Fatma lernt Lesen und Schreiben - Biss
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Oder Olcay. Der hat aufs Bewerbungen-<strong>Schreiben</strong> so gar keinen<br />
Bock mehr. „Das hat doch eh keinen Sinn“, weicht er aus,<br />
als der Lehrer ihn fragt, ob er noch Bewerbungen verschickt<br />
oder bei der Arbeitsagentur nach weiteren Lehrstellenangeboten<br />
gefragt habe. Aber: Olcay hat ein Ziel. Er will den Quali. Und<br />
dann will er unbedingt Trambahn- oder Busfahrer werden.<br />
Ob es Hip-Hop ist oder das feste Ziel, Trambahnfahrer zu<br />
werden: Das Gute im Schüler suchen, vielleicht scheitern, weitersuchen,<br />
darum geht es Hummelsberger. Dabei sind die Bedingungen,<br />
unter denen Lehrer <strong>und</strong> Schüler in der Städtischen Berufsschule<br />
zur Berufsvorbereitung am Bogenhausener Kirchplatz<br />
arbeiten, schwierig. Hier müssen – zumindest theoretisch – all<br />
jene Jugendlichen aus dem Großraum München, die die Hauptschule<br />
ohne Abschluss verlassen beziehungsweise noch keinen<br />
Ausbildungsplatz gef<strong>und</strong>en haben, ein Berufsvorbereitungsjahr<br />
(BVJ) absolvieren. Sofern sie auftauchen. Viele Jugendliche, die<br />
eigentlich noch schul- bzw. berufsschulpfl ichtig wären, erscheinen<br />
erst gar nicht zur Einschreibung. Andere brechen die Schule<br />
nach ein paar Tagen oder Wochen ab. Einige kommen zwar immer<br />
mal wieder, aber unregelmäßig. Zwei von den vier Sekretärinnen<br />
am BVJ sind deshalb ausschließlich mit der Abwesenheit<br />
von Schülern <strong>und</strong> Schülerinnen beschäftigt: Sie telefonieren hinter<br />
den Jugendlichen <strong>und</strong> nicht selten auch hinter deren Erziehungsberechtigten<br />
her, fordern telefonisch <strong>und</strong> schriftlich zum<br />
Schulbesuch auf, verwalten Fehlzeiten <strong>und</strong> dokumentieren schuldisziplinarische<br />
Maßnahmen, denen irgendwann Bußgeldbescheide<br />
folgen. „Aber es gibt eben auch die, die regelmäßig teilnehmen,<br />
die sich engagieren <strong>und</strong> das Ruder noch mal rumreißen<br />
wollen“, sagt Schulleiter Klaus Seiler. „Und diesen Jugendlichen<br />
wollen wir einen erfolgreichen Einstieg in die Berufsausbildung<br />
ermöglichen.“ Neben den Fachklassen, deren theoretischer wie<br />
praktischer Unterricht sich an acht Berufsfeldern aus dem Handwerk<br />
<strong>und</strong> dem Dienstleistungssektor orientiert, erhalten Jugendliche<br />
mit nichtdeutscher Muttersprache Unterricht in Deutsch<br />
als Zweitsprache. Außerdem stehen EDV, Sport <strong>und</strong> Arbeiten in<br />
der Produktionsschule auf dem St<strong>und</strong>enplan. Bei der Suche nach<br />
Betriebspraktika arbeitet die Schule eng mit Partnern aus Wirtschaft,<br />
Industrie <strong>und</strong> Handwerk zusammen.<br />
„Fakt ist trotzdem“, konstatiert Georg Prahl, Fachbetreuer<br />
Metall, Computerlehrer am BVJ <strong>und</strong> seit 33 Jahren im Schuldienst,<br />
„dass unsere Schüler da draußen kaum Chancen haben.<br />
Um wirklich jeden Schüler <strong>und</strong> jede Schülerin dort abzuholen,<br />
wo er oder sie gerade steht, bräuchten wir kleinere Klassen <strong>und</strong><br />
wieder mehr Praxisst<strong>und</strong>en. Da erleben sie die größten Erfolge<br />
<strong>und</strong> erwerben außerdem handwerkliche Gr<strong>und</strong>fertigkeiten. Ausbildungsbetriebe<br />
wissen das zu schätzen.“ 2008 bekamen 46<br />
Prozent des Jahrgangs einen Ausbildungsplatz. Die restlichen<br />
54 Prozent landeten in Maßnahmen der Arbeitsagentur, bekamen<br />
Aushilfsjobs oder Hartz IV. Doch Schulleiter Klaus Seiler<br />
will den Erfolg seiner Schule nicht an schnöden Zahlen messen.<br />
Zahlen spiegelten nichts von den Leistungen <strong>und</strong> Erfolgen wider,<br />
die hier täglich von Schülern, Lehrkräften <strong>und</strong> Sozialarbeitern<br />
errungen würden.<br />
Bis auf Johannes, der im Anschluss an ein Praktikum bei<br />
einem Lebensmitteldiscounter auf 400-Euro-Basis übernommen<br />
wurde <strong>und</strong> den vom ersehnten Ausbildungsvertrag nur noch eine<br />
bestandene Qualiprüfung trennt, hat noch keiner etwas Konkretes<br />
in Aussicht. Adelina hat zwar einen Job als Aushilfe bei<br />
einer Drogeriekette, ausgezeichnete Noten <strong>und</strong> den Quali qua-<br />
si schon in der Tasche – eine Lehrstelle hat aber auch sie noch<br />
nicht. Michael will nach bestandenem Quali weiter zur Schule<br />
gehen <strong>und</strong> den Realschulabschluss versuchen. So kann er den<br />
Bewerbungsmarathon noch ein oder zwei Jahre aufschieben.<br />
Ein Erfolgserlebnis – das könnten sie alle brauchen: Dognay <strong>und</strong><br />
Elif, die am liebsten Friseurinnen werden wollen, aber auch in<br />
den Verkauf gehen würden; Nadine <strong>und</strong> Vanessa, die beide von<br />
einer Ausbildung zur Kinderpfl egerin träumen.<br />
Noch eine Viertelst<strong>und</strong>e bis Schulschluss. Die zehnte Klasse<br />
setzt sich zum Stuhlkreis. Wie der Stand der Dinge so ist,<br />
will Hummelsberger wissen. Langsam wird’s ernst. Nach den<br />
Pfi ngstferien steht für einen Teil der Klasse der Quali an. Für die<br />
anderen heißt es weiterhin: Bewerbungen schreiben, sich – wenn<br />
möglich – persönlich in Ausbildungsbetrieben nach einer Lehrstelle<br />
erk<strong>und</strong>igen, bei der Arbeitsagentur nachfragen. Das ganze<br />
Programm eben. Andernfalls landen sie in irgendeiner Maßnahme<br />
der Arbeitsagentur – nicht selten der Beginn einer Karriere<br />
im sogenannten Übergangssystem. Das will keiner von ihnen:<br />
sich jahrelang von Maßnahme zu Maßnahme hangeln, immer<br />
nur pendeln zwischen unbezahlten Praktika, Bewerbungstrainings<br />
<strong>und</strong> Unterrichtseinheiten, an deren Ende – so sehr sich die<br />
zahlreichen Träger auch mühen mögen – selten wirkliche berufliche<br />
Perspektiven, sondern meist nur ein weiteres Praktikum<br />
oder eine weitere Maßnahme stehen.<br />
Diese Gefahr besteht vor allem für die Migranten unter den<br />
Schülern. Sabine Heckelmann ist Oberstudienrätin <strong>und</strong> hat<br />
früher an einer Berufsschule unterrichtet. Am Bogenhausener<br />
Kirchplatz ist sie in einer speziellen Migrantenklasse Lehrerin<br />
für Deutsch als Zweitsprache: „Hier zählen nicht kleine, sondern<br />
kleinste Erfolge“, sagt sie – <strong>und</strong> wirkt dabei keine Spur<br />
verbittert oder resigniert. Im Gegenteil: Sie ist richtig fröhlich,<br />
wenn sie von ihren Schülern erzählt. Und das, obwohl sie die banalsten<br />
Dinge immer wieder erklären, kontrollieren <strong>und</strong> einfordern<br />
muss: wie Arbeitsblätter in eine Mappe einzuordnen <strong>und</strong><br />
dass sie zur nächsten St<strong>und</strong>e wieder mitzubringen sind; dass die<br />
Hausaufgabe richtig von der Tafel ins Heft übertragen <strong>und</strong> dann<br />
auch gemacht wird; dass Wörter <strong>und</strong> Sätze nicht irgendwie aufs<br />
Papier geschmiert, sondern auf eine Zeile geschrieben werden.<br />
Ihre Schüler gehören den unterschiedlichsten Nationen an. Manche<br />
sind allein <strong>und</strong> ohne Eltern als Flüchtlinge nach Deutschland<br />
gekommen <strong>und</strong> leben in Gemeinschaftsunterkünften. Andere<br />
wurden von ihren Familien im Rahmen des Familiennachzugs<br />
nachgeholt. So unterschiedlich der kulturelle Hintergr<strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> das soziale Umfeld der Jugendlichen auch sein mögen, allen<br />
gemeinsam sei, erklärt Heckelmann, eine gewisse Entwurzelung<br />
<strong>und</strong> eine sich durch alle Lebensbereiche ziehende Perspektiv-<br />
<strong>und</strong> Strukturlosigkeit. „Mit reiner Wissensvermittlung ist es<br />
nicht getan, wir müssen hier vor allem Erziehungs- <strong>und</strong> Elternarbeit<br />
leisten, sprich: Gr<strong>und</strong>regeln, Werte <strong>und</strong> Schlüsselqualifi<br />
kationen wie Pünktlichkeit <strong>und</strong> Aufmerksamkeit, Leistungsbereitschaft<br />
<strong>und</strong> Respekt einüben <strong>und</strong> einfordern. Wir müssen<br />
streng sein, aber auch verständnisvoll; Grenzen setzen, aber Regeln<br />
auch fl exibel handhaben können. Viele machen hier zum<br />
ersten Mal die Erfahrung, dass ihnen jemand zuhört <strong>und</strong> sich<br />
für sie interessiert. Die Schule gibt ihnen Halt <strong>und</strong> ihrem Tag<br />
Struktur“, sagt sie. „Sie kommen zwar zu spät, aber sie kommen.“<br />
Und irgendwann kommen sie dann pünktlich <strong>und</strong> haben<br />
sogar ihr komplettes Arbeitsmaterial dabei. Sabine Heckelmann<br />
muss sich über sehr kleine Erfolge freuen – <strong>und</strong> sie kann es.<br />
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