4DISKUSSION„Hurra, wir dürfen zahlen“Die Mittelschicht stellt die meisten WählerInnen, trotzdemzahlt sie seit Jahren bei Reformen immer drauf. Die taz-Journalistin Ulrike Herrmann wundert sich in ihrem Buch,was die Mittelschicht alles mit sich machen lässt.infoboxZur Mittelschicht gehören laut derDefinition des DIW (Deutsches Institutfür Wirtschaftsforschung), die UlrikeHerrmann verwendet, alle, derenNettoeinkommen zwischen 70 und150% des durchschnittlichen Einkommensbeträgt.Für einen Single wären das inDeutschland zwischen 1.130 und2.420 € netto monatlich, bei einerFamilie mit zwei Kindern ca. 2.370bis 5.080 €; für Österreich gibt esnicht genug Daten, um das genauauszurechen, die Verdienste dürftenaber etwas höher liegen.1998 zählten in Deutschland 64,3Prozent zur Mittelschicht, 2008waren es nur noch 58,7 Prozent.Wieder kracht ein Land, wieder werdenBanken gerettet, wieder zahlt's ... derSteuerzahler. Und wer ist das, derSteuerzahler? Na alle, oder? Dasstimmt nicht ganz, schreibt die deutscheWirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann.Denn belastet wird, auch bei derBankenrettung, vor allem die Mittelschicht– und das, obwohl sie eigentlichdie mächtigste Bevölkerungsgruppewäre. In ihrem Buch „Hurra, wirdürfen zahlen - der Selbstbetrug derMittelschicht“ wundert sich Ulrike Herrmann,was die viel beschworene Mitteder Gesellschaft alles mit sich machenlässt. Ulrike Herrmann beschreibtin ihrem Buch zwar die Situation in derBundesrepublik, besitzt allerdings aucherstaunliche Kenntnis der österreichischenVerhältnisse. Deutschland isteine Klassengesellschaft, schreibt UlrikeHerrmann in ihrem Buch, und mitÖsterreich, so erzählt sie im Interview,verhalte es sich nicht anders. DieStruktur der Besitzverhältnisse habesich seit dem Ende des 19. Jahrhundertsnicht maßgeblich geändert.Alles, was den Wählerinnen und Wählernin den letzten Jahr(zehnt)en als„notwendige Reformen“ verkauft wurde,das habe nur einer gesellschaftlichenGruppe genützt: der Oberschicht,den Eliten. Draufgezahlt habe, nebenden sozial Schwachen (der Unterschicht)vor allem die Mitte der Gesellschaft.Heute ist es in Österreich so, dass dasreichste Prozent der Bevölkerung einDrittel des gesamten privaten Vermögensbesitzt, die reichsten zehn Prozentgar zwei Drittel. Doch anstatt die Vermögendenangemessen an der Finanzierungdes Gemeinwesens zu beteiligen,wurden in den letzten JahrenErbschafts- und Schenkungssteuerabgeschafft, hohe Einkommen entlastetund die Unter- und Mittelschichtdurch Sparprogramme und Abgabenerhöhungmehr und immer mehr belastet.Und wer ist schuld daran? DieSchmarotzer aus der Unterschicht natürlich– zumindest für die MeinungsundStimmungsmacher: Haider, Blocher,Dichand, Sarrazin – reiner Zufall,dass ausgerechnet die, die vorgeben,die Interessen der „kleinen Leute“ zuvertreten, alle Millionäre sind?Die Mittelschichtist selber schuldDie Mittelschicht ist selber schuld, dasschreibt Ulrike Herrmann, und zwar, weilsie die größte Zahl der Wähler stelle undtrotzdem gegen ihre Interessen handle.Im Interview formuliert die Autorin ihreThese, dass die Mittelschicht immerGesetze akzeptiere, dir ihr selber schaden.Sie, die Mittelschicht, identifizieresich mit den Reichen und bekommenicht mit, dass die Vermögenden geschontwerden. Warum es diese Tendenzgebe, dass die Mittelschicht zurKassa gebeten wird, beantwortet Herrmannfolgendermaßen: „Es ist ja überallso, Sie können europaweit gucken:Immer, wenn es darum geht, die Finanzkrisezu finanzieren, wird bei denSozialhaushalten gespart und die Mittelschichtbelastet. Typischerweise werdendie Steuern und Abgaben erhöht,oder es wird bei den Beamten gekürzt,was ja auch die Mittelschicht betrifft. (…)Ich wollte das wenigstens mal aufschreiben,deswegen habe ich dasBuch geschrieben, um es den Leutenmal vorzuführen, wie diese Mechanismenfunktionieren. Aber ob das dengroßen Wandel herbei führt, da habe ichauch meine Zweifel.“Es haben sich gesellschaftlich akzeptiertePhänomene in der Kommunikationeingeschliffen. Die Populisten prä-
DISKUSSION 5sentieren die Unterschicht (respektive»die Ausländer« bzw. »die Muslime«) alsSündenböcke, die die Gesellschaft soviel kosten würden, dass Sparmaßnahmennotwendig seien. So werden– siehe die aktuelle österreichischeBudgetsituation – Staatsausgaben gekürzt,die vor allem der Mittelschicht zuGute kämen – die Oberschicht kannsich für ihre Sprösslinge sowieso Privatschulenleisten.Wie der Esel hinter der KarotteWarum die Mittelschicht so „blöd“ ist,auch noch mehrheitlich die zu wählen,die ihnen das Geld aus der Tasche ziehen?Ulrike Herrmann vermutet, dasssie sich heimlich zur Elite rechnet,oder zumindest beinahe zur Elite.Wie der Esel hinter der Karotte läuft dieMittelschicht dem Traum vom Aufstieghinterher. Dabei ist die gesellschaftlicheMobilität in wenigen Ländernso eingeschränkt wie in Deutschlandund Österreich. Dafür sorgt schon dasSchulsystem.Beim letzten Armuts- und Reichtums-Bericht hatte die (deutsche) Regierungeine sehr pfiffige Idee, sie hat nämlicheine Umfrage gemacht unter denDeutschen und gefragt: „Was ist für Sieeigentlich Reichtum?“ Und da kamdann raus, dass für jeden der Reichtumknapp oberhalb des eigenen Einkommensanfängt. In dieser Logik mussman sich nur ein bisschen anstrengen,und dann ist man auch bei den wirklichReichen. Und der enorme Abstandzu denen, die die Millionen haben,der fällt dann gar nicht auf.Studien des SelbstbetrugsWarum ist der Anteil der Menschen, dersich zur Mittelschicht zugehörig fühlt,höher als es tatsächlich der Fall ist? „Esgibt lustige Studien dazu. In einer Umfragein Deutschland sollten sich Leuteeinordnen, Manager genauso wieArbeitslose - auf einer Skala von 1 untenbis 10 oben. Und da kam raus,dass Arbeitslose, die ja zu den Ärmstengehören, sich immer noch bei 4,6einordnen und Manager, die zu denReichsten gehören, bei 6,6. Das heißtdie oberen und unteren Ränge sindnicht besetzt. Das liegt daran, dass sichdie Reichsten systematisch arm rechnen.Österreich ist ein reiches Land, aber versuchenSie mal einen Reichen zu finden.Die Reichen werden Ihnen wortreicherklären, warum ausgerechnet siees besonders schwer haben und warumsie schon fast zum Prekariat gehören.Umgekehrt ist es so, dass dieArmen sich ihrer Armut schämen undsich nach oben orientieren. Sie wollenweder sich selbst noch anderen eingestehen,dass sie zu den Verlierernzählen. Sie sehen sich daher irgendwoin der Mitte. Weil aber alle denken, siegehörten zur Mittelschicht, kann überhauptnicht diskutiert werden, dass sowohlDeutschland als auch ÖsterreichKlassengesellschaften sind. Das Vermögenkonzentriert sich bei ganz wenigenFamilien.“Bildungsaufstieg bedingt keinenökonomischen AufstiegTatsache ist, so die Autorin, „(…) diemeisten Leute haben einen Bildungsaufstiegerlebt. Heutzutage haben 50%eine bessere Berufsausbildung als dieEltern. Das führt dann zur Idee, man seibei der Elite angekommen, weil der Bildungsaufstiegmit einem ökonomischenAufstieg verwechselt wird. Daserstaunliche Phänomen ist, dass wireine Gesellschaft haben, die so gut ausgebildetist wie noch nie zuvor. Trotzdemstagnieren die Reallöhne und dieLohnquote sinkt. Aber die Arbeitnehmersind so stolz auf ihren eigenen Bildungsabschluss,dass sie nicht bemerken,dass sich ihre Ausbildungnicht in ihrem Einkommen umsetzt.“Ein neuer New Deal?Eine angemessene Lösung wäre für UlrikeHerrmann ein neuer New Deal, wiebei der letzten großen Wirtschaftskrisein den Dreißiger Jahren: Damalsbeim New Deal hat man konsequenterweisegesagt: Wenn man die Reichenrettet, dann müssen sie auch fürdiese Kosten aufkommen, und hatdann den Spitzensteuersatz auf bis zu79% angehoben. Das wäre heute garnicht nötig, denn damals musste manja auch noch den Zweiten Weltkrieg finanzieren.Aber das Interessante andiesem Lehrstück New Deal war ja,dass obwohl die Steuern so derartighoch waren, es nicht so war, dass dieReichen nicht mehr reich gewesenwären oder der Kapitalismus zugrundegegangen wäre - sondern ganz im Gegenteil:Am Ende war es sogar so, dassauch die Reichen profitiert haben. DieseVermögens- oder Einkommensverteilung,die sehr viel gleicher wurde, hatdann dazu geführt, dass das Wachstumenorm war, weil zum ersten Malauch die Arbeiter und die Angestelltenkonsumieren konnten. Und einen ähnlichenEffekt würde man auch diesmalerzielen.Quellen: http://fm4.orf.at/stories/1668878/;http://www.nachdenkseiten.de/?p=5626;Standard Interview mit der Autorin vom16. November 2010zur buchautorinFoto: Herby Sachs / WDRULRIKEHERRMANN> 1964 in Hamburg geboren> Zählt sich selbst zur Mittelschicht> Nach einer abgeschlossenen Lehreals Bankkauffrau studierte Herrmannan der FU Berlin Geschichte undPhilosophie. Darauf folgten wissenschaftlicheMitarbeiten (Körber-Stiftung)und Pressesprechertätigkeiten(bei der GleichstellungssenatorinKrista Sager).> Seit 2000 ist Ulrike Herrmann Wirtschaftskorrespondentinbei der BerlinerTAZ.> Neben der Tätigkeit als Parlamentskorrespondentinleitete sie auch dieMeinungsredaktion.> Sie nimmt häufig an öffentlichen Diskussionenin Hörfunk und Fernsehenteil. Ihre Sachbuchpublikationen beschäftigensich mit grundlegendensozial- und wirtschaftspolitischenFragen.