www.yeziden-colloquium.dekulturellen Umfeld einer Schriftgesellschaft mit weitgehend pluralistischer Gesellschaftsstruktur.Eine zunehmende Schul- und auch Hochschulbildung bei der Jugend ging damiteinher (Tolan, S. 13 ff.).Die unterschiedliche Sozialisation der yezidischen Jugend in Deutschland versperrte ihrden Zugang zur religiösen Vorstellungswelt ihrer Eltern. Die traditionellen Religionsvermittler,die Scheichs und Pirs, sprachen – im übertragenen Sinne – nicht mehr die gleicheSprache wie die Jugend. Zunehmend entwickelten sich yezidische Vereine zu Foren, welchedie alten religiösen Überlieferungen, die Gefahr liefen, nach und nach vergessen zu werden,schriftlich festhielten. Sie trugen damit zur inneryezidischen Diskussion über diese Traditionenbei. Die Diasporasituation in Deutschland bietet den <strong>Yeziden</strong> eine Möglichkeit, überihre Religion zu reflektieren und sie den Bedürfnissen des neuen Lebensraums anzupassen(Ackermann, S. 67 ff.).Im Zuge der Infragestellung der eigenen Religion und durch den Vergleich mit anderenReligionen erschien jetzt auch der Reformer des <strong>Yeziden</strong>tums im 12. Jahrhundert,Scheich Adi, in einem neuen Licht. In den traditionellen Vorstellungen war Scheich Adieine zentrale Gestalt der Glaubensvorstellungen, eine Inkarnation des göttlichen Wesens,der die yezidische Religion reformiert hat und auf den das strenge Kastensystem [11] im<strong>Yeziden</strong>tum zurückging. Jetzt aber konnten nicht nur yezidische Akademiker nachlesen,dass der historische Scheich Adi ein arabischer Sufi-Gelehrter und Heiliger gewesen war,der im 12. Jahrhundert die mystische Variante des Islam unter Kurden und Arabern verbreitethatte. Als Reaktion darauf bezweifelten die Einen, dass der muslimische und der yezidischeScheich Adi ein und dieselbe Person seien; für die Anderen hat er mit seinen Reformendas <strong>Yeziden</strong>tum negativ beeinflusst und durch die auf ihn zurückgehenden islamischen E-lemente den Grundcharakter der yezidischen Religion verfälscht. Wieder Andere bemühensich, historische Beweise für eine yezidisch-kurdische Herkunft des Scheichs zu finden (Issa,S. 45 ff.).Unter den <strong>Yeziden</strong> in Deutschland fehlt es nicht an Versuchen, die bisherigen yezidischenGlaubensauffassungen in ein theologisches System und damit in ein Dogma einzubetten,das sich an den theologischen Denkkategorien der schriftlichen Hochreligionen orientiert.Sie wollen ihre Religion den Anforderungen der neuen geistigen Umwelt anpassen.Dabei argumentieren sie, dass z. B. bereits Scheich Adi zu seiner Zeit mit der Aufnahmesufistischer Elemente in die Glaubensvorstellungen das <strong>Yeziden</strong>tum an die damalige geistigeUmwelt angepasst habe, ohne den Grundcharakter der Religion zu verändert (Othman, S.55 ff.).Neuorientierung und Wandel erfordern eine geistige Auseinandersetzung mit dem Überlieferten,eine Aufarbeitung der durch jahrhundertelange Verfolgung entstandenen traumatischenBelastungen. Für eine Weiterentwicklung, durch die das <strong>Yeziden</strong>tum den Anforderungender Moderne gerecht wird und dabei gleichzeitig sein Wesen und seine Kultur bewahrt,ist die gemeinsame Anstrengung der gesamten yezidischen Religionsgemeinschaftnötig; alle Bildungsschichten und alle Kasten in der Diaspora und in den Heimatregionenmüssten einen Konsens erzielen. Parallel dazu sollte die yezidische Gemeinschaft inDeutschland eine Strategie entwickeln, die ein Überleben der <strong>Yeziden</strong> als Religionsgemeinschaftin der Diaspora gewährleistet. Ein begleitendes Integrationskonzept auf deutscherSeite wäre dabei hilfreich (Kizilhan, S. 79 ff.).Den Referenten und allen Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern auf dem Podiumund im Auditorium war die Tragweite künftiger Veränderungen bewusst. Sie sahen dieGefahr, dass in Deutschland Entwicklungen im <strong>Yeziden</strong>tum einsetzen könnten, die es vonseinen Wurzeln in den Hei- [12] matregionen entfremden. Über die Art und Weise, wie Religionund Denkkategorien an die Verhältnisse in der Diaspora angepasst werden können,klafften die Meinungen weit auseinander. Wiederholt wiesen Diskutanten jedoch daraufhin, dass die Anpassung ein Prozess innerhalb des <strong>Yeziden</strong>tums sei und dass ein direktesEingreifen oder ein starker Druck von außen kontraproduktiv wären (Dulz, S. 91 ff.).
www.yeziden-colloquium.de[13]Telim TolanDie <strong>Yeziden</strong> – Religion und Leben **Während der Vorbereitung zu meinem Vortrag habe ich in meinem Kalender folgendenSpruch gelesen:„Durch gemeinsame Kenntnis voneinander verliert das Fremde sein Gesicht.“ (MarieCurie)Unter dieses Motto möchte ich meinen Überblick über einige wesentliche Aspekte der yezidischenReligion und Gesellschaft stellen.1 Verbreitung, Anzahl und GesellschaftsstrukturDie <strong>Yeziden</strong> sind von der Volkszugehörigkeit Kurden. Sie sprechen das nordkurdische Kurmanjials Muttersprache. Ihre Siedlungsgebiete befinden sich innerhalb der Verbreitungsgebieteder Kurden, die fast nie in ihrer Geschichte einen eigenen Staat hatten und sich heute inden Ländern Irak, Syrien, Türkei und Iran verteilen. Weiterhin leben <strong>Yeziden</strong> auch noch inden ehemaligen Sowjetstaaten Armenien und Georgien. Fast alle türkischen und die Mehrheitder syrischen <strong>Yeziden</strong>, aber auch zahlreiche aus dem Irak, leben in Westeuropa, überwiegendin Deutschland, wenige in Belgien, Dänemark, der Schweiz und Österreich. Die Zahl der inDeutschland lebenden Flüchtlinge wird auf 40.000 geschätzt. Sie leben vorwiegend in denBundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wo sie häufig größere Gemeindenbilden.Es gibt bis jetzt keine offizielle Zählung der <strong>Yeziden</strong>, weder in Deutschland nochweltweit. Schätzungen gehen von insgesamt 800.000 Menschen aus. Ehemals Ursprungsreligionder Kurden, stellen die <strong>Yeziden</strong> eine religiöse Minderheit unter den mehrheitlich muslimischenKurden dar. Aufgrund ihrer Ursprünglichkeit werden die <strong>Yeziden</strong> als das lebendeGedächtnis und Gewissen der Kurden betrachtet. So halten die <strong>Yeziden</strong> ihre Gebete in kurdischerSprache ab, während die moslemischen Kurden sich der arabischen Sprache bedienen,um die Koranverse lesen zu können.Das Hauptsiedlungegebiet der <strong>Yeziden</strong> ist der Nordirak. Hier leben ca. 600.000 yezidischeGlaubensbrüder, und hier befindet sich nicht allzuweit von Mosul entfernt Lalesh, dasreligiöse Zentrum der <strong>Yeziden</strong>. Nahe bei Lalesh residiert in Baadhra das weltliche Oberhauptder <strong>Yeziden</strong>, der Mir, auch nach dem Distrikt Shaikhan Mire Shaikhan genannt. Das religiöseOberhaupt, der Baba Scheich, lebt in Ain Sufne.Als Yezide wird man geboren; es gibt keine Möglichkeit, zum <strong>Yeziden</strong>tum zu konvertieren.Dies schließt aus, dass <strong>Yeziden</strong> missionarisch tätig werden und Angehörige andererReligionen bekehren. Es gibt [14] keinen religiösen Fanatismus, der von der Überlegenheitder Religion über andere Glaubensvorstellungen ausgeht. Der yezidischen Religion fehlt somitdie aggressive Komponente des Bekehrens mit Feuer und Schwert.In der Abwehr gegenüber feindlich gesinnten Religionen entstand das zwingende Gebotbei den <strong>Yeziden</strong>, keine Andersgläubigen zu heiraten. Bei dieser endogamen Heiratsregelhandelt es sich um einen historisch entstandenen Schutzmechanismus, der in der Verfolgungssituationden Zusammenhalt und die Solidarität der <strong>Yeziden</strong> stärkte. Er hat sich alsSchutz bewährt und ist in der Gemeinschaft fest verankert, in Europa allerdings anderen gesellschaftlichenBedingungen ausgesetzt.** Anm. d. Red.: Dieser Beitrag ist vom Autor nachmalig bearbeitet und an verschiedenen Stellen ergänzt worden;in einigen Punkten weicht der Text daher von der Original-Ausgabe ab.