30.11.2012 Aufrufe

Fatma lernt Lesen und Schreiben - Biss

Fatma lernt Lesen und Schreiben - Biss

Fatma lernt Lesen und Schreiben - Biss

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Oder Olcay. Der hat aufs Bewerbungen-<strong>Schreiben</strong> so gar keinen<br />

Bock mehr. „Das hat doch eh keinen Sinn“, weicht er aus,<br />

als der Lehrer ihn fragt, ob er noch Bewerbungen verschickt<br />

oder bei der Arbeitsagentur nach weiteren Lehrstellenangeboten<br />

gefragt habe. Aber: Olcay hat ein Ziel. Er will den Quali. Und<br />

dann will er unbedingt Trambahn- oder Busfahrer werden.<br />

Ob es Hip-Hop ist oder das feste Ziel, Trambahnfahrer zu<br />

werden: Das Gute im Schüler suchen, vielleicht scheitern, weitersuchen,<br />

darum geht es Hummelsberger. Dabei sind die Bedingungen,<br />

unter denen Lehrer <strong>und</strong> Schüler in der Städtischen Berufsschule<br />

zur Berufsvorbereitung am Bogenhausener Kirchplatz<br />

arbeiten, schwierig. Hier müssen – zumindest theoretisch – all<br />

jene Jugendlichen aus dem Großraum München, die die Hauptschule<br />

ohne Abschluss verlassen beziehungsweise noch keinen<br />

Ausbildungsplatz gef<strong>und</strong>en haben, ein Berufsvorbereitungsjahr<br />

(BVJ) absolvieren. Sofern sie auftauchen. Viele Jugendliche, die<br />

eigentlich noch schul- bzw. berufsschulpfl ichtig wären, erscheinen<br />

erst gar nicht zur Einschreibung. Andere brechen die Schule<br />

nach ein paar Tagen oder Wochen ab. Einige kommen zwar immer<br />

mal wieder, aber unregelmäßig. Zwei von den vier Sekretärinnen<br />

am BVJ sind deshalb ausschließlich mit der Abwesenheit<br />

von Schülern <strong>und</strong> Schülerinnen beschäftigt: Sie telefonieren hinter<br />

den Jugendlichen <strong>und</strong> nicht selten auch hinter deren Erziehungsberechtigten<br />

her, fordern telefonisch <strong>und</strong> schriftlich zum<br />

Schulbesuch auf, verwalten Fehlzeiten <strong>und</strong> dokumentieren schuldisziplinarische<br />

Maßnahmen, denen irgendwann Bußgeldbescheide<br />

folgen. „Aber es gibt eben auch die, die regelmäßig teilnehmen,<br />

die sich engagieren <strong>und</strong> das Ruder noch mal rumreißen<br />

wollen“, sagt Schulleiter Klaus Seiler. „Und diesen Jugendlichen<br />

wollen wir einen erfolgreichen Einstieg in die Berufsausbildung<br />

ermöglichen.“ Neben den Fachklassen, deren theoretischer wie<br />

praktischer Unterricht sich an acht Berufsfeldern aus dem Handwerk<br />

<strong>und</strong> dem Dienstleistungssektor orientiert, erhalten Jugendliche<br />

mit nichtdeutscher Muttersprache Unterricht in Deutsch<br />

als Zweitsprache. Außerdem stehen EDV, Sport <strong>und</strong> Arbeiten in<br />

der Produktionsschule auf dem St<strong>und</strong>enplan. Bei der Suche nach<br />

Betriebspraktika arbeitet die Schule eng mit Partnern aus Wirtschaft,<br />

Industrie <strong>und</strong> Handwerk zusammen.<br />

„Fakt ist trotzdem“, konstatiert Georg Prahl, Fachbetreuer<br />

Metall, Computerlehrer am BVJ <strong>und</strong> seit 33 Jahren im Schuldienst,<br />

„dass unsere Schüler da draußen kaum Chancen haben.<br />

Um wirklich jeden Schüler <strong>und</strong> jede Schülerin dort abzuholen,<br />

wo er oder sie gerade steht, bräuchten wir kleinere Klassen <strong>und</strong><br />

wieder mehr Praxisst<strong>und</strong>en. Da erleben sie die größten Erfolge<br />

<strong>und</strong> erwerben außerdem handwerkliche Gr<strong>und</strong>fertigkeiten. Ausbildungsbetriebe<br />

wissen das zu schätzen.“ 2008 bekamen 46<br />

Prozent des Jahrgangs einen Ausbildungsplatz. Die restlichen<br />

54 Prozent landeten in Maßnahmen der Arbeitsagentur, bekamen<br />

Aushilfsjobs oder Hartz IV. Doch Schulleiter Klaus Seiler<br />

will den Erfolg seiner Schule nicht an schnöden Zahlen messen.<br />

Zahlen spiegelten nichts von den Leistungen <strong>und</strong> Erfolgen wider,<br />

die hier täglich von Schülern, Lehrkräften <strong>und</strong> Sozialarbeitern<br />

errungen würden.<br />

Bis auf Johannes, der im Anschluss an ein Praktikum bei<br />

einem Lebensmitteldiscounter auf 400-Euro-Basis übernommen<br />

wurde <strong>und</strong> den vom ersehnten Ausbildungsvertrag nur noch eine<br />

bestandene Qualiprüfung trennt, hat noch keiner etwas Konkretes<br />

in Aussicht. Adelina hat zwar einen Job als Aushilfe bei<br />

einer Drogeriekette, ausgezeichnete Noten <strong>und</strong> den Quali qua-<br />

si schon in der Tasche – eine Lehrstelle hat aber auch sie noch<br />

nicht. Michael will nach bestandenem Quali weiter zur Schule<br />

gehen <strong>und</strong> den Realschulabschluss versuchen. So kann er den<br />

Bewerbungsmarathon noch ein oder zwei Jahre aufschieben.<br />

Ein Erfolgserlebnis – das könnten sie alle brauchen: Dognay <strong>und</strong><br />

Elif, die am liebsten Friseurinnen werden wollen, aber auch in<br />

den Verkauf gehen würden; Nadine <strong>und</strong> Vanessa, die beide von<br />

einer Ausbildung zur Kinderpfl egerin träumen.<br />

Noch eine Viertelst<strong>und</strong>e bis Schulschluss. Die zehnte Klasse<br />

setzt sich zum Stuhlkreis. Wie der Stand der Dinge so ist,<br />

will Hummelsberger wissen. Langsam wird’s ernst. Nach den<br />

Pfi ngstferien steht für einen Teil der Klasse der Quali an. Für die<br />

anderen heißt es weiterhin: Bewerbungen schreiben, sich – wenn<br />

möglich – persönlich in Ausbildungsbetrieben nach einer Lehrstelle<br />

erk<strong>und</strong>igen, bei der Arbeitsagentur nachfragen. Das ganze<br />

Programm eben. Andernfalls landen sie in irgendeiner Maßnahme<br />

der Arbeitsagentur – nicht selten der Beginn einer Karriere<br />

im sogenannten Übergangssystem. Das will keiner von ihnen:<br />

sich jahrelang von Maßnahme zu Maßnahme hangeln, immer<br />

nur pendeln zwischen unbezahlten Praktika, Bewerbungstrainings<br />

<strong>und</strong> Unterrichtseinheiten, an deren Ende – so sehr sich die<br />

zahlreichen Träger auch mühen mögen – selten wirkliche berufliche<br />

Perspektiven, sondern meist nur ein weiteres Praktikum<br />

oder eine weitere Maßnahme stehen.<br />

Diese Gefahr besteht vor allem für die Migranten unter den<br />

Schülern. Sabine Heckelmann ist Oberstudienrätin <strong>und</strong> hat<br />

früher an einer Berufsschule unterrichtet. Am Bogenhausener<br />

Kirchplatz ist sie in einer speziellen Migrantenklasse Lehrerin<br />

für Deutsch als Zweitsprache: „Hier zählen nicht kleine, sondern<br />

kleinste Erfolge“, sagt sie – <strong>und</strong> wirkt dabei keine Spur<br />

verbittert oder resigniert. Im Gegenteil: Sie ist richtig fröhlich,<br />

wenn sie von ihren Schülern erzählt. Und das, obwohl sie die banalsten<br />

Dinge immer wieder erklären, kontrollieren <strong>und</strong> einfordern<br />

muss: wie Arbeitsblätter in eine Mappe einzuordnen <strong>und</strong><br />

dass sie zur nächsten St<strong>und</strong>e wieder mitzubringen sind; dass die<br />

Hausaufgabe richtig von der Tafel ins Heft übertragen <strong>und</strong> dann<br />

auch gemacht wird; dass Wörter <strong>und</strong> Sätze nicht irgendwie aufs<br />

Papier geschmiert, sondern auf eine Zeile geschrieben werden.<br />

Ihre Schüler gehören den unterschiedlichsten Nationen an. Manche<br />

sind allein <strong>und</strong> ohne Eltern als Flüchtlinge nach Deutschland<br />

gekommen <strong>und</strong> leben in Gemeinschaftsunterkünften. Andere<br />

wurden von ihren Familien im Rahmen des Familiennachzugs<br />

nachgeholt. So unterschiedlich der kulturelle Hintergr<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> das soziale Umfeld der Jugendlichen auch sein mögen, allen<br />

gemeinsam sei, erklärt Heckelmann, eine gewisse Entwurzelung<br />

<strong>und</strong> eine sich durch alle Lebensbereiche ziehende Perspektiv-<br />

<strong>und</strong> Strukturlosigkeit. „Mit reiner Wissensvermittlung ist es<br />

nicht getan, wir müssen hier vor allem Erziehungs- <strong>und</strong> Elternarbeit<br />

leisten, sprich: Gr<strong>und</strong>regeln, Werte <strong>und</strong> Schlüsselqualifi<br />

kationen wie Pünktlichkeit <strong>und</strong> Aufmerksamkeit, Leistungsbereitschaft<br />

<strong>und</strong> Respekt einüben <strong>und</strong> einfordern. Wir müssen<br />

streng sein, aber auch verständnisvoll; Grenzen setzen, aber Regeln<br />

auch fl exibel handhaben können. Viele machen hier zum<br />

ersten Mal die Erfahrung, dass ihnen jemand zuhört <strong>und</strong> sich<br />

für sie interessiert. Die Schule gibt ihnen Halt <strong>und</strong> ihrem Tag<br />

Struktur“, sagt sie. „Sie kommen zwar zu spät, aber sie kommen.“<br />

Und irgendwann kommen sie dann pünktlich <strong>und</strong> haben<br />

sogar ihr komplettes Arbeitsmaterial dabei. Sabine Heckelmann<br />

muss sich über sehr kleine Erfolge freuen – <strong>und</strong> sie kann es.<br />

19

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!