Fatma lernt Lesen und Schreiben - Biss
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20<br />
Sei gscheit!<br />
Philosophen<br />
der Straße<br />
Die University of Notre Dame im US-B<strong>und</strong>esstaat Indiana bietet<br />
Literaturkurse für ganz besondere Studenten an: Obdachlose<br />
Normalerweise leben sie eher am Rande<br />
der Gesellschaft <strong>und</strong> beobachten das<br />
Treiben von außen. Nun sind sie für eine<br />
Weile inmitten des Geschehens. Zehn<br />
Männer hocken im neogotischen Gebäude<br />
der Notre-Dame-Universität in<br />
South Bend im US-B<strong>und</strong>esstaat Indiana.<br />
Sie sind keine normalen Studenten,<br />
auch wenn vor ihnen auf den Tischen anspruchsvolle<br />
Texte ausgebreitet liegen. Einer<br />
ist von Platon: „Apologie. Des Sokrates<br />
Verteidigung“.<br />
Irgendwann, auf den nächtlichen Straßen<br />
von Amerika, hat sich die Seele dieser<br />
zehn Männer gekrümmt. Stephen Fallon,<br />
renommierter Literaturprofessor der Universität,<br />
will sie wieder aufrichten. Zehn<br />
Jahre ist es her, dass der 54-Jährige die<br />
Literaturseminare für Obdachlose ins Leben<br />
gerufen hat. „Mich hat der Umstand<br />
gestört, dass ich an einer reichen US-Elite-Uni<br />
unterrichte“, erzählt er. Die wählt<br />
ihre Studenten, wie die meisten amerikanischen<br />
Colleges, überproportional häufi<br />
g aus Familien mit höherem Einkommen.<br />
Da stieß Stephen Fallon eines Tages<br />
auf eine Geschichte in „Harper’s“, dem<br />
ältesten Magazin der USA: Darin beschrieb<br />
der Autor Earl Shorris Literaturseminare<br />
für benachteiligte Erwachsene,<br />
die er in Manhattan gehalten hatte.<br />
Er glaubte, es würde armen, ungebildeten<br />
Menschen „mehr helfen, die Worte von<br />
Sokrates <strong>und</strong> Platon zu verstehen, als die<br />
Kniffe eines technischen Jobs zu lernen“.<br />
Stephen Fallon war von der Idee begeistert.<br />
„Ich dachte sofort an unser Obdachlosen-Zentrum<br />
in South Bend“, sagt<br />
er mit weicher Stimme <strong>und</strong> in die Worte<br />
verschluckendem amerikanischem Slang.<br />
„Ich musste handeln.“<br />
Gemeinsam mit dem damaligen Direktor<br />
der Obdachlosen-Herberge von South<br />
Bend gründete er ein Studienprogramm<br />
für Straßenbewohner. Indem sie Bücher<br />
lasen, sollten sie lernen, „autonomer zu<br />
denken <strong>und</strong> aktive Bürger zu werden“.<br />
Obdachlose, die von manchen, romantisch<br />
verklärend, „Philosophen der Straße“<br />
genannt werden – ausgerechnet sie<br />
sollten nun das Wesen des Menschen,<br />
Gottes <strong>und</strong> der Welt erfassen. Nur, welche<br />
Fragen stellen sich für diese außergewöhnlichen<br />
Studenten? Haben sie überhaupt<br />
welche?<br />
Fallon sucht den Dialog mit den Leuten<br />
der Straße. „Ich bin der Sokrates von<br />
heute“, kokettiert er. Ob es nun um moralische<br />
Kategorien oder um die Irrwege<br />
der Protagonisten im Laufe eines Stückes<br />
geht: „Wir suchen nach Fragen, die nicht<br />
schwarz-weiß sind <strong>und</strong> auf die es keine<br />
richtigen oder falschen Antworten gibt.“<br />
Etwas anderes wäre zu simpel.<br />
Welcher Mensch vermag zu erklären,<br />
warum er mit einem Male gestrandet ist<br />
<strong>und</strong> das Leben seither nur noch von draußen<br />
verfolgt? „Gerade diese klassischen<br />
Texte überleben, weil sie die Komplexität<br />
unseres Lebens <strong>und</strong> die moralischen Herausforderungen,<br />
die es an uns stellt, refl<br />
ektieren“, sagt Fallon.<br />
„Wir nutzen die Zeit, um über unser<br />
Leben nachzudenken“, sagt Michael<br />
A. Newton. Er ist Mitte fünfzig <strong>und</strong><br />
stammt ursprünglich aus New York. Er<br />
war 16 Monate obdachlos <strong>und</strong> lebt jetzt<br />
im Zentrum für Obdachlose von South<br />
Bend. Durch die literarischen Diskurse<br />
an der Universität hat sich etwas in seiner<br />
Seele verändert: „Sokrates hat mir klargemacht,<br />
dass ich den Mut haben muss,<br />
mich zu bilden <strong>und</strong> mich für etwas einzusetzen“,<br />
sagt er energisch. „Die meisten<br />
meiner Fre<strong>und</strong>e haben zu lange ihre eigene<br />
Schwäche gerechtfertigt.“ Sie würden<br />
durch die Beschäftigung mit der Literatur<br />
erfahren, dass es möglich ist, wieder