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Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung

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14<br />

Raul Calzoni<br />

zur Avantgardeliteratur <strong>der</strong> 1950er Jahre, als dieser Begriff zum Schlagwort<br />

wurde:<br />

Bei <strong>der</strong> Rede vom Experiment im Kunstzusammenhang ist zu beachten, auf welchen<br />

Entwicklungsstand <strong>in</strong> den Naturwissenschaften sie sich jeweils bezieht.<br />

Zunächst bleibt <strong>der</strong> Begriffsgebrauch metaphorisch, da wesentliche Def<strong>in</strong>itionsmerkmale<br />

fehlen: Der theoretische Rahmen, das methodische Vorgehen und<br />

folglich die Mçglichkeit <strong>der</strong> Überprüfung durch Wie<strong>der</strong>holung. <strong>Das</strong> Interesse am<br />

künstlerischen Experiment betrifft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nur den Vorgang o<strong>der</strong> das Resultat<br />

selbst, es ist nicht funktional ausgerichtet auf Erkenntnisgew<strong>in</strong>n o<strong>der</strong> Naturbeherrschung.<br />

10<br />

In Der Begriff des Experiments <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dichtung 11 (1968) beklagt Hans Schwerte,<br />

dass das <strong>›Experiment‹</strong> zum »modischen Gerede« geworden ist, das oft als Synonym<br />

für Avantgarde o<strong>der</strong> ›mo<strong>der</strong>n‹ verwendet wird. Schwerte spricht auch von<br />

schwatzhaftem Wortgebrauch dieses Konzepts, dem Autoren wie Hans Magnus<br />

Enzensberger, Alfred An<strong>der</strong>sch und Günter Grass e<strong>in</strong> Ende setzen wollten. <strong>Das</strong><br />

<strong>›Experiment‹</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dichtung kçnnte also nichts weiter als e<strong>in</strong> schlecht formulierter<br />

metaphorischer Ausdruck se<strong>in</strong>. Aber gerade weil sich so wichtige<br />

Autoren wie Thomas Mann, Gottfried Benn und Bertolt Brecht mit dem <strong>›Experiment‹</strong><br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt haben, kçnne laut Schwerte dieser Begriff nicht<br />

mit dem H<strong>in</strong>weis ungenauen Wortgebrauchs auf die Seite geschoben werden.<br />

Es wurde oft versucht, den Begriff des ›Experimentellen‹ aus den Naturwissenschaften<br />

<strong>in</strong> den Kunstbereich zu übertragen. Übertragungen dieser Art<br />

stellen sich bei näherem Zusehen als metaphorische Operationen heraus, bei<br />

denen man bestimmte Konnotationen des Begriffs <strong>›Experiment‹</strong> als Kennzeichen<br />

für die eigene Produktion nimmt.<br />

Solche Bedeutungen s<strong>in</strong>d beispielsweise neuartig, <strong>in</strong>novativ, mit ungewissem<br />

Ausgang, nonkonformistisch. Für Siegfried Schmidt, <strong>der</strong> 1978 die Akten e<strong>in</strong>es<br />

10 Ebd. Für Jägers Begriff des ›Experiments‹ gilt, was Pethes und Krause festgestellt haben:<br />

»Daß ästhetische Produktion experimentell verfaßt sei, wird im Diskurs <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>wissenschaften<br />

immer dann <strong>in</strong> Anschlag gebracht, wenn es gilt, das Neue, An<strong>der</strong>e, Wi<strong>der</strong>ständige<br />

literarischer Produktionen zu bezeichnen. Dabei versandet die Experiment-Kategorie<br />

jedoch meist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em seichten Irgendwie des Ausprobierens neuer Formen und wenn<br />

ihr Status reflektiert wird, dann lediglich als metaphorischer Transfer naturwissenschaftlicher<br />

Erkenntnis auf <strong>Literatur</strong>«, Marcus Krause, Nicolas Pethes, ‘Zwischen Erfahrung und<br />

Mçglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t’, S. 7.<br />

11 Hans Schwerte, ‘Der Begriff des Experiments <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dichtung’, <strong>in</strong> <strong>Literatur</strong> und Geistesgeschichte.<br />

Festgabe für He<strong>in</strong>z Otto Burger, hrsg. von Re<strong>in</strong>hold Grimm, Conrad Wiedemann<br />

(Berl<strong>in</strong>: Erich Schmidt Verlag, 1968), S. 387–405. Man kann nicht umh<strong>in</strong>, auf die NS-Vergangenheit<br />

von Hans Schwerte h<strong>in</strong>zuweisen, <strong>der</strong> nach dem Krieg se<strong>in</strong>en Namen än<strong>der</strong>te (er<br />

hieß ursprünglich Hans Ernst Schnei<strong>der</strong>), als <strong>Literatur</strong>wissenschaftler tätig war und von<br />

1972–1975 sogar als Rektor <strong>der</strong> RTWH <strong>in</strong> Aachen fungierte. 1995 wurde se<strong>in</strong> Fall aufgedeckt.

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