www.yeziden-colloquium.deSpätestens mit dem Wirken von Scheich Adi in Lalesh könnten die <strong>Yeziden</strong> im 12.Jahrhundert auch eine eigene Schöpfungsgeschichte „konstruiert“ haben, die sich an Schöpfungsgeschichtenim Talmud, in der Bibel und im Koran anlehnte – meine fünfte These. Indem bereits zitierten Qewl „Padischah“ werden die yezidischen Vorstellungen zur Schöpfungsgeschichtebeschrieben:„Mein Herr erschuf die Welt;Er legte die Grenzen und die Formen;Er schuf die Söhne des Adams.Mein Herr bleibt ein Geheimnis im Himmel.Er ist der Urheber der Nacht, des Tages und der Zeit,von ihm stammen die Wunder.Mein Herr ist der Gott aller Engel.Er ist der Gott aller sieben mächtigen Geheimnisse;Er ist der Herr aller sieben mächtigen Männer.Mein Herr schuf das Universum aus der prächtigen Perle.Er übergab es den ewigen sieben Geheimnissen;Er machte Taus-i Melek zum Herrn aller Engel.Mein Herr ist der Herr des Adam.Von ihm kommen Wunder,für immer und überall.“(Übersetzt nach: Silêman 2002)[64] Das Verständnis von „Gut“ und „Böse“ im Sufismus hatte zu einer Sicht des „gefallenenEngels“ geführt, welche sich von der hochislamischen grundsätzlich unterschied. Schonal-Hallaj hatte gelehrt, dass Izazil bzw. Iblis der wahre Bekenner von der Einheit Gottesgewesen sei, da er nur Gott allein und nicht einen anderen (nämlich Adam) anbetete. Diegleiche Ansicht vertrat auch der Sufi-Philosoph al-Ghazali (gest. 1111), dem die Worte zugeschriebenwerden: „Wer von Iblis die Gottesverehrung nicht lernt, ist ein Zindik (Sektierer)“(al-Hasanî 1980, S. 23).In ihrer von der griechischen Philosophie beeinflussten Denkweise hinterfragten die frühenislamischen Mystiker das Verhältnis zwischen Gott und dem Teufel:- Bereits vor der Erschaffung von Himmel und Erde wusste der allwissende Gott, dasssich der Teufel ihm widersetzen werde. Warum hat Er ihn dann überhaupt geschaffen?- Nachdem Gott den Adam geschaffen hatte, forderte Er den Teufel auf, Adam anzubeten,obwohl Er doch bereits wusste, dass es der Teufel nicht tun werde. Warum prüfte Er denTeufel?- Nachdem Gott den Teufel auf die Erde verbannt hatte, ließ Er es zu, dass sich der Teufelins Paradies schleichen und dort Adam und Eva verführen konnte, die daraufhin das Paradiesverlassen mussten. Warum hat Er das zugelassen?- Die unsichtbare Macht des Bösen ist eine ewige Gefahr für den Menschen. Warum beseitigteGott diese Macht nicht, obwohl Er doch der Allmächtige ist? Was bezweckte Erdamit?(ash-Sharistânî, S. 7-9)Die Antwort der Sufis war, dass sich der Teufel richtig verhalten habe, da alles von Gottgeplant war, da ohne seinen Willen und sein Wissen nichts geschehen kann.Die <strong>Yeziden</strong> nun – so vermute ich – übertrugen die philosophische Auffassung der Sufisvon Izazil / Iblis auf Taus-i Melek. Eine Interpretation unter den <strong>Yeziden</strong> ist, dass Gott denTaus-i Melek prüfen wollte. Taus-i Melek bestand die Prüfung und Gott erhob ihn zum Herrenaller Engel.In diesem Zusammenhang ist interessant, dass auch im christlichen Europa in der Romantikeine Strömung entstand, die das Verhalten des Teu- [65] fels rechtfertigte. Im 19.
www.yeziden-colloquium.deJahrhundert tauchte in der Dichtung die Erlösungsfähigkeit des Satans auf, als deren Steigerungdie Tendenz entstand, den Satan als Erlöser und Lichtbringer – Lucifer – zu sehen(Brockhaus Enzyklopädie).5 Der Unterschied zwischen <strong>Yeziden</strong>tum und OffenbarungsreligionenIn zwei Dingen unterscheidet sich die yezidische Religion theologisch von den monotheistischenOffenbarungsreligionen:- Erstens: Die Seele des Menschen ist ein Teil des Ganzen, des göttlichen Lichts. Und so,wie jede Seele eine Einheit mit der Natur bildet, bildet auch jedes Organ im Menscheneine Einheit mit der Seele. Der Mensch kann durch seinen Verstand zwischen Gut undBöse unterscheiden (die Organe Herz und Leber steuern, s. o.) und sich jeweils für dasEine oder das Andere entscheiden.- Zweitens: Die <strong>Yeziden</strong> glauben an eine Wiedergeburt der Seele. Der Reinkarnationsprozessreinigt die Seele, bis sie als letzte Stufe zu ihrer Hauptquelle Taus-i Melek zurückkehrt.Diese Auffassung bildet einen Gegensatz zu den Vorstellungen im Judentum,Christentum und Islam, wo die Seelen nach dem Tod des Menschen auf ihre Auferstehungam Tage des Jüngsten Gerichts warten.Durch die Wiedergeburt verschmelzen Ezid, Taus-i Melek und Scheich Adi zu einer Gestalt.In dem Qewl: „Scheich Adi, Scheiche Schare“ (Scheich Adi, der Scheich der Stadt) heißt esdenn auch:„Scheich Adi, Taus-i Melek und Sultan Ezid sind eins.Macht keinen Unterschied zwischen ihnen.Sie lassen die Hoffnung in Erfüllung gehen.“So gibt es also nicht zwei Götter (Ezid und Taus-i Melek), sondern nur einen. Theologischgesehen ist das <strong>Yeziden</strong>tum – meine letzte These – also eine monotheistische Religion. A-ber im philosophischen Sinne glauben die <strong>Yeziden</strong> an die in der Natur existierende Dualität(ad-Damalûjî 1949, S. 149) – wie damit auch die Reflexion dieser Dualität zu den Grundwertendes yezidischen Gläubigen gehört.Mit meinen religionsgeschichtlichen Thesen habe ich in diesem Vortrag versucht nahezu legen, dass auch die yezidische Religion im Laufe ihrer [66] Entwicklung von den großenReligionen im Vorderen Orient beeinflusst worden ist. Durch den Zervanismus in spätsassanidischerZeit fand der Dualismus Eingang in das <strong>Yeziden</strong>tum und Taus-i Melek verschmolzmit Ahura Mazda und mit Ahriman. Später führte der Einfluss der sufischen Variantedes Islam zur Identifizierung von Taus-i Melek mit dem Engel Izazil / Iblis. Die Gestaltdes yezidischen Ur-Schöpfergottes Ezid nahm Züge des Schöpfergottes der Offenbarungsreligionenan. Mit der Entwicklung der Gottesvorstellung von einem großen, allmächtigenGott einher ging der Wille des Menschen zu Macht und Eroberung. Die politischenFührer identifizierten sich mit diesem Gott, auf dessen Willen ihre Herrschaft beruhte(Durkheim 1998, S. 282). Sie legitimierten ihre Herrschaft von „Gottes Gnaden“. Die Umdeutungvon Taus-i Melek in einen Gott, der das Weltgeschehen lenkt, führte deshalb auchbei den <strong>Yeziden</strong> zu einer Festigung der Macht von Stammesfürsten und Religionsführernüber die Gläubigen. Religionsgeschichtlich gesprochen: Taus-i Melek wurde zum „politischenGott der Weltreligionen“. Theologisch gesprochen: Keine dieser Entwicklungen hatjedoch den Grundgehalt, den Taus-i Melek innewohnenden Grundgedanken, verändert.Zu allen Zeiten und in allen Kulturen war die Religion ein Gefährt, mit dessen Hilfe sich dieMenschen an ihre physische, gesellschaftliche und an die Denkkategorien ihrer geistigkulturellenUmgebung angepasst haben. Auch das <strong>Yeziden</strong>tum hat mehrere solche Anpassungendurchlaufen. Für die gegenwärtige Zeit bedeutet dies, dass sich die yezidische Religionwiederum modifizieren (i. e. der „Moderne“ anpassen) muss, ohne jedoch ihre Grundwerteaufzugeben, ohne ihre Grundaussagen zu verfremden