Geschäftsbericht 2010 - Heinrich Schmid
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10 <strong>Heinrich</strong> <strong>Schmid</strong> ® <strong>Geschäftsbericht</strong> <strong>2010</strong><br />
Arbeit im Umbruch<br />
Über die Ausstellung zum Wandel der Arbeitswelt seit 1945<br />
vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland<br />
Te x t : G a b i W u t t k e _ F o t o s : K a t h r i n H a r m s / A r c h i v H a u s d e r G e s c h i c h t e<br />
Die Wasserwellen der jungen Frauen sind frisch<br />
gelegt. Zu zehnt sitzen sie in einer Reihe in der<br />
Werkshalle vor den Nähmaschinen. Das pau-<br />
senlose Rattern meint man noch über ein hal-<br />
bes Jahrhundert später zu hören. „Wirtschafts-<br />
wunder. Da ging’s wieder bergauf“, erinnert der<br />
weißhaarige Betrachter seine Gattin. „War ja al-<br />
les futsch. Jeden Morgen sind wir um 5 Uhr auf-<br />
gestanden, sechs Tage die Woche, bei Wind<br />
und Wetter. Da wurde nicht gemurrt, da wurde<br />
geklotzt, bis die Augen zufielen.“<br />
In Wolfsburg stehen zehn Jahre nach Kriegs -<br />
ende zu viele Karosserien hintereinander, als<br />
dass sie auf ein einziges Bild gepasst hätten.<br />
Die Män ner wuchten schwere Kisten, greifen in<br />
Papp kartons und Metallregale, leeren Paletten,<br />
schrauben, schweißen und passen das Innenleben<br />
des Käfers an. Der Globus trägt auf einem<br />
Werbeplakat von VW einen eleganten grauen<br />
Zylinder und verkündet stolz: „In aller Welt zieht<br />
man den Hut. 1 Million Volkswagen – bei steigender<br />
Qualität und sinkenden Preisen.“<br />
Ob das einstige Wirtschaftswunderkind an dem<br />
Zitat auf der großen Stellwand absichtlich vor bei -<br />
gegangen ist? Es stammt von Hannah Arendt.<br />
Schon 1958 – als die modernsten Automatisierungsanlagen<br />
aus den USA importiert, die ers -<br />
ten Spinnerinnen mit ihren traditionellen Arbeitsschürzen<br />
verbannt worden waren und die<br />
Tätigkeit in den Montagehallen auf immer weniger<br />
Handgriffe reduziert wurde – schrieb die Soziologin:<br />
„Was uns bevorsteht, ist die Aussicht<br />
auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen<br />
ist.“<br />
In der Bundesrepublik Deutschland nahm man<br />
das als Warnung nicht zur Kenntnis – obwohl in<br />
der gewerblichen Industrie einzelne Branchen<br />
bereits an ihre Wachstumsgrenzen gestoßen<br />
waren. Denn die Welt zog ihren Hut nicht, ohne<br />
einen Preis zu fordern: So schrumpfte wegen<br />
der billigeren Konkurrenz aus dem Ausland<br />
die Textil- und Bekleidungsbranche. Aber es<br />
wurde weiter auf Technik gesetzt: Mit der „Arbeitsschauuhr“,<br />
einem kiloschweren, deutschen<br />
Ham merschlagprodukt, das mit einem Lochstreifen<br />
gefüttert und über vier Tasten bedient<br />
wurde. Obwohl mit diesem Gerät die Normzeiten<br />
für die verbliebenen Näherinnen immer weiter<br />
hochgeschraubt wurden, waren viele Betriebe<br />
in den 70er-Jahren nicht mehr satisfaktionsfähig.<br />
Es kam die Stunde null des Dienstleistungssektors.<br />
Die Ausstellung kontrastiert das eindringlich:<br />
Eine Reihe chromblitzender Geldautomaten<br />
und die quietschgelbe Eigenwerbung der Deutschen<br />
Post AG als „Global Player“, stehen<br />
Schwarz-Weiß-Fotos aus der ehrwürdigen<br />
Schalterhalle einer Sparkasse der 50er-Jahre<br />
gegenüber. Die bargeldlose Überweisung war<br />
den meisten noch unbekannt; die Löhne wurden<br />
wöchentlich ausbezahlt, was übrig blieb<br />
kam aufs Sparbuch. Hinter den Schaltern nahmen<br />
Beamte das Geld entgegen und verwalteten<br />
es vertraulich – auf dass der verdiente Wohlstand<br />
sich redlich vermehre.<br />
„Und mit dem ersten Auto ging’s dann ab an die<br />
Riviera“, schwärmt der alte Herr. „Und wann<br />
hast du die ersten Wertpapiere gekauft?“, erkundigt<br />
sich seine Frau. Es muss in den 60er-<br />
Jahren gewesen sein. Da begann für Sparkassen<br />
und Banken das Massengeschäft mit den<br />
kleinen Leuten. 1970 kam die Bankleitzahl, aus<br />
Beamten wurden Angestellte, die ersten Institute<br />
schafften sich EDV- Anlagen an. Das Zeitalter<br />
der Mechanik war vorbei, die Arbeitsabläufe<br />
wurden immer weiter rationalisiert und durch<br />
Kooperationen im Sinne der Unternehmen optimiert.<br />
Die Freude an der Arbeit, auch an harter Arbeit,<br />
als sinnstiftendem Lebenszweck war perdu. Sie<br />
habe ihren Beruf lange geliebt, sagt eine ehemalige<br />
Bankfachfrau in einem der aufgezeichneten<br />
Interviews. Gern und viel habe sie gearbeitet,<br />
um ihre Kunden nach bestem Wissen<br />
und Gewissen zu beraten. Aber in den 70ern<br />
musste sie dann ins Verkaufstraining und der<br />
Druck auf die Messbarkeit der Umsätze sei in<br />
der folgenden Zeit gewaltig geworden. Computer<br />
zogen auch in andere Gewerbe ein. „Je weiter<br />
die Technik fortschritt, umso ersetzbarer wur -<br />
den wir“, erklärt ein Schriftsetzer mit einem bitteren<br />
Lächeln. Bleilettern, Winkelhaken, Ahle<br />
und Pinzette: Heute ist das Kunsthandwerk.<br />
Was also lief falsch? Das fragen sich nicht nur<br />
die Besucher der Ausstellung. Warum wird Arbeit<br />
inzwischen überwiegend als Belastung<br />
empfunden, als Mittel zum Zweck? Weil – so<br />
schreibt auch der Sozialforscher Dieter Sauer im<br />
Katalog – Unsicherheit und Angst natürlich nicht<br />
nur von den Märkten Besitz ergriffen. Weil für<br />
die Parole „Hauptsache Arbeit“ deren „Qualität“<br />
in den Hintergrund gerückt und der Arbeitnehmer<br />
zu einer jederzeit ersetzbaren Figur im großen<br />
Spiel wurde.<br />
Wie ist nun denen entgegenzutreten, die inzwi -<br />
schen auf offene Ohren stoßen, wenn sie das<br />
baldige Ende der Arbeitsgesellschaft verkünden?<br />
Wie ist – angesichts sinkenden Erwerbsvolumens<br />
– den Beschäftigten der zunehmende<br />
zeitliche und räumliche Flexibilisierungsbedarf<br />
schmackhaft zu machen? Wie der Kranken-