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Ärzteblatt Februar 2006 - Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern

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kanzlerin Angela Merkel und das große Koalitionskabinett<br />

ihre Wahl einem (verfassungsrichterlichen) galligen Brechdurchfall<br />

verdanken – nomen est omen! Der Dichter Heine<br />

hätte über eine solche staatskritische Cholera aus Karlsruhe<br />

2005 göttlich boshaft zu berichten vermocht! In Anbetracht<br />

aktueller Schreckensszenarien, die für den Ausbruch<br />

einer mutierten Vogelgrippepandemie in der Gegenwart<br />

beschworen werden, sei Heinrich Heines Schilderung der<br />

ohnmächtigen Pariser Hygienebemühungen bei der Cholera<br />

1832 als ein beachtenswertes Menetekel angefügt:<br />

Nichts gleicht der Verwirrung, womit jetzt plötzlich Sicherungsanstalten<br />

getroffen wurden. Es bildete sich eine Commission<br />

sanitaire, es wurden überall Bureaux de secours<br />

eingerichtet, und die Verordnung in betreff der Salubrité<br />

publique sollte schleunigst in Wirksamkeit treten. Da kollidierte<br />

man zuerst mit den Interessen einiger tausend Menschen,<br />

die den öffentlichen Schmutz als ihre Domäne betrachten.<br />

Dieses sind die sogenannten Chiffonniers, die<br />

von dem Kehricht, der sich des Tags über vor den Häusern<br />

in den Kotwinkeln aufhäuft, ihren Lebensunterhalt ziehen...<br />

Da klagten diese Menschen, ... daß dieser Erwerb<br />

ein verjährtes Recht sei, gleichsam ein Eigentum, dessen<br />

man sie nicht nach Willkür berauben könne. Es ist sonderbar,<br />

daß die Beweistümer, die sie in dieser Hinsicht vorbrachten,<br />

ganz dieselben sind, die auch unsere Krautjunker,<br />

Zunftherren, Gildemeister, Zehntenprediger, Fakultätsgenossen<br />

und sonstige Vorrechtsbeflissene vorzubringen<br />

pflegen, wenn die alten Mißbräuche, wovon sie Nutzen<br />

ziehen, der Kehricht des Mittelalters, endlich fortgeräumt<br />

werden sollen ...<br />

Heinrich Heines eigene Krankengeschichte ist wiederholt Gegenstand<br />

unterschiedlicher Mitteilungen gewesen. Dabei<br />

wechselten kritische differentialdiagnostische medizinhistorische<br />

Berichte mit Zeugnissen nichtärztlicher Zeitgenossen<br />

und Autoren. Grundsätzlich erstrecken sich Krankheitshinweise<br />

auf Heines gesamte Lebenszeit. Er selbst schilderte<br />

seit 1822, seinem 25. Lebensjahr, zunehmende migräneartige<br />

Kopfschmerzen, Angstvorstellungen und Depressionen. 1824<br />

berichtete er über einen Hautausschlag. 1832 setzte eine<br />

zunehmende Lähmung der linken Hand ein. 1837 griff diese<br />

auf den gesamten linken Arm über, und es traten Augenmuskellähmungen<br />

hinzu. So nahm eine nosologische Odyssee<br />

ihren Fortgang, die durch Schmerzen, psychische Auffälligkeiten<br />

und internistische Beschwerden sowie vorrangig<br />

durch mannigfaltige neurologische Störungen gekennzeichnet<br />

war. Das Nervenleiden betraf sowohl zentrale als auch<br />

periphere Ausfälle unterschiedlicher Art und wechselnder<br />

Schweregrade, die infolge Lähmungen des Unterleibes und<br />

beider Beine zu jahrelangem Siechtum in der sprichwörtlichen<br />

Matratzengruft führten. Die teilweise detektivisch-<br />

AUSGABE 2 / <strong>2006</strong> 16. JAHRGANG<br />

KULTURECKE<br />

anamnestischen wie auch die zahlreichen akribisch-pathographischen<br />

Berichte lassen wenig Zweifel daran, daß Heinrich<br />

Heine an einer Neurosyphilis gelitten hatte. Diese hatte<br />

bei ihm sowohl in der zentralen meningovaskulären Form als<br />

auch in der überwiegend spinalen Manifestationsform, der<br />

Tabes dorsalis, vorgelegen. Zwei Wochen vor dem Tode setzten<br />

respiratorische Beschwerden ein. Nach Entwicklung einer<br />

Bronchopneumonie verstarb Heinrich Heine am 17. <strong>Februar</strong><br />

1856. Eine Autopsie hatte er nicht gewünscht.<br />

Die medizinische Krankengeschichte Heines interessiert heute<br />

im wesentlichen die Fachwelt. Sein feinfühliges Leiden an<br />

Deutschland, an seiner Zeit und den damaligen Lebensumständen<br />

hat überdauernde Bedeutung durch die geistige<br />

Verarbeitung in Heinrich Heines Lyrik und Prosa. So sind –<br />

ganz im Sinne der zeitgenössischen WHO-Auffassung – physische,<br />

psychische und soziale Krankheit zum Quell seines<br />

Schaffens für die deutsche und die europäische Literatur, ja,<br />

für die Weltliteratur geworden. Auf Heinrich Heines Gesamtwerk<br />

kann hier naturgemäß nicht eingegangen werden. Er<br />

war der große Lyriker und Sprachkünstler und dazu stets ein<br />

scharfer Beobachter und scharfzüngiger Gesellschaftskritiker.<br />

Immer ist er auch ein ahnungsvoller Weiser gewesen,<br />

der wesentliche Zukunftsereignisse vorausgesehen hat. Die<br />

verbrecherische Bücherverbrennung in Deutschland 1933<br />

hat er beklemmend sicher als Vorboten des späteren Holocaust<br />

seherisch vorausgeahnt: Das war ein Vorspiel nur. Dort<br />

wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende<br />

Menschen (aus: Almansor, 1821).<br />

Marcel Reich-Ranicki, wir haben ihn gelegentlich vernommen,<br />

hat von der deutschen Wunde Heine gesprochen, die<br />

allmählich vernarbe. Ihm sei freundlich entgegnet, daß Heinrich<br />

Heine in den ostdeutschen Bundesländern niemals eine<br />

Wunde, sondern immer schon das Wunder Heine gewesen<br />

ist. Von Kindesbeinen an haben wir uns an seiner Lyrik erfreut:<br />

Die Philister, die Beschränkten, / Diese geistig Eingeengten,<br />

/ Darf man nie und nimmer necken, / Aber weite,<br />

kluge Herzen / Wissen stets in unseren Scherzen / Lieb’ und<br />

Freundschaft zu entdecken – und aufgerichtet: Schlage die<br />

Trommel und fürchte dich nicht, / Und küsse die Marketenderin!<br />

/ Das ist die ganze Wissenschaft, / Das ist der Bücher<br />

tiefster Sinn. Auch von des Dichters schicksalhaftem Krankenlager<br />

in Paris (Matratzengruft) hatten wir mitfühlend<br />

vernommen. Immer wieder hören wir auch Eberhard Esche<br />

gerne zu, wenn er unverwechselbar Deutschland. Ein Wintermärchen<br />

in Berlin und Rostock (und nun gar digital) vorträgt:<br />

Ein neues Lied, ein besseres Lied, / O Freunde, will ich<br />

euch dichten! / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich<br />

errichten.<br />

Um den Lesern dieses Beitrages eine Freude zu machen, die<br />

Heinrich Heine pars pro toto in seiner besten Art darbietet<br />

SEITE 69

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