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Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung

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20<br />

Raul Calzoni<br />

Auswirkungen auch im Denken und Werk des <strong>Literatur</strong>- und Physikexperimentators<br />

Georg Christoph Lichtenberg zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Lichtenberg, als paradigmatischer<br />

Vertreter <strong>der</strong> Aufklärung, begründete sowohl die mo<strong>der</strong>ne naturwissenschaftliche<br />

Methodik, als auch das Genre des deutschsprachigen<br />

Aphorismus. So waren se<strong>in</strong>e ›Versuche‹ im Bereich <strong>der</strong> Experimentalphysik für<br />

die Deutung des ›Experimentierens‹ als epistemologisches Verfahren <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Literatur</strong> ausschlaggebend. 30 Diesbezüglich ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Sudelbüchern e<strong>in</strong> bedeuten<strong>der</strong><br />

Aphorismus zu f<strong>in</strong>den, <strong>der</strong> Lichtenbergs auf dem <strong>›Experiment‹</strong> basierende<br />

kritisch-analytische Denkweise erhellt:<br />

Je mehr sich bei <strong>der</strong> Erforschung <strong>der</strong> Natur die Erfahrungen und Versuche häufen,<br />

desto schwanken<strong>der</strong> werden die Theorien. Es ist aber immer gut sie deswegen<br />

nicht gleich aufzugeben. Denn jede Hypothese, die gut war, dient wenigstens die<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen bis auf ihre Zeit gehçrig zusammen zu denken und zu behalten.<br />

Man sollte die wi<strong>der</strong>sprechenden Erfahrungen beson<strong>der</strong>s nie<strong>der</strong>legen, bis sie sich<br />

h<strong>in</strong>länglich angehäuft haben, um es <strong>der</strong> Mühe wert zu machen lohnt e<strong>in</strong> neues<br />

Gebäude aufzuführen. 31<br />

Der kognitive Konstruktivismus Kants und die ›experimentelle Methode‹<br />

Lichtenbergs haben die deutsche <strong>Literatur</strong> <strong>der</strong> Aufklärung geprägt – nicht zu<br />

vergessen ist die Rolle Gotthold Ephraim Less<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Bezug auf das ›experimentelle<br />

Pr<strong>in</strong>zip‹ <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>: »bis zur ›Emilia Galotti‹ hatten die verschiedenen<br />

Gattungen e<strong>in</strong>s geme<strong>in</strong>sam: Sie kannten Standardunterschiede. In<br />

<strong>der</strong> Lyrik bildeten Oden, Kantaten, Idyllen, Elegien, Satiren, Epigramme und<br />

an<strong>der</strong>e so etwas wie e<strong>in</strong>e ständische Gesellschaft«. 32 Mit se<strong>in</strong>em Rückbezug auf<br />

Less<strong>in</strong>gs bürgerliches Trauerspiel schaffte Helmut Heißenbüttel e<strong>in</strong>e Art Wendepunkt<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen <strong>Literatur</strong>, <strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>e ›experimentelle Überschreitung‹<br />

<strong>der</strong> aristotelischen Kategorien bewerkstelligt wurde. In Less<strong>in</strong>gs<br />

frühem Poem Aus e<strong>in</strong>em Gedicht an den Herrn M*** (1748) verdichtet, im<br />

Lakoon o<strong>der</strong> über die Grenzen <strong>der</strong> Malerei und Poesie (1766) theoretisch<br />

von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts (Berl<strong>in</strong>, New York:<br />

W. de Gruyter 1999), S. 341–374.<br />

30 Zur frühromantischen Entwicklung dieser experimentellen Perspektive Lichtenbergs, vgl.<br />

Ulrich Stadler, ‘Kle<strong>in</strong>es Kunstwerk, kle<strong>in</strong>es Buch und kle<strong>in</strong>e Form. Kürze bei Lichtenberg,<br />

Novalis und Friedrich Schlegel’, <strong>in</strong> Die Kle<strong>in</strong>en Formen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, hrsg. von Elmar<br />

Locher (München, Wien, Innsbruck, Bozen: Edition Sturzflüge StudienVerlag, 2001), S. 15 –<br />

35.<br />

31 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch J [1601], <strong>in</strong> Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang<br />

Promies, Bd. 2: Sudelbücher II. Materialhefte, Tagebücher (Darmstadt: Wissenschaftliche<br />

Buchgesellschaft, 1967), S. 294–295.<br />

32 Helmut Heißenbüttel, ‘Kurze Theorie <strong>der</strong> künstlerischen Grenzüberschreitung’, <strong>in</strong> Zur<br />

Tradition <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Aufsätze und Anmerkungen 1964–1971 (Neuwied, Berl<strong>in</strong>: Luchterhand,<br />

1972), S. 21 –22.

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