung. Die inhaltlichen<br />

Anforderungen bei diesen Abschlussprüfungen wurden nach 1845 durch die Beschreibung von<br />

‚Gesellenstücken’ nach und nach festgelegt.<br />

Im Rahmen einer Novellierung der Gewerbeordnung ‚taucht‘ dann 1849 zum ersten Mal ein schulischer<br />

Teil der Berufsausbildung auf: Die dreijährige Lehrlingszeit kann auf ein Jahr verkürzt werden,<br />

wenn der Lehrling eine gewerbliche Lehranstalt besucht hat. 1869, wieder im Rahmen der<br />

Neufassung der preußischen Gewerbeordnung, wird die Möglichkeit geschaffen, regional begrenzt<br />

den Besuch einer Berufsschule verbindlich vorzuschreiben. Noch einmal in der Novellierung der<br />

preußischen Gewerbeordnung wird dann 1897 festgesetzt, dass die Abschlussprüfungen für Lehrlinge<br />

grundsätzlich bei den Handelskammern abgelegt werden. Damit hat sich am Ende des 19.<br />

Jahrhunderts folgendes Gesamtbild ergeben:<br />

- Ausbildungsbetrieb: Handwerk oder Handel oder Fabrik<br />

- Schule als Lernort: nicht zwingend vorgeschrieben, aber von zunehmender Bedeutung<br />

- Dauer: 3. Jahre<br />

- Abschluss: Prüfung vor einer Handwerkskammer (also: vom Handwerk kontrollierte Ausbildung<br />

als Basis auch der Facharbeiterberufe)<br />

18


<strong>Das</strong> duale System, das sich auf diese Weise im Verlauf des 19. Jahrhunderts etabliert hat, gilt aber<br />

einstweilen nur für den – insgesamt kleinen – Teil der Jugendlichen, die einen Beruf erlernen. Der<br />

erheblich größere Teil aller Jugendlichen wechselte nach Beendigung der Volksschulzeit direkt in<br />

Erwerbsarbeit oder in häusliche Arbeit über. Damit waren diese Jugendlichen vom 14. Lebensjahr<br />

an der staatlichen Beeinflussung entzogen. Diese setzte bei den Jungen (nur diese wurden einmal<br />

wahlberechtigt) erst wieder mit dem Beginn der Wehrpflicht ein. Aus dem Kontext der sich entwickelnden<br />

Konfrontation zwischen Arbeiterschaft und Regierung ist es erklärbar, dass der Staat<br />

nach Möglichkeiten der Beeinflussung der Heranwachsenden suchte und dabei der Schule eine<br />

wichtige Rolle zuwies. Kaiser Wilhelm II hat diese Aufgabenübertragung in seiner „Kabinettsordre<br />

zur Bekämpfung sozialistischer und kommunistischer Ideen durch die Schule“ (1889) sehr direkt<br />

vollzogen:<br />

„Schon längere Zeit hat Mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar<br />

zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster<br />

Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine<br />

gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben. Aber Ich<br />

kann Mich der Erkenntnis nicht verschließen, dass in einer Zeit, in welcher die sozialdemokratischen<br />

Irrthümer und Entstellungen mit vermehrtem Eifer verbreitet werden, die Schule zur Förderung der Erkenntnis<br />

dessen, was wahr, was wirklich und was in der Welt möglich ist, erhöhte Anstrengungen zu machen<br />

hat. Sie muß bestrebt sein, schon der Jugend die Überzeugung zu verschaffen, dass die Lehren der<br />

Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der schriftlichen Sittenlehre widersprechen, sondern<br />

in Wirklichkeit unausführbar und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich<br />

sind. Sie muß die neue und die neueste Zeitgeschichte mehr als bisher in den Kreis der Unterrichtsgegenstände<br />

ziehen und nachweisen, dass die Staatsgewalt allein dem Einzelnen seine Familie,<br />

seine Freiheit, seine Rechte schützen kann, und der Jugend zum Bewusstsein bringen, wie Preußens Könige<br />

bemüht gewesen sind, in fortschreitender Entwicklung die Lebensbedingungen der Arbeiter zu heben,<br />

von den gesetzlichen Reformen Friedrichs des Großen und von Aufhebung der Leibeigenschaft an bis<br />

heute. Sie muß ferner durch statistische Thatsachen nachweisen, wie wesentlich und wie konstant in diesem<br />

Jahrhundert die Lohn- und Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen unter diesem monarchischen<br />

Schutze sich verbessert haben.<br />

Um diesem Ziel näher zu kommen, rechne Ich auf die volle Mitwirkung Meines Staatsministeriums. Indem<br />

Ich dasselbe auffordere, den Gegenstand in weitere Erwägung zu ziehen und Mir bestimmte Vorschläge<br />

zu machen, will Ich nicht unterlassen, nachstehende Gesichtspunkte besonderer Beachtung zu empfehlen.<br />

1. Um den Religionsunterricht in dem angedeuteten Sinne fruchtbarer zu machen, wird es erforderlich<br />

sein, die ethische Seite desselben mehr in den Vordergrund treten zu lassen, dagegen den Memorirstoff<br />

auf das Nothwendige zu beschränken.<br />

2. Die vaterländische Geschichte wird insonderheit auch die Geschichte unserer sozialen und<br />

wirthschaftlichen Gesetzgebung und Entwicklung seit dem Beginne dieses Jahrhunderts bis zu der<br />

gegenwärtigen sozialpolitischen Gesetzgebung zu behandeln haben, um zu zeigen, wie die Monarchen<br />

Preußens es von jeher als ihre besondere Aufgabe betrachtet haben, der auf die Arbeit ihrer<br />

Hände angewiesenen Bevölkerung den landesväterlichen Schutz angedeihen zu lassen und ihr leibliches<br />

und geistliches Wohl zu heben, und wie auch in Zukunft die Arbeiter Gerechtigkeit und Sicherheit<br />

ihres Erwerbes nur unter dem Schutze und der Fürsorge des Königs an der Spitze eines geordneten<br />

Staates zu erwarten haben. Insbesondere vom Standpunkte der Nützlichkeit, durch Darlegung einschlagender<br />

praktischer Verhältnisse, wird schon der Jugend klar gemacht werden können, dass ein<br />

geordnetes Staatswesen mit einer sicheren monarchischen Leitung die unerlässliche Vorbedingung<br />

für den Schutz und das Gedeihen des Einzelnen in seiner rechtlichen und wirthschaftlichen Existenz<br />

ist, dass dagegen die Lehren der Sozialdemokratie praktisch nicht ausführbar sind, und wenn sie es<br />

wären, die Freiheit des Einzelnen bis in seine Häuslichkeit hinein einem unerträglichen Zwange unterworfen<br />

würde. Die angeblichen Ideale der Sozialisten sind durch deren eigene Erklärung hinreichend<br />

gekennzeichnet, um den Gefühlen und dem praktischen Sinne auch der Jugend als abschreckend<br />

geschildert werden zu können.<br />

3. Es versteht sich von selbst, dass die hiernach der Schule zufallende Aufgabe nach Umgang und Ziel<br />

für die verschiedenen Stufen der Schulen angemessen zu begrenzen ist, dass daher den Kindern in<br />

den Volksschulen nur die einfachsten und leicht fasslichen Verhältnisse dargeboten werden dürfen,<br />

während diese Aufgabe für die höheren Kategorien der Unterrichtsanstalten entsprechend zu erweitern<br />

und zu vertiefen ist. Insbesondere wird es darauf ankommen, die Lehrer zu befähigen, die neue<br />

Aufgabe mit Hingebung zu erfassen und mit praktischem Geschicke durchzuführen. Zu diesem Ende<br />

19


werden die Lehrerbildungsanstalten eine entsprechende Ergänzung ihrer Einrichtung erfahren müssen.<br />

Ich verkenne nicht, welche Schwierigkeiten der Durchführung dieser Aufgabe sich entgegenstellen werden,<br />

und dass es einer längeren Erfahrung bedarf, um überall das Richtige zu treffen. Aber diese Bedenken<br />

dürfen nicht abhalten, mit Ernst und Ausdauer der Durchführung eines Zieles näher zu treten, dessen<br />

Verwirklichung nach meiner Überzeugung für das Wohl des Vaterlandes von hervorragender Bedeutung<br />

ist. <strong>Das</strong> Staatsministerium wolle hiernach die nothwendigen Erörterungen in die Wege leiten und nach<br />

Abschluß derselben an Mich berichten“ (in: Michael, B./Schepp, H.-H. (Hrsg.): Die Schule in Staat und Gesellschaft.<br />

Göttingen 1993, S. 184-186).<br />

Vor diesem Hintergrund versteht sich die ‚Preisfrage‘, die die ‚Königliche Akademie zu Erfurt‘ gestellt<br />

hat: „Wie ist unsere männliche Jugend von der Entlassung aus der Volksschule bis zum Eintritt<br />

in den Heeresdienst am zweckmäßigsten für die staatsbürgerliche Gesellschaft zu erziehen?“.<br />

G. Kerschensteiner, dessen Ausarbeitung 1901 den Preis erhielt, schlug vor, für die jungen Männer,<br />

die keine Berufsausbildung erhielten, eine Pflichtberufsschule einzuführen, um sie durch die<br />

gemeinsame Erziehungsleistung von Arbeitsstätte und Schule für „die staatsbürgerliche Gesellschaft<br />

zu erziehen“. Die folgenden Auszüge aus seiner Preisschrift können helfen, die zentralen<br />

Überlegungen Kerschensteiners nachzuvollziehen:<br />

„<strong>Das</strong> erste Ziel der Erziehung für die aus der Volksschule tretende Jugend ist die Ausbildung der beruflichen<br />

Tüchtigkeit und Arbeitsfreudigkeit und damit jener elementaren Tugenden, welche die Arbeitstüchtigkeit<br />

und Arbeitsfreudigkeit unmittelbar zum Gefolge hat: der Gewissenhaftigkeit, des Fleißes, der Beharrlichkeit,<br />

der Verantwortlichkeit, der Selbstüberwindung und der Hingabe an ein tätiges Lebens“ (S. 108).<br />

Und, so fährt Kerschensteiner fort:<br />

„Hier lernt der einzelne sich unterordnen unter andere, hier lernt er schwächere und weniger begabte Mitschüler<br />

unterstützen, hier lernt er zum ersten Male verstehen, dass die eigenen wohlverstandenen Interessen<br />

in den Interessen der Gesamtheit aufgehen können und sollen“<br />

Kerschensteiner fügt an, als ob zwischen Schule und Staat überhaupt kein Unterschied wäre:<br />

„Aus dieser gemeinsamen Arbeit (in der Arbeitsgemeinschaft) mit ihrem wohlüberlegten Plane und ihrer<br />

wohlgefügten Ordnung wachsen die staatsbürgerlichen Tugenden der Hingabe und Selbstbeherrschung,<br />

und in ihr wandeln sich im Dienste einer Gemeinsamkeit die bürgerlichen Tugenden der Sorgfalt, der Gewissenhaftigkeit,<br />

des Fleißes und der Ausdauer zu Tugenden der Hingabesittlichkeit“ (S. 109).<br />

Arbeit hat, so erfahren wir weiter, vor allem deshalb einen so hohen erzieherischen Wert,<br />

weil sie<br />

„jene Willensbegabungen übt, welche die Grundlagen der wichtigsten bürgerlichen Tugenden sind: Fleiß,<br />

Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Beharrlichkeit, Aufmerksamkeit, Ehrlichkeit, Geduld, Selbstbeherrschung“ (S.<br />

111 – alle Textbelege in: Wilhelm, Th.: Georg Kerschensteiner – 1854-1932. In: Scheuerl, H.: Klassiker<br />

der Pädagogik, Band 2. München, 1979, S. 103-126).<br />

Mit seiner Konzeption bahnte Georg Kerschensteiner den Weg für die allgemeine Berufsschulpflicht,<br />

die aber erst nach 1918 durchgesetzt wurde (vgl. zur Entwicklung der beruflichen Bildung:<br />

Georg, W./Kunze, A.: Sozialgeschichte der Berufserziehung. Weinheim 1981).<br />

2.4 Reformansätze nach 1918: Der Weimarer Schulkompromiss<br />

Nach dem 1. Weltkrieg (1914-1918) und nach dem Ende der Monarchie in Deutschland stand die<br />

Schulpolitik am Anfang der Weimarer Republik (1918-1933) vor der Frage, ob und gegebenenfalls<br />

wie das überkommene ständische <strong>Schulsystem</strong> (vgl. Abbildung 3.1) der neuen republikanischen<br />

und demokratischen Gesellschaftsordnung anzupassen sei. Da es für einen völligen Umbau des<br />

aus dem Kaiserreich überlieferten <strong>Schulsystem</strong>s in der neu gewählten Nationalversammlung keine<br />

eindeutige Mehrheit gab, kam es zum „Weimarer Schulkompromiss" (1919/ 1920). Die wesentlichen<br />

Regelungen dieses Kompromisses bezogen sich<br />

- auf die ‚Konfessionsfrage‘ und<br />

- auf die ‚<strong>Struktur</strong>frage‘.<br />

20


Abbildung 1.2: Politische Geschichte und Schulgeschichte in Deutschland von 1918<br />

bis zur Gegenwart<br />

Politische Geschichte Schulgeschichte<br />

1918 Ende des 1. Weltkrieges<br />

Ausrufung der Republik 1919 Weimarer Schulkompromiß<br />

1919 Weimarer Verfassung<br />

1919/1920 Weimarer Koalition: SPD/ 1920 Reichsgrundschulgesetz<br />

Zentrum/Demokraten<br />

1933 Beginn der nationalsozia- 1933 Gesetze<br />

listischen Herrschaft - Zur Wiederherstellung<br />

des Berufsbeamtentums<br />

1937 Hoßbach-Protokolle - Gegen die Überfüllung<br />

der <strong>deutsche</strong>n Schulen<br />

1939 Beginn des 2. Weltkrieges<br />

und Hochschulen<br />

1946 Gesetz zur Demokratisierung<br />

der <strong>deutsche</strong>n Schulen (SBZ)<br />

1945 Deutsche Kapitulation<br />

Ende der NS-Herrschaft 1947 Alliierter Kontrollrat: Grundlegende<br />

Potsdamer Abkommen Prinzipien für die Neugestaltung des<br />

<strong>deutsche</strong>n Bildungswesens<br />

1949 Gründung der BRD<br />

Gründung der DDR 1959 Gesetz über die sozialistische<br />

Entwicklung des Schulwesens<br />

Der DDR<br />

1959 ‚Rahmenplan' des<br />

‚Deutschen Ausschusses'<br />

1964 ‚Hamburger Abkommen'<br />

darin: Schaffung der Hauptschule<br />

1965 Gesetz über das einheitliche<br />

sozialistische Bildungssystem<br />

in der DDR<br />

1969 ‚Empfehlung zur Einrichtung<br />

von Schulversuchen<br />

mit Gesamtschulen' des<br />

Deutschen Bildungsrates'<br />

1972 KMK-Vereinbarung zur<br />

Neugestaltung der gymnasialen<br />

Oberstufe<br />

1989 Fall der Mauer<br />

1990 Vereinigung beider Staaten 1991 Schulgesetze in den neuen Ländern<br />

21


Hinsichtlich der konfessionellen Erziehung einigte man sich auf die ‚Simultanschule‘ als Regelfall<br />

(also auf Schulen mit Schülern unterschiedlicher Konfession), in der der Religionsunterricht nach<br />

Konfessionen getrennt erteilt werden sollte. Daneben konnten auch Bekenntnisschulen und bekenntnisfreie<br />

Schulen betrieben werden.<br />

Hinsichtlich der strukturellen Gliederung des <strong>Schulsystem</strong>s verständigte man sich darauf, die<br />

Schüler und Schülerinnen der Klassen 1 bis 4 (mit Ausnahme der ‚Hilfsschüler’) künftig gemeinsam<br />

zu unterrichten, so dass eine Trennung in niedere, mittlere und hohe Schulen erst nach der<br />

vierten Klasse erfolgte (vgl. Abbildung 3.2). Die wesentlichen Elemente des Weimarer Kompromisses<br />

finden sich im „Vierten Abschnitt: Bildung und Schule“ der Weimarer Verfassung von 1919. Die<br />

dort formulierten Grundlagen wurden in Gesetzen der Folgejahre ausgeführt und weiter entwickelt:<br />

Vierter Abschnitt: Bildung und Schule der Weimarer Verfassung von 1919:<br />

„Artikel 142. Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und<br />

nimmt an ihrer Pflege teil.<br />

Artikel 143. Für die Bildung der Jugend ist durch öffentliche Anstalten zu sorgen. Bei ihrer Einrichtung wirken<br />

Reich, Länder und Gemeinden zusammen.<br />

Die Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein gelten, für das Reich<br />

einheitlich zu regeln.<br />

Die Lehrer an öffentlichen Schulen haben die Rechte und Pflichten der Staatsbeamten.<br />

Artikel 144. <strong>Das</strong> gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates, er kann die Gemeinden daran<br />

beteiligen. Die Schulaufsicht wird durch hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte ausgeübt.<br />

Artikel 145. Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens<br />

acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr.<br />

Der Unterricht und die Lernmittel in den Volksschulen und Fortbildungsschulen sind unentgeltlich.<br />

Artikel 146. <strong>Das</strong> öffentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer für alle gemeinsamen<br />

Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf. Für diesen Aufbau ist die Mannigfaltigkeit<br />

des Lebensberufs, für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung,<br />

nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern<br />

maßgebend. Innerhalb der Gemeinden sind indes auf Antrag von Erziehungsberechtigten Volksschulen ihres<br />

Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung einzurichten, soweit hierdurch ein geordneter Schulbetrieb,<br />

auch im Sinne des Abs. 1, nicht beeinträchtigt wird. Der Wille der Erziehungsberechtigten ist möglichst zu<br />

berücksichtigen. <strong>Das</strong> Nähere bestimmt die Landesgesetzgebung nach den Grundsätzen eines Reichsgesetzes.<br />

Für den Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und höheren Schulen sind durch Reich, Länder und<br />

Gemeinde öffentliche Mittel bereitzustellen, insbesondere Erziehungsbeihilfen für die Eltern von Kindern,<br />

die zur Ausbildung auf mittleren und höheren Schulen für geeignet erachtet werden, bis zur Beendigung<br />

der Ausbildung.<br />

Artikel 147. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und<br />

unterstehen den Landegesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die Privatschulen in ihren Lehrzielen<br />

und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen<br />

Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern<br />

nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung<br />

der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist. Private Volksschulen sind nur zuzulassen, wenn für eine Minderheit<br />

von Erziehungsberechtigten, deren Wille nach Artikel 146 Abs. 2 zu berücksichtigen ist, eine öffentliche<br />

Volksschule ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung in der Gemeinde nicht besteht oder<br />

die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt.<br />

Artikel 147. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und<br />

unterstehen den Landegesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die Privatschulen in ihren Lehrzielen<br />

und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen<br />

Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern<br />

nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung<br />

der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist. Private Volksschulen sind nur zuzulassen, wenn für eine Minderheit<br />

von Erziehungsberechtigten, deren Wille nach Artikel 146 Abs. 2 zu berücksichtigen ist, eine öffentliche<br />

Volksschule ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung in der Gemeinde nicht besteht oder<br />

die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt.<br />

22


Private Vorschulen sind aufzuheben.<br />

Für private Schulen, die nicht als Ersatz für öffentliche Schulen dienen, verbleibt es bei dem geltenden<br />

Rechte.<br />

Artikel 148. In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche<br />

Tüchtigkeit im Geiste des <strong>deutsche</strong>n Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben.<br />

Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, dass die Empfindungen Andersdenkender<br />

nicht verletzt werden.<br />

Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler erhält bei Beendigung<br />

der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung.<br />

<strong>Das</strong> Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden<br />

gefördert werden.<br />

Artikel 149. Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien<br />

(weltlichen) Schulen. Seine Erteilung wird im Rahmen der Schulgesetzgebung geregelt. Der Religionsunterricht<br />

wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet<br />

des Aufsichtsrechts des Staates erteilt.<br />

Die Erteilung religiösen Unterrichts und die Vornahme kirchlicher Verrichtungen bleibt der Willenserklärung<br />

der Lehrer, die Teilnahme an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen Feiern und Handlungen bei<br />

Willenserklärungen desjenigen überlassen, der über die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen hat.<br />

Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten.<br />

Artikel 150. Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft genießen den<br />

Schutz und die Pflege des Staates. Es ist Sache des Reichs, die Abwanderung<br />

<strong>deutsche</strong>n Kunstbesitzes in das Ausland zu verhüten“.<br />

Abbildung 3.1: Schulstruktur vor 1919<br />

8.<br />

Hilfsschule<br />

1.<br />

8.<br />

1.<br />

Volksschule<br />

9.<br />

Mittelschule<br />

_____<br />

3.<br />

Vor-<br />

klassen<br />

1.<br />

12.<br />

Gymnasium<br />

_____<br />

3.<br />

Vorklassen<br />

1.<br />

23


Abbildung 3.2: Schulstruktur ab 1919<br />

8.<br />

Hilfsschule<br />

1.<br />

8.<br />

4.<br />

1.<br />

Volksschuloberstufe<br />

Volksschulunterstufe<br />

(Grundschule)<br />

2.5 Schule im Nationalsozialismus<br />

Mit dem Umbau des <strong>Schulsystem</strong>s entlang der vom ‚Weimarer Schulkompromiß’ vorgezeichneten<br />

Linie hatten die Weimarer Parteien ihre gestalterische Kraft in der Schulpolitik erschöpft. Nach der<br />

Machtergreifung von 1933 konnte sich die nationalsozialistische Regierung auf eine an dem Prinzip<br />

rigider Auslese orientierte Schulstruktur beziehen. Ihre am Rassebegriff, am Eliteprinzip, am<br />

Führerprinzip und am Volksgemeinschaftsgedanken orientierte Schulpolitik konzentrierte sich daher<br />

vorrangig auf eine Veränderung der inhaltlichen Füllung der übernommenen <strong>Struktur</strong>en. Die<br />

demokratischen Lehrpläne und Lehrbücher aus der Weimarer Republik wurden bis 1937/38 durchgängig<br />

im nationalsozialistischen Sinn überarbeitet (vgl dazu insgesamt die Quellensammlung von<br />

Fricke-Finkelnburg, R.: Nationalsozialismus und Schule. Amtliche Erlasse und Richtlinien 1933-<br />

1945. Opladen 1989). Ein besonders drastisches Beispiel für die Indienstnahme der Schule zur<br />

Propagierung nationalsozialistischen Gedankengutes liefert die folgende Aufgabe aus einem Mathematikbuch:<br />

„Aufgabe 97: Ein Geisteskranker kostet täglich etwa 4 RM, ein Krüppel 5,50 RM, ein Verbrecher 3,50 RM.<br />

In vielen Fällen hat ein Beamter täglich nur etwa 4 RM, ein Angestellter kaum 3,50 RM, ein ungelernter<br />

Arbeiter noch keine 2 RM auf den Kopf der Familie. (a) stelle diese Zahlen bildlich dar. – Nach vorsichtigen<br />

Schätzungen sind in Deutschland 300 000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. (b) Wieviel<br />

Ehestandsdarlehen zu je 1 000 RM könnten – unter Verzicht auf spätere Rückzahlung – von diesem<br />

Geld jährlich ausgegeben werden?“ (S. 205 in: Dithmar, R.: Schule und Unterricht im Dritten Reich. Neuwied<br />

1989).<br />

Neben der curricularen Prägung des Schulunterrichts nutzte das nationalsozialistische Regime<br />

insbesondere das im <strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong> verankerte Ausleseprinzip zur Durchsetzung der<br />

eigenen Ideologie, indem ihm eine zusätzliche rassistische Dimension angefügt wurde – vor allem<br />

10.<br />

Mittelschule<br />

5.<br />

13.<br />

Gymnasium<br />

5.<br />

24


durch die Vertreibung jüdischer Schüler aus den Schulen. <strong>Das</strong> mit schulischer Auslese eng verbundene<br />

Prinzip der Bildungsbegrenzung, das in der Weimarer Republik zwar aufgebrochen, aber<br />

nicht aufgehoben worden war, richtete sich nicht nur gegen die Bildungsbeteiligung der jüdischen<br />

Bevölkerung, sondern – vor allem in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft –<br />

auch gegen Mädchen und Frauen (z.B. durch die Begrenzung der Studienanfängerinnenzahlen auf<br />

maximal 10 % aller Erstsemester). Die Ausschlusspolitik wurde bereits 1933 mit dem „Gesetz gegen<br />

die Überfüllung <strong>deutsche</strong>r Schulen und Hochschulen“ eingeleitet. Darin heißt es:<br />

„§ 1. Bei allen Schulen außer den Pflichtschulen und bei den Hochschulen ist die Zahl der Schüler und<br />

Studenten so weit zu beschränken, dass die gründliche Ausbildung gesichert und dem Bedarf der Berufe<br />

genügt ist.<br />

§ 2. Die Landesregierungen setzen zu Beginn eines jeden Schuljahres fest, wie viele Schüler jede Schule<br />

und wie viele Studenten jede Fakultät neu aufnehmen darf.<br />

§ 3. In denjenigen Schularten und Fakultäten, deren Besucherzahl in einem besonders starken Missverhältnis<br />

zum Bedarf der Berufe steht, ist im Laufe des Schuljahres 1933 die Zahl der bereits aufgenommenen<br />

Schüler und Studenten so weit herabzusetzen, wie es ohne übermäßige Härte zur Herstellung eines<br />

angemessenen Verhältnisses geschehen kann.<br />

§ 4. Bei den Neuaufnahmen ist darauf zu achten, dass die Zahl der Reichs<strong>deutsche</strong>n, die im Sinne des<br />

Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (RGBI. I, S. 175) nichtarischer<br />

Abstammung sind, unter der Gesamtheit der Besucher jeder Schule und jeder Fakultät den Anteil der<br />

Nichtarier an der reichs<strong>deutsche</strong>n Bevölkerung nicht übersteigt. Die Anteilszahl wird einheitlich für das<br />

ganze Reichsgebiet festgesetzt.<br />

Bei Herabsetzung der Zahl der Schüler und Studenten gemäß § 3 ist ebenfalls ein angemessenes Verhältnis<br />

zwischen der Gesamtheit der Besucher und der Zahl der Nichtarier herzustellen. Hierbei kann eine<br />

von der Anteilszahl abweichende höhere Verhältniszahl zugrunde gelegt werden.<br />

Absätze 1 und 2 finden keine Anwendung auf Reichs<strong>deutsche</strong> nichtarischer Abstammung, deren Väter im<br />

Weltkriege an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben, sowie auf<br />

Abkömmlinge aus Ehen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes geschlossen sind, wenn ein Elternteil<br />

oder zwei Großeltern arischer Abkunft sind. Sie bleiben auch bei der Berechnung der Anteilszahl und der<br />

Verhältniszahl außer Ansatz“ (S. 147 f., in: Herrlitz, H.-G./Hopf, W./Titze, H.: Deutsche Schulgeschichte<br />

von 1800 bis zur Gegenwart. Weinheim 1993).<br />

Die nationalsozialistische Schul- und Hochschulpolitik wurde – z.T. unter Inkaufnahme von Widersprüchen<br />

zur direkt nach 1933 verkündeten Programmatik – ab 1937 im Verlauf der beginnenden<br />

Kriegsvorbereitung modifiziert: Die bildungsbegrenzenden Maßnahmen wurden gelockert (z.B.:<br />

Frauen als Medizinstudentinnen), die Betonung der Legitimations- gegenüber der Qualifikationsfunktion<br />

der Schule wurde abgeschwächt (z.B.: Verringerung des direkten HJ-Einflusses in den<br />

Schulen), die strukturellen Übernahmen aus der Weimarer Republik wurden modifiziert (z.B.: Verkürzung<br />

der Gymnasialzeit auf 8 Jahre zur Gewinnung eines zusätzlichen Jahrgangs von Offiziersanwärtern).<br />

2.6 Deutsche Schulentwicklung von 1945 bis zur Gegenwart<br />

Nach 1945 diktierten die Siegermächte den vier Zonen eine Demokratisierung auch des Bildungswesens.<br />

Im „Potsdamer Abkommen“ formulierten sie unter Punkt 7 der ‚Politischen Grundsätze‘:<br />

„<strong>Das</strong> <strong>deutsche</strong> Erziehungswesen soll so überwacht werden, dass die nazistischen und militaristischen<br />

Lehren völlig ausgemerzt werden und die erfolgreiche Entwicklung demokratischer Ideen<br />

ermöglicht wird“ (S. 147, in: Klemm, K.: Beliebigkeit als Norm – Zur Entwicklung gymnasialer Bildungsziele<br />

in der Bundesrepublik. In: Rolff, H.-G./Klemm, K./Tillmann, K.-J. (Hrsg.): Jahrbuch der<br />

Schulentwicklung 2. Weinheim 1982, S. 145-158). Die amerikanische Zook-Kommission charakterisierte<br />

das <strong>deutsche</strong> Bildungswesen, das sie begutachten sollte, im gleichen Jahr so:<br />

„Dieses System hat bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrzahl der Deutschen<br />

ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt, das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung<br />

möglich machte, auf denen das autoritäre Führerprinzip gedieh“.<br />

Auch die weiteren Absonderungen und Abtrennungen innerhalb der höheren Schule stießen<br />

bei der Zook-Kommission auf Kritik:<br />

25


„Nirgends besteht die Möglichkeit eines gemeinsamen Schullebens noch eine andere Stelle für eine breite<br />

Grundlage einer gemeinsamen kulturellen und sozialen Erfahrung wenigstens für diejenigen, die zu akademischer<br />

Spezialisierung und zu höheren Berufen übergehen. Es ist augenscheinlich, dass das Erziehungssystem<br />

eines Landes die Grundlagen des ‚Klassengeistes’ verstärken oder auch eine kulturelle Gemeinschaft<br />

aller Bürger aufbauen kann. Für eine demokratische Gesellschaft kommt nur die zweite Möglichkeit<br />

in Frage“ (S. 161, in: Herrlitz, H.-G./Hopf, W./Titze, H.: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur<br />

Gegenwart. Weinheim 1993).<br />

Geprägt von dieser Einschätzung erließ der ‚Alliierte Kontrollrat‘ 1947 seine „Grundlegenden Prinzipien<br />

für die Neugestaltung des <strong>deutsche</strong>n Bildungswesens“. Drei Aspekte rückt der Kontrollrat<br />

dabei in den Mittelpunkt:<br />

- einen ökonomischen,<br />

- einen organisatorischen und<br />

- einen inhaltlichen Aspekt.<br />

Ökonomisch ging es darum, den Zugang zu allen Schulen durch Schulgeld- und Lernmittelfreiheit<br />

sowie durch Unterstützungszahlungen jedermann zu eröffnen. Im organisatorischen Bereich wurde<br />

der vertikalen Gliederung des <strong>Schulsystem</strong>s eine Absage erteilt: „Volksschulen und Höhere Schulen<br />

sollen zwei aufeinander folgende Stufen, nicht zwei sich überschneidende Arten oder Qualitäten<br />

des Unterrichts darstellen“. Inhaltlich wurde angestrebt, die Neuordnung der <strong>deutsche</strong>n Schule<br />

mit einer Revision der Curricula zu verknüpfen: „Alle Schulen betonen sowohl durch den Inhalt des<br />

Lehrplans, der Schulbücher und der Lehr- und Lernmittel wie durch den Schulaufbau selbst die Erziehung<br />

zur staatsbürgerlichen Verantwortung und demokratischen Lebensauffassung“ (alle Belege<br />

auf S. 148, in: Klemm, K.: Beliebigkeit als Norm. – Zur Entwicklung gymnasialer Bildungsziele in der<br />

Bundesrepublik. In: Rolff, H.-G./Klemm, K./Tillmann, K.-J. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung 2.<br />

Weinheim 1982, S. 145-158). Die Umsetzung dieser Grundrichtung erfolgte in der Ostzone und späteren<br />

DDR völlig anders als in den Westzonen und in der späteren BRD.<br />

■ Zur Entwicklung in der DDR<br />

In der DDR wurden in Wiederaufnahme des mit dem Weimarer Schulkompromiss eingeleiteten Weges<br />

der gemeinsamen Schule für alle Heranwachsenden die unterschiedlichen Schultypen in drei<br />

größeren Gesetzen von 1946, 1959 und 1965 zu ‚Polytechnischen Oberschulen’ (Klassen 1 bis 10)<br />

und zu ‚Erweiterten Oberschulen’ (Klassen 11 und 12) zusammengeführt (vgl. Abbildung 4). Inhaltlich<br />

waren die Lehrpläne dieser Schulen an den Grundideen des in der DDR herrschenden Sozialismus<br />

ausgerichtet.<br />

Nach 1989 wurde dann das <strong>Schulsystem</strong> der DDR in seinen wesentlichen Zügen strukturell und<br />

inhaltlich dem der Länder der BRD angepasst. Abweichungen finden sich in einzelnen der neuen<br />

Bundesländer im Vergleich zu den alten Bundesländern in der Schulstruktur (zweigliedrige an Stelle<br />

der west<strong>deutsche</strong>n drei- oder viergliedrigen Sekundarschulsysteme) und in der Schuldauer<br />

(zwölfjährige Bildungsgänge bis zum Abitur in einigen der neuen Länder gegenüber den dreizehnjährigen<br />

Bildungswegen in der Mehrheit der alten Länder).<br />

■ Zur Schulentwicklung in der west<strong>deutsche</strong>n BRD<br />

In der BRD setzte sich – auch unter dem Eindruck des entstehenden ‚kalten Krieges‘ – die Politik<br />

der Restaurierung des gegliederten Schulwesens durch. Im „Düsseldorfer Abkommen“ (1955)<br />

wurde die damit gegebene <strong>Struktur</strong> mit der herausragenden Stellung des typisierten Gymnasiums<br />

festgeschrieben; zugleich wurde in den fünfziger Jahren die Trennung in höhere (wissenschaftspropädeutische)<br />

und in niedere (volkstümliche) Bildung beibehalten und – wie schon in der Vergangenheit<br />

– begabungstheoretisch wie ökonomisch begründet. Der ‚Deutsche Ausschuß‘, ein<br />

vom damaligen Bundespräsidenten berufenes Gremium der Bildungsberatung, schrieb 1959 in<br />

seinem Rahmenplan:<br />

„Die unterschiedlichen Bildungsanforderungen, die unsere arbeitsteilig entfaltete Gesellschaft an ihren<br />

Nachwuchs stellt, und die Unterschiede in der Bildungsfähigkeit dieses Nachwuchses zwingen dazu, an<br />

drei Bildungszielen unseres <strong>Schulsystem</strong>s festzuhalten, die nach verschieden langer Schulzeit erreicht<br />

werden: an einem verhältnismäßig früh an Arbeit und Beruf anschließenden, einem mittleren und einem<br />

höheren“ (vgl. S. 151, in: Klemm, K.: Beliebigkeit als Norm. Zur Entwicklung gymnasialer Bildungsziele in<br />

der Bundesrepublik. In: Rolff, H.-G./Klemm, K./Tillmann, K.-J. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung 2.<br />

Weinheim 1982, S. 145-158).<br />

26


Abbildung 4: Schulstruktur in der DDR<br />

1946<br />

12.<br />

9.<br />

8.<br />

1.<br />

1959<br />

Oberschule<br />

Grundschule<br />

10.<br />

--------------------------------<br />

8.<br />

1.<br />

1965<br />

Polytechnische<br />

Oberschule<br />

Noch etwas krasser liest sich die Begründung, die der in den fünfziger Jahren viel gelesene Psychologe<br />

Weinstock dem gegliederten <strong>Schulsystem</strong> 1955 in seinem Buch „Realer Humanismus“<br />

gab:<br />

„Dreierlei Menschen braucht die Maschine. Den, der sie bedient und in Gang hält, den, der sie repariert<br />

und verbessert, schließlich den, der sie erfindet und konstruiert. Hieraus ergibt sich: die richtige Ordnung<br />

der modernen Arbeitswelt gliedert sich in drei Hauptschichten: Die große Masse der Ausführenden, die<br />

kleine Gruppe der Entwerfenden und dazwischen die Schicht, die unter den beiden anderen vermittelt [...]<br />

Offenbar verlangt die Maschine eine dreigliedrige Schule: eine Bildungsstätte für die Ausführenden, also<br />

zuverlässig antwortenden Arbeiter, ein Schulgebilde für die verantwortlichen Vermittler und endlich ein solches<br />

für die Frager, die so genannten theoretisch Begabten“ (vgl. S. 152, in: Klemm, K.: Beliebigkeit als<br />

Norm. – Zur Entwicklung gymnasialer Bildungsziele in der Bundesrepublik. In: Rolff, H.-G./Klemm,<br />

K./Tillmann, K.-J. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung 2. Weinheim 1982, S. 145-158).<br />

Erst in den sechziger Jahren kam es in der Bundesrepublik aus ökonomischen Gründen wie auch<br />

aus demokratischen Ansprüchen zu einer erneuerten Diskussion um die Reform des Schulwesens.<br />

Mit Blick auf den Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Bundesrepublik<br />

wurde eine Steigerung der ‚Bildungsproduktion‘ angemahnt (ökonomischer Begründungsstrang).<br />

Parallel dazu wurde gefordert, die Ungleichheit der Bildungschancen, die in der Kunstfigur<br />

des ‚katholischen Arbeitermädchens vom Lande‘ als konfessions-, schicht-, geschlechts- und regionalspezifische<br />

Ungleichheiten beschrieben wurden, abzubauen (bildungsbürgerlicher Begründungsstrang).<br />

12.<br />

9.<br />

12.<br />

11. Erweiterte Oberschule<br />

10.<br />

1.<br />

Polytechnische Oberschule<br />

(POS)<br />

Erweiterte<br />

Oberschule<br />

27


Abbildung 5.1: Schulstruktur in der BRD ab 1969<br />

Sonderschulen<br />

1<br />

10<br />

9<br />

5<br />

4<br />

1<br />

Hauptschule<br />

Berufsbildende Schulen<br />

Realschule<br />

HS / RS<br />

Grundschule<br />

Hochschulen<br />

13<br />

11<br />

Oberstufe<br />

Gymnasium<br />

Oberstufe<br />

Integrierte Gesamtschule<br />

28


Durch die Kombination der ökonomischen mit der bürgerrechtlichen Argumentation kam es strukturellen<br />

und curricularen Reformen. Dabei sind insbesondere die folgenden drei Reformen bemerkenswert:<br />

- Im Hamburger Abkommen von 1964 wurde die Schaffung der Hauptschule, die fortan als<br />

selbstständige Schule der Sekundarstufe I die Volksschuloberstufe ersetzen sollte, verabredet.<br />

Die bis Ende der sechziger Jahre vollzogene Einführung der Hauptschule war verbunden<br />

mit einer Ausdehnung der Schulpflicht auf neun, in einzelnen Bundesländern wie z.B. in<br />

Nordrhein-Westfalen später auf zehn Jahre, mit der Einführung des Prinzips des Fachunterrichts<br />

durch Fachlehrer und mit der Verankerung des Prinzips der Wissenschaftsorientierung<br />

(Wissenschaftsorientierung: In Schulen darf nur das gelehrt werden, was wissenschaftlich<br />

begründet ist).<br />

- Angestoßen durch die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates (einem Beratungsgremium,<br />

das den ‚Deutschen Ausschuss‘ 1965 ablöste) zur ‚Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen‘<br />

kam es ab Ende der sechziger Jahre zur Errichtung von Gesamtschulen. Damit<br />

wurde der Gedanke der gemeinsamen Unterrichtung aller Kinder, der schon die Auseinandersetzungen<br />

um den Weimarer Schulkompromiss beherrscht hat, wieder aufgenommen.<br />

Anders aber als in vielen europäischen Nachbarländern brachten die Gesamtschulen keine<br />

Ablösung der Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien. Stattdessen traten diese Gesamtschulen<br />

neben die Schulen des gegliederten Schulwesens, ergänzten diese also (vgl. Abbildung<br />

5.1).<br />

- Mit der 1972 von der KMK beschlossenen ‚Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen<br />

Oberstufe‘ wurde – nicht zuletzt auf Drängen der Universitäten – die gymnasiale<br />

Oberstufe strukturell und curricular einschneidend verändert: An die Stelle unterschiedlicher<br />

gymnasialer Schultypen (wie sie die neuhumanistischen, die neusprachlichen und die naturwissenschaftlichen<br />

Gymnasien darstellten) traten ‚enttypisierte’ Gymnasien, die in ihren Oberstufen<br />

den Schülerinnen und Schülern Raum für individuelle Profilbildungen boten. Auf<br />

diese Weise sollten die Oberstufenschüler und -schülerinnen sich verstärkt auf ihre fachlichen<br />

Interessen konzentrieren und sich zugleich besser auf die Arbeitsformen der Universitäten<br />

vorbereiten können.<br />

Der Ertrag der Reformjahre, die durch weitere kleinere Reformmaßnahmen geprägt waren, ist<br />

schwer zu erfassen (vgl. dazu auch den folgenden Abschnitt 3). Am ehesten trifft wohl der Satz zu:<br />

Die Bildungsreform ist nicht gescheitert, aber sie ist ‚stecken geblieben’ – u.a. auch in der großen<br />

ökonomischen Krise seit Mitte der siebziger Jahre (vgl. zur Bilanzierung der west<strong>deutsche</strong>n Reformphase:<br />

Klemm, K./Rolff, H.-G./Tillmann, K.-J.: Bildung für das Jahr 2000, Reinbek 1985).<br />

Anregung zur Wiederholung<br />

1) Vergegenwärtigen Sie sich die Schritte zur rechtlichen und zur tatsächlichen Durchsetzung<br />

der Schulpflicht im 18. und 19. Jahrhundert.<br />

2) Überlegen Sie sich die Gründe dafür, dass Preußen (wie andere <strong>deutsche</strong> Länder auch) im<br />

ausgehenden 18. Jahrhundert sein Schulwesen zu ordnen begann.<br />

3) Vergegenwärtigen Sie sich die Entwicklung des Gymnasiums vom ausgehende 18. bis zum<br />

Ende des 20. Jahrhunderts. Konzentrieren Sie sich dabei auf die Etablierungsphase am<br />

Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auf die Modernisierungsphase im<br />

29


ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Berücksichtigen Sie<br />

dabei auch die Entwicklung des höheren Mädchenschulwesens) sowie auf die Vereinbarung<br />

zur Reform der gymnasialen Oberstufe.<br />

4) Erarbeiten Sie sich die unterschiedlichen Bildungskonzeptionen, die zu Beginn des 19.<br />

Jahrhunderts für die Gymnasien diskutiert wurden und stellen Sie einen Zusammenhang zu<br />

den gymnasialen Bildungskonzeptionen um 1900 her.<br />

5) Machen Sie sich die Schritte der Entwicklung des niederen Schulwesens klar: Gehen Sie<br />

dabei insbesondere auf die Stiehl‘schen Regulative (Bildungsbegrenzung), auf die<br />

Allgemeinen Bestimmungen (Modernisierung), auf den Weimarer Schulkompromiss<br />

(Demokratisierung) und auf die Einrichtung der Hauptschule (Wissenschaftsorientierung) ein.<br />

6) Überlegen Sie sich die Antriebskräfte und Schritte, die im Verlauf des 19. und des<br />

beginnenden 20. Jahrhunderts die <strong>Entstehung</strong> des Dualen Berufsbildungssystems<br />

kennzeichnen.<br />

7) Erarbeiten Sie sich die zentralen Merkmale der Schulentwicklung im Nationalsozialismus.<br />

8) Überlegen Sie sich die einzelnen Phasen der Schulentwicklung in Deutschland nach 1945.<br />

Achten Sie dabei auf die Phasen der frühen Nachkriegsentwicklung (alliierte Schulpolitik),<br />

der Restauration sowie der Bildungsreform in der west<strong>deutsche</strong>n Bundesrepublik und auf die<br />

Entwicklung in der DDR.<br />

9) <strong>Das</strong> <strong>deutsche</strong> Bildungssystem hatte einen beachtlichen Anteil am Übergang von der<br />

Stände- zur Leistungsgesellschaft. Überlegen Sie sich vor dem Hintergrund dieser<br />

Feststellung insbesondere die Bedeutung der Abiturreglements und des Weimarer<br />

Schulkompromisses für diesen Übergang.<br />

30


3. Die strukturelle Perspektive: <strong>Struktur</strong> und Funktionsweise des<br />

<strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong>s<br />

Die Schulstruktur, die sich in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts herausgebildet hat, die<br />

Bildungsbeteiligung, die sich im Verlauf der Expansionsjahre innerhalb dieser <strong>Struktur</strong> entwickelt<br />

hat, und die Ausleseprozesse, die sich dabei immer wieder vollziehen, lassen sich folgendermaßen<br />

charakterisieren:<br />

3.1 Der Aufbau des Bildungssystems am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts<br />

Vor dem Beginn der eigentlichen Vollzeitschulpflicht, die mit dem sechsten Lebensjahr einsetzt und<br />

je nach Bundesland neun bzw. zehn Jahre beträgt, gibt es überall in Deutschland Angebote an<br />

vorschulischen Einrichtungen (vgl. zu der folgenden <strong>Struktur</strong>beschreibung Abbildung 5.2 sowie<br />

Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994), die zum Elementar-Bereich gezählt werden. In diesen Kindergärten<br />

oder vorschulischen Einrichtungen werden Kinder zwischen dem dritten Lebensjahr und<br />

dem Beginn der Schule durch Erzieherinnen und Erzieher zumeist halbtags betreut. Der Besuch<br />

einer vorschulischen Einrichtung ist freiwillig und kostenpflichtig. Trotz des seit einigen Jahren<br />

existierenden Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz steht noch nicht in allen Bundesländern<br />

eine ausreichende Anzahl von Plätzen zur Verfügung.<br />

Die anschließende Grundschule, die in Berlin und Brandenburg sechs Jahre umfasst, in allen übrigen<br />

Bundesländern vier, hat als einzige wirkliche ‚Gesamtschule’ den Doppelauftrag zu erfüllen,<br />

allen Kindern ein Basiswissen in den grundlegenden Kulturtechniken zu vermitteln und muss<br />

gleichzeitig die Entscheidung über den im Anschluss zu belegenden Bildungsgang vorbereiten<br />

oder treffen.<br />

Neben der Grundschule und neben den Schulen der Sekundarstufe I findet sich im Bereich des<br />

allgemein bildenden Schulwesens ein ausgebautes Sonderschulwesen mit verschiedenen Förderschwerpunkten.<br />

Von allen Schülern und Schülerinnen der achten Klassen besuchen gegenwärtig<br />

5,2% diese unterschiedlichen Sonderschulen. Etwa die Hälfte von ihnen lernt in der größten dieser<br />

Sonderschulformen, in der Sonderschule für Lernbehinderte.<br />

Im Anschluss an die Grundschule stehen je nach Bundesland bis zu fünf verschiedene Schularten<br />

nebeneinander bereit (vgl. zur Schulstruktur der einzelnen Bundesländer Abbildung 5.2). In Nordrhein-Westfalen<br />

können in allen Schulformen – also in der Hauptschule, in der Realschule, in der<br />

integrierten Gesamtschule sowie im Gymnasium – alle Abschlüsse der Sekundarstufe I erzielt werden;<br />

unter bestimmten Leistungsvoraussetzungen berechtigen diese Abschlüsse auch zum Besuch<br />

der gymnasialen Oberstufe. Die Sekundarstufe I umfasst in der Regel die Jahrgangsstufen fünf bis<br />

zehn, in Berlin und Brandenburg beginnt sie erst ab der siebten Klasse. In allen übrigen Bundesländern<br />

sind die Jahrgangsstufen fünf und sechs als schulformabhängige oder – unabhängige Orientierungsstufe<br />

organisiert. Die Hauptschule hat in den meisten Bundesländern – infolge ihrer sinkenden<br />

Attraktivität – seit den sechziger Jahren eine starke Verringerung ihrer Schülerzahlen hinnehmen<br />

müssen.<br />

Die Gesamtschule ist aus der Reformbewegung der sechziger Jahre hervorgegangen mit dem Anspruch,<br />

das gegliederte <strong>Schulsystem</strong> zu ersetzen. Sie umfasst in der Regel die Sekundarstufen I<br />

und II, wobei die Oberstufe sich organisatorisch nicht von der des Gymnasiums unterscheidet.<br />

Heute ist sie ergänzende Schulform innerhalb des gegliederten Systems und von daher ist ihr<br />

Stand und ihr Ansehen abhängig von dem Konkurrenzverhältnis, in welchem sie sich zu den übrigen<br />

Schulformen befindet. Während die Gesamtschule in ländlich strukturierten Gebieten attraktiv<br />

ist, weil sie in einer Schulform alle Bildungsabschlüsse eröffnet, gerät sie besonders in großstädtischen<br />

Ballungsgebieten in Konkurrenz zu Gymnasien und Realschulen. Dieser Konkurrenz gegenüber<br />

kann sie sich nur über besondere pädagogische Angebote attraktiv halten.<br />

Die Realschule stand und steht von ihrem Anspruch her zwischen Gymnasium und Hauptschule<br />

und bietet als originären realschultypischen Abschluss die Fachoberschulreife an. Die Schulform<br />

Realschule war und ist in der bildungspolitischen Öffentlichkeit eine weitgehend unumstrittene<br />

Schulform, da der Realschulabschluss eine gute Voraussetzung für den Übergang in das duale<br />

System darstellt und daher einen Einstieg in attraktive Berufe ermöglicht. <strong>Das</strong> Gymnasium ist in<br />

allen Bundesländern die mittlerweile attraktivste Schulform: In Deutschland besuchten 2000 – bezogen<br />

auf die Klassenstufe 8 – 29,4% des entsprechenden Jahrgangs ein Gymnasium (vgl. Abbildung<br />

6.1).<br />

31


Abbildung 5.2: Aktuelle Schulstruktur der Länder im Überblick<br />

(Verteilung der Achtklässler in 2000 in %)<br />

Stand: April 2003<br />

13 GY Gy IGS 13<br />

12 GY* Gy IGS 12<br />

11 11<br />

10 RS HS RS RS 10<br />

9 HS HS RS 9<br />

8 33,0 31,7 28,9 37,8 30,5 26,5 11,5 21,3 33,2 29,4 15,7 28,9 49,9 8<br />

7 7<br />

6 6<br />

5 5<br />

4 4<br />

3 3<br />

2 2<br />

1 1<br />

Baden-Württemberg<br />

Bayern*<br />

Berlin<br />

Brandenburg<br />

* ab 2004/05 12 Jahre bis zum Abitur * bis 2003/04 gibt es noch die 4-stufige RS,<br />

die auf der HS Klasse 5/6 aufbaut<br />

13 Gy IGS Gy IGS Gy 13<br />

12 Gy IGS 12<br />

11 11<br />

10 HS RS MB* RS RS IGS MB* RS 10<br />

9 HS HS HS 9<br />

8 21,6 25,5 31,7 15,3 12,0 4,9 13,8 34,3 26,7 16,5 28,3 32,8 17,3 11,4 4,5 44,0 28,9 4,2 8<br />

7 7<br />

6 Orientierungsstufe<br />

6<br />

5 * * * * 5<br />

4 4<br />

3 3<br />

2 2<br />

1 1<br />

Bremen Hamburg<br />

Hessen<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

* Haupt- und Realschule * Klassen 5,6 als Förderstufe möglich * Verbundene Haupt- und Realschulen,<br />

Regionale Schule<br />

13 Gy IGS Gy IGS Gy IGS IGS 13<br />

12 Gy 12<br />

11 11<br />

10 RS HS RS MB* RS MB* 10<br />

9 HS HS 9<br />

8 30,2 33,3 26,7 3,6 24,7 25,6 30,1 15,0 30,1 8,2 24,2 28,1 4,5 48,2 29,7 15,3 8<br />

7 7<br />

6 Orientierungsstufe möglich<br />

6<br />

5 bis 2008 5<br />

4 4<br />

3 3<br />

2 2<br />

1 1<br />

Niedersachsen Nordrhein-Westfalen<br />

Rheinland-Pfalz<br />

Saarland<br />

* verbundene Haupt- u. Realschulen,<br />

Regionalschulen<br />

* Regelschule<br />

13 Gy* IGS 13<br />

12 Gy Gy Gy 12<br />

11 11<br />

10 MB* MB* RS MB* 10<br />

9 HS 9<br />

8 62,8 31,1 59,1 32,2 29,2 32,5 26,6 6,1 59,1 32,5 8<br />

7 7<br />

6 OS 6<br />

5 5<br />

4 4<br />

3 3<br />

2 2<br />

1 1<br />

Sachsen Sachsen-Anhalt<br />

Schleswig-Holstein<br />

Thüringen<br />

* Mittelschule * Sekundarschule * Modellversuche mit 12-jährigem Gymn. * Regelschule<br />

32


Abbildung 6.1: Schüler der Klassenstufe 8<br />

Verteilung nach Schularten in Deutschland (in %)<br />

Schulart 2001<br />

Hauptschule 22,7<br />

Schularten mehrerer Bildungsgänge 8,9<br />

Realschule 24,4<br />

Gymnasium 29,5<br />

Integrierte Gesamtschule 8,9<br />

Freie Waldorfschule 0,6<br />

Sonderschule 5,2<br />

Zusammen 100<br />

Quelle: KMK: Schüler Klassen, Lehrer und Schulen 1992 bis 2001, Bonn 2002, S. X<br />

Obwohl an allen Schulformen der Sekundarstufe I in NRW ein oberstufenqualifizierender Schulabschluss<br />

erworben werden kann, finden nennenswerte Übergänge in die Oberstufe hauptsächlich<br />

vom Gymnasium und aus der Gesamtschule heraus statt, zumeist in der Form der Fortsetzung der<br />

Schullaufbahn an derselben Schulform. Während von den Hauptschülern nur ein sehr geringer<br />

Anteil die Schullaufbahn in einer gymnasialen Oberstufe (wenn, dann zumeist an einer Gesamtschule)<br />

fortsetzt, wechseln immerhin ein Drittel der dafür qualifizierten Abgänger der Realschule in<br />

die Oberstufe – überwiegend eines Gymnasiums. Die Gymnasiale Oberstufe ist als Kursstufe organisiert,<br />

in der spätestens ab der Klasse 12 in Grund- und Leistungskursen unterrichtet wird. In<br />

den meisten Ländern wird das Abitur nach 13 Schulbesuchsjahren erworben, in Sachsen, Thüringen<br />

und Sachsen-Anhalt sowie dem Saarland bereits nach 12 Jahren. Einige alte Bundesländer<br />

haben angekündigt, die Abiturzeit auf 12 Jahre zu verkürzen. Der Abschluss wird in 9 Ländern<br />

durch schuleigene Abiturprüfungen, in 7 Ländern durch zentrale Prüfungen vergeben. Zwei weitere<br />

Länder planen, zentrale Prüfungselemente einzuführen. Von den Abiturienten besuchen derzeit<br />

etwa 80% zu irgendeinem Zeitpunkt nach Beendigung ihrer Schullaufbahn eine Hochschule.<br />

<strong>Das</strong> berufsbildende Schulwesen, das wie die gymnasialen Oberstufen von Gymnasien und Gesamtschulen<br />

zur Sekundarstufe II zählt, gliedert sich – wenn man nur die Hauptformen betrachtet –<br />

in die Berufsschule, die als Teilzeitschule den theoretischen Teil der Ausbildung des Dualen Systems<br />

mit den Lernorten Betrieb und Schule darstellt, in die vollzeitschulische Fachoberschule, die<br />

zur Fachhochschulreife führt, und in die Berufsfachschule, die in vollzeitschulischer Form einen<br />

Berufsabschluss vermittelt.<br />

3.2 Bildungsexpansion, Erfolge und Misserfolge sowie Bildungsbeteiligung<br />

Unbeeinflusst von den Konjunkturen der Bildungspolitik ist die Entwicklung der Bildungssysteme<br />

nach 1945 in den beiden <strong>deutsche</strong>n Staaten, wenn auch unterschiedlich akzentuiert, durch den<br />

Prozess der Bildungsexpansion gekennzeichnet. Dem Satz ‚Schick Dein Kind länger auf bessere<br />

Schulen’, in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik plakatiert, folgten Eltern im Osten wie im<br />

Westen Deutschlands lange schon, bevor er formuliert war (vgl. Abbildung 6.2).<br />

Der Versuch, diesen hier angesprochenen Expansionsprozess darzustellen und in seinem Ertrag<br />

und in seiner Bedeutung für die Individuen zu würdigen, soll im Folgenden in Schritten erfolgen:<br />

- Zunächst wird dieser Prozess in seinem Verlauf dargestellt,<br />

- sodann soll die Skizzierung der expansiven Entwicklung des Bildungssystems<br />

□ zum einen durch einen Blick auf ihren Ertrag und<br />

□ zum anderen durch die Frage nach der Chancenverteilung innerhalb des sich grundsätzlich<br />

expansiv entwickelnden Bildungssystems analysiert werden;<br />

- abschließend soll die Bedeutung der Teilhabe an Bildung für den weiteren Lebensweg exemplarisch<br />

vorgestellt werden.<br />

33


Abbildung 6.2: Verteilung der Schülerinnen und Schüler im 7. bzw. 8. Jahrgang (BRD)<br />

Anteile Anteile Anteile Anteile Anteile<br />

Schuljahr VS/HS RS<br />

GY<br />

SoS<br />

IGS<br />

1952/53 79,3 6,1 13,2 1,5<br />

1960/61 67,9 12,1 17,1 2,9<br />

1970/71 52,7 20,2 22,3 4,8<br />

1980/81 38,0 26,4 27,2 4,6 3,7<br />

1990/91 31,4 26,9 31,3 4,1 6,4<br />

1992/93 25,0 24,8 7,6 30,0 3,6 9,1<br />

2000/01 22,4 24,3 9,3 29,4 4,9 9,8<br />

2001/02 22,7 24,4 8,9 29,5 5,2 9,5<br />

bis 1990/91: Früheres Bundesgebiet – 7. Jahrgangsstufe<br />

ab 1991/92: Deutschland insgesamt – 8. Jahrgangsstufe<br />

Spalte RS ab 1991/92: in Spalte 1: Realschulen; in Spalte 2: Schulen mit mehreren Bildungsgängen<br />

IGS einschließlich Freier Waldorfschulen<br />

Quellen: Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 7, 1992, S. 61;<br />

KMK: Schüler, Klassen, Lehrer und Absolventen der Schulen 1992 bis 2001, Bonn 2002, S. X<br />

■ Der Verlauf der Bildungsexpansion<br />

Die Bildungsexpansion vollzog und vollzieht sich in Deutschland in zwei Bahnen (vgl. Klemm<br />

2003):<br />

- zum einen, dies wird in der Regel unterschätzt, in den Bildungswegen des ‚niederen’ und<br />

auch ‚mittleren’ Schulwesens,<br />

- zum anderen, daran wird in der Regel beim Begriff ‚Bildungsexpansion’ gedacht, in den höheren<br />

Bildungswegen.<br />

Im Bereich des ‚niederen’ Schulwesens hat sich die Expansion in erster Linie in der Verlängerung<br />

der Pflichtschulzeit niedergeschlagen: In Westdeutschland geschah dies im Verlauf der sechziger<br />

Jahre in allen Bundesländern durch die Einführung des verpflichtenden neunten Schuljahres der<br />

Hauptschulen (nach der Trennung der Volksschulen in Grund- und Hauptschulen) und durch die<br />

Angebote freiwilliger zehnter Hauptschuljahre in den meisten Bundesländern sowie die Einführung<br />

des zehnten Pflichtschuljahres in einer Reihe von Ländern. Diese Ausdehnung der Schulzeit fand<br />

ihre Fortsetzung in der beruflichen Bildung, und zwar insbesondere in der Dualen Berufsausbildung:<br />

zum einen durch die zeitliche Ausdehnung der Ausbildungszeit auf bis zu dreieinhalb Jahre<br />

und zum anderen dadurch, dass Berufsausbildung immer mehr zum Normalfall wurde. Dieser letzte<br />

Aspekt lässt sich sehr gut durch die vergleichende Betrachtung unterschiedlicher Altersjahrgänge<br />

verdeutlichen. Im Gebiet der alten Bundesländer erhielten aus den Geburtsjahrgängen 1906 bis<br />

1910, die ihre Berufsausbildung in der Weimarer Republik absolvierten, 51% keine formal abgeschlossene<br />

Berufsausbildung. Von den Jahrgängen 1936 bis 1940, die während der fünfziger Jahre<br />

beruflich ausgebildet wurden, blieben 25% ohne abgeschlossene Ausbildung. Von den Jahrgängen<br />

1974 bis 1978 schließlich, die in den neunziger Jahren ausgebildet wurden, sind ‚nur‘ noch<br />

15% ohne Berufsausbildung geblieben (vgl. Block/Klemm 1994, S. 44 und Bellenberg/Klemm<br />

2000, S.71).<br />

In Ostdeutschland bestand seit der Verabschiedung des „Gesetzes über die sozialistische Entwicklung<br />

des Schulwesens in der DDR" (1959) die zehnjährige Vollzeitschulpflicht. Lediglich ein kleiner<br />

Anteil (weniger als 10 %) aller Jugendlichen eines Altersjahrgangs verließ die Polytechnische Oberschule<br />

vor dem zehnten Schuljahr (vgl. Anweiler u.a. 1990, S.172). Auch in der DDR setzte sich<br />

die Ausdehnung der allgemein bildenden Schulzeit in eine Expansion der Teilhabe an Berufsausbildung<br />

fort: Von allen Erwerbstätigen des Jahres 1987 verfügten in der DDR nur 10% (Bundesrepublik<br />

23%) über keinen beruflichen Ausbildungsabschluss (vgl. Tessaring 1991, S.58).<br />

Im Bereich der ‚mittleren’ Bildung ist die Entwicklung im Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik<br />

dadurch gekennzeichnet, dass parallel zum Ausbau der Volksschuloberstufe zur Hauptschule eine<br />

Verlagerung der ‚Schülerströme’ zu mittleren Bildungsgängen, zur Realschule also, erfolgt ist:<br />

Während 1952 erst 6% der Schülerinnen und Schüler aller siebten Klassen Realschulen besuchten,<br />

taten dies 1990 bereits 27% (vgl. Imhäuser/Rolff, S.61). Für Ostdeutschland lässt sich feststellen,<br />

dass mit der Einführung der zehnjährigen Polytechnischen Oberschule die Unterscheidung<br />

34


zwischen ‚niederer’ und ‚mittlerer’ Bildung (bzw. in den Begriffen Westdeutschlands zwischen<br />

Volks- und Realschule) entfallen ist.<br />

Gestützt auf diese Expansionsentwicklungen im niederen und mittleren Schulwesen vollzog sich<br />

(breit wahrgenommen und kontrovers diskutiert) die Expansion ‚höherer’ Bildung – allerdings nur<br />

im Westen Deutschlands. Während in der DDR die Zahl der Überwechsler in die zur Studienberechtigung<br />

führenden Bildungswege (‚Erweiterte Oberschule’ und ‚Abiturklassen in der Berufsausbildung’)<br />

bei zwischen 12% und 14% eines Altersjahrgangs verharrte (vgl. Anweiler 1990, S.215<br />

und S.352), erlebte die Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren eine rasante Ausweitung der Übergangsquoten<br />

zu Gymnasien (vgl. Imhäuser/Rolff 1992, S.61): Anfang der fünfziger Jahre besuchten<br />

etwa 13% der Schüler der siebenten Klassen Gymnasien, 1990 taten dies 31%. Dieser<br />

Andrang zum Bildungsweg der ‚Höheren Schule’ führte, zeitlich versetzt, zu einem ebenso deutlichen<br />

Anstieg der Abiturientenquoten: Während 1960 erst 6% eines Altersjahrgangs die Allgemeine<br />

Hochschulreife erwarb, erlangten im früheren Bundesgebiet 1990 mit 24% nahezu ein Viertel eines<br />

Altersjahrgangs die allgemeine Studienberechtigung. Dazu kamen noch weitere 9% eines Jahrgangs,<br />

die die Fachhochschulreife erhielten, so dass in diesem Jahr mit 33% ein Drittel eines Jahrgangs<br />

zur Hochschulreife geführt wurde (vgl. bmbf 2001, S. 91).<br />

An diese Expansionsentwicklung haben die neuen Bundesländer sehr schnell Anschluss gefunden,<br />

so dass Deutschland insgesamt im Jahre 2001 bei der Allgemeinen Hochschulreife eine Quote von<br />

fast 26% und bei der Fachhochschulreife von 10% - insgesamt also eine Hochschulberechtigtenquote<br />

von 36% erreichte (vgl. zu diesen Daten KMK 2002, S. 371 ff.).<br />

Neben dem Anstieg der Übergänge zu Gymnasien haben zwei weitere Faktoren die Entwicklung<br />

der im historischen Vergleich sehr hohen Abiturquoten befördert:<br />

- Zum einen kann festgestellt werden, dass die Chancen derer, die zu einem Gymnasium<br />

wechselten, auch dort das Abitur zu erreichen, im Verlauf des Expansionsprozesses deutlich<br />

zugenommen haben. Hansen/Rolff haben dies auf der Basis der Analyse der Schulstatistiken<br />

Nordrhein-Westfalens und Baden-Württembergs gezeigt (1990). Die Erfolgsquote (definiert<br />

als der Anteil der Abiturienten eines Jahres an den Schülern der fünften Klassen der Gymnasien<br />

neun Jahre zuvor) stieg z. B. in Nordrhein-Westfalen von 39% während der fünfziger<br />

Jahre auf 73% während der achtziger Jahre (Hansen/Rolff 1990, S.52). Ein Teil dieses Ansteigens<br />

der Erfolgsquote ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass immer mehr Schüler und<br />

Schülerinnen nach der Klasse 10 aus Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien in gymnasiale<br />

Oberstufen wechseln und so den Verlust von Schülern während des gymnasialen Weges<br />

von der Klasse 5 bis zur Klasse 11 tendenziell wieder rechnerisch ausgleichen. Ein weiterer<br />

Teil des Anstiegs der gymnasialen Erfolgsquote erklärt sich daraus, dass die interne<br />

Selektion in den Gymnasien verringert wurde (z.B. durch günstigere Lernbedingungen in<br />

deutlich verkleinerten Klassen): So sank z.B. der Anteil der nicht versetzten Schülerinnen<br />

und Schüler der Gymnasien an allen Gymnasiasten in Nordrhein-Westfalen (KM-NW 1995, T<br />

1.7) von in den sechziger Jahren noch zwischen knapp 10% auf nur noch gut 4% zu Beginn<br />

der neunziger Jahre.<br />

- Zum anderen führte der Ausbau der Gesamtschulen, des Zweiten Bildungswege und der<br />

zum Abitur führenden Bildungsgänge der berufsbildenden Schulen zu einer weiteren Erhöhung<br />

der Abiturquoten. 2000 gilt für Deutschland insgesamt, dass von allen Absolventen mit<br />

Abitur 89% aus allgemeinbildenden und 11% aus berufsbildenden Schulen stammen. Unter<br />

denen, die aus allgemeinbildenden Schulen kamen, hatten aber nur 90% ihr Abitur in Gymnasien<br />

erworben. Von der Gesamtheit der Abiturienten dieses Jahres waren damit nur 80%<br />

‚klassische’ Gymnasiasten (vgl. zu diesen Daten bmbf 2002, S.94 f.). Die Entmonopolisierung<br />

des Gymnasiums hat damit einem Fünftel aller Abiturienten den Weg zu höherer Bildung<br />

geöffnet.<br />

Ein Überblick über den Prozess der Bildungsexpansion im Gebiet der früheren Bundesrepublik<br />

vom Beginn der fünfziger Jahre bis heute zeigt, dass der Zugriff von Eltern und Kindern auf höhere<br />

Bildung weder durch Veränderungen der ökonomischen Bedingungen noch durch politische Einflussversuche<br />

tangiert wurde. Eltern sind auf dem Expansionspfad während der Mangelsituation<br />

der Nachkriegsjahre ebenso wie in der scheinbar nicht endenden Prosperität der sechziger Jahre<br />

gewandelt; auch die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise seit Beginn der siebziger Jahre hat die Expansionstendenz<br />

nicht durchbrochen, sondern lediglich mit anderen Motiven wie z.B. der Angst vor<br />

Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit unterfüttert. In diesen Prozess haben sich die neuen Bundesländer<br />

während der neunziger Jahre ‚eingefädelt‘.<br />

35


<strong>Das</strong> vor dem Hintergrund der <strong>deutsche</strong>n Entwicklung nach 1945 beeindruckende Ausmaß der Bildungsexpansion<br />

wird allerdings deutlich relativiert, wenn man die <strong>deutsche</strong> Bildungsbeteiligung im<br />

internationalen Kontext betrachtet. In der von der OECD dazu erstellten Übersicht (vgl. OECD<br />

2002, S. 39) erwerben im Ländermittel aller OECD-Mitgliedstaaten 55% der entsprechenden Altersgruppe<br />

eine Hochschulzugangsberechtigung, einen Spitzenwert erreicht Finnland mit 87%, das<br />

Schlusslicht bildet die Schweiz mit 19%. Deutschland mit einem Wert von 33% liegt damit eindeutig<br />

unterhalb des OECD-Mittelwertes. <strong>Das</strong> Abweichen dieses Wertes von dem in diesem Beitrag referierten<br />

Wert von 36% für den gemeinsamen Anteil von Allgemeiner Hochschulreife und von Fachhochschulreife<br />

erklärt sich durch die gegenüber der <strong>deutsche</strong>n leicht veränderte OECD-<br />

Berechnungsweise.<br />

■ Erfolge und Misserfolge im Verlauf der Bildungsexpansion<br />

An dem so skizzierten Prozess der Bildungsexpansion konnten nicht alle Angehörigen der jeweiligen<br />

Jahrgangskohorten teilnehmen. Im Folgenden soll daher der Blick auf die ‚Verlierer’ und auf<br />

die ‚Gewinner’ dieses Prozesses gelenkt werden. Dies soll so geschehen, dass zunächst die<br />

Gruppe derer, die am Ende der neunziger Jahre ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung das<br />

Bildungs- und Beschäftigungssystem verlässt, näher betrachtet wird. Daran anschließend soll die<br />

in diesem System erfolgreichste Gruppe derer, die einen Hochschulabschluss erworben hat, in den<br />

Blick genommen werden.<br />

- Junge Erwachsene ohne Berufsbildungsabschluss<br />

Trotz der zeitlichen Ausdehnung des niederen Schulwesens und trotz der qualitativen Verbesserungen<br />

in diesem Segment des Schulwesens ist es bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts nicht<br />

gelungen, allen Absolventen des Bildungs- und Ausbildungssystems eine abgeschlossene Berufsausbildung<br />

zu vermitteln. Eine aktuelle Auswertung des Mikrozensus 2001 gibt einen Überblick<br />

über das bei jungen Erwachsenen immer noch beachtliche Ausmaß von Ausbildungslosigkeit: weil<br />

keine Ausbildung aufgenommen wurde, weil eine Ausbildung abgebrochen wurde oder weil die<br />

Abschlußprüfung nicht bestanden wurde. Im einzelnen ergibt sich das folgende Bild:<br />

• 13% aller 20- bis unter 30jährigen sind ohne Ausbildung verblieben.<br />

• Frauen sind mit 14% immer noch häufiger als Männer mit 12% von Ausbildungslosigkeit betroffen.<br />

Bemerkenswert ist allerdings, daß dies in der jüngeren Altersgruppe der 20- bis unter<br />

25jährigen deutlich schwächer als in der älteren Altersgruppe der 25- bis unter 30jährigen gilt.<br />

In der jüngeren Altersgruppe sind die jungen Frauen in den neuen Bundesländern sogar seltener<br />

als die gleichaltrigen Männer betroffen.<br />

• Nach wie vor sind Ausländer mit 35% weitaus häufiger als Deutsche (9%) ausbildungslos geblieben<br />

– und zwar in beiden Altersgruppen.<br />

• Eine Unterscheidung zwischen den Daten des früheren Bundesgebietes und denen der früheren<br />

DDR verweist auf einen beachtenswerten Unterschied: Ausbildungslosigkeit ist bei den<br />

jungen Erwachsenen der alten Länder (15%) in beiden Altersgruppen verbreiteter als bei denen<br />

der neuen Bundesländer (7%). Dieser Unterschied ist auch in der jüngeren Altersgruppe deutlich<br />

ausgeprägt: Im Westen blieben bei den 20- bis unter 25jährigen 14% ohne Ausbildung, im<br />

Osten „nur“ 9%. Diese Abweichung ist nicht allein über die höheren Anteile der ausländischen<br />

Bevölkerung der alten Bundesländer erklärbar: Bei den <strong>deutsche</strong>n jungen Erwachsenen (der<br />

Altersgruppe 20 bis unter 25) liegt die Quote der Ausbildungslosigkeit mit 11% ebenfalls deutlich<br />

vor der entsprechenden Quote im Gebiet der neuen Bundesländer (8%).<br />

Aufgrund des aktuell steigenden Ausbildungsplatzmangels muß insgesamt befürchtet werden, daß<br />

die hier referierten Quoten der dauerhaft ausbildungslos bleibenden jungen Erwachsenen in den<br />

folgenden Jahren eher steigen als sinken werden.<br />

- Junge Erwachsene mit Hochschulabschluss<br />

Trotz der – wie beschrieben – steil angestiegenen Quote der Schulabsolventen mit Hochschulreife<br />

konnte sich die Bildungsexpansion bei der Quote der erfolgreichen Hochschulabsolventen kaum<br />

auswirken. Wiederum gestützt auf eine Auswertung von Daten des Mikrozensus’ (1998)<br />

(Klemm/Weegen 2000) lässt sich zeigen, dass die Anteile der an Universitäten bzw. an Fachhochschulen<br />

Qualifizierten – jeweils in Gruppen von fünf Jahrgängen zusammengefasst – in den Jahrgangsgruppen<br />

der Dreißig- bis Fünfzigjährigen weder bei den Absolventen der Universitäten noch<br />

36


ei denen der Fachhochschulen angestiegen sind: In der Gruppe der 30- bis unter 35-Jährigen<br />

entspricht der Anteil der universitär Qualifizierten mit 9% dem entsprechenden Anteil bei den 45bis<br />

unter 50-Jährigen; bei den Fachhochschulabsolventen liegen die Quoten dieser beiden Altersgruppen<br />

bei 6% bzw. bei 5%. Die Hochschulabsolventenquoten beider Hochschultypen zusammen<br />

verharrt demnach bei den 30- bis unter 35-Jährigen bei 15% – gegenüber 14% bei den 45- bis unter<br />

50-Jährigen. Die Steigerung der Quote der Studienberechtigten konnte also in Westdeutschland<br />

– infolge von Studienverzicht und -abbruch – nicht in eine Steigerung der Akademikerquoten umgesetzt<br />

werden.<br />

Der Vergleich der universitären Abschlussquoten und der Abschlussquoten der Ausbildungsstätten,<br />

die in der DDR den Fachhochschulen in etwa entsprachen, zwischen dem früheren Bundesgebiet<br />

und der ehemaligen DDR, den die Mikrozensusauswertung gestattet, wirft noch einmal ein<br />

besonderes Schlaglicht auf den west<strong>deutsche</strong>n Ertrag der Expansion der abiturführenden Bildungswege.<br />

In allen Jahrgangsgruppen der 1998 über Dreißigjährigen liegt die universitäre Abschlussquote<br />

im Gebiet der früheren DDR höher als in dem der damaligen Bundesrepublik – und<br />

dies, obwohl die Quote der an Universitäten Studienberechtigten zu Zeiten der DDR zwischen nur<br />

12% bis 14% pendelte.<br />

Dieser Befund, der des ‚Verpuffens‘ der west<strong>deutsche</strong>n Bildungsexpansion und der des damit verbundenen<br />

Gleichziehens bei der Ausbildung akademisch Qualifizierter mit der ost<strong>deutsche</strong>n Entwicklung<br />

zu Zeiten der DDR, eröffnet eine schul- und hochschultheoretischen Perspektive: Interpretieren<br />

lässt sich diese Entwicklung als eine Verlagerung schulischer Selektivität in den voruniversitären<br />

und in den universitären Bereich. Zeitlich versetzt zur Öffnung der Gymnasien sowie<br />

zum Ausbau alternativer Wege zum Abitur und zum Abbau schulinterner Selektivität erhöhte sich<br />

faktisch – auf dem Weg der Selbsteleminierung eines Teils der Studienberechtigten – die Eingangsselektivität<br />

der Hochschulen. Dies war verbunden mit einem Ausbau der universitären internen<br />

Selektivität. In einem Zusammenspiel von reduzierter Verwertung der Studienberechtigungen<br />

und hochschulinterner Selektivität wurde so die schulische Bildungsexpansion konterkariert und im<br />

Ertrag nahezu aufgehoben. Da die Verlagerung der Selektionsfunktion vom Eingang in die Gymnasien<br />

und vom Durchgang durch sie hin zum Übergang zu den Universitäten und zum Durchlauf<br />

durch diese mit einer massiven Steigerung der Verweilzeit junger Menschen im Bildungssystem<br />

verbunden war und weiter ist, verstärkt das ‚höhere‘ Bildungssystem (abiturführende Bildungswege<br />

und Universitäten) seine Absorptionsfunktion. Damit erbringt es insbesondere zwei Leistungen: Es<br />

entlastet den Arbeitsmarkt und es bedient nicht mehr ausschließlich das akademische, sondern<br />

das mittlere Qualifikations- und Beschäftigungssegment. Zu Zeiten einer Überfüllung des akademischen<br />

Arbeitsmarktes mag dies funktional gewesen sein, angesichts eines aufziehenden Mangels<br />

an akademisch Qualifizierten kann sich dies als problematisch erweisen.<br />

- Chancenverteilung in der Bildungsexpansion<br />

Die bisherige Analyse konnte darstellen, dass die Bildungsexpansion Gewinner und Verlierer<br />

kennt. Auf der einen Seite stehen all die, die auf ihrem Weg durch das Bildungs- und Ausbildungssystem<br />

Hochschulabschlüsse erwerben konnten und die damit über die vergleichbar besten Arbeitsmarktperspektiven<br />

verfügen. Diese Gruppe hat in der Altersgruppe der 30- bis 34-Jährigen im<br />

Westen des Landes einen Anteil von 15% und im Osten einen Anteil von 14%. Ihr steht die Gruppe<br />

der ‚Verlierer‘ des Expansionsprozesses gegenüber, die Gruppe der jungen Erwachsenen, die keinen<br />

Berufsbildungsabschluss erwerben konnte: Sie hält bei den 20- bis 24-Jährigen im Westen des<br />

Landes 14% und im Osten Deutschlands 9%. Diese Gruppe hat im Vergleich zu den anderen Qualifikationsgruppen<br />

die geringsten Chancen zur Teilhabe an Erwerbsarbeit.<br />

Die Wahrscheinlichkeit, zu einer dieser beiden hier gegenübergestellten bzw. zu den dazwischen<br />

rangierenden Gruppen zu gehören, ist nun keineswegs für alle Teilgruppen der Gesellschaft gleich.<br />

Auch nach den Jahren der Bildungsexpansion wirkt das <strong>deutsche</strong> Bildungs- und Ausbildungssystem<br />

in einem hohen Maße daran mit, dass die Kinder unterschiedlicher Gruppen mit unterschiedlicher<br />

Wahrscheinlichkeit zu unterschiedlichen Qualifikationen gelangen (vgl. Klemm 2003). <strong>Das</strong><br />

damit angesprochene Ausmaß von Gleichheit und Ungleichheit, so wie es sich im <strong>deutsche</strong>n Bildungssystem<br />

an der Wende zum 21. Jahrhundert darstellt, lässt sich unter Bezug auf eine ‚Kunstfigur’,<br />

die in den bildungspolitischen Debatten der sechziger Jahre eine große Rolle spielte, beschreiben.<br />

Damals galt das ‚katholische Arbeitermädchen vom Lande’ gleichsam als Inkarnation<br />

aller denkbaren Ungleichheiten im Bildungssystem. Diese Kunstfigur sollte auf vier Ungleichheiten<br />

aufmerksam machen, die das west<strong>deutsche</strong> <strong>Schulsystem</strong> dieser Jahre charakterisierten, nämlich<br />

auf<br />

37


- konfessionelle,<br />

- schichtspezifische,<br />

- geschlechtsspezifische und<br />

- regionale Unterschiede.<br />

Die Entwicklungen in diesen vier Feldern von Ungleichheit sind seither sehr unterschiedlich verlaufen.<br />

Im Vorgriff auf die folgende differenziertere Darstellung dieser Verläufe lässt sich feststellen,<br />

dass konfessionsspezifische Ungleichheit völlig an Bedeutung verloren hat, während die Ungleichheit<br />

zwischen <strong>deutsche</strong>n Kindern und Kindern fremder Ethnien infolge der Arbeitsmigration seit den<br />

sechziger Jahren zu einem neuen und bedeutenden Element gesellschaftlicher Ungleichheit geworden<br />

ist.<br />

- Mädchen und junge Frauen auf der ‚Überholspur’<br />

Noch in den sechziger Jahren, während der Startphase der Bildungsreform, waren Mädchen im<br />

<strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong> eindeutig benachteiligt, wenn Benachteiligung am Erreichen von Schulabschlüssen<br />

gemessen wird. Ein wichtiger Ertrag der Expansions- und Reformjahre ist es, dass Mädchen<br />

im allgemein bildenden <strong>Schulsystem</strong> mit den Jungen gleichgezogen und dass sie diese z.T.<br />

auch deutlich überholt haben:<br />

- Mädchen sind 2000 in Deutschland unter den Absolventen ohne Schulabschluss (35%) und<br />

mit Hauptschulabschluss (42%) deutlich unterrepräsentiert. Bei den Absolventen mit einem<br />

mittleren Schulabschluss (52%) stellen sie ebenso wie bei denen mit Allgemeiner Hochschulreife<br />

(55%) die Mehrheit, bei denen mit Fachhochschulreife (49%) haben die jungen Frauen<br />

inzwischen mit den jungen Männern gleichgezogen (BMBF 2002, S. 92 f.).<br />

- Der für die Mädchen insgesamt zu beobachtende Prozess des Gleichziehens und Überholens<br />

hat sich in allen sozialen Schichten vollzogen (vgl. Böttcher 1991). Er wurde für die<br />

Gruppe der Fünfzehnjährigen durch die Ergebnisse der PISA-Studie noch einmal eindrucksvoll<br />

bestätigt: Beim Leseverständnis erreichten die Mädchen in Deutschland im Durchschnitt<br />

35 Testpunkte mehr als die Jungen, während sie in Mathematik ‚nur‘ 15 Testpunkte hinter<br />

den Jungen rangierten. In den Naturwissenschaften konnten in Deutschland keine signifikanten<br />

Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gemessen werden (vgl. dazu Baumert u.a.<br />

2001, S. 251 ff.). Über die Gesamtheit der gemessenen Kompetenzen betrachtet erwiesen<br />

sich damit die Mädchen im PISA-Test im Vergleich zu den Jungen in Deutschland als leistungsstärker.<br />

Diesen Erfolg, den Mädchen und junge Frauen im allgemein bildenden <strong>Schulsystem</strong> erlangten,<br />

konnten sie allerdings beim Wechsel in die berufliche Ausbildung nur z.T. umsetzen: Ihr Anteil an<br />

den universitären Erstsemestern betrug 2000 bereits 53%, an denen der Fachhochschulen aber<br />

erst 41% (BMBF 2002, S. 166). Im Dualen System der Berufsausbildung finden sich geschlechtsspezifische<br />

Unterschiede bis heute am ausgeprägtesten: Mädchen bleiben, wie schon dargestellt,<br />

immer noch leicht häufiger ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung, die Ausbildungsplätze,<br />

die ihnen zugänglich sind bzw. die von ihnen angewählt werden, decken im Vergleich zu denen der<br />

jungen Männer zudem ein schmaleres Berufsspektrum ab. Offensichtlich bewirken familiale und<br />

schulische Sozialisation immer noch eine geschlechtsspezifische Prägung, die zu Benachteiligungen<br />

in Berufsausbildung und im Beruf beitragen (vgl. insgesamt zu den Bildungschancen von Mädchen<br />

und jungen Frauen Burkhardt 2001).<br />

- Andauernde Ungleichheit zwischen den sozialen Schichten<br />

Ein zentraler Ausgangspunkt der Schulreformbemühungen der sechziger Jahre und der Zeit danach<br />

war die immer wieder festgestellte ungleiche Chancenverteilung zwischen den Kindern aus<br />

unterschiedlichen sozialen Schichten. Dem Anspruch des demokratischen Sozialstaates, jedem<br />

seiner Mitglieder unabhängig von seiner Herkunft gleiche Lebenschancen zu bieten, stand die gesicherte<br />

Feststellung einer schichtspezifischen Zuteilung von Bildungs- und damit Lebenschancen<br />

entgegen. Diese Ungleichheit ist auch Ende der achtziger Jahre, also fünfundzwanzig Jahre nach<br />

Beginn der Reformdebatte, erheblich.<br />

Jeder Versuch, den Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft bzw. der sozialen Lage und<br />

der Beteiligung auf den unterschiedlichen Stufen des Bildungssystem quantifiziert darzustellen,<br />

stößt auf eine sehr schwierige Quellenlage. Repräsentative Daten liefern – mit zahlreichen Einschränkungen<br />

–<br />

38


- die Mikrozensusauswertungen (im Folgenden werden die der Jahre 1987, 1989 und 1998<br />

herangezogen),<br />

- das sozioökonomische Panel,<br />

- die Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerkes,<br />

- das von ‚Infratest Burke Sozialforschung‘ erstellte Berichtssystem Weiterbildung und<br />

- neuerdings die PISA-Studie.<br />

Dazu kommen – in größerer Fülle – regionale Erhebungen, die aber keine Repräsentativität beanspruchen<br />

können. Die folgende kommentierte Zusammenstellung stützt sich auf diese Quellen,<br />

bezieht sich dabei überwiegend auf das Gebiet der früheren Bundesrepublik (da die Ausdifferenzierung<br />

der sozialen Herkunft im Gebiet der früheren DDR mit den herangezogenen Kategorien der<br />

Sozialversicherung nicht zu vergleichbaren Ergebnissen führen kann) und verfährt dabei so, dass –<br />

dem Stufenaufbau des Bildungssystems folgend – Daten zur sozialen Chancenverteilung im Bildungssystem<br />

präsentiert werden. Dabei wird die soziale Herkunft weniger aus systematischen Erwägungen<br />

als wegen der Verfügbarkeit entsprechender Daten zumeist durch die Kategorien des<br />

Sozialversicherungssystems beschrieben – mit all den Problemen, die damit verbunden sind.<br />

Zum Elementarbereich:<br />

Die Auswertung des Mikrozensus’ 2000 zeigt (vgl. BMBF 2002, S. 45) für Deutschland, dass es bei<br />

der Beteiligung am Kindergarten und am Hort keine starken schichtspezifischen Ausdifferenzierungen<br />

gibt: Von den 3- bis unter 8jährigen Kindern besuchen aus Arbeiterfamilien 77% und aus Angestellten-<br />

ebenso wie aus Beamtenfamilien 82% einen Kindergarten oder einen Hort.<br />

Zum Sekundarbereich I:<br />

1989 wurde im Rahmen der Mikrozensus-Befragung zum letzten Mal erfragt, welche Bildungswege<br />

der Sekundarstufe I Jugendliche im entsprechenden Alter besuchen. Seither fehlen dazu repräsentative<br />

Daten des Mikrozensus. Die Befunde des Jahres 1989 (vgl. Böttcher 1991) weisen allerdings<br />

auf eine damals noch sehr ausgeprägte schichtspezifische Verteilung der Bildungschancen hin:<br />

- So besuchten 1989 nur 11% der Kinder aus Familien, deren Haushaltsvorstand Arbeiter bzw.<br />

Arbeiterin war, ein Gymnasium – bei einer Beteiligungsquote der gesamten Bevölkerung in<br />

Höhe von 29% und gegenüber 58% der Kinder aus Beamtenfamilien.<br />

- Bei der Realschule dagegen entspricht die Beteiligungsquote der Arbeiterkinder mit 26% in<br />

etwa der der Gesamtpopulation (26%). Zur Realschule lässt sich feststellen, dass die Beteiligung<br />

an diesem Bildungsgang mit Werten zwischen 25% und 30% bei allen betrachteten Sozialgruppendicht<br />

beieinander liegt.<br />

- Ein der gymnasialen Bildungsbeteiligung entgegenstehendes Bild ergibt sich für die Hauptschule:<br />

Dorthin wechseln nur 13% der Beamten-, aber 58% aller Arbeiterkinder.<br />

<strong>Das</strong>s die Gruppe der Arbeiterkinder mit ihrer so offenkundigen Bildungsbenachteiligung keine<br />

Randgruppe der Gesellschaft darstellt, zeigt ein Blick auf die schichtspezifische Zusammensetzung<br />

eines Altersjahrgangs (vgl. Böttcher 1991, S. 153): 1989 stammten 38% aller Dreizehn- und Vierzehnjährigen<br />

aus Arbeiter-, 28% aus Angestellten- und 10% aus Beamtenfamilien. Die übrigen<br />

Jugendlichen kamen aus Familien, in denen der Familienvorstand selbständig oder nicht erwerbstätig<br />

war. <strong>Das</strong> Muster der schichtspezifischen Bildungsbeteiligung, das in diesen Daten zum Ausdruck<br />

kommt, wiederholt sich bei einer geschlechtsspezifischen Betrachtung der Bildungsbeteiligung<br />

in der Sekundarstufe I: In der Gruppe der Jungen liegen ebenso wie in der der Mädchen die<br />

Kinder aus Beamtenfamilien vor denen aus Angestelltenfamilien, die wiederum die Kinder aus Arbeiterfamilien<br />

übertreffen.<br />

Es wäre mehr als voreilig, die gemessenen schichtspezifischen Ausprägungen bei der Bildungsbeteiligung<br />

aus der ökonomischen Lage der jeweiligen Familien zu erklären. Eine ältere Auswertung<br />

des Mikrozensus’ 1987, die in ihren zentralen Ergebnissen auch derzeit noch Gültigkeit haben dürfte,<br />

hat gezeigt, dass innerhalb vergleichbarer Einkommensgruppen die Bildungsbeteiligung mit der<br />

Stellung des Berufs des Familienvorstandes variiert (vgl. Klemm u.a. 1990, S. 91 f. sowie zur sozialisationstheoretischen<br />

Erklärung Rolff 1997): In jeder der drei bei der Untersuchung ausgewählten<br />

Einkommensgruppen ist die Bildungsbeteiligung der Arbeiterkinder deutlich geringer als die der<br />

Kinder aus Angestellten- und Beamtenfamilien. Darüber hinaus gilt, dass ihr Anstieg bei den Kindern<br />

aus Arbeiterfamilien von der unteren zur mittleren Einkommensgruppe nur sehr schwach ausfällt<br />

(bei der gymnasialen Beteiligungsquote von 11% auf 13%), während die Bildungsbeteiligungs-<br />

39


quote bei den Angestellten- und Beamtenkindern unverkennbar stärker ansteigt (bei der Gymnasialquote<br />

der Beamtenkinder steigt der Wert von 23% auf 52%).<br />

<strong>Das</strong>s es sich bei den Daten vom Ende der achtziger Jahre nicht um längst überholte Werte handelt,<br />

lässt sich – angesichts der mangelnden aktuelleren Angaben aus Mikrozensus-Erhebungen –<br />

mit Hilfe einer Auswertung des sozioökonomischen Panels belegen (vgl. Büchel u.a. 2000). Diese<br />

Daten, die sich auf Durchschnittswerte der Jahre 1986 bis 1996 beziehen, bestätigen – auf leicht<br />

unterschiedlichem Niveau und bei nicht völlig deckungsgleicher Klassifizierung – die Ergebnisse<br />

des Mikrozensus 1989: Beim Gymnasium etwa findet sich eine Spannweite der schichtspezifischen<br />

Quoten, die von 17% bei den Arbeiterkindern bis hin zu 74% bei den Kindern von Beschäftigten im<br />

öffentlichen Dienst reicht. Auch hier bietet sich bei der Hauptschule das umgekehrte Bild. durchgängig<br />

leicht höheren Werte der Daten des sozioökonomischen Panels gegenüber denen des Mikrozensus<br />

erklären sich zum Teil auch dadurch, dass erstere den Gesamtschulbereich nicht einbeziehen,<br />

dass die dort zugrunde gelegte Grundgesamtheit also nur aus den Lernenden besteht, die<br />

Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien besuchen.<br />

<strong>Das</strong>s die schichtspezifische Ausprägung der Bildungsbeteiligung in dem in Deutschland zu beobachtenden<br />

Ausmaß kein unveränderbarer Tatbestand sein muss, belegt die Ende 2000 vorgelegte<br />

PISA-Studie. Bei den 15-Jährigen, bei Jugendlichen am Ende ihrer Schulpflichtzeit im allgemein<br />

bildenden Schulwesen also, findet sich in jedem der 31 an der PISA-Untersuchung teilnehmenden<br />

Länder ein unverkennbarer Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den individuell<br />

erreichten Testleistungen. In keinem der 31 Länder ist dieser Zusammenhang aber so eng wie in<br />

Deutschland. Im Kompetenzbereich ‚Leseverständnis‘ z.B. beträgt der Unterschied zwischen der<br />

durchschnittlichen Lesekompetenz aus Familien des oberen Viertels und der aus Familien des unteren<br />

Viertels der Sozialstruktur 111 Testpunkte. In Finnland, dem Land mit den ‚lesestärksten‘<br />

Jugendlichen, liegt dieser Unterschied bei nur 53, in Japan sogar bei nur 27 Punkten (vgl. Baumert<br />

u.a. 2001, S. 385).<br />

Die Autoren der <strong>deutsche</strong>n PISA-Studie machen für das schichtspezifische Auseinanderklaffen der<br />

Testleistungen auch die <strong>deutsche</strong> Schulstruktur mit ihrer frühen Aufteilung der Schülerinnen und<br />

Schüler auf unterschiedliche Schultypen verantwortlich. Sie formulieren:<br />

„Die Analyse sozialer Disparitäten auf der Grundlage der PISA-Ergebnisse ergibt, dass es am Ende der<br />

Grundschulzeit beim Übergang in die weiterführenden Schulformen zu gravierenden sekundären sozialen<br />

Disparitäten der Bildungsbeteiligung kommt. Sie treten in Folge der differenziellen Förderung in den einzelnen<br />

Bildungsgängen am Ende der Sekundarschulzeit als verstärkter Zusammenhang zwischen Sozialschicht<br />

und den gemessenen Kompetenzen in Erscheinung“ (ebenda S. 360).<br />

Mit Blick auf die Mathematikleistungen wird der hier angesprochene Zusammenhang konkretisiert:<br />

„Auch bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und identischem sozioökonomischem Status ist die<br />

Leistung eines Gymnasiasten um 49 Punkte höher als die Leistung eines Hauptschülers“ (ebenda<br />

S. 182).<br />

Zum Sekundarbereich II:<br />

Da der Mikrozensus im Bereich der Sekundarstufe II – anders als in dem der Sekundarstufe I – die<br />

Beteiligung an unterschiedlichen Bildungswegen weiterhin abfragt, lässt er sich hier auch wieder<br />

mit aktuellen Daten heranziehen. Allerdings muss dabei auf eine begriffliche Unschärfe im Fragebogen<br />

hingewiesen werden. In Frage 18a des Erhebungsinstruments wird hinsichtlich des Besuchs<br />

allgemein bildender Schulen gefragt: „Um welche Schule oder Hochschule handelt es sich dabei:<br />

Klassenstufe 11 bis 13 (gymnasiale Oberstufe)?“ Aus den Antworthäufigkeiten ergibt sich, dass<br />

1998 insgesamt 38% der 17 bis unter 19-Jährigen eine gymnasiale Oberstufe besucht haben. Tatsächlich<br />

wissen wir aus der Schulstatistik (also aus einer Totalerhebung – vgl. bmbf 2000, S. 26 f.),<br />

dass aus diesen beiden Altersjahrgängen 1998 nur 25% eine gymnasiale Oberstufe besuchten.<br />

Aus dem Vergleich dieser beiden stark abweichenden Daten und unter Hinzuziehung anderer<br />

Schulstatistiken lässt sich vermuten, dass die Beantworter der Frage 18a des Mikrozensusfragebogen<br />

unter ‚gymnasialer Oberstufe‘ auch die Fachgymnasien und insbesondere die zur Fachhochschulreife<br />

führenden Fachoberschulen verstanden haben. Anders lässt sich die Beteiligungsquote<br />

der Gesamtpopulation in Höhe von 38% nicht nachvollziehen. Es kann also davon ausgegangen<br />

werden, dass die Mikrozensusdaten zur Bildungsbeteiligung sich auf diesen erweiterten<br />

Oberstufenbegriff beziehen. Sie belegen dann, dass 1998 auf der einen Seite 22% der Arbeiterkinder,<br />

aber 64% der Beamtenkinder in diesen zur Fachhochschulreife oder zur allgemeinen Hoch-<br />

40


schulreife führenden Bildungswegen lernten, dass also auch auf dieser Stufe des Bildungswesens<br />

eine ausgeprägte schichtspezifische Bildungsbeteiligung zu beobachten ist.<br />

Zum Hochschulbereich:<br />

Die Schichtspezifik der Bildungsbeteiligung der Oberstufe setzt sich ungebrochen beim Zugang zu<br />

Fachhochschulen und Universitäten fort. Die Daten zur Bildungsbeteiligung der 19- bis 24-<br />

Jährigen, die in der 16. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes dokumentiert sind, belegen<br />

dies eindringlich: Während 2000 von den Beamtenkindern 54% Universitäten und weitere 19%<br />

Fachhochschulen besuchten, fanden im gleichen Jahr nur jeweils 6% der Arbeiterkinder den Weg<br />

zu Fachhochschulen und Universitäten (vgl. Schnitzer u.a. 2001). Daten zu schichtspezifischen<br />

Hochschulabschlussquoten liegen bedauerlicherweise nicht vor.<br />

Zum Bereich der Weiterbildung:<br />

Ein weiteres und was die Stufen des Bildungssystems angeht letztes Mal finden wir das nun schon<br />

vertraute Muster schichtspezifischer Bildungsbeteiligung im Bereich der Weiterbildung. Eine Analyse<br />

dieses Bereichs – hier für Deutschland insgesamt - zeigt (bmbf 1999), dass 1997 hinsichtlich<br />

der Beteiligung an der allgemeinen ebenso wie an der beruflichen Weiterbildung die schon bekannte<br />

Stufung von der Gruppe der Arbeiter (40%) über die der Selbständigen (55%) und Angestellten<br />

(63%) hin zu der der Beamten (72%) zu verzeichnen ist. Auffallend daran ist, dass diese Weiterbildungsbeteiligung<br />

auf einem – im Vergleich zu früheren Jahren – sehr hohen Niveau stattfindet und<br />

dass die schichtspezifischen Unterschiede gegenüber denen in den allgemein bildenden Schulen<br />

und in den Hochschulen erkennbar schwächer ausgeprägt sind.<br />

Zu beruflichen Karriereaussichten:<br />

Aber auch die, denen es – gleichsam gegen ihre soziale Herkunft – gelungen ist, am Ende des<br />

Parcours durch Bildung und Ausbildung in der ‚Spitzengruppe‘ der erfolgreichen Teilnehmer zu<br />

landen, verspüren weiterhin den ‚langen Arm des kulturellen Kapitals‘. Wie hartnäckig dieses den<br />

Kindern in die Wiege gelegte kulturelle Kapital selbst erfolgreiche Ausgleichsbemühungen in Schule<br />

und Hochschule überdauert, macht eine aktuelle Studie deutlich. In einer neueren Untersuchung<br />

über die soziale Herkunft, die Ausbildungswege und die beruflichen Karrieren haben die Darmstädter<br />

Soziologen Hartmann und Kopp – bezogen auf die Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und<br />

1985 – den weiteren Berufsweg von 6.500 promovierten Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern<br />

verfolgt. Für diese Untersuchung wurden zur Bestimmung der sozialen Herkunft der<br />

Promovierten – gestützt auf den väterlichen Beruf – drei Untergruppen gebildet: Unterteilt wurde in<br />

- ‚Arbeiterklasse/Mittelschicht‘,<br />

- ‚gehobenes Bürgertum‘ und<br />

- ‚Großbürgertum‘<br />

(vgl. im Einzelnen dazu Hartmann/Kopp 2001, S. 440 ff). <strong>Das</strong> Untersuchungsergebnis ist ernüchternd:<br />

In Führungspositionen von Unternehmen waren aus den untersuchten Promotionsjahrgängen<br />

aus der Gruppe derer mit der sozialen Herkunft<br />

- ‚Arbeiterklasse/Mittelschicht‘ 9% gelangt,<br />

- aus der Gruppe ‚gehobenes Bürgertum‘ 13% und<br />

- aus der Gruppe ‚Großbürgertum‘ 19%.<br />

Betrachtet man nur die Führungspositionen in Spitzenunternehmen, so fällt die herkunftsspezifische<br />

Verteilung noch deutlicher aus:<br />

- Den 2% aus der Gruppe ‚Arbeiterklasse/Mittelschichten‘ standen<br />

- 4% aus dem ‚gehobenen Bürgertum‘ und<br />

- 6% aus dem ‚Großbürgertum‘ gegenüber.<br />

Die damit belegte herkunftsspezifische Spreizung hat im Verlauf des Untersuchungszeitraums im<br />

Bereich der Führungspositionen der Spitzenunternehmen nicht ab-, sondern noch zugenommen:<br />

Während die Chancen von Kindern aus dem ‚Großbürgertum‘, in diese Positionen zu gelangen, in<br />

den 50ger Jahren noch 1,9 mal so hoch waren wie die Chancen der Kinder aus der ‚Arbeiterklasse/Mittelschicht‘,<br />

waren ihre Chancen Mitte der siebziger Jahre fünfmal höher. Für den Promotionsjahrgang<br />

1985 sind noch keine Angaben gemacht, da die Absolventen dieses Jahrgangs Ende der<br />

neunziger Jahre noch keine Führungspositionen in Spitzenunternehmen erklommen hatten.<br />

41


Diese Entwicklung zur Chancenverschlechterung für Kinder aus der ‚Arbeiterklasse/Mittelschicht‘,<br />

die sich auch bei einfacheren Führungspositionen, freilich weniger eindeutig, vollzieht, lässt sich –<br />

zumindest bietet sich diese Hypothese an – damit erklären, dass sich vor den Jahren der Bildungsexpansion<br />

infolge der starken Expansion im Bereich hochqualifizierter Arbeit die Chancen<br />

auch für Kinder aus bildungsfernen Schichten günstiger gestalteten als in und nach den Jahren der<br />

Expansion. Bestätigung findet diese Hypothese darin, dass die Chancen, einen Aufstieg in Führungspositionen<br />

zu schaffen, von den fünfziger bis hin zu den achtziger Jahren für alle Promovierten<br />

gesunken ist. Unbeschadet dieser Entwicklung im Zeitverlauf gilt die zusammenfassende Bemerkung<br />

von Hartmann/Knopp: „Durchgängig bleibt jedoch für alle Jahrgänge festzuhalten, dass<br />

die soziale Herkunft die beruflichen Karriereaussichten ganz massiv beeinflusst.“ (S. 446)<br />

Insgesamt zeigt diese Durchmusterung durch die verfügbaren empirischen Befunde, dass auch am<br />

Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Zusammenhang von sozialer Herkunft sowie<br />

Bildungs-, Ausbildungs- und Karriereweg nahezu ungebrochen ist.<br />

- Abgeschwächte regionale Ungleichheit<br />

Neben geschlechts- und schichtspezifischen Ungleichheiten waren es die regionalen Disparitäten,<br />

die vor dem Hintergrund des Einforderns von Chancengleichheit Schulreformer anspornten: Durch<br />

einen ‚flächendeckenden‘ Ausbau des Schulnetzes sollte regionale Ungleichheit gemindert werden.<br />

Trotz aller Anstrengungen und trotz aller Erfolge bestehen jedoch Mitte der neunziger Jahre unverkennbare<br />

regionale Disparitäten – zwischen den Bundesländern ebenso wie innerhalb der Länder.<br />

Vergleicht man z.B. die Abiturquoten (Anteil der Abiturienten am Altersjahrgang) der Länder untereinander,<br />

so findet sich für 2001 bei den Flächenstaaten der früheren Bundesrepublik eine Spannweite<br />

von<br />

- 20% (Bayern) bis hin zu<br />

- 30% (Baden-Württemberg).<br />

Die neuen Bundesländer bewegen sich zwischen dem mittleren und oberen Bereich der Werte der<br />

alten Flächenstaaten (vgl. zu diesen Daten KMK 2002, S.373). Auch verweist eine Analyse der<br />

regionalen Verteilung der Quoten derer, die die Schulen ohne zumindest einen Hauptschulabschluss<br />

verlassen, auf beachtliche Ausdifferenzierungen:<br />

- In den neuen Ländern (unter Einschluss Berlins) liegt die Quote derer ohne Schulabschluss<br />

bei 12%,<br />

- in den alten dagegen ‚nur‘ bei 9%.<br />

Zwischen den einzelnen Bundesländern gibt es eine erkennbare Spreizung:<br />

- zwischen den Flächenstaaten von 7% (Nordrhein-Westfalen) bis hin zu 15% (Sachsen-<br />

Anhalt),<br />

- zwischen den Stadtstaaten von 11% in Bremen bis zu 13% in Hamburg (eigene Berechnungen<br />

nach KMK 2002 und Daten des Statistischen Bundesamtes).<br />

Diese regionale Ausdifferenzierung bei der Gruppe der Leistungsschwächsten weist auch die inner<strong>deutsche</strong><br />

PISA-Auswertung auf – wenn auch mit einer deutlich anderen Reihenfolge unter den<br />

Bundesländern. Dort werden die Anteile der 15-Jährigen an den einzelnen Kompetenzstufen länderspezifisch<br />

ausgewiesen. Dabei zeigt sich bei den Flächenstaaten im Bereich des Leseverständnisses<br />

z. B., dass die Jugendlichen, die die Kompetenzstufe I als unterste von fünf Kompetenzstufen<br />

nicht erreichen, in Bayern nur 6% ihres Jahrgangs ausmachen, in Rheinland-Pfalz dagegen<br />

10% und in Sachsen-Anhalt sogar 13% (Baumert u.a.2002, S. 72).<br />

<strong>Das</strong>s die regionalen Unterschiede bei der Bildungsbeteiligung nicht ausschließlich Ausdruck landesspezifischer<br />

Entwicklungen sind, zeigen genauere regionalisierte Analysen der Bildungsbeteiligung<br />

und der Schulabschlussquoten in unterschiedlichen Regionen ein und desselben Bundeslandes:<br />

Wenn man z.B. die regionalen Hauptschulquoten Bayerns, die Quoten also, die den Anteil der<br />

Hauptschüler und -schülerinnen in achten Klassen an den Schülern und Schülerinnen der achten<br />

Klassen aller Schultypen angibt, betrachtet, so zeigt sich für das Jahr 1996 (vgl. Klemm/Strücken<br />

1999, S. 58), dass es dort unerwartet hohe Unterschiede gibt: Zwischen den sieben Regierungsbezirken<br />

findet sich eine Spannweite von 9% (Oberbayern 39%, Niederbayern 48%). Zwischen den<br />

kreisfreien Städten beträgt die größte Differenz 27% (München 32%, Hof 59%) und zwischen den<br />

Landkreisen beträgt sie 31% (Landkreis München 24%, Landkreis Altötting 55%). Vergleichbar<br />

42


starke regionale Ausdifferenzierungen innerhalb eines einzelnen Bundeslandes belegen auch die<br />

Daten (für 1996) zu den Anteilen der Schulabsolventen ohne Hauptschulabschluss am jeweiligen<br />

Altersjahrgang aus Bayern und Baden-Württemberg (vgl. Klemm 2001, S. 10 f.): Die Maximal- und<br />

Minimalwerte zwischen den Regierungsbezirken Bayerns reichen von 7% (Oberpfalz) bis hin zu<br />

9% (Mittelfranken), die zwischen den Kreisen und kreisfreien Städten von 3% (Landkreis Landshut)<br />

bis 19% (Kreisstadt Hof). Weniger stark ausgeprägt sind die Unterschiede in Baden-Württemberg:<br />

Hier reichen sie von 5% im Landkreis Biberach bis zu 12% in Mannheim. Eine ähnliche regionale<br />

Spannweite findet sich im Schuljahr 2000 in Nordrhein-Westfalen: Dem niedrigsten Wert von 3%<br />

im Kreis Coesfeld steht der höchste Wert von 10% in Gelsenkirchen gegenüber (unveröffentlichte<br />

Berechnungen des Verfassers).<br />

Auch wenn es richtig ist, dass ein Teil der hier aufgezeigten regionalen Disparitäten nur auf den<br />

ersten Blick in den Regionen ihre Ursachen haben und dass ein genaueres Analysieren zu der<br />

Einsicht führt, dass sich insbesondere Erklärungsansätze, die auf die soziale und ethnische Zusammensetzung<br />

der Bevölkerung konkreter Regionen abheben, mit regional ansetzenden Erklärungen<br />

überlappen, so bleibt doch die Feststellung: Durch den regionalen Kontext, in dem Heranwachsende<br />

leben, wird ihre Entwicklung im Bildungs- und Ausbildungssystem nach wie vor mit<br />

geprägt.<br />

- Die neuen Benachteiligten: Die Kinder der Arbeitsmigranten<br />

Seit dem Ende der sechziger und frühen siebziger Jahre hat sich eine zusätzliche Gruppe gebildet,<br />

die im <strong>Schulsystem</strong> insgesamt benachteiligt ist: Dies sind die etwa 1,16 Millionen ausländischen<br />

Kinder und Jugendlichen (2000), die 9% aller Schülerinnen und Schüler in Deutschlands Schulen<br />

stellen. Sie sind überproportional in Sonder- und Hauptschulen und unterproportional in Realschulen<br />

und Gymnasien vertreten. <strong>Das</strong> Ausmaß ihrer – im Vergleich zu den Deutschen – ungleichen<br />

Bildungsbeteiligung drückt sich in den von ihnen im allgemein bildenden <strong>Schulsystem</strong> erreichten<br />

Schulabschlüssen aus (eigene Berechnungen nach KMK 2002 und BMBF 2002): 2000 erreichten –<br />

jeweils bezogen auf die entsprechenden Altersjahrgänge – 18% von ihnen keinen Schulabschluss<br />

(bei den Deutschen betrug der Vergleichswert 9%), 42% erreichten einen Hauptschulabschluss<br />

(Deutsche: 29%), 32% einen mittleren Abschluss (Deutsche: 50%) und 13% die allgemeine oder<br />

die Fachhochschulreife (Deutsche: 40%). Dieses im Vergleich zur <strong>deutsche</strong>n Bevölkerung insgesamt<br />

zu beobachtende Zurückbleiben beim Erlangen von Schulabschlüssen führt – gerade in Zeiten<br />

knapper Ausbildungsplätze – zu dem bereits beschriebenen hohen Anteil junger Ausländer<br />

ohne abgeschlossene Berufsausbildung.<br />

Eine hoch aktuelle und im Vergleich zu den Auswertungen von Mikrozensus-Daten deutlich differenziertere<br />

Analyse der Bildungsbeteiligung und der schulischen Erfolge der Kinder von Arbeitsmigranten<br />

bietet die jüngst vorgelegte PISA-Studie. Dort werden zum Zweck der differenzierenden<br />

Analyse die in den Kompetenzbereichen ‚Leseverständnis‘, ‚Mathematik‘, ‚Naturwissenschaften‘<br />

und ‚Problemlösen bei Planungsaufgaben‘ von drei Gruppen erbrachten Leistungen nebeneinander<br />

gestellt:<br />

- von Jugendlichen ohne Migrationsgeschichte (definiert als Jugendliche, deren Eltern beide in<br />

Deutschland geboren wurden),<br />

- von Jugendlichen, bei denen ein Elternteil in Deutschland geboren wurde,<br />

- und schließlich von Jugendlichen, deren Eltern beide nicht in Deutschland geboren wurden.<br />

Für alle vier untersuchten Kompetenzbereiche ergab sich, dass Jugendliche ohne Migrationsgeschichte<br />

und Jugendliche mit einem in Deutschland geborenen Elternteil in ihren Schulleistungen<br />

kaum zu unterscheiden sind, dass aber Jugendliche, deren Eltern beide außerhalb Deutschlands<br />

zur Welt gekommen sind, dramatisch schlechtere Leistungen erbringen. Beim ‚Leseverständnis‘<br />

z.B. beträgt der Abstand zwischen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund und solchen, bei denen<br />

beide Eltern nicht in Deutschland geboren sind, 74 Testpunkte – das entspricht dem Abstand<br />

zwischen dem Durchschnittswert des ‚Spitzenreiters‘ Finnland und dem des auf Platz 26 (von insgesamt<br />

31 teilnehmenden Ländern) rangierenden Portugal (Baumert u.a. 2001, S. 107).<br />

Auch wenn die aktuellen Daten zum Übergang ausländischer Jugendlicher zu den weiterführenden<br />

Schulen (in Nordrhein-Westfalen besuchten z.B. 1998/99 13% aller ausländischen Kinder der siebten<br />

Klassen Gymnasien – vgl. dazu und insgesamt zu den Bildungschancen ausländischer Jugendlicher<br />

Karakasoglu-Aydin 2001) erwarten lassen, dass es in dieser Bevölkerungsgruppe zu<br />

einem Anstieg der Bildungsbeteiligung kommen wird, so ist gleichwohl noch auf Jahre hinaus mit<br />

einer massiven Ungleichheit zu rechnen: Gerade wegen der von allen Experten erwarteten weiter-<br />

43


hin starken Zuwanderung in das Bundesgebiet wird es einen stetigen ‚Strom’ junger Menschen<br />

geben, die im <strong>deutsche</strong>n Qualifikationssystem jeweils ‚ganz unten’ einsteigen müssen. Daher wird<br />

es auf Jahrzehnte hinaus notwendig bleiben, immer wieder neu junge ausländische Menschen an<br />

Bildungsabschlüsse heranzuführen, die ihnen in Deutschland erst allgemeine und berufliche Lebenschancen<br />

erschließen werden.<br />

- Die Folgen: Bildungsbeteiligung und Lebenschancen<br />

Eine bilanzierende Durchmusterung der hier vorgestellten zentralen Daten zur Öffnung der Bildungswege<br />

und zu den damit einhergehenden Expansionsprozessen sowie zur Chancenverteilung<br />

im Bildungssystem ergibt für das endende 20. und das beginnende 21. Jahrhundert ein vergleichsweise<br />

eindeutiges Bild: Der Zulauf zu den allgemein bildenden Schulen, die dort erreichten<br />

Schulabschlüsse und die Beteiligung an beruflicher Ausbildung haben in den Jahren seit 1945 ein<br />

beachtliches Niveau erreicht. Mit der Öffnungspolitik hat es die Bundesrepublik Deutschland ermöglicht,<br />

dass eine abgeschlossene Schulbildung mit einer anschließenden Berufsausbildung in<br />

Betrieben, Schulen und Hochschulen zur Normalbiographie der Heranwachsenden werden konnte.<br />

Ein Abweichen von dieser Norm, wie es sich seit den neunziger Jahren in Folge des Mangels an<br />

Ausbildungsplätzen im Rahmen der dualen Berufsausbildung wieder verstärkt abzeichnet, wird zu<br />

Beginn des 21. Jahrhunderts als Versagen auch der Gesellschaft wahrgenommen.<br />

Innerhalb dieser so beachtlichen Expansion der Bildungsbeteiligung – auch dies gehört zu einer<br />

Bilanz – ist es aber nur teilweise gelungen, dem im Grundgesetz verankerten Chancengleichheitsgebot<br />

(vgl. dazu Jarass/Pieroth 1992) nachzukommen. Immer noch stellen das Geschlecht (bei der<br />

Berufsausbildung), die Migrationsgeschichte, die regionale und insbesondere die soziale Herkunft<br />

entscheidende Einflussfaktoren dar, wenn es um die Bildungschancen der Heranwachsenden geht.<br />

Die so offensichtlich ungleiche Verteilung von Bildungschancen trägt – dies belegt eine Durchsicht<br />

der einschlägigen Untersuchungen beeindruckend – in einem erheblichen Umfang zu einer ungleichen<br />

Verteilung von Lebenschancen bei und bestimmt somit den weiteren Lebensweg (vgl. dazu<br />

insgesamt Block/Klemm 1997, S.91-S.102). Dies soll – exemplarisch – für die Bereiche<br />

- ‚Bildungsteilhabe und Erwerbsarbeit’ sowie<br />

- ‚Bildungsteilhabe und Orientierungsvermögen’ abschließend gezeigt werden.<br />

Die Auswirkungen eines ‚hohen’ Schulabschlusses für die Teilhabe am Erwerbsleben sind unverkennbar:<br />

Sie zeigen sich beim Eintritt in eine Berufsausbildung, bei der Teilhabe an Erwerbsarbeit<br />

und beim erzielbaren Einkommen. Gerade in Phasen des Ausbildungsplatzmangels wird deutlich,<br />

wie stark die Chancen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten, mit dem erworbenen Schulabschluss<br />

zusammenhängen. So erhielt Ende der 1990er Jahre von den Schulabsolventen ohne Schulabschluss<br />

lediglich ein Sechstel einen Ausbildungsplatz (vgl. Bellenberg/Klemm 2000, S. 69). Die<br />

darin zum Ausdruck kommende Verbindung zwischen Schulbildung und Ausbildungschancen setzt<br />

sich in dem ebenso beachtlichen Zusammenhang zwischen Ausbildungsabschluss und Arbeitslosigkeit<br />

fort: 1998 betrug die Arbeitslosenquote in Deutschland insgesamt 11%. In der Gruppe der<br />

Erwerbstätigen ohne formalen Berufsbildungsabschluss lag sie dagegen bei 26%, bei den Erwerbstätigen<br />

mit Hochschulabschluss dagegen bei ‚nur’ 3% (bmbf 2001, S.415). Schließlich schlagen<br />

sich Schul- und Berufsausbildung im erzielbaren Einkommen nieder: Wenn das Einkommen<br />

der Absolventen der dualen Ausbildung für 2000 mit 100% angesetzt wird, so beläuft sich das entsprechende<br />

Einkommen der Erwerbstätigen ohne abgeschlossene Berufsausbildung auf 75%; Erwerbstätige<br />

mit einer Ausbildung an Fachschulen oder an Berufsakademien erreichen 115%, solche<br />

mit einem Hochschulabschluss dagegen 163%. Eindringlich belegt dies die ökonomischen<br />

Folgen der unterschiedlichen Teilhabe an Bildung und Ausbildung (vgl. OECD 2002, S.148).<br />

Der individuelle Nutzen von Bildung und damit die Folgen ungleicher Bildungsbeteiligung bleiben<br />

aber keineswegs auf den im engeren Sinne ökonomischen Bereich beschränkt. Die Teilhabe an<br />

Bildung stellt den Einzelnen kognitive Kompetenzen zur Verfügung, die – neben ihrer Bedeutung<br />

für den Zugang zum Erwerbsleben – als Orientierungswissen in einem komplexer werdenden Alltag<br />

von hoher Bedeutung sind. Dies soll mit drei Beispielen belegt werden:<br />

Im Verlauf der Bildungsexpansion konnte die Bildungsbeteiligung der Mädchen und jungen Frauen<br />

drastisch gesteigert werden. Inzwischen haben sie – wie gezeigt wurde - in allen Bereichen der<br />

Schulen die Jungen und jungen Männer überholt. Ende der 1990er Jahre stellen sie auch bei den<br />

Erstsemestern der Universitäten die Mehrheit. Dies hat – trotz aller Einbrüche, die die Frauen beim<br />

Übergang aus Schul- und Berufsausbildung in das Erwerbsleben erfahren – zu einer Stärkung ihrer<br />

individuellen Orientierungsmöglichkeiten beigetragen. Die Belege dafür sind unübersehbar: Die<br />

44


Erwerbsbeteiligung der Frauen ist während der Jahre der Bildungsexpansion und auch in der Phase<br />

der sich aufbauenden Massenarbeitslosigkeit in den 1970er und 1980er Jahren stark angestiegen<br />

– und zwar in Abhängigkeit vom erreichten Ausbildungsabschluss. 2001 betrug die Erwerbsquote<br />

der Frauen im Alter von über 25 Jahren in der Gruppe ohne Ausbildungsabschluss 50%, in<br />

der Gruppe mit Hochschulabschluss aber 83% (vgl OECD 2002, S. 130). Diese Entwicklung hat<br />

den Frauen neue Autonomiespielräume eröffnet.<br />

Ähnlich deutlich wirkt sich die gesteigerte Bildungsbeteiligung im Gesundheitsbereich aus: Teilhabe<br />

an Bildung eröffnet, wie gezeigt wurde, einen sehr differenzierten Zugang zur Arbeitswelt. Diese<br />

ihrerseits bewirkt über ausgeprägte berufsspezifische Arbeitsbedingungen je nach Arbeitsplatz<br />

sehr unterschiedliche gesundheitliche Belastungen. Zugleich aber wirkt sich das im Bildungssystem<br />

erworbene kulturelle Kapital unmittelbar, ohne den Umweg über den Arbeitsplatz, als Wissen<br />

über Gesundheitsrisiken und als Kompetenz, gesundheitsbewusst zu leben, direkt aus. Höhere<br />

Bildung ermöglicht so insgesamt eine gesundheitsgerechtere Lebensführung. Was das bedeutet,<br />

hat die Enquêtekommission des Deutschen Bundestages „<strong>Struktur</strong>reform der gesetzlichen Krankenversicherung“<br />

(Enquêtekommission 1990) deutlich gemacht. Mangels entsprechender Studien<br />

aus Deutschland referierte sie Untersuchungen aus Frankreich, denen zufolge die künftige Lebenserwartung<br />

eines 35-jährigen Professors fast neun Jahre über derjenigen eines gleichaltrigen<br />

Hilfsarbeiters liegt.<br />

Auch im Bereich der politischen Partizipation verweisen deutliche empirische Befunde auf einen<br />

unübersehbaren Zusammenhang zwischen zum Beispiel politischem Interesse und individuell erreichten<br />

Bildungsabschlüssen. Eine eigene Auswertung der Allbus-Erhebung aus dem Jahr 1998<br />

belegt, dass in Deutschland unter allen über 18-Jährigen das politische Interesse mit der Höhe des<br />

Schulabschlusses steigt. Ein starkes oder sehr starkes politisches Interesse äußerten aus der erwachsenen<br />

Bevölkerung ohne Schulabschluss 7%; aus der Gruppe derer mit Volks- oder Hauptschulabschluss<br />

taten dies 19%, unter den Befragten mit einem mittleren Bildungsabschluss erklärten<br />

26% ihr starkes oder sehr starkes politisches Interesse; der entsprechende Wert bei den Befragten<br />

mit Fachhochschulreife lag bei 53% und bei denen mit allgemeiner Hochschulreife mit 51%<br />

leicht darunter.<br />

Anregung zur Wiederholung<br />

1) Machen Sie sich die wesentlichen strukturellen Elemente des <strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong>s, wie<br />

es sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts darstellt, klar.<br />

2) Überlegen Sie sich eine knappe Beschreibung des Prozesses der Bildungsexpansion und<br />

prägen Sie sich einige wichtige Daten zur Bildungsbeteiligung und zum Verfehlen bzw.<br />

Erreichen von Bildungsabschlüssen ein.<br />

3) Vergegenwärtigen Sie sich die Chancenverteilung durch das Bildungssystem und beachten<br />

Sie dabei insbesondere die Aspekte von Konfession, Schicht, Geschlecht, Region und<br />

Migrationshintergrund. Prägen Sie sich dazu zentrale Daten ein.<br />

4) Machen Sie sich die Bedeutung von Bildungsteilhabe und Bildungsabschlüssen für die<br />

individuellen Lebenschancen klar.<br />

45


4. Zur Steuerung und Qualitätsentwicklung im <strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong><br />

Nach der Betrachtung der <strong>Entstehung</strong>sgeschichte und der <strong>Struktur</strong> des <strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong>s<br />

geht es in dem nun folgenden Kapitel um Fragen der Steuerung des Systems:<br />

- Dabei wird in einem ersten Schritt (Kapitel 4.1) die besondere Situation des Föderalismus’ in<br />

Deutschland herausgearbeitet. Die weit reichende Selbstständigkeit der Bundesländer, nachfolgend<br />

vor allem im Hinblick auf Bildungsfragen betrachtet, erweist sich als wichtige Erklärungsgröße<br />

für Fragen der schulischen Steuerung aus der <strong>deutsche</strong>n Perspektive; diese<br />

werden in den darauf folgenden drei Unterkapiteln wie folgt aufgegriffen und differenziert:<br />

- Kapitel 4.2 skizziert zunächst die zentralen Forschungstraditionen zur Frage der effektiven<br />

Steuerung und Entwicklung von Bildungsprozessen vom <strong>Schulsystem</strong> bis hin zur Ebene des<br />

Unterrichts. Diese Hauptfrage schulischer Entwicklung, die Akzentverschiebungen im Laufe<br />

der Zeit offenbart, erweist sich für alle Bundesländer unabhängig von ihrer Autonomie in kulturellen<br />

Fragen als gleichermaßen bedeutsam.<br />

- In diesem Kontext und verstärkt durch die unterdurchschnittlichen Leistungen <strong>deutsche</strong>r<br />

Schülerinnen und Schüler bei internationalen Leistungsvergleichen dominiert derzeit der<br />

Qualitätsbegriff von Schule die Diskussionen um die Steuerung des <strong>Schulsystem</strong>s. Kapitel<br />

4.3 versucht eine begriffliche Klärung des komplexen Begriffes ‚Qualität’ im Kontext von<br />

Schule unter Zuhilfenahme aktueller Definitionen und Schwerpunktlegungen.<br />

- <strong>Das</strong> Kapitel 4 abschließend werden unter Punkt 4.4 Instrumente der Steuerung von Schule<br />

im Sinne der Qualitätsentwicklung vorgestellt, wobei an dieser Stelle Unterschiede zwischen<br />

den Bundesländern hinsichtlich der Maßnahmen und damit verbundenen erhofften Wirkungen<br />

hervortreten. Zugleich wird herausgestellt, dass vom <strong>Schulsystem</strong> bis hin zu Einzelschule<br />

und der Klasse verschiedene Instrumente zum Einsatz kommen und diese Ebenen unterschiedlich<br />

beeinflussen können.<br />

4.1 Organe und Zuständigkeiten im kooperativen Föderalismus als formale Aspekte<br />

der Schulsteuerung<br />

In Fortführung einer weit in die <strong>deutsche</strong> Geschichte zurückreichenden Tradition kann der bundesstaatliche<br />

Föderalismus, so wie er im Grundgesetz festgelegt wurde, als eines der wichtigsten<br />

<strong>Struktur</strong>merkmale der Bundesrepublik angesehen werden. In Artikel 30 GG heißt es dazu:<br />

„Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder,<br />

soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.“<br />

Für das Bildungswesen bedeutet dies, dass für alle Fragen der Kulturpolitik und Kulturverwaltung<br />

– vom Rundfunk über die staatlichen Bibliotheken und Theater bis zur Schule und Hochschule –<br />

die Länder die gesetzgebende und administrative Kompetenz haben. Mit dem Begriff ‚Kulturhoheit<br />

der Länder‘ bezeichnet man diese Kompetenzverteilung (vgl. dazu Arbeitsgruppe Bildungsbericht<br />

1994, S. 79ff.).<br />

■ Vorgaben des Grundgesetzes und Bundeskompetenzen<br />

Allerdings wird diese Kulturhoheit der Länder durch einige unterschiedlich weit reichende Bestimmungen<br />

des Grundgesetzes eingeschränkt. Die wichtigsten dieser Einschränkungen sollen im Folgenden<br />

benannt und knapp charakterisiert werden:<br />

Staatliche Schulaufsicht:<br />

Artikel 7 (1) GG lautet: „<strong>Das</strong> gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“. Diese Regelung<br />

bezieht sich explizit (vgl. die Absätze 4 und 5 von Artikel 7 GG) auch auf die privaten Schulen,<br />

denen in Deutschland mit 6% aller Lernenden an allgemein bildenden Schulen (2000) allerdings<br />

nur eine quantitativ geringe Bedeutung zukommt. Im Kommentar von Jarass/Pieroth (1992)<br />

wird zum Begriff ‚Schulaufsicht’, so wie er im Grundgesetz verwendet wird, ausgeführt: „Schulaufsicht<br />

wird traditionell umfassend als die Gesamtheit der staatlichen Befugnisse zur Organisation,<br />

Leitung und Planung verstanden [...]. Dazu zählt auch die Festlegung der Ausbildungsgänge und<br />

Unterrichtsziele [...]“ (S. 195).<br />

46


Dieser in Artikel 7 GG formulierte Grundsatz stellt den vorläufigen Endpunkt eines langen Weges<br />

hin zur Schule als einer überwiegend staatlichen Veranstaltung dar (vgl. NEVERMANN 1984). In<br />

dem Prozess der Verstaatlichung, der insbesondere in Preußen, aber auch in den anderen Ländern<br />

des deutschsprachigen Raums die Schulentwicklung des 19. Jahrhunderts geprägt hat, haben<br />

sich Bildung und Erziehung befreit: von der direkten Bevormundung durch die Kirche (die als<br />

Schulträger, als geistliche Aufsicht und oft genug durch ihre Geistlichen auch als Lehrer auftrat),<br />

durch den Adel (dessen Mitglieder vielfach ‚Schulhalter’ waren) und durch das Besitzbürgertum<br />

(das sich Privatlehrer und Privatschulen leistete). Die mit diesem Emanzipationsprozess verbundene<br />

Indienstnahme der Schulen durch den Staat gab diesem zugleich aber auch die Pflicht und die<br />

Möglichkeit, im Rahmen der gewonnenen Schulaufsicht seine Vorstellung von der Aufgabe der<br />

Schulen zu formulieren und durchzusetzen.<br />

Chancengleichheit im Bildungswesen:<br />

In Artikel 3(3) GG heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner<br />

Rasse, seiner Sprache, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen<br />

benachteiligt oder bevorzugt werden.“ In dem schon herangezogenen GG-Kommentar von Jarass/Pieroth<br />

(1992) heißt es dazu: Nicht allein „formale, rechtliche Freiheit, sondern reale, in der<br />

sozialen Wirklichkeit vorhandene Freiheit wird von der Verfassung bezweckt, neben der rechtlichen<br />

die faktische Chancengleichheit“ (S. 389).<br />

Weitere Zuständigkeiten des Bundes<br />

Besoldungs- und Dienstrechtsfragen, außerschulische Berufsbildung, Hochschulbau, Ausbildungsförderung,<br />

Bildungsplanung und Forschungsförderung sind weitere Gebiete, in denen der<br />

Bund über Kompetenzen verfügt (Artikel 70 bis 75, 91a und 91b).<br />

Konkurrierende Gesetzgebung<br />

Neben den Bereichen, in denen das Grundgesetz dem Bund unmittelbare Zuständigkeiten gibt,<br />

findet sich im Grundgesetz im Zusammenhang der Bestimmungen zur „Konkurrierenden Gesetzgebung<br />

des Bundes“ der Auftrag zur Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet:<br />

Der Bund hat dann ein eigenes Gesetzgebungsrecht, wenn „die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit,<br />

insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet<br />

eines Landes hinaus“ (Artikel 72(3)) nur dadurch sicherzustellen ist.<br />

Im Regelfall kommen die Bundesländer dem hier implizit auch an sie gerichteten Auftrag, für einheitliche<br />

Lebensverhältnisse zu sorgen, jedoch – bevor der Bund mit seiner Gesetzgebungskompetenz<br />

eingreifen würde – durch die Koordination ihrer Bildungspolitik nach. Hierzu<br />

haben sie sich bereits 1949 die ‚Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder‘ (KMK) geschaffen.<br />

Damit haben die Länder ein Instrument zur Abstimmung und Koordination ihrer Bildungspolitik,<br />

ein Instrument, das im Wesentlichen durch die Verabschiedung einstimmig beschlossener Empfehlungen<br />

wirksam ist. Eine der wohl bekanntesten dieser Empfehlungen ist die von 1972, in der die<br />

gymnasiale Oberstufe neu geordnet wurde.<br />

■ Kompetenzen der Länder und Gemeinden<br />

Alle anderen Gegenstandsbereiche des Bildungswesens fallen in die Zuständigkeit der Länder und<br />

der Gemeinden. In Artikel 8 (3) der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, die hier exemplarisch<br />

herangezogen werden soll, heißt es dazu: „Land und Gemeinden haben die Pflicht, Schulen<br />

zu errichten und zu fördern. <strong>Das</strong> gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Landes [...]“.<br />

Die Aufteilung der darin enthaltenen Kompetenzen zwischen dem jeweiligen Land und den ihm<br />

angehörigen Gemeinden (kreisfreie Städte, Kreise, kreisangehörige Städte und Gemeinden) lässt<br />

sich – vereinfachend – mit den Begriffen ‚innere‘ und ‚äußere‘ Schulangelegenheiten beschreiben:<br />

- Unter die äußeren Schulangelegenheiten, für welche die Gemeinden als ‚Schulträger‘ zuständig<br />

sind, fallen insbesondere<br />

□ die Errichtung und der Erhalt von Schulgebäuden,<br />

□ die Einstellung und Finanzierung des nicht lehrenden Personals (Schulsekretariate,<br />

Hausverwaltung) sowie<br />

□ die kommunale Schulentwicklungsplanung mit ihrer Vorsorge dafür, dass Schulgebäude<br />

am richtigen Standort, in der richtigen Betriebsgröße und zur richtigen Zeit zur Verfügung<br />

stehen.<br />

47


- Unter inneren Schulangelegenheiten, für welche die Länder zuständig sind, werden alle im<br />

engeren Sinne pädagogischen Bereiche verstanden. Dies sind insbesondere<br />

□ die Ziele und Inhalte des Unterrichts (Lehrpläne, Stundentafeln, Schulbücher, Versetzungen,<br />

Prüfungen),<br />

□ die Ausbildung, Einstellung und Finanzierung des lehrenden Personals sowie<br />

□ die strukturelle Ausgestaltung des Schulwesens (Schulformen, Schuldauer).<br />

<strong>Das</strong> zentrale Instrument, mit denen die Länder die im Rahmen ihrer Kompetenzen jeweils verfolgte<br />

Schulpolitik umsetzen und überwachen, ist das der Schulaufsicht. Jedes der sechzehn Bundesländer<br />

verfügt über eine eigene Kultusadministration, welche aus mehreren Instanzen besteht und der<br />

die Schulaufsicht obliegt. Die Organisation der Schulaufsicht variiert von Bundesland zu Bundesland:<br />

- Stadtstaaten verfügen über eine ein- bis zweistufige Aufsicht<br />

□ einstufig in Bremen: Senator für Bildung und Wissenschaft in Bremen;<br />

□ zweistufig in Berlin: Senatsverwaltung für Schule, Berufsausbildung und Sport sowie<br />

Schulämter in den Bezirksämtern des Landes Berlin,<br />

- Flächenländer über eine zwei- bis dreistufige<br />

□ zweistufig z.B. in Mecklenburg- Vorpommern: Ministerium für Bildung, Wissenschaft,<br />

Kultur, Jugend und Sport sowie Schulabteilungen bei den Regierungspräsidien,<br />

□ dreistufig z.B. in Nordrhein-Westfalen: Ministerium für Schule, Weiterbildung, Wissenschaft<br />

und Forschung, Schulabteilungen bei den Regierungspräsidenten sowie Schulämter<br />

bei den Kreisen und Kommunen (vgl. Abbildung 7).<br />

An der Spitze der Schulaufsicht steht in jedem Fall ein Ministerium, das neben anderen Bereichen<br />

für die Schulen zuständig ist. Von ihm gehen die wesentlichen Vorgaben der Schulentwicklung<br />

aus; sofern es sich dabei um zentrale Bereiche des Schulwesens handelt, müssen diese Vorgaben,<br />

so sieht es die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vor, von der Legislative,<br />

also dem jeweiligen Parlament, auf dem Wege der Gesetzgebung erlassen werden (vgl. hierzu und<br />

zum folgenden Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 98 ff). „Auf dieser gesetzlichen Grundlage<br />

erfüllt die Ministerialverwaltung ihre Gestaltungsaufgaben einmal durch die Bereitstellung von Personal,<br />

Sach- und Finanzmitteln, vor allem aber durch Gebote und Verbote, die in den Rechts- und<br />

Verwaltungsvorschriften niedergelegt sind und die man insgesamt als ‚regulative Programme’ bezeichnet“<br />

(Arbeitsgruppe Bildungsbericht 1994, S. 98). Insbesondere werden darin geregelt:<br />

- Quantität und Fächerverteilung des Unterrichtsangebotes (Stundentafel),<br />

- Lehrpläne,<br />

- Anerkennung von Lehrbüchern,<br />

- Schülerkarrieren (Notengebung, Versetzung, Übergang in andere Schulformen),<br />

- Klassenfrequenzen,<br />

- Lehrermesszahlen.<br />

Die Schulaufsicht umfasst die Bereiche der<br />

- Fachaufsicht, die sich auf fachliche und methodische Fragen des Unterrichtens und der Erziehung<br />

bezieht,<br />

- der Rechtsaufsicht, welche die Rechtmäßigkeit des Handelns der Akteure zum Gegenstand<br />

hat, sowie<br />

- die Dienstaufsicht, die das dienstliche Verhalten bewertet.<br />

Im Kontext der Debatten um eine verstärkte Dezentralisierung im Schulwesen wird von der Schulaufsicht<br />

heutzutage die Fokussierung auf beratende und unterstützende Tätigkeiten erwartet.<br />

48


Abbildung 7: Schule zwischen Schulaufsicht und Schulträger<br />

<strong>Das</strong> Beispiel Nordrhein-Westfalens<br />

Quelle: Holtappels, H.-G.: Der Schulleiter zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Essen 1991, S. 49<br />

■ Die Bildungsfinanzierung als Spiegel der Kompetenzenverteilung<br />

Die geringen Kompetenzen des Bundes und die überragenden der Länder und (abgeschwächt) der<br />

Gemeinden spiegeln sich auch in der Verteilung der öffentlich getätigten Bildungsausgaben auf die<br />

drei Ebenen:<br />

- Bund,<br />

- Länder und<br />

- Gemeinden.<br />

Von allen öffentlich getätigten Bildungsausgaben, die 2000 in Deutschland 95,2 Milliarden Euro<br />

ausmachten (4,67% des Bruttoinlandsproduktes) trugen<br />

49


- der Bund lediglich 15,6%,<br />

- die Länder 65,9% und<br />

- die Gemeinden 18,5%.<br />

Noch deutlicher wird das Gewicht der Länder, wenn man allein die öffentlichen Ausgaben für das<br />

Schulwesen betrachtet:<br />

- 83,0% der Ausgaben leisteten 2000 die Länder,<br />

- 16,8% die Gemeinden und<br />

- 0,2% der Bund (Statistisches Bundesamt 2003: www.destatis.de ).<br />

Der hohe Anteil, der insbesondere im Schulwesen von den Landeshaushalten erbracht wird, erklärt<br />

sich in erster Linie aus der hohen Bedeutung, die den Kosten für das Personal zukommt: Im<br />

Schulbereich sind nahezu 80% aller Ausgaben Aufwendungen für das Personal (vgl. BMBF 2002,<br />

S. 343).<br />

4.2 Gegenstandsbereiche der Steuerung von Schule – Forschungstraditionen und Modelle<br />

Ganz unabhängig davon, welche staatlichen Organisationsformen sich Gesellschaften gewählt<br />

haben, besteht deren Aufgabe, ihr Bildungswesen so zu planen und zu steuern, dass die ihm gesetzten<br />

Ziele erreicht werden können, dass es also effektiv arbeiten kann. Die Frage, wie Bildungsprozesse<br />

effektiv gestaltet werden können, wird explizit unter dem Schlagwort ‚effektive<br />

Schule’ seit etwa Mitte des letzten Jahrhunderts thematisiert. Zu dieser Zeit setze international die<br />

gezielte Sammlung empirischer Daten zum Bildungsbereich ein, um Wirkungen im Sinne von Defiziten<br />

und Erfolgen sichtbar zu machen und um Bedarfe rechtzeitig zu erkennen. Ein solches Vorgehen<br />

entsprang in einer Zeit zunehmend rasanter technologischer Entwicklungen dem Verständnis,<br />

dass Bildung und der wirtschaftliche Erfolg eines Landes in einem Zusammenhang stehen. In<br />

diesem Kontext setzten zudem Überlegungen ein, Schulleistungen als Maß der Effektivität von<br />

Schule grenzüberschreitend zu vergleichen. Die entsprechende Realisierung wurde zu Beginn der<br />

1960er Jahre mit der Durchführung der ersten internationalen Schulleistungsversuche als Vorläufer<br />

heutiger Studien wie TIMSS, PISA und IGLU eingeleitet.<br />

Gerade im angloamerikanischen Raum rückten die Qualität und Inhalte von Bildung in den Mittelpunkt<br />

des bildungspolitischen Interesses. Entsprechende Forschungsprojekte dokumentierten die<br />

enorme Variation der Leistungen von Schülerinnen und Schülern eines Altersjahrgangs. Die Ergebnisse<br />

lieferten den Antrieb für die amerikanische und britische Schuleffektivitäts- bzw. Schulwirkungsforschung,<br />

die sich gegen die seinerzeit verbreitete These wandte, dass die Arbeit der<br />

einzelnen Schulen kaum Unterschiede hinsichtlich der Schülerleistungen bewirken würde, sondern<br />

dass Unterschiede allein auf Hintergrundmerkmale der Schülerinnen und Schüler – wie z.B. ihre<br />

soziale oder ethnische Herkunft – zurückzuführen seien (<strong>Das</strong> ‚Schlagwort‘ der Debatte lautete:<br />

‚School does not matter’.).<br />

Bis heute beschäftigen sich Bildungsforscher mit der Frage, was eine effektive Schule charakterisiert<br />

und wie schulische Lernergebnisse erreicht und gesteuert werden können. Solche Forschungsfragen<br />

sind auch im deutschsprachigen Raum unter der Überschrift ‚gute Schule’ als pädagogisch<br />

wünschenswerter Zielzustand Mitte der 1980er Jahre breiter aufgegriffen worden (vgl.<br />

z.B. Steffens/Bargel 1987 und Tillmann 1989); sie sind heute national wie international zentraler<br />

denn je.<br />

Die Betrachtung der Forschung der letzten drei Jahrzehnte zu Fragen der Wirksamkeit und der<br />

Steuerung des Bildungssystems lässt überlappende Entwicklungsstufen erkennen. Im Verlauf dieser<br />

Forschungen wurde die Erziehungswissenschaft dabei von anderen Disziplinen beeinflusst.<br />

Zwei dieser Einflüsse, die sich als besonders zentral erwiesen haben, werden nachfolgend skizziert,<br />

nämlich Einflüsse aus der ökonomischen Theorie und aus der Organisationstheorie.<br />

■ Die ökonomische Perspektive<br />

Die ökonomisch geprägten Ansätze befassen sich insbesondere mit der Effektivität (Wirksamkeit<br />

im Hinblick auf die Erreichung von gesetzten Zielen) und der Effizienz (Sparsamkeit der eingesetzten<br />

Ressourcen) des Produktionsprozesses einer Organisation (z.B. der Schule). Im Mittelpunkt<br />

des Interesses steht dabei die Transformation von<br />

- Inputgrößen (solche Inputs sind z.B. die finanzielle Ausstattung einer Schule, die Schülerinnen<br />

und Schüler und ihre Charakteristika, die Qualifizierung der Lehrkräfte…) in<br />

50


- Outputgrößen (darunter werden kurzfristige Wirkungen wie z.B. die erreichten Leistungen am<br />

Ende von Bildungsprozessen verstanden) bzw. in Outcomegrößen (darunter werden langfristige<br />

Wirkungen wie z.B. erzielbare berufliche Positionen oder das erreichbare Einkommen<br />

verstanden)<br />

Dabei ergibt sich das folgende einfache Steuerungsmodell:<br />

Abbildung 8.1: Ökonomisch geprägtes Steuerungsmodell<br />

Input Output *** etwa Mitte der 1960er Jahre ***<br />

Quelle: in Anlehnung an Reynolds/Teddlie 2000, S.5<br />

Dieses Funktionsmodell wird linear gedacht, d.h. es wird von der Annahme ausgegangen, dass ein<br />

qualitativer oder/und quantitativer Ausbau im Bereich von Input-Variablen (z.B. kleinere Klassen)<br />

auch zu einem gesteigerten bzw. verbesserten Output führt (z.B. mehr Schülerinnen und Schüler<br />

erreichen dadurch einen höheren Abschluss bzw. die Qualität ihrer erworbenen Zertifikate ist höher).<br />

Andere Modelle haben dieses einfache Input-Output-Schema erweitert und den schulischen ‚Produktionsprozess’<br />

(z.B. die Qualität des Unterrichts) im Hinblick auf den zu erwartenden Output<br />

stärker betont und damit eine dynamischere Dimension eingefügt. Damit begann man zu berücksichtigen,<br />

dass Merkmale der einzelnen Schule (z.B. ihre Schulkultur) oder Merkmale des Unterrichts<br />

(z.B. das Schulklima) eine wichtige Einfluss- und Steuergröße darstellen.<br />

Abbildung 8.2: Steuerungsmodell unter Berücksichtigung von Prozessmerkmalen<br />

Input Prozess Output *** 1970er Jahre ***<br />

Quelle: in Anlehnung an Reynolds/Teddlie 2000, S.5<br />

In Erweiterung des Input-Prozess-Output/Outcome-Ansatzes findet sich in der Literatur vielfach<br />

eine Einbeziehung des Kontextes, in dem sich Bildung vollzieht. Dabei wird davon ausgegangen,<br />

dass Schulen als Organisationen in sich geschlossen und nach außen zugleich offen ist. Dies bedeutet,<br />

dass sie von der sie umgebenden Außenwelt, dadurch, dass sie mit ihr interagieren,<br />

beinflusst werden. Der Kontext unterscheidet sich vom Input durch sein mit Blick auf die Einzelschule<br />

nicht-intentionales Bedingungsgefüge. So sind zum Beispiel die gesellschaftliche Wertschätzung<br />

von Bildung bzw. bestimmter Fächer(gruppen), die soziale Zusammensetzung der<br />

Schülerschaft oder die regionale Lage der Schule Kontextmerkmale, die sich jeder direkten Steuerungsmöglichkeit<br />

entziehen.<br />

Generell muss jedoch mit Blick auf dieses stark ökonomisch geprägte Modell an die Schwierigkeiten<br />

der Übertragbarkeit ökonomischer Vorstellungen auf den Schulbereich erinnert werden:<br />

„Die Qualität von Schulen muss zweifellos anders bemessen und beurteilt werden als die Qualität und Effektivität<br />

im Produktionssektor. Die Schule praktiziert keine mechanischen Verfahren und stellt keine Produkte<br />

her, die nach Materialqualität, Handhabung, Haltbarkeit, ökologischen Kriterien oder dem Preis zu<br />

bewerten wären. […] Die Leistung von Schule lässt sich eben nicht nach erledigten Akten, gebuchten Geschäften,<br />

vollzogenen Behandlungen oder Beratungen messen; dazu ist pädagogisches Geschehen und<br />

die Arbeit mit jungen Menschen zu vielfältig, der Prozesscharakter zu komplex“ (Holtappels 2003, S. 34).<br />

■ Die organisationstheoretische Perspektive<br />

Unabhängig von der Problematik der Übertragbarkeit von Ansätzen aus der Wirtschaftswissenschaft<br />

haftet dem dargestellten Modell ein zentraler Mangel an: Es klammert die Frage aus, wie die<br />

Input-, Prozess- und Outputgrößen untereinander agieren. Diesen Mangel kann ein Rückgriff auf<br />

organisationstheoretische Ansätze zumindest abschwächen. Dabei wird jede Schule als eine Organisation<br />

wie andere Organisationen auch (z.B. Unternehmen) betrachtet. Für sie trifft daher die<br />

gebräuchliche Kurzdefinition zu, der zufolge Organisationen dauerhafte soziale Gebilde zum Zwecke<br />

der Erreichung gemeinsamer Ziele sind (vgl. dazu MAYNTZ 1968, ROLFF 1992). Die Ziele, die<br />

in der Organisation Schule verfolgt werden, ergeben sich auf zweierlei Weise:<br />

- Einerseits sind Ziele vorgegeben: <strong>Das</strong> jeweilige Bundesland mit seiner Zuständigkeit für die<br />

‚inneren Schulangelegenheiten‘ formuliert in seinen Gesetzen und Erlassen Ziele, auf die die<br />

einzelne Schule ihre Arbeit ausrichten muss. Die materiellen Voraussetzungen zur Verfol-<br />

51


gung dieser Ziele sichert das jeweilige Land in Verbindung mit den Schulträgern, die im<br />

Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die ‚äußeren Schulangelegenheiten‘ tätig werden.<br />

- Andererseits entwickeln sich Ziele auch im Verlauf des Arbeitens der einzelnen Organisationen.<br />

Gerade für Schulen gilt, dass sie ihre Zielsetzungen – im Rahmen der rechtlichen<br />

Vorgaben – im Verlauf ihres alltäglichen Handelns weiterentwickeln, insbesondere in den Bereichen,<br />

in denen es weniger um die Weitergabe von Wissen und mehr um die Vermittlung<br />

von Einstellungen, Haltungen und Werten geht. Ziele sind in Organisationen – und eben<br />

auch in Schulen – selbst Handlungsprodukte. „Sie werden im Handeln hervorgebracht und<br />

sind somit nicht erklärende Variable, sondern selbst erklärungsbedürftig" (Rolff 1992, S. 308).<br />

Die moderne Organisationstheorie begreift Organisationen daher nicht länger als geplante<br />

monolithische Blöcke, sondern als lebendige und lernende Systeme.<br />

Die Erreichung wie auch die (Weiter-)Entwicklung der Ziele einer Organisationen setzt zwei grundlegende,<br />

aber gegensätzliche Schritte voraus: Die zur Zielerreichung erforderliche Arbeit muss in<br />

verschiedene Einzelaufgaben aufgeteilt werden und die Bearbeitung der damit definierten Einzelaufgaben<br />

muss koordiniert werden. Die Art und Weise, in der Organisationen diese Arbeitsteilung<br />

und deren Koordinierung regeln, macht ihre <strong>Struktur</strong> aus. Der amerikanische Organisationssoziologe<br />

Mintzberg formuliert dies so: „Somit lässt sich die <strong>Struktur</strong> einer Organisation ganz einfach<br />

definieren als die Gesamtsumme aller Mittel und Wege, die der Organisation zur Arbeitsteilung und<br />

dann zur Koordinierung der Einzelaufgaben dienen“ (Mintzberg 1992, S. 17).<br />

Die Art und Weise der Arbeitsteilung ist der Organisation Einzelschule weitgehend vorgegeben:<br />

Jede Schule ist für eine festgelegte Altersgruppe bzw. für ein Segment aus ihr zuständig. Sie verfolgt<br />

ihre Zielsetzung im Rahmen von in der Regel dem Prinzip des Fachunterrichts folgenden zeitlich<br />

begrenzten Unterrichtsstunden, die von einem fachlich spezialisierten Personal erteilt werden.<br />

Die nicht unterrichtsbezogenen Aufgaben der Leitung und Verwaltung werden überwiegend von<br />

dafür eingesetztem Personal erledigt (Schulleitung, Sekretariat, Hausmeister).<br />

Die Koordinierung von Einzelaufgaben erfolgt in Organisationen – nach Mintzberg – im Rahmen<br />

von fünf grundlegenden und in der Regel in Kombination genutzten Möglichkeiten, die ihnen dazu<br />

zur Verfügung stehen (vgl. Abbildung 8.3). Dies sind die wechselseitige Abstimmung, die persönliche<br />

Weisung, die Standardisierung der Arbeitsprozesse, die Standardisierung der Arbeitsprodukte<br />

und die Standardisierung der Qualifikationen der Organisationsmitarbeiter/innen (Mintzberg 1992,<br />

S. 19). Diese fünf fundamentalen <strong>Struktur</strong>elemente von Organisationen sollen im Folgenden zunächst<br />

grundsätzlich vorgestellt und dann in Hinsicht auf die Organisation Schule betrachtet werden:<br />

Koordinierung durch wechselseitige Abstimmung<br />

In Schulen findet wechselseitige Abstimmung der lehrenden Mitarbeiter/innen auf zwei Wegen<br />

statt: zum einen in eher selten stattfindenden institutionalisierten Konferenzen (allgemeine Konferenzen,<br />

Fachkonferenzen), zum anderen im Rahmen informeller Absprachen, etwa in Pausen im<br />

Lehrerzimmer. In der überwiegenden Zahl der Schulen ist dieser Weg der Koordinierung der Lehrer/innenarbeit<br />

jedoch eher schwach entwickelt.<br />

Koordinierung durch persönliche Weisung<br />

Dieser Weg der Koordinierung der Erledigung von Teilaufgaben stellt sich in Schulen als Weisungsweg<br />

von der Schulleitung zu den Mitgliedern des Kollegiums dar. Auf diesem Weg werden<br />

sowohl Weisungen der den Schulen übergeordneten Schulaufsicht wie auch Weisungen der Schulleitung<br />

selbst weitergegeben. Dieses Instrument findet seine Begrenzung zum einen darin, dass<br />

die Schulleitung nur in begrenztem Umfang eine Vorgesetztenfunktion hat; zum anderen ergibt sich<br />

aus dem Beamtenstatus der Lehrenden eine Einschränkung der Durchsetzung von Weisungen –<br />

seien es solche der Schulaufsicht oder solche der Schulleitung.<br />

Koordinierung durch Standardisierung der Qualifikation der Mitarbeiter<br />

<strong>Das</strong> Zusammenfließen der von den vielen einzelnen Lehrenden geleisteten Teilaufgaben im Ziel<br />

der Bildung und Ausbildung von Schülerinnen und Schülern wird im <strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong> in<br />

einem sehr hohen Maße durch die Standardisierung der Qualifikation der Beteiligten gesichert:<br />

52


- Die Lehrerausbildung ist in Deutschland durchgängig eine Ausbildung an wissenschaftlichen<br />

Hochschulen und an schulpraktisch ausgerichteten Seminaren; die Qualität der wissenschaftlichen<br />

Ausbildung sichert das jeweilige Land an den Hochschulen durch ein Staatsexamen<br />

und durch Ordnungen, die dieses Examen sowie das darauf bezogene Studium detailliert regeln.<br />

- Die Qualität der Seminarausbildung, die in den Schulministerien unterstehenden Seminaren<br />

erfolgt, überwacht das Land durch diese Zuordnung direkt.<br />

- Aber auch die Qualifikation der Lernenden und deren Standardisierung trägt zur Koordinierung<br />

und zur Sicherung der Qualität des ‚Produktes‘ bei: In der einzelnen Lerngruppe befinden<br />

sich Schülerinnen und Schüler, die in ihren qualifikatorischen Voraussetzungen vorgegebenen<br />

Standards entsprechen: Die Schülerin einer achten Klasse eines Gymnasiums<br />

hat ein bestimmtes Alter, kam aufgrund bestimmter Leistungen in das Gymnasium und erreichte<br />

die Versetzung in die Klasse 8 auf der Basis erbrachter Leistungen.<br />

Koordinierung durch Standardisierung des Arbeitsprozesses<br />

Die Erledigung von Teilaufgaben in Schulen erfolgt nach detailliert festgelegten Regeln:<br />

- Die unterrichteten Fächer, die ihnen gewidmete Unterrichtszeit, die in ihnen verfolgten Lehrpläne<br />

und die dazu verwendeten Lehrbücher sind vorgegeben bzw. – bei Lehrbüchern – unterliegen<br />

der staatlichen Kontrolle.<br />

- Die Art und Weise der Unterrichtung ist durch die Taylorisierung des Unterrichts (45-Minuten-<br />

Takt), durch das – mit Ausnahme der Grund- und Sonderschulen – dominierende Fachlehrerprinzip<br />

und durch die über die Lehrerausbildung faktisch stark normierten Unterrichtsstile<br />

determiniert.<br />

- Die Verfahren der Leistungsbewertung durch Notengebung, Versetzung und Erteilung von<br />

Schulabschlüssen sind hoch standardisiert (in Nordrhein-Westfalen in den Abschnitten V und<br />

VI der Allgemeinen Schulordnung geregelt – (vgl. die aktuelle Fassung in BASS).<br />

Dies alles sichert sehr gleichförmige Arbeitsprozesse.<br />

Koordinierung durch Standardisierung der Arbeitsprodukte<br />

Die in den unterschiedlichen Bildungswegen zu erreichenden Bildungs- und Ausbildungsziele werden<br />

in Lehrplänen und Richtlinien festgelegt (in Deutschland existieren derzeit 4.403 derartige<br />

Richtlinien, in NRW 152 (vgl. Lehrplandatenbank der KMK). Diese Vorgaben für den Unterricht sind<br />

in der Regel nach einem vergleichbaren Muster aufgebaut: Nach der Formulierung des Bildungsauftrages<br />

für die jeweilige Schulform werden die Bedeutung und grundlegenden Ziele des Unterrichtsfaches<br />

erläutert, Hinweise für die Benutzer des Lehrplans gegeben und die Themen mit den<br />

Richtstundenzahlen aufgelistet. Häufig enthalten die Hinweise für die verschiedenen Lernbereiche<br />

neben den verbindlichen Zielen und Inhalten auch unverbindliche Beispiele, die als Anregungen für<br />

die Unterrichtsgestaltung gedacht sind und die das Niveau der erwarteten Leistungen charakterisieren<br />

(vgl. dazu Rauin u.a. 1996). <strong>Das</strong> Ausmaß der Erreichung der Zielvorgaben wird bei Abschluss<br />

des Bildungsgangs nach einzelnen Bundesländern und nach Schultypen auf unterschiedliche<br />

Weise festgestellt:<br />

- z.T. durch die Vergabe eines Abschlusszeugnisses ohne vorangehende Abschlussprüfung,<br />

- z.T. durch von der Schulaufsicht – was die Aufgabenstellung angeht – kontrollierte Abschlussprüfungen<br />

seitens der einzelnen Schulen und<br />

- z.T. durch Zentralprüfungen (vgl. KLEMM 1998). Diese unterschiedlichen Verfahren lassen<br />

einen breiten Korridor bei der Erreichung von Standards zu.<br />

■ Die <strong>deutsche</strong> Tradition: Steuerung über die Standardisierung von Input und Prozess<br />

Überblickt man die hier vorgetragene Durchmusterung der Koordinationsmechanismen der Organisation<br />

Schule, so lässt sich das folgende Resümee ziehen: Die Koordination der in Schulen geleisteten<br />

Teilaufgaben und die dadurch angestrebte Sicherung der Zielerreichung der Schule erfolgt<br />

schwerpunktmäßig durch die Steuerungsinstrumente ‚Standardisierung der Qualifikation‘ und<br />

53


‚Standardisierung der Arbeitsprozesse‘. Die Instrumente ‚Abstimmung zwischen den Lehrenden‘,<br />

‚Weisung durch die Schulleitung‘ und ‚Standardisierung des Produktes‘ sind dem gegenüber von<br />

nachgeordneter Bedeutung.<br />

Abbildung 8.3: Koordinationsmechanismen in Organisationen<br />

1. Koordinierung über wechselseitige Abstimmung<br />

Mitarbeiter<br />

Standardisierung<br />

der<br />

Qualifikation der<br />

Mitarbeiter/innen<br />

Führungskraft<br />

2. Koordinierung über persönliche Weisung<br />

Führungskraft<br />

Mitarbeiter<br />

Mitarbeiter Mitarbeiter<br />

3. bis 5.: Koordinierung durch Standardisierung<br />

Führungskraft<br />

Standardisierung<br />

der<br />

Arbeitsprozesse<br />

Standardisierung<br />

der<br />

Arbeitsprodukte<br />

- Kontext - - Prozess - - Wirkung -<br />

Quelle: Mintzberg, H.: Die Mintzberg-<strong>Struktur</strong> – Organisationen effektiver gestalten.<br />

Landsberg 1992<br />

■ Ein integriertes Steuerungsmodell<br />

Aus der Erweiterung des am ökonomischen Denken orientierten Modells um organisationstheoretisch<br />

geprägte Aspekte ergibt sich das in der aktuellen erziehungswissenschaftlichen<br />

Debatte präferierte integrierte Steuerungsmodell (vgl. Abbildung 8.4). Dieses Modell sieht die<br />

Steuerung des <strong>Schulsystem</strong>s eingebettet in einen umfassenderen, der Steuerung zumindest<br />

kurzfristig nicht zugänglichen Bereich. Steuerung konzentriert sich in diesem Modell auf die<br />

Bereiche des Inputs, des Prozesses und des Outputs, wobei im Prozessbereich zwischen<br />

den Ebenen der Schule und des Unterrichts in der jeweiligen Klasse unterschieden wird. Im<br />

Bereich des Inputs vollzieht sich die Steuerung des <strong>Schulsystem</strong>s überwiegend über die Bereitstellung<br />

von Ressourcen und über die Standardisierung der Qualifikation der Mitarbeiter/innen<br />

– der Lehrenden ebenso wie der Lernenden. Im Prozessbereich setzt Steuerung<br />

des <strong>Schulsystem</strong>s bei der Standardisierung der Arbeitsprozesse an und im Outputbereich<br />

schließlich bei der Standardisierung der zu erreichenden Arbeitsprodukte.<br />

54


Abbildung 8.4: Qualitäts- und Steuerungs-Dimensionen des Schulwesens<br />

INPUTS, z.B.<br />

- Qualifikation von<br />

Lehrkräften/<br />

Schülern<br />

- finanzielle Ressourcen<br />

- Bildungsziele<br />

KONTEXT, z.B.<br />

- soziökonomischer Status der Schüler<br />

- soziales Ansehen von Lehrkräften<br />

- Bedeutung von Bildungsthemen in der Gesellschaft<br />

PROZESS<br />

Schulebene, z.B.<br />

- Schulkultur<br />

- Schulmanagement<br />

- Kooperation/Koordination<br />

- Personalentwicklung<br />

- Qualität des schulischen Curriculums<br />

Klassen-/Unterrichtsebene, z.B.<br />

- Adäquatheit der der Lerninhalte<br />

und Materialien<br />

- Qualität des Lehrens und Lernens<br />

(<strong>Struktur</strong>iertheit des Unterrichts,<br />

Lerngelegenheiten,<br />

Anwendung von<br />

Evaluationsverfahren<br />

OUTPUTS<br />

- Leistungen<br />

- Einstellungen und<br />

Haltungen<br />

- Bildungs-<br />

abschlüsse<br />

OUTCOME<br />

- beruflicher Erfolg<br />

- soziale Teilhabe<br />

Quelle: in Anlehnung an Scheerens 1990 und Böttcher 2002<br />

4.3 Qualitätsfragen im Mittelpunkt des Steuerungsinteresses<br />

Die Ergebnisse dieser Art der Steuerung der Arbeit von Schulen sind in Deutschland in den letzten<br />

Jahren ins Gerede gekommen. Dies wurde nicht zuletzt durch die Ergebnisse internationaler<br />

Schulleistungsvergleiche verursacht, an denen sich Deutschland während der neunziger Jahren –<br />

nach Jahrzehnten der Abstinenz – erstmalig wieder beteiligt hat: an einer Studie zum Leseverständnis<br />

von Schülerinnen und Schülern der Grundschule und der Schulen der Sekundarstufe I<br />

(Lehmann u.a. 1995), an zwei Studien zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen<br />

von Schülerinnen und Schülern der Klassen 7 und 8 der Sekundarstufe I (TIMSS II – Baumert u.a.<br />

1997) und der Abschlussklassen des Sekundarstufen II-Bereichs (TIMSS III – Baumert u.a. 1998),<br />

an einer Studie zum Leseverständnis und zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen<br />

Fünfzehnjähriger (PISA 2000 – Baumert u.a. 2000) und – zuletzt – an einer Untersuchung zum<br />

Leseverständnis von Viertklässlern (IGLU – Bos u.a. 2003). In diesen Studien haben die <strong>deutsche</strong>n<br />

Schülerinnen und Schüler im internationalen Feld – sieht man von der jüngsten Grundschuluntersuchung<br />

ab – allenfalls mittelmäßig abgeschnitten. Die Ergebnisse dieser Vergleichsstudien haben<br />

Politik und Pädagogik geschockt. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass Qualität zu einem<br />

Schlüsselbegriff der schulpolitischen ebenso wie der erziehungswissenschaftlichen Debatte geworden<br />

ist.<br />

■ Zum Qualitätsbegriff im Kontext von Schule und Unterricht<br />

In der aktuell geführten Qualitätsdebatte ist der benutzte Qualitätsbegriff äußerst diffus. Es soll<br />

daher im Folgenden zunächst einmal versucht werden, diesen Begriff etwas zu präzisieren:<br />

Ein vom Alltagsverständnis der Aufgaben der Schule und der Merkmale ‚guter‘ Schulen und ‚guten‘<br />

Unterrichts ausgehender Versuch, die Qualität der Schule zu definieren, zeigt bereits die Schwierigkeiten<br />

einer solchen Bestimmung. Qualität kann sich in vielerlei erweisen:<br />

55


- in einer motivierenden und leistungsförderlichen Unterrichtsatmosphäre,<br />

- im Anteil erfolgreicher Schulabsolventen,<br />

- im durchschnittlichen Leistungsniveau der Absolventen,<br />

- in der Häufigkeit der erfolgreichen Teilnahme einzelner Schüler und Schülerinnen an überregionalen<br />

Wettbewerben und<br />

- im Anteil der Klassenwiederholer an der Gesamtzahl der Lernenden oder<br />

- in fachlichen Defiziten der Lernenden.<br />

Qualität kann aber auch ausgewiesen sein durch Merkmale des Schullebens und der Schulkultur,<br />

- etwa durch musische Aktivitäten (in Form eines aktiven Schulorchesters oder durch regelmäßige<br />

Theateraufführungen),<br />

- durch vielfältige sportliche Aktivitäten,<br />

- durch rege Kontakte zwischen Schule und Eltern,<br />

- durch eine aktive Teilnahme an schulinterner Fort- und Weiterbildung oder<br />

- durch ein ausgeprägtes gesellschaftliches Engagement der Schülerinnen und Schüler, das<br />

sich in Aktivitäten wie der Gestaltung einer Schulzeitung oder in einer aktiven Schülervertretung<br />

ausdrücken mag.<br />

Qualität kann sich schließlich auch in dem Klima ausdrücken, das die Lernsituation innerhalb der<br />

Klassen, die Beziehungen zwischen Lernenden und Lehrenden, zwischen Schule und Elternhaus<br />

oder auch im Lehrerzimmer und auf dem Schulhof bestimmt. So offensichtlich es auch sein mag,<br />

dass einzelne der hier beispielhaft angeführten Indikatoren schulischer Qualität miteinander zusammenhängen<br />

mögen, so ungeklärt ist nicht nur die tatsächliche Stärke und die Art und Weise<br />

des Zusammenhangs einzelner Elemente, sondern auch die Frage der wechselseitigen Verträglichkeit<br />

verschiedener Aspekte von Qualität, zwischen denen eine ‚Konkurrenz der Zielkriterien‘<br />

auftreten kann.<br />

Vor diesem Hintergrund ist eine Systematik erforderlich, welche die Teilaspekte der Qualität nach<br />

verschiedenen Bereichen und Dimensionen ordnet. Hierzu hat sich die Unterscheidung in drei Bereiche<br />

durchgesetzt, die wiederum mit den Begriffen ‚Input’, ‚Prozess’ und ‚Output/Wirkungen’ bezeichnet<br />

werden können (vgl. das vorangehende Kapitel zu Steuerung des Bildungssystems sowie<br />

Abbildung 8.3, die Bereiche der Steuerung beinhalten zugleich die Qualitätsdimensionen von<br />

Schule). <strong>Das</strong> mit ihnen Gemeinte lässt sich am ehesten folgendermaßen umschreiben:<br />

Mit dem Begriff der Inputqualität werden all die Merkmale der gegebenen schulischen und außerschulischen<br />

Umwelt einschließlich der<br />

- materiellen und personellen Ausstattung der Schule (wie Lehrerqualifikation, Lehrerzahl,<br />

sächliche Ausstattung) angesprochen;<br />

- er schließt Merkmale der Lerngruppe ein (wie Klassengröße, die Anteile von Jungen und<br />

Mädchen, den Anteil von Schülern mit Deutsch als Fremdsprache, das durchschnittliche<br />

Leistungsniveau, das Ausmaß von Homogenität oder Heterogenität der Lernvoraussetzungen<br />

innerhalb der Lerngruppe).<br />

- Einen Sonderstatus unter den Kontext-Merkmalen weisen solche der Lehrerpersönlichkeit<br />

wie z.B. pädagogische Einstellungen, Wertorientierungen, Engagement, Enthusiasmus oder<br />

Geduld auf. Sie sind für die Schulleistungsentwicklung, vor allem aber für die Entwicklung<br />

lern- und leistungsbezogener Orientierungen insbesondere jüngerer Schüler und Schülerinnen<br />

von erheblicher Bedeutung. Darüber hinaus kommt ihnen angesichts der Vorbildwirkung<br />

von Lehrern und Lehrerinnen eine nicht zu unterschätzende Rolle zu.<br />

In einer differenzierten Sichtweise auf die schulischen Qualitätsdimensionen werden Merkmale der<br />

schulischen Umgebung, die allgemeine, kaum direkt zu beeinflussende Größen darstellen, als<br />

Kontext bezeichnet (vgl. Abbildung 8.3).<br />

Auch wenn all diese Merkmale einen relativ großen Erklärungsabstand zu den eigentlichen Effekten<br />

von Schule und Unterricht (wie etwa den Schulleistungen oder motivationalen Schülermerkmalen)<br />

aufweisen, handelt es sich bei ihnen doch um förderliche oder hinderliche Bedingungen bzw.<br />

Eingangsvoraussetzungen schulischer Zielerreichung.<br />

56


Im Mittelpunkt der Prozessqualität stehen<br />

- schulische Prozessqualitäten<br />

□ Schulleben und Schulkultur<br />

□ Schulleitung<br />

□ Kooperation und Koordination… und<br />

- unterrichtliche Prozessqualitäten<br />

□ <strong>Struktur</strong>ierung,<br />

□ Zeitnutzung,<br />

□ didaktische Gestaltung,<br />

□ Passung der Unterrichts-Schwierigkeit an die Lernvoraussetzungen seitens der Schüler<br />

und Schülerinnen,<br />

□ Klassenführung sowie<br />

□ Lehrer-Schüler-Interaktion.<br />

In einer Studie in Münchener Hauptschulen hat ein Forschungsteam um Weinert und Helmke<br />

Merkmale qualitativ hochwertigen Unterrichts herausgearbeitet, die nach ihren Forschungsbefunden<br />

zu hohen Wirkungsqualitäten führten (vgl. Helmke 1989). Sie haben vorab definiert,<br />

dass die Wirkung des Unterrichts dann von hoher Qualität ist, wenn zwei Ziele zugleich erreicht<br />

werden:<br />

- Wenn der Lernfortschritt hoch ist und<br />

- wenn die Leistungsunterschiede innerhalb einer Klasse beim Erreichen von insgesamt hohen<br />

Lernfortschritten nicht wachsen, sondern schrumpfen.<br />

Sie haben die Klassen aus den von ihnen erforschten Klassen herausgegriffen, in denen dieses<br />

Doppelziel besonders gut erreicht wurde, und haben den Unterricht in diesen Klassen (‚Optimalklassen‘)<br />

besonders intensiv auf seine Merkmale hin untersucht. Dabei haben sie die folgenden<br />

Merkmale guten Unterrichts herausgearbeitet:<br />

- effiziente Klassenführung: <strong>Das</strong> Unterrichtsgeschehen ist stark auf das Arbeitsziel hin ausgerichtet,<br />

die Arbeitsschritte sind klar definiert, die Lernenden kennen die Regeln des Unterrichts<br />

(etwa beim Wechsel von Lehrervortrag zu Gruppenarbeit usw.)<br />

- Lehrstofforientierung: Die zur Verfügung stehende Unterrichtszeit wird intensiv für die Behandlung<br />

des Stoffs eingesetzt (‚time on task’), Tätigkeiten wie Geld einsammeln, Besprechen<br />

des nächsten Wandertages... werden zeitlich zurückgedrängt.<br />

- Klarheit und Verständlichkeit der Lehreräußerungen<br />

- Wechsel der Arbeitsformen: Gruppenarbeit, Stillarbeit, Lehrervortrag.<br />

- Variation der Schwierigkeiten der Anforderungen in Abhängigkeit von der Leistungsstärke der<br />

einzelnen Lernenden (Individualisierung)<br />

- Förderungsorientierung in Richtung leistungsschwächerer Schüler (Verweis auf Hamburger<br />

Studie)<br />

- Bereitschaft, den Lernenden Zeit zu lassen, also Zurücknahme hoher Geschwindigkeitsanforderungen<br />

bei informationsverarbeitenden Prozessen<br />

- diagnostische Kompetenz<br />

Unter Outputqualität schließlich fasst man die vielfältigen – gewollten oder unbeabsichtigten –<br />

fachlichen und überfachlichen Wirkungen bzw. die Wirksamkeit des schulischen Unterrichts zusammen,<br />

und zwar<br />

- sowohl die erzieherischen Wirkungen wie auch<br />

- die kognitiven Effekte.<br />

- Dazu gehören auch der Erwerb von prozeduralem Wissen (gewusst wie),<br />

- die Fähigkeit, das erworbene Fachwissen in realen Lebenszusammenhängen einzusetzen,<br />

- sowie positive Lern- und Gedächtnisstrategien.<br />

Jenseits des kognitiven Bereiches zielen Schule und Unterricht auf die Vermittlung eines breiten<br />

Spektrums anderer Kompetenzen und Orientierungen, an deren Erreichung oder Nicht-Erreichung<br />

man den Erfolg des Unterrichts und damit seine ‚Qualität‘ ebenfalls festmachen kann:<br />

57


- leistungsbezogene Werthaltungen (z.B. Lern- und Leistungsmotivation),<br />

- Einstellungen und damit verbundene Verhaltensbereitschaften im politischen und sozialen<br />

Bereich (Unterstützung von Minderheiten, Fairness gegenüber Schwachen, Integration ausländischer<br />

Mitschüler) sowie<br />

- motivationale und emotionale Aspekte (Erwerb eines günstigen, gleichwohl aber noch realistischen<br />

Selbstvertrauens, produktiver Umgang mit Ängsten, Entwicklung stabiler fachbezogener<br />

Interessen, Selbststeuerung der eigenen emotionalen Befindlichkeit).<br />

Angesichts dieser vielfältigen Zielkriterien, denen meist auch ganz unterschiedliche Bedingungsfaktoren<br />

zu Grunde liegen, erscheint es unangemessen, ja aussichtslos, den Begriff ‚Qualität‘<br />

auf eine einfache plakative Formel zu reduzieren, die als allgemein gültig und allgemein anerkannt<br />

betrachtet werden könnte. Gleichwohl lässt sich derzeit in Deutschland eine Zuspitzung des Interesses<br />

an Qualität auf nur einen der hier entwickelten Qualitätsaspekte beobachten. Derzeit interessiert<br />

überwiegend Wirkungsqualität, und da überwiegend die Wirkung im Bereich kognitiven<br />

Lernens. Nach Jahren der Konzentration auf Kontext-Qualitäten (z.B. auf kleine Klassen) und auf<br />

Prozessqualitäten (z.B. auf kindgemäßes Lernen) steht jetzt der kognitive Lernertrag im Mittelpunkt<br />

des Interesses an der Schulentwicklung. Dementsprechend wird in Deutschland von einem Paradigmenwechsel<br />

der Schulsteuerung, der sich im Laufe der 1990er Jahre vollzogen hat, gesprochen<br />

(vgl. u.a. Helmke 2000). Dieser relativ neue Fokus drückt sich auf der <strong>Schulsystem</strong>ebene u.a. in<br />

der – nach Jahren der Abstinenz – deutlichen Präsenz bei internationalen Leistungsvergleichen<br />

aus. Aber auch innerhalb der Bundesländer sind die Aktivitäten überregionaler Leistungsmessung<br />

zahlreich geworden.<br />

4.4 Instrumente der Steuerung und Qualitätsentwicklung: Schulische Evaluation als Form<br />

der Output-Steuerung<br />

Schulen, so wird in der entbrannten Qualitätsdebatte inzwischen fast widerspruchslos festgestellt,<br />

müssen zukünftig stärker als in der Vergangenheit Rechenschaft über die Wirkung ihrer Arbeit und<br />

damit über das Ausmaß ihrer Zielerreichung legen. Schulen, so formuliert es die Fachwissenschaft,<br />

müssen sich einer kontinuierlichen Evaluation unterziehen. Dabei beschreibt der Begriff ‚Evaluation‘–<br />

in einer noch sehr allgemeinen und umfassenden Definition – den Prozess, in dessen Verlauf<br />

eine Bestandsaufnahme, eine Analyse und eine Bewertung der Arbeit einer Schule (oder einer<br />

anderen Institution) erfolgt.<br />

Nach Helmke (2003) umfasst das Konzept der schulischen Evaluation folgende Bestandteile:<br />

- eine systematische Erfassung<br />

- der Durchführung oder der Ergebnisse<br />

- eines Programms oder einer Maßnahme<br />

- verglichen mit vorgegebenen Standards, Kriterien, Erwartungen oder Hypothesen<br />

- mit dem Ziel der Verbesserung des Programms oder der Maßnahme<br />

□ zur Selbstvergewisserung und zum Erkenntnisgewinn,<br />

□ zur Planung und Steuerung der Entwicklung einer Schule sowie<br />

□ zur Rechenschaftslegung nach außen.<br />

Betrachtet man die Praxis der Schul-Evaluation, die im Ausland viel stärker als in Deutschland<br />

verwurzelt ist, so lassen sich verschiedene Typen von Evaluation unterscheiden.<br />

■ Evaluationsformen<br />

Die wichtigsten Formen und Unterscheidungskriterien hat z.B. Helmke (2003) in einer Übersicht<br />

zusammengestellt. Dabei wird nach unterschiedlichen Evaluationsfragen und -perspektiven unterschieden:<br />

58


Abbildung 9: Überblick über Evaluationsformen und -bezeichnungen<br />

Wozu?<br />

Wann?<br />

Durch wen?<br />

Wie oft?<br />

Welcher<br />

Maßstab?<br />

Was?<br />

Formative Evaluation: Evaluation während Lernphasen zur Förderung<br />

Summative Evaluation: Evaluation nach Lernphasen zur abschließenden<br />

Bewertung<br />

prozessbezogene Evaluation<br />

produktbezogene Evaluation<br />

Selbstevaluation = interne Evaluation<br />

Metaevaluation<br />

Fremdevaluation = externe Evaluation<br />

einmalige Evaluation<br />

mehrfache Evaluation<br />

kontinuierliche Evaluation<br />

individuelle Norm<br />

soziale Norm so genannte Bezugsnormen<br />

kriteriale Norm<br />

Programm-Evaluation<br />

Unterrichtsevaluation<br />

Lernstandsevaluation<br />

Quelle: in Anlehnung an Helmke 2003, S. 152<br />

In den öffentlichen wie fachwissenschaftlichen Diskussionen ist vor allem die Perspektive ‚durch<br />

wen?’ zentral, d.h. wer evaluiert, da hierin eine besondere Brisanz hinsichtlich der Frage liegt, inwieweit<br />

Schule gegenüber der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig ist sich dafür der Bestandsaufnahme<br />

durch Externe öffnen muss. Vor diesem Hintergrund werden die Selbst-, Meta- und Fremdevaluation<br />

nachfolgend differenzierter dargestellt.<br />

Selbstevaluation bzw. interne Evaluation<br />

„ist ein systematischer, kontinuierlicher Lern- und Arbeitsprozess, in dem vor Ort Informationen und Daten<br />

über das Lernen, den Unterricht und die Schule gesammelt werden, um aus ihnen Erkenntnisse zu gewinnen<br />

und sie begründet zu bewerten. Dies dient der Selbstreflexion über die Arbeit, der Schulentwicklung,<br />

der Beteiligung von Betroffenen oder der Selbstkontrolle und Rechenschaft“ (Eikenbusch 1997, S. 7).<br />

Dieses Evaluationsverständnis geht davon aus, dass eine einzelne Schule ihre Arbeit nur dann<br />

weiterentwickeln wird, wenn sie den Entwicklungsbedarf selbst herausfindet und die Entwicklungsrichtung<br />

selbst bestimmt – allenfalls durch externe Berater im Rahmen von Methodenvermittlung<br />

dabei unterstützt.<br />

Metaevaluation<br />

Der Selbstevaluation wird entgegengehalten, dass die der einzelnen Schule angehörigen Lehrer<br />

und Lehrerinnen, insbesondere wenn es um Wirkungsqualität geht, ihre eigene Arbeit nicht ehrlich,<br />

nicht objektiv beurteilen und daher auch nicht verändern könnten. Eine vorsichtige und das Entwicklungspotential<br />

der Einzelschule ‚schonende‘ Reaktion auf diesen kritischen Hinweis ist in der<br />

Ergänzung der Selbstevaluation um die Komponente der Metaevaluation zu sehen.<br />

Im Rahmen von Metaevaluation werden die Verfahren der Selbstevaluation einer methodenkritischen<br />

Überprüfung durch Externe unterzogen. Dies soll sicherstellen, dass Bestandsaufnahme,<br />

Analyse und Bewertung im Verlauf der Selbstevaluation fachlichen Standards genügen. Auf diese<br />

Weise sollen Ergebnisse objektiviert und mit denen anderer Schulen vergleichbar gemacht werden.<br />

Fremdevaluation bzw. externe Evaluation<br />

Weitergehend noch ist der Ansatz der Fremdevaluation, der Selbst- und Metaevaluation ersetzt<br />

oder der ergänzend an ihre Seite tritt. Bei der Fremdevaluation beurteilen Externe (die Schulaufsicht,<br />

die Abnehmer, Wissenschaftler...) die Arbeit und die Arbeitsergebnisse einer Schule; sie geben<br />

auf der Grundlage ihrer Bestandsaufnahme und ihrer Analyse Entwicklungsempfehlungen.<br />

So wie die Selbstevaluation sich mit dem Vorwurf der Subjektivität und des Verschleierns von<br />

Schwächen der eigenen Institution auseinandersetzen muss, so trifft die Fremdevaluation der Vorwurf,<br />

undifferenziert die unverwechselbare einzelne Schule an einem standardisierten Idealtyp zu<br />

59


messen und daher der Einzelschule mit ihren individuellen Problemen bei der Weiterentwicklung<br />

nicht helfen zu können.<br />

■ Gründe für die aktuelle Schwerpunktlegung auf externe Evaluationsformen<br />

Obwohl es in der Fachdiskussion keinen Streit darüber gibt, dass eine allein auf Fremdevaluation<br />

setzende Steuerung der Schulen ihrer Weiterentwicklung wenig dienen wird, setzen die meisten<br />

Landesregierungen (Nordrhein-Westfalen noch am wenigsten) derzeit in erster Linie auf das Instrument<br />

der Fremdevaluation. Dies hat mehrere Gründe:<br />

- Autonomie und Sicherung der Vergleichbarkeit:<br />

Einen starken Auftrieb erhalten die Bemühungen um verstärkte externe Evaluation der Wirkungen<br />

der Schulen derzeit durch die Auseinanderentwicklung der <strong>Schulsystem</strong>e in Deutschland,<br />

die sich aus der traditionellen Autonomie der Länder (Kulturhoheit der Länder, vgl. Kapitel<br />

4.1) bei Fragen der Schulentwicklung ergibt.<br />

Insbesondere nach der Vereinigung der beiden <strong>deutsche</strong>n Staaten ist die Vielfalt im <strong>deutsche</strong>n<br />

Schulwesen stark angewachsen:<br />

□ Bundesweit schwankt die Schulpflichtzeit in allgemein bildenden Schulen zwischen<br />

neun und zehn Jahren,<br />

□ die Zeit, die bis zum Erreichen des Abiturs vergeht, reicht von 12 Jahren in einigen der<br />

neuen Bundesländer über zwölfeinhalb Jahre in Rheinland-Pfalz bis hin zu 13 Jahren in<br />

der Mehrheit der <strong>deutsche</strong>n Länder.<br />

□ Nicht weniger bedeutend sind die schulstrukturellen Unterschiede zwischen den Bundesländern.<br />

Im Bereich der Sekundarstufe I bestehen, wenn man die Sonderschulen<br />

nicht einbezieht, zweigliedrige Systeme in einigen der neuen Länder, z.B. in Sachsen,<br />

neben dreigliedrigen, z.B. in Bayern, und viergliedrigen, z.B. in Nordrhein-Westfalen<br />

(vgl. Kapitel 3.1)<br />

Diese Vielfältigkeit zeitlicher und struktureller Vorgaben wird sich infolge der politisch gewollten<br />

Verstärkung der Autonomie der Einzelinstitution auf die innere Schulentwicklung ausdehnen.<br />

Angesichts des schon erreichten und noch erwartbaren Ausmaßes der Ausdifferenzierung<br />

im <strong>Schulsystem</strong> wird das Bedürfnis nach Sicherung der Vergleichbarkeit insgesamt<br />

anwachsen. Die Verstärkung der externen Evaluation, bis hin zu der durch zentral gestellte<br />

und ausgewertete Tests im Verlauf der Schulkarrieren und durch ‚Zentralprüfungen’ an deren<br />

Abschluss, kann durchaus als das funktionale Äquivalent des derzeit wachsenden Föderalismus’<br />

und der zugleich politisch gewollten Autonomisierung der einzelnen Schulen begriffen<br />

werden.<br />

- Überfüllung, Selektion und Allokation:<br />

Weiteren Auftrieb erhalten Tendenzen, den ‚Output’ schulischer Arbeit stärker zu kontrollieren,<br />

durch das Anwachsen der Bildungsbeteiligung. Der Prozess der Bildungsexpansion hat<br />

in Deutschland dazu geführt, dass – gemessen an der Aufnahmekapazität der abnehmenden<br />

Systeme (z.B. des Dualen Systems, der Hochschulen, aber auch des Beschäftigungssystems)<br />

– ein Überangebot derer besteht, die aufgrund ihrer schulisch erworbenen und auch<br />

zertifizierten Berechtigungen Zugang zu diesen Systemen suchen. In dieser Konstellation eines<br />

Ungleichgewichts gewinnt die These, der zufolge die Überfüllung der nachfolgenden Systeme<br />

Folge einer Preisgabe von Standards bei der Vergabe der Zertifikate in den Zuliefersystemen<br />

sei, zusehends Prominenz. Wenn – so wird vorgebracht – die Selbststeuerung des<br />

Gesamtsystems bei der Qualitätssicherung versage, müssten die Steuerungssysteme geändert<br />

werden: Zentrale Prüfungen als besonders wirksame Instrumente externer Evaluation, so<br />

die These, seien geeignet, verloren gegangene Qualität und Vergleichbarkeit der erbrachten<br />

Leistungen wieder herzustellen.<br />

- Qualitätssicherung und Berechtigungswesen:<br />

Eng verknüpft mit der Überfüllungsdiskussion, mit den Auswirkungen des Kulturföderalismus’<br />

in Deutschland und mit der Entwicklung zu mehr Autonomie der Einzelschule erschüttert das<br />

durch die bereits erwähnten Vergleichsstudien festgestellte niedrige Leistungsniveau der<br />

<strong>deutsche</strong>n Schülerinnen und Schüler das System dezentraler Leistungskontrollen und Abschlussprüfungen.<br />

Insbesondere die im Rahmen dieser Studien aufgezeigten Leistungsunterschiede<br />

zwischen den Schülern und Schülerinnen der einzelnen Bundesländer stärkt den Ruf<br />

nach der Sicherung vergleichbarer Leistungen in den Schulen Deutschlands – und zwar<br />

60


durch die Formulierung bundesweit gültiger Standards und durch deren Überprüfung auf dem<br />

Weg der Fremdevaluation.<br />

■ Instrumente der Fremdevaluation<br />

Die dabei eingesetzten Instrumente sind vielfältig. Sie reichen von den tradierten Mitteln der Schulaufsicht<br />

über die Hinzuziehung externer Prüfer und Gutachter, über landesweite Leistungstests im<br />

Verlauf der Schullaufbahn, über Zentralprüfungen in einzelnen Ländern bis hin zu bundesweiten<br />

Vergleichstests. Dieses Spektrum eingesetzter Instrumente soll im Folgenden knapp skizziert werden:<br />

- Schulaufsicht:<br />

Traditionell ist es in Deutschlands Schulen die Schulaufsicht, welche die Erreichung der Qualifikations-<br />

und Erziehungsziele durch ihre Tätigkeit sichern soll. Die Schulaufsicht Nordrhein-<br />

Westfalens ist zur Erreichung dieses Ziels auf drei Ebenen angesiedelt: auf der Ebene der<br />

Landesregierung im Kultusministerium mit eher grundsätzlichen Zuständigkeiten, auf einer<br />

Mittelebene – bei den Regierungspräsidien – mit der Fach- und Dienstaufsicht über die alltäglichen<br />

Abläufe in Berufsschulen, Gymnasien, Gesamtschulen und Realschulen und schließlich<br />

auf der unteren Ebene mit der Fach- und Dienstaufsicht über die Grund-, Haupt- und<br />

Sonderschulen (vgl. Kapitel 4.1).<br />

- externe Fremdprüfer und -korrektoren:<br />

Da, wo es um die Sicherung der Prüfungsstandards bei Abschlussprüfungen geht, nutzt die<br />

Schulaufsicht zusätzlich die Möglichkeit des Einsatzes von Fremdprüfern als Prüfer oder als<br />

Zweitkorrektoren. Dadurch soll die Vergleichbarkeit der Standards und der darauf gestützten<br />

Benotungen zwischen den Schulen einer Schulform und zwischen unterschiedlichen Schulformen<br />

(z.B. zwischen Gymnasien und Gesamtschulen) hergestellt bzw. gesichert werden.<br />

- Parallelarbeiten<br />

als intrainstitutionelle Vergleichsform sind z.B. in Nordrhein-Westfalen seit 1997 im Gespräch.<br />

Gemeint ist mit dem Begriff ‚Parallelarbeit’ in NRW<br />

□ das Schreiben gemeinsamer Arbeiten in mehreren Parallelklassen,<br />

□ in Deutsch, Englisch und Mathematik für die 7. und 10. Klassen,<br />

□ in Mathematik und Sprache für die 3. Klassen,<br />

□ in bestimmten zeitlichen Abständen nach inhaltlicher Absprache zwischen Lehrkräften,<br />

□ in Orientierung an Aufgabenbeispielen mit Modellcharakter zur Verdeutlichung der Anspruchshöhe<br />

und der sachgerechten Beurteilungskriterien.<br />

Die Funktion von Parallelarbeiten und auch der geplanten Vergleichsarbeiten besteht darin,<br />

□ Lerngegenstände zu konkretisieren und verbindlich zu machen,<br />

□ den Diskurs über Unterrichtsmethoden und ihre Effekte zwischen Lehrkräften von Parallelklassen<br />

anzuregen und<br />

□ nicht nur die Schülerleistung, sondern vor allem auch die Beurteilungspraxis der Lehrkräfte<br />

ins Zentrum des Vergleichs zu stellen.<br />

- Vergleichsarbeiten<br />

Die Diskussion um Vergleichsarbeiten als interinstitutionelle Vergleichsform hat in NRW und<br />

vielen anderen Bundesländern erst nach der PISA-Ergebnis-Veröffentlichung eingesetzt. So<br />

hat sich die Kultusministerkonferenz im Mai 2002 dafür ausgesprochen, in und zwischen den<br />

Ländern landesweit so genannte ‚Orientierungs- und Vergleichsarbeiten’ schreiben zu lassen,<br />

die zwischen den Ländern noch zu konkretisierende Standards, wie sie bereits für die Schulabschlüsse<br />

existieren, auch laufbahnbegleitend in ihrer Einhaltung überprüfen. Vergleichsarbeiten<br />

gehen in diesem Sinne über den innerschulischen Vergleich hinaus, indem mehrere<br />

bzw. alle Schulen eines Bundeslandes in die Kontrollen einbezogen werden und somit die<br />

Bezugsgröße des Vergleichs deutlich erweitert wird. Dabei verfolgen sie ganz ähnliche Ziele<br />

wie Parallelarbeiten (s.o.).<br />

- Zentralprüfungen:<br />

Landesweite Leistungsüberprüfungen kennen eine Reihe der Bundesländer seit vielen Jahren<br />

in Gestalt ihrer zentralen Abschlussprüfungen, etwa durch ein Zentralabitur. So kennen<br />

□ im Gebiet der früheren Bundesrepublik die Länder Baden-Württemberg, Bayern und das<br />

Saarland zentrale Abschlussprüfungen.<br />

□ Zu ihnen haben sich vier der neuen Bundesländer, nämlich Mecklenburg-Vorpommern,<br />

Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, gesellt (vgl. Abbildung 10).<br />

61


□ Niedersachsen, Hessen und Berlin haben die Absicht, zentrale Prüfungselemente zu<br />

verankern.<br />

In allen der zentral prüfenden Bundesländer werden am Ende der Sekundarstufe I auch in<br />

den nicht gymnasialen Bildungswegen zentrale Abschlussprüfungen durchgeführt. Mecklenburg-Vorpommern<br />

nimmt dabei die Hauptschule aus, Bayern prüft in dieser Schulart nur,<br />

wenn es um den qualifizierten Hauptschulabschluss geht, Baden-Württemberg in jedem Fall.<br />

In diesem Land wird darüber noch hinausgehend auch in Klasse 10 der Gymnasien zentral<br />

geprüft (Zur Einschätzung von Zentralprüfungen vergleiche Klemm 1998).<br />

■ Evaluation und Schulentwicklung<br />

Der Einfluss der beschriebenen Evaluationsinstrumente ist jedoch wenig klar beschrieben: Welche<br />

Effekte haben unterschiedlich organisierte Evaluationsformen auf die Institution Schule sowie auf<br />

das <strong>Schulsystem</strong>? Wie und in welchen Arbeitsbereichen werden testbasierte Informationen in der<br />

Einzelschule sowie in Bildungsadministration und -politik genutzt?<br />

Im Fokus steht derzeit die Frage, wie unterschiedliche Bildungsakteure mit Informationsressourcen<br />

ausgestattet werden, so dass sie ihre Praxis mit entsprechenden positiven Effekten<br />

darauf abstimmen können. Evaluation erscheint in diesem Sinne als pragmatisches Mittel, Schule<br />

zu entwickeln; somit werden die Begriffe ‚Evaluation’ und ‚Schulentwicklung’ gemeinsam gedacht.<br />

Nachdem der Evaluationsbegriff bereits umrissen wurde, wird nachfolgend der Schulentwicklungs-<br />

Begriff skizziert.<br />

Der Bedeutungsinhalt des Begriffes ‚Schulentwicklung‘ hat seit Ende der siebziger Jahre einen<br />

Perspektivwechsel erfahren: von der Betrachtung und Untersuchung des <strong>Schulsystem</strong>s als Ganzheit<br />

mit damit verknüpften „System- und Globalstrategien“ (Buhren/Killus/Müller 1998) hin zur Einzelschule,<br />

die – auch durch die Systemtheorie beeinflusst – spätestens seit Beginn der neunziger<br />

Jahre in den Mittelpunkt dieser Forschungsrichtung rückte. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die<br />

individuelle Schule durch das administrative System kaum geradlinig und in einer direkten Art und<br />

Weise zu steuern ist. Für einzelschulische Entwicklungen sind „[…] in erster Linie die Lehrpersonen<br />

und die Leitung selbst verantwortlich“ (Rolff 1998, S. 297); dies gilt um so mehr im Kontext<br />

aktueller Autonomisierungs-Tendenzen, denen externe Evaluationsformen, etwa in Form zentraler<br />

Tests und Prüfungen, als funktionales, der Gefahr der Auseinanderentwicklung entgegentretendes<br />

Äquivalent gegenüber stehen.<br />

Im Sinne der modernen Schulentwicklungs-Forschung wird der Begriff der ‚Schulentwicklung‘<br />

heute breit gefasst:<br />

- Im Fokus der Forschung zur Schulentwicklung steht die einzelne Schule am individuellen<br />

Schulstandort (vgl. u.a. Rolff 1998). Schulentwicklung zielt auf die bewusste Weiterentwicklung<br />

von Schule, auf ihre Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, zu reflektieren und zu steuern.<br />

Sie versteht sich dabei als „Synthese von Organisations-, Unterrichts- und Personalentwicklung“<br />

(Kempfert/Rolff 1999, S. 22).<br />

- Es geht aber auch um die Rahmenbedingungen der Unterstützung von Schulentwicklung<br />

(vgl. Kempfert/Rolff 1999), d.h. die einzelschulische Entwicklung wird vom Gesamtsystem her<br />

gedacht, d.h. es wird nach der Verknüpfung zwischen Einzelschulen und dem administrativen<br />

System gefragt. Die Einzelschule wird als in sich geschlossen und zugleich offen gesehen<br />

(vgl. Rolff 1998).<br />

<strong>Das</strong> Nachdenken über und die Realisierung einer Koppelung der Ergebnisse von vor allem externen,<br />

großflächig angelegten Evaluationen mit Optimierungsstrategien an den untersuchten schulischen<br />

Einrichtungen sowie auf der Systemebene stellt die Begriffe der ‚Evaluation‘, ‚Datenrückmeldung‘<br />

und ‚Schulentwicklung‘ immer mehr in einen Zusammenhang. Qualitäts- und Schulentwicklung<br />

beginnen zu verschmelzen, indem es nicht mehr nur um Verbesserung von Lernresultate<br />

geht, sondern auch um die Stärkung der Fähigkeit, den eigenen Wandel zu managen.<br />

62


Abbildung 10: Zentrale Abschlussprüfungen in Deutschland<br />

Sek.<br />

Bereich I<br />

Sek.-<br />

Bereich II<br />

Schulform<br />

Baden-<br />

Württemberg<br />

a l t e B u n d e s l ä n d e r 1 n e u e B u n d e s l ä n d e r 2<br />

Bayern Saarland Mecklenburg-<br />

Vorpommern<br />

Hauptschule + + 6 + -- 7<br />

Realschule + + + + 7<br />

Mittelschule + 6<br />

Sachsen Sachsen-<br />

Anhalt<br />

Sekundarschule +<br />

Thüringen<br />

Regelschule + 6<br />

Gesamtschule + + 5 + 5 + 5<br />

Gymnasium + 3 -- -- -- -- -- --<br />

Wirtschaftsschule +<br />

Gesamtschule + + + +<br />

Gymnasium + + + + + + +<br />

Berufsschulen + 4 + 4 + 4 + 4 + 4 + 4<br />

1 Nicht in die Übersicht aufgenommen sind: Berlin, Hessen und Niedersachsen, wo zentrale Abiturelemente geplant sind.<br />

2 Brandenburg, wo die Einführung zentraler Abschlussprüfungen für beide Sekundarstufen zum Schuljahr 2005/06 vorgesehen ist,<br />

wurde noch nicht in die Übersicht aufgenommen.<br />

3 zentrale Klassenarbeiten in der 10. Klasse in ausgewählten Fächern<br />

4 teilweise (zumeist Vollzeitschulen)<br />

5 entsprechend den anderen Schulformen<br />

6 ausgenommen: einfacher Hauptschulabschluss nach 9 Jahren<br />

7 gilt auch für verbundene Haupt- und Realschule<br />

+ = zentrale Prüfung<br />

-- = keine zentrale Prüfung<br />

leeres Kästchen = Schulform trifft nicht zu<br />

Quelle: van Ackeren 2003 in Anlehnung an Klemm 1998


Anregung zur Wiederholung<br />

1) Vergegenwärtigen Sie sich den Begriff des ‚Föderalismus’ knapp in seiner allgemeinen<br />

Bedeutung sowie mit Blick auf das <strong>deutsche</strong> Bildungswesen.<br />

2) Überlegen Sie, welche Zuständigkeit einerseits der Bund und andererseits die Länder im<br />

<strong>deutsche</strong>n Bildungswesen haben und wie die Gesetzgebungskompetenzen koordiniert<br />

werden. Machen Sie die Kompetenzverteilung zudem am Beispiel der Bildungsfinanzierung<br />

deutlich.<br />

3) Wiederholen Sie die Bedeutung der ‚äußeren’ sowie der ‚inneren Schulangelegenheiten’ und<br />

führen Sie Beispiele dazu an.<br />

4) Vergegenwärtigen Sie sich die wesentlichen Merkmale einer Organisation sowie die<br />

Koordinationsmechanismen in Organisationen.<br />

5) Machen Sie sich eine Skizze eines Steuerungsmodells von Schule unter Berücksichtigung<br />

folgender Größen: Output, Prozess, Input, Outcome, Kontext. Fügen Sie eine kurze<br />

Definition von Input-, Prozess- und Outputgrößen an und finden Sie Beispiele dazu.<br />

6) Überlegen Sie, warum Qualitätsfragen in den letzten Jahren in der <strong>deutsche</strong>n<br />

Schullandschaft so dominant geworden sind.<br />

7) Überlegen Sie sich eine knappe Definition des Begriffes ‚Evaluation’ im Hinblick auf Schule.<br />

Nennen Sie darüber hinaus Beispiele für Evaluationstypen und -varianten und machen Sie<br />

Sich Vor- und Nachteile verschiedener Evaluationsformen deutlich.<br />

8) Nennen Sie schlagwortartig Gründe für die aktuelle Schwerpunktlegung auf externe<br />

Evaluationsformen und führen Sie entsprechende Instrumente an.<br />

64


5. Qualifikation, Selektion und Legitimation als konstante Elemente der<br />

Schulentwicklung<br />

Im Verlauf der bisherigen Darstellung wurden drei unterschiedliche Perspektiven eingenommen:<br />

<strong>Das</strong> <strong>deutsche</strong> <strong>Schulsystem</strong> wurde aus der Perspektive seiner Geschichte, aus der seiner gegenwärtigen<br />

<strong>Struktur</strong> und schließlich aus der seiner Steuerung untersucht. Diesem dreifachen Zugang<br />

wurde eine funktionalistische Betrachtung vorangestellt: Aus schultheoretischer Sicht wurden die<br />

Funktionen der Qualifikation, der Selektion (und damit verbunden der Allokation) und schließlich<br />

die der Legitimation dargestellt. Auf diese Funktionsbeschreibung soll nun abschließend – und das<br />

bisher Dargestellte zusammenfassend – zurückgegriffen werden.<br />

5.1 Qualifikation<br />

Am Beispiel Preußens wurde gezeigt, dass am Beginn der Etablierung eines modernen <strong>Schulsystem</strong>s<br />

das Interesse des Staates stand, den wachsenden Bedarf qualifizierter Beamter in darauf<br />

ausgerichteten Schulen heranzubilden. Die Verankerung des Abiturs als Abschlussprüfung der<br />

Gymnasien in den Jahren zwischen 1788 und 1834 war maßgeblich von dem Interesse geprägt, in<br />

den höheren Schulen eine gebildete Schicht für Führungsaufgaben im Staat und – später dann –<br />

in der Wirtschaft heranzuziehen. In der Frühphase der Industrialisierung Preußens, in der ersten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts, konnte es der preußische Staat zulassen, dass sich schulische Qualifikationsanstrengungen<br />

überwiegend auf das höhere Schulwesen konzentrierten und dass sie sich<br />

am neuhumanistischen Bildungsverständnis eines Wilhelm von Humboldt orientierten.<br />

Im Verlauf des sich beschleunigenden Industrialisierungsprozesses verwandelten sich die inhaltlichen<br />

Anforderungen an die schulische Qualifikation; zudem weitete sich das Interesse an schulisch<br />

vermittelten Qualifikationen seitens des Staates, der im wachsenden Maße mit seiner Schulpolitik<br />

auf die Nachfrage aus dem nicht staatlichen Teil des Beschäftigungssystems reagieren<br />

musste, aus. Dieses gewachsene und ausgeweitete Qualifikationsinteresse führte im auslaufenden<br />

19. Jahrhundert zu Modernisierungsschüben:<br />

- <strong>Das</strong> höhere Schulwesen erhielt mit mathematisch-naturwissenschaftlichen und neusprachlichen<br />

Typen ein curricular modernisiertes Spektrum an Bildungsangeboten;<br />

- das niedere Schulwesen verlor allmählich seine Bestimmung als Institution zur Bildungsbegrenzung<br />

und wurde fachlich ausdifferenziert und materiell zugleich besser ausgestattet; parallel<br />

dazu wurde die Schulpflicht durchgesetzt.<br />

- Schließlich entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Grundzüge<br />

des Dualen Systems der Berufsbildung. Für all dies waren die Qualifikationsinteressen von<br />

Staat und Wirtschaft entscheidende Triebkräfte.<br />

Es war der gleiche Bedarf an schulisch vermittelter Qualifikation, der – nach der Phase der Bildungsbegrenzung<br />

im Dritten Reich – der Bildungsexpansion während der Reformjahre seit der<br />

Mitte der sechziger Jahre seine Dynamik gab: Allein das öffentliche Einklagen gleicher Bildungschancen<br />

– gestützt auf die Untersuchungen Dahrendorfs („Bildung ist Bürgerrecht“, 1965) – hätte<br />

in den sechziger Jahren und danach kaum ausgereicht, die Bildungsinstitutionen so weit, wie dies<br />

seither geschehen ist, zu öffnen und diesen Öffnungsprozess auch öffentlich zu finanzieren. Der<br />

Verweis auf die „<strong>deutsche</strong> Bildungskatastrophe“ durch Picht (1964) und auf die ökonomischen Folgen<br />

eines Mangels an ausreichend qualifizierten Beschäftigten hatte das Feld bereitet und vermochte<br />

– zusammen mit der bürgerrechtlichen Argumentation – die Kräfte zu mobilisieren, die die<br />

einsetzende Bildungsexpansion am Leben hielten.<br />

So wie der Qualifikationsbedarf, den Wirtschaft, Politik und auch Wissenschaft in den sechziger<br />

Jahren ausgemacht hatten, den expansiven Kurs des Bildungssystems erst ermöglichten, so ist es<br />

am Ende dieses Jahrhunderts die Sorge um den Standard der schulisch vermittelten Qualifikationen,<br />

die dazu beiträgt, dass der Expansionskurs der Reformjahre und auch der Jahre seither in<br />

Frage gestellt wird. Unter der Überschrift ‚Klasse statt Masse’ werden Empfehlungen formuliert und<br />

politische Maßnahmen eingeleitet, deren Ziel eine Umsteuerung ist: Die Erfolgsdaten der gestiegenen<br />

Bildungsbeteiligung verlieren an Bedeutung, werden zum Teil auch zu Vorboten eines großen<br />

bildungspolitischen Misserfolges umgedeutet; das öffentliche Interesse richtet sich auf Indikatoren,<br />

die etwas zur Qualität vermittelter Qualifikationen aussagen. <strong>Das</strong> gesellschaftliche Projekt<br />

65


der Ausweitung schulisch vermittelter Qualifikationen wird abgelöst durch das der Qualitätssicherung.<br />

Unabhängig von all den Wechselfällen der neueren <strong>deutsche</strong>n Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts<br />

behauptet die Funktion der Schule, Qualifikationen zu vermitteln, ihre Stellung als einer<br />

der Dreh- und Angelpunkte der Schulentwicklung – wenn auch mit unterschiedlichen, gelegentlich<br />

sogar konträren Folgen für die jeweilige Schulpolitik.<br />

5.2 Selektion und Allokation<br />

Eine vergleichbare Konstanz kommt der schulischen Selektions- und der mit ihr verbundenen Allokationsfunktion<br />

zu. Mit dem Ende der Ständegesellschaft, das sich in Deutschland anders als in<br />

Frankreich mit seiner großen Revolution von 1789 weniger abrupt, sondern eher allmählich vollzog,<br />

übernahm die Schule auch in Deutschland eine in ihrer Bedeutung anwachsende Rolle bei<br />

der auf schulisch erbrachte Leistungen gestützten Auswahl junger Menschen (Selektion) und bei<br />

ihrer Zuweisung zu den hierarchisch gegliederten Positionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft<br />

(Allokation). Neben dem Qualifikationsbedarf der Gesellschaft war es der Wechsel von der Standes-<br />

zur Leistungsgesellschaft, der der Schule im Verlauf des 19. Und 20. Jahrhunderts ihre überragende<br />

Stellung eröffnete.<br />

Dieser Systemwechsel, der sich überall im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung vollzog,<br />

wurde zwar bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert eingeleitet, fand aber erst mit dem Ende des<br />

Kaiserreiches einen vorläufigen Abschluss. Erst mit der Einführung einer gemeinsamen Grundschule<br />

durch den Weimarer Schulkompromiss (1919) konnte sich die Weichenstellung für unterschiedliche<br />

Schulkarrieren auf der Grundlage von in der (Grund-)Schule erbrachten schulischen<br />

Leistungen vollziehen. Die damit gegeben Öffnung schulischer Karrieren für Jungen und Mädchen<br />

aller sozialen Schichten machte erstmals in der <strong>deutsche</strong>n Schulgeschichte ernst mit dem Anspruch,<br />

das Erreichen gesellschaftlicher Positionen vom Erbringen schulischer Leistungen abhängig<br />

zu machen.<br />

Es war dann die relative Erfolglosigkeit dieses Versuchs, soziale Herkunft und schulischen Erfolg<br />

und damit gesellschaftliche sowie berufliche Karrieren zu entkoppeln, die in den sechziger Jahren<br />

dieses Jahrhunderts – gemeinsam mit der Sorge, nicht genügend Qualifikationen zu vermitteln –<br />

der <strong>Struktur</strong>reform des west<strong>deutsche</strong>n Bildungssystems seinen Antrieb verlieh. Angesichts der<br />

Einsicht in die „Illusion der Chancengleichheit“ (so titelte der französische Soziologe Bourdieu)<br />

wurde ein radikaler Umbau des Bildungssystems gefordert: Die gruppenspezifische Selektion im<br />

gegliederten <strong>Schulsystem</strong> und die damit verbundene „Vererbung“ sozialer Chancen von Generation<br />

zu Generation sollte in einem ungegliederten <strong>Schulsystem</strong>, in Gesamtschulen, aufgehoben,<br />

zumindest jedoch abgeschwächt werden.<br />

Der heftige Widerstand gegen diesen strukturellen Umbau erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass<br />

die damit verbundenen Veränderungen schulischer Auslese die Verteilung gesellschaftlicher<br />

Chancen von Generation zu Generation in Frage gestellt hätte – zu Lasten der Mittel- und Oberschichten.<br />

Der Erfolg, den die Gegner einer Umstrukturierung des <strong>deutsche</strong>n <strong>Schulsystem</strong>s in<br />

Westdeutschland und nach 1989 mit der Auflösung der polytechnischen Oberschulen der DDR<br />

auch in Ostdeutschland verzeichnen konnten, wurde dadurch erleichtert und abgestützt, dass Länder<br />

mit gesamtschulähnlichen <strong>Schulsystem</strong>en bei ihren Bemühungen, zwischen den sozialen<br />

Schichten bestehende Chancenungleichheiten abzubauen, auch nur geringe Erfolge vorweisen<br />

konnten und können.<br />

Selektion und Allokation, so zeigt dieser knappe Überblick noch einmal, sind mit jeweils wechselndem<br />

Gewicht neben der Qualifikation ein weiteres konstantes Element der Schulentwicklung.<br />

5.3 Legitimation<br />

Ebenso wie auf die Qualifikations- und Selektionsfunktion führt eine Betrachtung der Schulentwicklung<br />

immer wieder zur Legitimationsfunktion der Schule. So wie die preußischen Herrscher im 19.<br />

Jahrhundert ihre Schulen immer wieder in den Dienst von ‚Krone und Altar’ gestellt haben (etwa<br />

bei der Bildungsbegrenzungspolitik der Stiehl’schen Regulative), so hat auch der nationalsozialistische<br />

Staat die Schulen zur Legimitation der nationalsozialistischen Diktatur und zur nationalsozialistischen<br />

Indoktrination genutzt. Auch er tat dies zu Lasten der Qualifikation der Schülerinnen und<br />

Schüler.<br />

66


Die Entwicklung in Westdeutschland nach 1945 zeigt jedoch, dass sich die Legitimation gesellschaftlicher<br />

Verhältnisse durch die Schule mit dem Qualifikationsauftrag der Schule vertragen können:<br />

Die Erziehung zur Demokratie, die den Schulen aufgegeben ist, geht einher mit ihrer Qualifizierungsaufgabe.<br />

Zu einem Konflikt kann es allerdings dann kommen, wenn für die Individuen trotz erfolgreicher<br />

Qualifizierung durch die Schule die Türen zum Beschäftigungssystem verschlossen bleiben. Wenn<br />

infolge eines Ungleichgewichtes zwischen dem Bildungs- und dem Beschäftigungssystem das<br />

Leistungsprinzip, auf dem die Schule des demokratischen Staates beruht, ausgehöhlt wird, dann<br />

fällt es der Schule schwer, die Legitimität des Systems insgesamt zu vermitteln.<br />

Anregung zur Wiederholung<br />

1) Überlegen Sie sich Beispiele, an denen sich jeweils eine der Funktionen der Schule<br />

(Qualifikation, Selektion, Legitimation) deutlich machen lässt.<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

__________________________________________________________________________<br />

67


Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildung 1.1: Politische Geschichte und Schulgeschichte in Preußen<br />

und im Kaiserreich vom 18. Jahrhundert bis 1918 ________________ 6<br />

Abbildung 1.2: Politische Geschichte und Schulgeschichte in Deutschland<br />

von 1918 bis zur Gegenwart ________________________________ 21<br />

Abbildung 2.1: Stundentafel für das Gymnasium (1837)________________________ 8<br />

Abbildung 2.2: Normal-Lehrplan für die einklassige Elementarschule (1854)_______ 14<br />

Abbildung 2.3: Stundentafel für die Oberrealschule (1901)_____________________ 17<br />

Abbildung 2.4: Stundentafel für die mehrklassige Volksschule (1872) ____________ 18<br />

Abbildung 3.1: Schulstruktur vor 1919_____________________________________ 23<br />

Abbildung 3.2: Schulstruktur ab 1919 _____________________________________ 24<br />

Abbildung 4: Schulstruktur in der DDR___________________________________ 27<br />

Abbildung 5.1: Schulstruktur in der BRD ab 1969 ____________________________ 28<br />

Abbildung 5.2: Aktuelle Schulstruktur der Länder im Überblick__________________ 32<br />

Abbildung 6.1: Schüler der Klassenstufe 8. Verteilung nach Schularten<br />

in Deutschlan (in %) ______________________________________ 33<br />

Abbildung 6.2: Verteilung der Schülerinnen und Schüler im 7. bzw. 8. Jahrgang<br />

(BRD)__________________________________________________ 34<br />

Abbildung 7: Schule zwischen Schulaufsicht und Schulträger. <strong>Das</strong> Beispiel<br />

Nordrhein-Westfalens _____________________________________ 49<br />

Abbildung 8.1: Ökonomisch geprägtes Steuerungsmodell _____________________ 51<br />

Abbildung 8.2: Steuerungsmodell unter Berücksichtigung von<br />

Prozessmerkmalen _______________________________________ 51<br />

Abbildung 8.3: Koordinationsmechanismen in Organisationen__________________ 54<br />

Abbildung 8.4: Qualitäts- und Steuerungsd-Dimensionen des Schulwesens _______ 55<br />

Abbildung 9: Überblick über Evaluationsformen und -bezeichnungen___________ 59<br />

Abbildung 10: Zentrale Abschlussprüfungen in Deutschland___________________ 63<br />

68


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Bei den fett unterlegten Texten handelt es sich um Grundlagenliteratur.<br />

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72

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