Fatma lernt Lesen und Schreiben - Biss
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Sei gscheit!<br />
Lebenslänglich<br />
Hausaufgaben<br />
Angeblich hat nur Erfolg, wer<br />
sich ständig weiterbildet. Doch<br />
wollen wir wirklich pausenlos<br />
lernen?<br />
Bildung gehört seit 1948 zu den Menschenrechten,<br />
neuerdings hierzulande<br />
auch zu den Bürgerpfl ichten, <strong>und</strong> zwar<br />
von der Wiege bis ins Grab. Senioren, die<br />
was auf sich halten, lösen keine Kreuzworträtsel<br />
mehr, sie betreiben Gehirnjogging<br />
auf Teufel komm raus, besuchen<br />
Kurse bei der VHS, frischen ihr Schulenglisch<br />
auf, surfen im Internet um die<br />
Wette. All das hilft gegen Gedächtnislücken<br />
<strong>und</strong> beugt dem vorzeitigen Schw<strong>und</strong><br />
der grauen Zellen vor – das behaupten zumindest<br />
Ges<strong>und</strong>heitsapostel <strong>und</strong> Medien.<br />
Früh übt sich. Kaum geboren, bekommt<br />
das Baby sein persönliches Trainingscenter<br />
vor die Nase gehängt: das<br />
Mobile. Wenn möglich, gibt es dazu ein<br />
chinesisches Au-pair; wenn nicht, meldet<br />
man den Sprössling unbedingt in einem<br />
zweisprachigen Kindergarten an. Ein paar<br />
Sätze Türkisch oder Griechisch könnte<br />
er locker von den Nachbarn mitnehmen,<br />
aber das würde die Karriereaussichten<br />
nicht verbessern. Englisch, Französisch<br />
<strong>und</strong> Mandarin schon eher. Der Nachwuchs<br />
muss von Anfang an gefördert<br />
werden, <strong>und</strong> das deutsche Schulsystem<br />
ist minderwertig – diese Botschaften haut<br />
man uns ständig um die Ohren. Die Pisa-<br />
Studie hat dem nationalen Selbstbewusstsein<br />
einen ziemlichen Schlag versetzt,<br />
die Wirtschaftskrise gibt ihm den Rest.<br />
Nachsitzen muss die ganze Bevölkerung.<br />
Wer sich, wie ich damals, auf den<br />
letzten Schultag irrsinnig gefreut hatte<br />
<strong>und</strong> felsenfest daran glaubte, endlich frei<br />
zu sein, wird eines Besseren belehrt: Es<br />
ist nie vorbei mit den Hausaufgaben. Wer<br />
nicht bereit ist, sich ständig wieder welche<br />
aufbrummen zu lassen, braucht nicht zu<br />
jammern, wenn er seine Arbeit verliert.<br />
Oder von vornherein keine fi ndet. Heimtückisch<br />
gibt man uns zu verstehen, dass<br />
in Zeiten globaler Katastrophen unsere<br />
Politiker ihr Bestes geben, um das System<br />
zu retten. Wenn es für einige von uns<br />
doch nicht klappt, sind wir selber schuld.<br />
Wir sind nicht gut genug, unterqualifi -<br />
ziert oder im falschen Beruf – wer wissen<br />
möchte, welcher richtig ist, fragt am<br />
besten einen Wahrsager. Oder geht zur<br />
Arbeitsagentur; hier werden Bildungsgutscheine<br />
verteilt. R<strong>und</strong> 14000 Bildungsanbieter<br />
servieren den Lernwilligen<br />
an die 400 000 zertifi zierte Maßnahmen.<br />
Damit kann man die berufl iche Biografi e<br />
für potenzielle Arbeitgeber schmackhafter<br />
machen, sein Hirn mit Informationen<br />
zustopfen <strong>und</strong> seine Freizeit dermaßen<br />
reduzieren, dass einem keine St<strong>und</strong>e für<br />
selbstständiges Denken übrig bleibt.<br />
Etwa 17 Millionen Bürger sollen angeblich<br />
„maßnahmenberechtigt“ sein.<br />
Das kann so aussehen: anderthalb Jahre<br />
wieder die Schulbank drücken, jeden<br />
Abend <strong>und</strong> jedes Wochenende pauken,<br />
ein schlechtes Gewissen haben,<br />
wenn man doch ein paar Tage nach Italien<br />
fährt. Sozialleben auf Eis gelegt. Am<br />
Schluss bleiben ein schönes Zeugnis, die<br />
Hoffnung auf eine sichere Stelle <strong>und</strong> die<br />
Frage, ob man nicht lieber die Zeit mit<br />
den Kindern verbracht oder etwas ge<strong>lernt</strong><br />
hätte, was einen wirklich interessiert.<br />
Wenn die Arbeit Mangelware wird,<br />
überzieht man das Land mit Bildungsterror,<br />
dann werden aus Erwachsenen handsame<br />
Schüler, die niemals auf dumme<br />
Gedanken kommen. Doch die Zahl der<br />
Renitenten wächst. Und von ihnen werden<br />
wir eines Tages hören. Hoffentlich.<br />
Text: Fabienne Pakleppa